Berlinale: Protest, Humor und Science-Fiction Ab heute täglich Sonderseiten zu den Internationalen Filmfestspielen in Berlin BERLINALE AUSGABE BERLIN | NR. 11247 | 6. WOCHE | 39. JAHRGANG DONNERSTAG, 9. FEBRUAR 2017 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND H EUTE I N DER TAZ The greatest Berlinale in the WORLD! It’s true. TÜRKEI Wieder in Frei- heit, aber in Angst: Die Anwältin Ayşe Acinikli und das Leben im Ausnahmezustand ▶ SEITE 5 SPANIEN Regieren oder nicht regieren? Die unterschiedlichen Ziele der Podemos-Flügel ▶ SEITE 4 TRUMP Bettina Gaus über die vermeintliche Einigkeit der TrumpKritiker und warum sie täuscht ▶ SEITE 3 BERLINALE All the other Berlinales are fake. ENJOY! ▶ SEITE 19, 21-24 Foto oben: dpa VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Die neuen Probleme im Hauptstadtflughafen BER bringen das Projekt weiter in Verzug. Rund 1.000 Türen lassen sich nicht ordnungsgemäß elektronisch steuern. Die Anschlüsse müssen neu gesteckt werden. „Das dauert Monate, weil man jede einzelne Tür ausprobieren muss“, hieß es. Zudem müssen Rohre für die Sprinkleranlage ausgetauscht werden. Flughafenchef Mühlenfeld erläuterte, Wasserleitungen von 2 Kilometer Länge müssten ersetzt werden. „Es gibt eine Kette von Ärgernissen“, erklärte Bürgermeister Müller. Das Bauprojekt befinde sich trotzdem „in der Schlussphase“. TAZ MUSS SEI N Filme mit „Mut, Zuversicht und viel Humor“ hat der Berlinale-Chef versprochen. Josef Hader als arbeitsloser Musikkritiker in „Wilde Maus“ sieht hier eher nicht so aus Foto: Wega Film Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.664 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Das Schlüsselwort heißt „Primärüberschuss“. Gemeint ist das Plus im Haushalt, wenn man die Zinsen Sparen im Konjunktiv und Tilgung der Kredite nicht berücksichtigt. Bis 2018 sollen die Griechen einen Primärüberschuss von 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung erzielen. Das ist unmöglich – obwohl die Griechen alle Sparauflagen erfüllen. Denn die ökonomische Logik ist stärker: Werden die Staatsausgaben drastisch gekürzt, bricht die Wirtschaft ein. Wo im Haushalt ein großes Plus stehen sollte, bleibt höchstens ein kleiner Überschuss. Der IWF hat längst die theoretische Konsequenz gezogen: Ein großer Teil der griechischen Schulden müsse gestrichen werden – und der geforderte Primärüberschuss auf 1,5 Prozent sinken. Doch Schäuble ignoriert diese Realitäten und verlangt ein Sparprogramm im Konjunktiv: Die Griechen sollen jetzt schon Kürzungen beschließen, die nach 2018 greifen, falls der Primärüberschuss dann keine 3,5 Prozent be- Schäuble gibt den Diktator und macht Griechenland zur deutschen Kolonie trägt. Schäuble verhält sich wie ein Diktator: Er weiß, dass seine Sparauflagen für Griechenland nicht funktionieren – sonst wäre es ja überflüssig, weitere Kürzungsprogramme zu fordern. Trotzdem wird Griechenland zur deutschen Kolonie gemacht. Deutsche Wähler goutieren Schäubles Stärke, doch jenseits der Grenzen verfestigt sich ein unschönes Bild: Deutschland erscheint als ein irrationaler Hegemon, der Europa dominiert und schwächere Staaten grausam quält. Das wird sich noch rächen. Wirtschaft + Umwelt SEITE 8 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT Der Tag DON N ERSTAG, 9. FEBRUAR 2017 NACH RICHTEN PI RATENANGRI FF AUF OSTFRI