taz.die tageszeitung

Berlinale: Protest, Humor und Science-Fiction
Ab heute täglich Sonderseiten zu den Internationalen Filmfestspielen in Berlin
BERLINALE
AUSGABE BERLIN | NR. 11247 | 6. WOCHE | 39. JAHRGANG
DONNERSTAG, 9. FEBRUAR 2017 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
H EUTE I N DER TAZ
The greatest
Berlinale in
the WORLD!
It’s true.
TÜRKEI Wieder in Frei-
heit, aber in Angst: Die
Anwältin Ayşe Acinikli
und das Leben im Ausnahmezustand ▶ SEITE 5
SPANIEN Regieren oder
nicht regieren? Die unterschiedlichen Ziele der
Podemos-Flügel ▶ SEITE 4
TRUMP Bettina Gaus
über die vermeintliche
Einigkeit der TrumpKritiker und warum sie
täuscht ▶ SEITE 3
BERLINALE All the other
Berlinales are fake.
ENJOY! ▶ SEITE 19, 21-24
Foto oben: dpa
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Die neuen Probleme im Hauptstadtflughafen BER bringen
das Projekt weiter in Verzug.
Rund 1.000 Türen lassen sich
nicht ordnungsgemäß elektronisch steuern. Die Anschlüsse
müssen neu gesteckt werden.
„Das dauert Monate, weil man
jede einzelne Tür ausprobieren
muss“, hieß es. Zudem müssen
Rohre für die Sprinkleranlage
ausgetauscht werden. Flughafenchef Mühlenfeld erläuterte,
Wasserleitungen von 2 Kilometer Länge müssten ersetzt werden. „Es gibt eine Kette von
Ärgernissen“, erklärte Bürgermeister Müller. Das Bauprojekt
befinde sich trotzdem
„in der Schlussphase“.
TAZ MUSS SEI N
Filme mit „Mut, Zuversicht und viel Humor“ hat der Berlinale-Chef versprochen. Josef Hader als arbeitsloser Musikkritiker in „Wilde Maus“ sieht hier eher nicht so aus Foto: Wega Film
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KOMMENTAR VON ULRIKE HERRMANN ZU DEN FINANZVERHANDLUNGEN MIT GRIECHENLAND
D
er neue US-Präsident Donald
Trump gilt längst als die größte Gefahr, die Europa je dräuen könnte.
Diese Sicht ist bequem, aber verkürzt, ja
sogar falsch. Die Existenz Europas entscheidet sich gerade anderswo: in Griechenland.
Hinter den Kulissen wird wieder um
die Rettungspakete gerungen – und
Deutschlands Finanzminister Schäuble
bleibt stur. Die Griechen sollen noch
mehr sparen, obwohl der Sparkurs nicht
funktioniert. Das Schlüsselwort heißt
„Primärüberschuss“. Gemeint ist das
Plus im Haushalt, wenn man die Zinsen
Sparen im Konjunktiv
und Tilgung der Kredite nicht berücksichtigt.
Bis 2018 sollen die Griechen einen Primärüberschuss von 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung erzielen. Das ist unmöglich – obwohl die Griechen alle Sparauflagen erfüllen. Denn die ökonomische
Logik ist stärker: Werden die Staatsausgaben drastisch gekürzt, bricht die Wirtschaft ein. Wo im Haushalt ein großes
Plus stehen sollte, bleibt höchstens ein
kleiner Überschuss.
Der IWF hat längst die theoretische
Konsequenz gezogen: Ein großer Teil der
griechischen Schulden müsse gestrichen
werden – und der geforderte Primärüberschuss auf 1,5 Prozent sinken.
Doch Schäuble ignoriert diese Realitäten und verlangt ein Sparprogramm
im Konjunktiv: Die Griechen sollen
jetzt schon Kürzungen beschließen, die
nach 2018 greifen, falls der Primärüberschuss dann keine 3,5 Prozent be-
Schäuble gibt den Diktator
und macht Griechenland
zur deutschen Kolonie
trägt. Schäuble verhält sich wie ein Diktator: Er weiß, dass seine Sparauflagen
für Griechenland nicht funktionieren –
sonst wäre es ja überflüssig, weitere Kürzungsprogramme zu fordern. Trotzdem
wird Griechenland zur deutschen Kolonie gemacht.
Deutsche Wähler goutieren Schäubles
Stärke, doch jenseits der Grenzen verfestigt sich ein unschönes Bild: Deutschland
erscheint als ein irrationaler Hegemon,
der Europa dominiert und schwächere
Staaten grausam quält. Das wird sich
noch rächen.