ESISCH ES SCH I FF VOR N IGERIA PARTEI ENSPEN DEN Russische und ukrainische Seeleute entführt Bundestag muss Spenden kundtun ABUJA/BERLIN | Vor der Küste Ni- Milliardärin und Ministerin: Betsy DeVos Foto: reuters Lobbyistin der Privatschule W er genügend Geld spendet, kann es in Donald Trumps Kabinett schaffen. Das hat Betsy DeVos, die neue Bildungsministerin, bewiesen. Die Milliardärin, die seit Jahren Lobbying für die Privatisierung der öffentlichen Schulen macht, und ihre Familie haben im Laufe der Jahre mehr als 200 Millionen Dollar an die Republikanische Partei gespendet. Zu den EmpfängerInnen dieser Gelder gehörten unter anderem 22 der 50 republikanischen SenatorInnen, die am Dienstag für die ebenso unerfahrene wie umstrittene Kandidatin gestimmt haben. Der Aufstieg der 59-jährigen DeVos in die US-Regierung zeigt darüber hinaus, wie eng die Grenzen der Blockademöglichkeiten der DemokratInnen im Kongress sind. In den zurückliegenden Wochen haben sie – unterstützt von Lehrergewerkschaften und Elternvereinigungen – einen großen Teil ihrer Kräfte darauf konzentriert, DeVos’ Bestätigung zu verhindern. Sie konnten lediglich zwei republikanische Senatorinnen auf ihre Seite ziehen. Das reichte nicht. Bei der Abstimmung im Senat gab es ein Patt, das Vizepräsident Mike Pence, der DeVos ideologisch nahesteht, mit seiner Stimme zu einer Zustimmung machte. Es war das erste Mal in der US-Geschichte, dass ein Vizepräsident den Ausschlag für die Ernennung eines Kabinettsmitglieds gab. Betsy DeVos hat weder als Lehrerin noch als Schülerin Erfahrungen mit öffentlichen Schulen. Ihre steinreichen und erzkonservativen Eltern haben sie auf eine religiöse Privatschule geschickt. DeVos nennt öffentliche Schulen eine „Sackgasse“. Als Lobbyistin hat sie vor allem PolitikerInnen unterstützt, die Gelder, Räumlichkeiten und Personal aus den öffentlichen Schulen an die privaten „Charter-Schulen“ umleiten. In Michigan war sie damit so erfolgreich, dass es einer der Bundesstaaten mit den meisten Charter-Schulen und dem prekärsten Bildungsniveau in den USA wurde. Kaum war DeVos am Dienstag gewählt, zeigte ein republikanischer Kongressabgeordneter, wohin ihre Reise gehen soll. Thomas Massie aus Kentucky legte ein Gesetz vor, wonach das Bildungsministerium zum 31. Dezember 2018 geschlossen werden soll. DOROTHEA HAHN gerias haben Piraten ein Frachtschiff eines deutschen Unternehmens überfallen und acht Menschen als Geiseln genommen. Es handle sich dabei um sieben Russen und einen Ukrainer, teilte die russische Botschaft in Abuja am Mittwoch mit. Die Piraten stürmten demnach am Sonntagmorgen das Schiff „BBC Caribbean“, das dem ostfriesischen Unternehmen Briese Schiffahrt gehört. Nach einem Schusswechsel seien die Seeleute gefangen genommen worden. Zum Verbleib der Männer war zunächst nichts bekannt. Die Firma bestätigte die Entführung. Die ukrainische Regierung sagte, der Angriff sei am Montag erfolgt. Das Schiff befand sich im Atlantischen Ozean südwestlich des „Pennington Oil Terminal“ auf dem Weg von Kamerun zu den Kanarischen Inseln. Nigeria ist zum Zentrum der internationalen Seepiraterie geworden, mit 36 von insgesamt 62 erfolgreichen Piratenangriffen weltweit im Jahr 2016. Die Angreifer gehören meist zu Schmugglerkreisen und Ölrebellen, die in den Ölgebieten des Landes gegen die Regierung kämpfen. (dpa, taz) BERLIN | Kritiker der Parteienfi- nanzierung haben einen Etappensieg erzielt. Das Verwaltungsgericht Berlin hat den Bundestag verpflichtet, interne Unterlagen zu Parteispenden und Rechenschaftsberichten herauszugeben. Das geht aus einem am Mittwoch bekanntgewordenen Urteil hervor, das dpa vorliegt und über das zuvor der Spiegel berichtete. Danach muss der Bundestag Zugang zu „Korrespondenzen, Vermerken, Dienstanweisungen oder sonstigen amtlichen Aufzeichnungen“ gewähren. (dpa) TEASER EI NS MAN U ELL PLEITEWELLE BEI ZULI EFERERN Ich bin ein Blindtext. Von Geburt an. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein: Man macht keinen Sinn. Man 05 wirkt hier und da aus dem Zusammenhang gerissen. Oft wird man ga Headline light Ich bin ein Blindtext. Von www.taz.de Trend zum E-Auto killt Arbeitsplätze MÜNCHEN | Insolvenzverwalter sehen mit dem Elektroauto eine Pleitewelle auf die deutsche Zulieferindustrie zurollen. Denn vom Kolben über das Getriebe bis zum Auspuff werden gegenüber dem Verbrennungsmotor viele Teile überflüssig. Jede Neunte der oft hochspezialisierten Firmen sei dann nicht mehr zu retten. Mehr als 100.000 Arbeitsplätze könnten so in den nächsten 15 Jahren verloren gehen, sagte Martin Prager vom Deutschen Anwaltverein. Das wären rund 10 Prozent aller Jobs in der Autoindustrie. (dpa) Russische Justiz auf dem Holzweg PROZESS Ein Provinzgericht verurteilt den Oppositionellen Alexei Nawalny wegen Holzdiebstahls zu einer Haftstrafe auf Bewährung und verhindert so, dass er bei den nächsten Präsidentschaftswahlen antreten darf AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH „Haben Sie gute Nachrichten für mich?“, lachte der Angeklagte, als der Richter zur Urteilsverlesung den Saal betritt. „Erfahren Sie gleich“, schmunzelte Richter Alexei Wtjurin. Was er dann zu verkünden hatte, war für den russischen Antikorruptionskämpfer Alexei Nawalny und den mitangeklagten Geschäftsmann Pjotr Ofizerow keine frohe Botschaft. Das Gericht in der Stadt Kirow befand beide Angeklagte der Unterschlagung für schuldig. Wtjurin verlas den gleichen Schriftsatz, der schon beim ersten Verfahren im Juli 2013 vorgetragen wurde – das sagte jedenfalls Nawalny. Am Ende standen fünf Jahre Haft auf Bewährung und damit verbunden ein Verbot, an Wahlen als Kandidat teilzunehmen. Der charismatische Oppositionelle hatte für den Fall, dass er noch im Gerichtssaal festgenommen werden sollte, schon eine gepackte Reisetasche mitgebracht. Nawalny und Ofizerow, so lautete die Anklage, sollen das staatliche Unternehmen „Kirowles“ um Bauholz in Höhe von 250.000 Euro geprellt haben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGHM) hatte das Urteil von 2013 mit der Begründung, es hätte sich bei dem Holzgeschäft um eine übliche unternehmerische Transaktion gehandelt, zurückgewiesen. Russlands oberstes Gericht wies den Fall zur Neubehandlung zurück – wieder an das Gericht im 800 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegenen Kirow. Dort saßen dieselben Staatsanwälte, die schon 2013 für Nawalny fünf und für Ofizerow vier Jahre Haft gefordert hatten. Im Dezember wurde das neue Verfahren eröffnet. Zeitgleich hatte Nawalny seine Kandidatur für die russischen Präsidentschaftswahlen 2018 angekündigt. Die Aufhebung des Urteils machte ihn wieder „wählbar“. Nach der russischen Gesetzgebung verlieren wegen schwerer Delikte Verurteilte den Anspruch, an Wahlen teilzunehmen zu dürfen. Das einzige neue Gesicht in dem kleinen, stickigen Gerichtssaal in Kirow war Richter Alexei Wtjurin, der zu dem Spektakel gelegentlich noch eine humoristische Note beisteuerte. Für ihn war es sein wichtigster Prozess. Sonst verurteilt er in der Pro- vinz Kleinkriminelle. Am Ende befolgte aber auch er offenbar nur Anweisungen von höherer Stelle. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass der Kreml im Verfahren versus Nawalny das Drehbuch geschrieben hat. Der neue Schuldspruch verurteilt den Volkstribunen dazu, auch die nächsten Wahlen nur als Zuschauer zu verfolgen. Auch öffentliche Auftritte und politisches Engagement sind ihm verboten. Nawalny hatte von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass es sich um einen Prozess handele, der ihn abhalten sollte, Politik zu machen. „Das ist ein politischer Fall“, meinte der Jurist. Schon im Vorfeld kündigte er an, das „Urteil beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und beim obersten Gericht anzufechten“. Am Ende befolgte der Richter offenbar nur Anweisungen von höherer Stelle Fünf Jahre Haft auf Bewährung für den Antikorruptionskämpfer Alexei Nawalny Foto: Maxim Shemetov/reuters Mord, Haft und ein Sexvideo OPPOSITION Nawalnys Tätigkeit beschränkt sich zurzeit auf die Leitung einer „Stiftung für den Kampf gegen die Korruption“. Ihm gelingt es immer wieder, haarsträubende Korruptionsfälle der russischen Elite aufzudecken. Seine Popularität aber hat gelitten. Nach dem Urteil im Juli 2013 konnte er unerwartet an den Bürgermeisterwahlen in Moskau teilnehmen. Aus dem Stand erreichte er damals sensationelle 27 Prozent – und das ohne einen Zugang zum Fernsehen. THEMA DES TAGES Der Widerstand gegen Präsident Putin ist infolge eigener Schwächen und der Arbeit der Geheimdienste marginalisiert MOSKAU taz | Alexei Nawalny ist Russlands einziger Oppositioneller, der eine positive Bilanz vorweisen kann. 2013 ließ der Kreml den populären Politiker bei den Wahlen zum Amt des Bürgermeisters in letzter Minute antreten. Die Regierenden waren überzeugt, dass der Jurist gegen Moskaus Stadtvorderen Sergei Sobjanin eine krachende Niederlage erleiden würde. Zur Ernüchterung sozusagen. Stattdessen erhielt er 27 Prozent der Stimmen in der Hauptstadt. Ein riesiger Stab von Freiwilligen war dem populären Fami- lienvater behilflich. Das war Nawalnys letzter großer Triumph. Seither wird er durch Prozesse und Verfahren daran gehindert, sich in die Politik einzuschalten. Nach den gefälschten Wahlergebnissen bei den Dumawahlen 2011 galt er kurzfristig als Hoffnungsträger der jüngeren, gebildeten und aufgeklärteren städtischen Wählerschichten. Diese Hoffnungen verschwanden mit der Wiederwahl Wladimir Putins in den Kreml 2012. Es gibt kaum noch hörbare Gegenstimmen. Nicht zuletzt ist dies auch ein Ergebnis, das mit der Annexion der Krim einherging, die auch in vielen oppositionellen Zirkeln auf Zustimmung stieß. Auch Nawalny sprach sich nicht gegen den Übergriff des Kreml aus. Das Vorgehen gegen Demonstranten nach der Amtseinführung Präsident Putins 2012 trug ebenfalls dazu bei, dass Aktivitäten der Opposition abflauten. Gerichte verhängten drakonische Strafen. Erinnert sei an die Lagerhaft für die Punkerinnen von Pussy Riot. Opposition und