Wirtschaft + Umwelt SEITE 8
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
Der Tag
DON N ERSTAG, 9. FEBRUAR 2017
NACH RICHTEN
PI RATENANGRI FF AUF OSTFRI ESISCH ES SCH I FF VOR N IGERIA
PARTEI ENSPEN DEN
Russische und ukrainische Seeleute entführt Bundestag muss
Spenden kundtun
ABUJA/BERLIN | Vor der Küste Ni-
Milliardärin und Ministerin:
Betsy DeVos Foto: reuters
Lobbyistin der
Privatschule
W
er genügend Geld spendet, kann es in Donald
Trumps Kabinett schaffen. Das hat Betsy DeVos, die
neue Bildungsministerin, bewiesen. Die Milliardärin, die seit
Jahren Lobbying für die Privatisierung der öffentlichen Schulen macht, und ihre Familie haben im Laufe der Jahre mehr als
200 Millionen Dollar an die Republikanische Partei gespendet.
Zu den EmpfängerInnen dieser
Gelder gehörten unter anderem
22 der 50 republikanischen SenatorInnen, die am Dienstag für
die ebenso unerfahrene wie umstrittene Kandidatin gestimmt
haben.
Der Aufstieg der 59-jährigen DeVos in die US-Regierung
zeigt darüber hinaus, wie eng
die Grenzen der Blockademöglichkeiten der DemokratInnen
im Kongress sind. In den zurückliegenden Wochen haben
sie – unterstützt von Lehrergewerkschaften und Elternvereinigungen – einen großen Teil ihrer
Kräfte darauf konzentriert, DeVos’ Bestätigung zu verhindern.
Sie konnten lediglich zwei republikanische Senatorinnen auf
ihre Seite ziehen. Das reichte
nicht. Bei der Abstimmung im
Senat gab es ein Patt, das Vizepräsident Mike Pence, der DeVos ideologisch nahesteht, mit
seiner Stimme zu einer Zustimmung machte. Es war das erste
Mal in der US-Geschichte, dass
ein Vizepräsident den Ausschlag
für die Ernennung eines Kabinettsmitglieds gab.
Betsy DeVos hat weder als
Lehrerin noch als Schülerin
Erfahrungen mit öffentlichen
Schulen. Ihre steinreichen und
erzkonservativen Eltern haben
sie auf eine religiöse Privatschule geschickt. DeVos nennt
öffentliche Schulen eine „Sackgasse“. Als Lobbyistin hat sie
vor allem PolitikerInnen unterstützt, die Gelder, Räumlichkeiten und Personal aus den öffentlichen Schulen an die privaten
„Charter-Schulen“ umleiten.
In Michigan war sie damit
so erfolgreich, dass es einer der
Bundesstaaten mit den meisten
Charter-Schulen und dem prekärsten Bildungsniveau in den
USA wurde.
Kaum war DeVos am Dienstag gewählt, zeigte ein republikanischer Kongressabgeordneter, wohin ihre Reise gehen
soll. Thomas Massie aus Kentucky legte ein Gesetz vor, wonach
das Bildungsministerium zum
31. Dezember 2018 geschlossen
werden soll. DOROTHEA HAHN
gerias haben Piraten ein Frachtschiff eines deutschen Unternehmens überfallen und acht
Menschen als Geiseln genommen. Es handle sich dabei um
sieben Russen und einen Ukrainer, teilte die russische
Botschaft in Abuja am Mittwoch mit. Die Piraten stürmten demnach am Sonntagmorgen das Schiff „BBC Caribbean“,
das dem ostfriesischen Unternehmen Briese Schiffahrt gehört. Nach einem Schusswechsel seien die Seeleute gefangen
genommen worden. Zum Verbleib der Männer war zunächst
nichts bekannt. Die Firma bestätigte die Entführung. Die ukrainische Regierung sagte, der
Angriff sei am Montag erfolgt.