Zivilgesellschaft wurden gezielt aus der Öffentlichkeit verdrängt, mit einer Mischung aus Gesetzen, Gewalt und Zermürbung. Als im Februar 2015 der Oppositionelle Boris Nemzow ermordet wurde, fiel die Opposition zunächst in eine Schockstarre, dann in Agonie. Der Mitbegründer der Partei Parnas stellte neben Nawalny die zweite charismatische Figur der sogenannten „nicht systemkonformen“ Opposition dar. Im Unterschied zu Nawalny hatte Nemzow vorher in der Regierung als Vizepremier gearbeitet und hatte nach wie vor Zugang zu Kreisen der politischen Führung. Nemzow wirkte als integrierende Kraft, die die zerstrittene Opposition um sich sammeln konnte. Nach dem Mord verstrickte sich die einst vielversprechende Partei Parnas in inneren Streitereien. Den Rest erledigt der Inlandsgeheimdienst FSB. Er filmte den Mitbegründer von Parnas und früheren russischen Premier Michail Kasjanow in einer unzweideutigen Bettszene kurz vor den Dumawahlen im Herbst 2016 und ließ die Nation daran teilhaben. KLAUS-HELGE DONATH Schwerpunkt Zur Diskussion DON N ERSTAG, 9. FEBRUAR 2017 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Was werfen die Kritiker Trump vor? Im Hinblick auf eine demokratische Debatte ist es dringend nötig, genauer hinzusehen Kein Tag vergeht, ohne dass Bilder von Demonstrationen gegen Donald Trump um die Welt gehen. Hier bei einer Protestaktion am Brandenburger Tor in Berlin am 4. Februar 2017 Foto: Stefan Boness/Ipon Ende des Kuschelns ESSAY Geht es den Kritikern von US-Präsident Trump wirklich um die Verteidigung gemeinsamer westlicher Werte? Schön wär’s VON BETTINA GAUS Freiheit, Menschenrechte, Demokratie, Gewaltenteilung und gutes Benehmen: Seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump ist der Eindruck entstanden, dass diese Themen ein Herzensanliegen aller möglichen Leute sind – von Wirtschaftsmagnaten bis zu Spitzenpolitikern. Das freut diejenigen, die sich mit den meisten dieser Anliegen lange alleingelassen fühlten. Aber es steht zu befürchten, dass sie sich zu früh freuen. Es gibt Indizien dafür, dass die scheinbare Übereinstimmung hinsichtlich der Kritik an Trump auf einem Missverständnis beruht. Ja: Die Sorge bei den Verbündeten der USA wächst angesichts der politischen Richtung, die Donald Trump einschlägt. Nein: Sie meinen nicht alle dasselbe, wenn sie gemeinsam den neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten kritisieren. Je lauter dieser Chor singt, desto seltener wird nach seinem Repertoire gefragt. Die Frage, wer Trump eigentlich verurteilt und aus welchen Gründen, wird immer seltener gestellt. Hauptsache, Widerspruch. Das gaukelt eine Gemeinsamkeit vor, die nicht besteht. Kein Tag vergeht, ohne dass Bilder von Demonstrationen um die Welt gehen, auf denen sympathische Frauen und Männer selbst gebastelte Schilder mit freundlichen Botschaften hochhalten. Kein Tag vergeht, an dem Donald Trump nicht mit einer neuen, bizarren Äußerung für Kopfschütteln sorgt – in fast allen politischen Lagern, selbst in seinem eigenen. Kein Tag vergeht ohne ungewöhnlich deut- liche Kritik am US-Präsidenten von jemandem, dem oder der man das eigentlich nie zugetraut hätte. Wenn das kein Hinweis darauf ist, dass es eben doch gemeinsame westliche Werte gibt, die auch gemeinsam verteidigt werden! Schön wär’s. Davon kann keine Rede sein. Zunächst einmal und vor