Das Schiff befand sich im Atlantischen Ozean südwestlich des
„Pennington Oil Terminal“ auf
dem Weg von Kamerun zu den
Kanarischen Inseln. Nigeria ist
zum Zentrum der internationalen Seepiraterie geworden, mit
36 von insgesamt 62 erfolgreichen Piratenangriffen weltweit
im Jahr 2016. Die Angreifer gehören meist zu Schmugglerkreisen und Ölrebellen, die in den
Ölgebieten des Landes gegen die
Regierung kämpfen. (dpa, taz)
BERLIN | Kritiker der Parteienfi-
nanzierung haben einen Etappensieg erzielt. Das Verwaltungsgericht Berlin hat den
Bundestag verpflichtet, interne
Unterlagen zu Parteispenden
und Rechenschaftsberichten
herauszugeben. Das geht aus
einem am Mittwoch bekanntgewordenen Urteil hervor, das
dpa vorliegt und über das zuvor
der Spiegel berichtete. Danach
muss der Bundestag Zugang zu
„Korrespondenzen, Vermerken,
Dienstanweisungen oder sonstigen amtlichen Aufzeichnungen“ gewähren. (dpa)
TEASER EI NS MAN U ELL
PLEITEWELLE BEI ZULI EFERERN
Ich bin ein Blindtext. Von Geburt
an. Es hat lange gedauert, bis ich
begriffen habe, was es bedeutet,
ein blinder Text zu sein: Man
macht keinen Sinn. Man 05 wirkt
hier und da aus dem Zusammenhang gerissen. Oft wird man ga
Headline light
Ich bin ein
Blindtext. Von
www.taz.de
Trend zum E-Auto
killt Arbeitsplätze
MÜNCHEN | Insolvenzverwalter
sehen mit dem Elektroauto eine
Pleitewelle auf die deutsche Zulieferindustrie zurollen. Denn
vom Kolben über das Getriebe
bis zum Auspuff werden gegenüber dem Verbrennungsmotor viele Teile überflüssig. Jede
Neunte der oft hochspezialisierten Firmen sei dann nicht mehr
zu retten. Mehr als 100.000 Arbeitsplätze könnten so in den
nächsten 15 Jahren verloren gehen, sagte Martin Prager vom
Deutschen Anwaltverein. Das
wären rund 10 Prozent aller Jobs
in der Autoindustrie. (dpa)
Russische Justiz auf dem Holzweg
PROZESS Ein Provinzgericht verurteilt den Oppositionellen Alexei Nawalny wegen Holzdiebstahls zu einer
Haftstrafe auf Bewährung und verhindert so, dass er bei den nächsten Präsidentschaftswahlen antreten darf
AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH
„Haben Sie gute Nachrichten für
mich?“, lachte der Angeklagte,
als der Richter zur Urteilsverlesung den Saal betritt. „Erfahren
Sie gleich“, schmunzelte Richter
Alexei Wtjurin. Was er dann zu
verkünden hatte, war für den
russischen
Antikorruptionskämpfer Alexei Nawalny und
den mitangeklagten Geschäftsmann Pjotr Ofizerow keine
frohe Botschaft. Das Gericht in
der Stadt Kirow befand beide
Angeklagte der Unterschlagung
für schuldig. Wtjurin verlas den
gleichen Schriftsatz, der schon
beim ersten Verfahren im Juli
2013 vorgetragen wurde – das
sagte jedenfalls Nawalny. Am
Ende standen fünf Jahre Haft
auf Bewährung und damit verbunden ein Verbot, an Wahlen
als Kandidat teilzunehmen.
Der charismatische Oppositionelle hatte für den Fall, dass
er noch im Gerichtssaal festgenommen werden sollte, schon
eine gepackte Reisetasche mitgebracht. Nawalny und Ofizerow, so lautete die Anklage, sollen das staatliche Unternehmen „Kirowles“ um Bauholz in
Höhe von 250.000 Euro geprellt
haben.
Der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte (EGHM)
hatte das Urteil von 2013 mit der
Begründung, es hätte sich bei
dem Holzgeschäft um eine übliche unternehmerische Transaktion gehandelt, zurückgewiesen.
Russlands oberstes Gericht wies
den Fall zur Neubehandlung zurück – wieder an das Gericht im
800 Kilometer nordöstlich von
Moskau gelegenen Kirow. Dort
saßen dieselben Staatsanwälte,
die schon 2013 für Nawalny fünf
und für Ofizerow vier Jahre Haft
gefordert hatten.
Im Dezember wurde das neue
Verfahren eröffnet. Zeitgleich
hatte Nawalny seine Kandidatur für die russischen Präsidentschaftswahlen 2018 angekündigt. Die Aufhebung des Urteils
machte ihn wieder „wählbar“.
Nach der russischen Gesetzgebung verlieren wegen schwerer Delikte Verurteilte den Anspruch, an Wahlen teilzunehmen zu dürfen.