allem ist das ein Hinweis auf die Gesetzmäßigkeiten, denen Medien folgen. Mit Inhalten hat das nicht zwangsläufig etwas zu tun – und schon gar nicht mit einer Analyse dieser Inhalte. Die scheinbare Übereinstimmung hinsichtlich der Kritik an Trump beruht auf einem Missverständnis Medien, vor allem elektronische Medien, bedienen sich sogenannter human touch stories, also besonders eindrucksvoller Geschichten über Einzelschicksale, um Interesse zu wecken und Einschaltquoten zu steigern. Deshalb wurde die Berichterstattung über das Einreiseverbot für Bürgerinnen und Bürger aus sieben überwiegend muslimischen Ländern in die USA begleitet von herzzerreißenden Erzählungen über getrennte Familien. Wunderbar, dass solche Geschichten es einmal in die Hauptnachrichten schaffen. Weniger wunderbar, dass im Windschatten dieser Informationen das Augenmerk von dem abgelenkt wird, was in Europa, auch in Deutschland, geschieht und was in den letzten Jahren geschah. Zur Erinnerung: Die Bedingungen für die Zusammenführung von Familien aus Krisengebieten ist in Deutschland 2016 dramatisch verschärft worden. Bis zu zwei Jahren müssen sie jetzt darauf warten. Zur Erinnerung: Deutschland hat Asylsuchende nach Afghanistan abgeschoben. Das ist ein Staat, in dem seit Jahren ein gemeinsamer Militäreinsatz von Ländern stattfindet, die von sich behaupten, sie verteidigten westliche Werte. Und sie verfolgten mehrere Ziele, zum Beispiel die Einführung der Demokratie. Der Erfolg ist gering. Kanzlerin Angela Merkel hat mit der Kürzung von Mitteln für Schleswig-Holstein gedroht, weil das Bundesland gegenwärtig keine Asylbewerber nach Afghanistan abschieben will. Worin besteht eigentlich der Unterschied zu einer von Donald Trump angekündigten Streichung von Geldern für Kalifornien, das Immigranten ohne gültige Papiere nicht juristisch verfolgen will? Zur Erinnerung: Gerade erst hat sich die Europäische Union auf ein Zehn-Punkte-Programm verständigt, mit dem die Flucht über das Mittelmeer verhindert werden soll. Hüter westlicher Werte und Unterzeichnerstaaten der UN-Flüchtlingskonvention behaupten zu glauben, dass eine engere Zusammenarbeit mit dem Failed State Libyen das Flüchtlingsproblem in Europa lösen könne. Aber: Worin unterscheidet sich das – grundsätzlich – vom Bau der Mauer nach Mexiko, die Donald Trump angekündigt hat? Zur Erinnerung: Flüchtlinge sollen von Europa ferngehal- ten werden – mithilfe des türkischen Präsidenten. Dabei hält ihn innerhalb der EU wohl niemand mehr für einen Verbündeten im Hinblick auf Menschenrechte und Demokratie. Sollte Recep Tayyip Erdoğan das Abkommen aber nicht mehr erfüllen können oder wollen, dann kann man ja nach anderen Partnern suchen. Erwogen werden derzeit beispielsweise Vereinbarungen mit dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi, der Oppositionelle ohne jede Rücksicht auf internationale Konventionen verfolgt. Immerhin ist Ägypten ein langjähriger Verbündeter der westlichen Welt. Der überwältigende Anteil der Militärausgaben des Landes wird von den USA bezahlt – da wird man ja wohl wenigstens verlangen können, dass er uns Probleme vom Hals hält. Oder? Zurück nach Deutschland. Zur Erinnerung: Thomas Oppermann – das ist der Fraktionsvorsitzende der traditionsreichen sozialdemokratischen Partei Deutschlands – trat zunächst dafür ein, gerettete Bootsflüchtlinge vom Mittelmeer in „Auffanglager“ nach Libyen zurückzuschicken. Inzwischen hat er seine Position ein wenig differenziert. Ein wenig. Alle menschenrechtlichen Erwägungen, die derzeit von Entscheidungsträgern gegen Trump ins Feld geführt werden, sind scheinheilig. Europa verhält sich – im Prinzip – nicht anders als der neue US-Präsident. Das, was ihm wirklich zur Last gelegt wird, ist sein wirtschaftspolitischer Kurs. Anders ausgedrückt: Wenn er sich zu internationalem Freihandel bekennt, dann wird der exportorientierte Rest der Welt mit seinen Men- schenrechtsverletzungen schon klarkommen. War ja bisher auch nicht anders. Aber über all den Scherzen, die sich im Zusammenhang mit Donald Trump anbieten – schon wieder so ein blöder Tweet, was haben wir gelacht, höh, höh, höh! –, geht fast alles unter, was sonst noch so passiert. Der USPräsident macht es seinen Gegnerinnen und Gegnern leicht: Je länger man seine Äußerungen auf Twitter verfolgt, desto eher gewinnt man den Eindruck, dass der Mann ein ernsthaftes Intel ligenzproblem hat. Und Europa verhält sich – im Prinzip – nicht anders als Donald Trump vielleicht tatsächlich psychisch krank ist. Nüchtern betrachtet jedoch geht es im Zusammenhang mit seiner Präsidentschaft vor allem um zwei Probleme: Um die Frage, ob Trump das Prinzip der Gewaltenteilung anzuerkennen bereit ist. Das ist ein überwiegend innenpolitisches Thema. Und um die Frage, ob er willens ist, geschlossene Verträge einzuhalten. Das ist ein überwiegend außenpolitisches Thema. Gegenwärtig sieht es so aus, als wolle er – geradezu lustvoll – beide Fragen verneinen. Er benimmt sich wie ein SchulhofBully, der umso lauter lacht, je mehr seiner Klassenkameraden vor ihm zurückweichen. Das ist ja auch die einfachste Ebene der Lagerbildung: Du passt dich dem Typen in der Hoffnung auf Vorteile an – wie zahlreiche USRepublikaner es getan haben, deren devote Haltung gegenüber Trump sogar viele Parteifreunde und -freundinnen schockiert hat. Genützt hat es ihnen nichts. Oder du verweigerst dich in der Hoffnung, dass dein Mut irgendwann in ferner Zukunft anerkannt wird. Aber Politik ist eben kein Streit zwischen Heranwachsenden. Es ist ein Unterschied, ob Bundesbank-Präsident Jens Weidmann klar Stellung bezieht gegenüber der Behauptung von Donald Trump, die EU würde sich Wettbewerbsvorteile mit einem absichtlich schwach gehaltenen Euro verschaffen. Oder ob Menschenrechtler darauf hinweisen, dass der Kurs von Donald Trump insgesamt auf Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfassungsbruch hinausläuft. Wenn es zum guten Ton gehört, sich vom Regierungschef eines anderen Landes zu distanzieren, ist Misstrauen angebracht. Gegenwärtig ist die Stimmung im Lager all derjenigen, die den neuen US-Präsidenten kritisieren, allzu nett. Sie alle tun so, als glaubten sie ernsthaft, einer Meinung zu sein im Hinblick auf den neuen Kurs im Weißen Haus. Das sind sie nicht. Es gibt Kritiker und Kritikerinnen des USPräsidenten, denen es vor allem um das Thema Menschenrechte geht. Andere interessieren sich vor allem für das Thema Freihandel. Das ist nicht dasselbe. Man sollte auch nicht so tun, als ob. Deshalb: Ende des Kuschelns, nach innen und nach außen. Im Hinblick auf eine demokratische Diskussion wäre das ein – überfälliger – Anfang.
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