Das einzige neue Gesicht in
dem kleinen, stickigen Gerichtssaal in Kirow war Richter Alexei
Wtjurin, der zu dem Spektakel
gelegentlich noch eine humoristische Note beisteuerte. Für ihn
war es sein wichtigster Prozess.
Sonst verurteilt er in der Pro-
vinz Kleinkriminelle. Am Ende
befolgte aber auch er offenbar
nur Anweisungen von höherer Stelle. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass der Kreml im
Verfahren versus Nawalny das
Drehbuch geschrieben hat.
Der neue Schuldspruch verurteilt den Volkstribunen dazu,
auch die nächsten Wahlen nur
als Zuschauer zu verfolgen.
Auch öffentliche Auftritte und
politisches Engagement sind
ihm verboten. Nawalny hatte
von Anfang an keinen Zweifel
daran gelassen, dass es sich um
einen Prozess handele, der ihn
abhalten sollte, Politik zu machen. „Das ist ein politischer
Fall“, meinte der Jurist. Schon
im Vorfeld kündigte er an, das
„Urteil beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
und beim obersten Gericht anzufechten“.
Am Ende befolgte
der Richter offenbar
nur Anweisungen
von höherer Stelle
Fünf Jahre Haft auf Bewährung für den Antikorruptionskämpfer Alexei Nawalny Foto: Maxim Shemetov/reuters
Mord, Haft und ein Sexvideo
OPPOSITION
Nawalnys
Tätigkeit
beschränkt sich zurzeit auf die
Leitung einer „Stiftung für den
Kampf gegen die Korruption“.
Ihm gelingt es immer wieder,
haarsträubende Korruptionsfälle der russischen Elite aufzudecken.
Seine Popularität aber hat gelitten. Nach dem Urteil im Juli
2013 konnte er unerwartet an
den Bürgermeisterwahlen in
Moskau teilnehmen. Aus dem
Stand erreichte er damals sensationelle 27 Prozent – und
das ohne einen Zugang
zum Fernsehen.
THEMA
DES
TAGES
Der Widerstand gegen Präsident Putin ist infolge eigener Schwächen und der Arbeit der Geheimdienste marginalisiert
MOSKAU taz | Alexei Nawalny
ist Russlands einziger Oppositioneller, der eine positive Bilanz vorweisen kann. 2013 ließ
der Kreml den populären Politiker bei den Wahlen zum Amt des
Bürgermeisters in letzter Minute antreten. Die Regierenden
waren überzeugt, dass der Jurist
gegen Moskaus Stadtvorderen
Sergei Sobjanin eine krachende
Niederlage erleiden würde. Zur
Ernüchterung sozusagen. Stattdessen erhielt er 27 Prozent der
Stimmen in der Hauptstadt.
Ein riesiger Stab von Freiwilligen war dem populären Fami-
lienvater behilflich. Das war Nawalnys letzter großer Triumph.
Seither wird er durch Prozesse
und Verfahren daran gehindert,
sich in die Politik einzuschalten.
Nach den gefälschten Wahlergebnissen bei den Dumawahlen
2011 galt er kurzfristig als Hoffnungsträger der jüngeren, gebildeten und aufgeklärteren städtischen Wählerschichten.
Diese
Hoffnungen
verschwanden mit der Wiederwahl
Wladimir Putins in den Kreml
2012. Es gibt kaum noch hörbare Gegenstimmen. Nicht zuletzt ist dies auch ein Ergebnis,
das mit der Annexion der Krim
einherging, die auch in vielen
oppositionellen Zirkeln auf Zustimmung stieß. Auch Nawalny
sprach sich nicht gegen den
Übergriff des Kreml aus.
Das Vorgehen gegen Demonstranten nach der Amtseinführung Präsident Putins 2012 trug
ebenfalls dazu bei, dass Aktivitäten der Opposition abflauten. Gerichte verhängten drakonische Strafen. Erinnert sei an
die Lagerhaft für die Punkerinnen von Pussy Riot. Opposition
und Zivilgesellschaft wurden
gezielt aus der Öffentlichkeit
verdrängt, mit einer Mischung
aus Gesetzen, Gewalt und Zermürbung.
Als im Februar 2015 der Oppositionelle Boris Nemzow ermordet wurde, fiel die Opposition
zunächst in eine Schockstarre,
dann in Agonie. Der Mitbegründer der Partei Parnas stellte neben Nawalny die zweite charismatische Figur der sogenannten „nicht systemkonformen“
Opposition dar. Im Unterschied
zu Nawalny hatte Nemzow vorher in der Regierung als Vizepremier gearbeitet und hatte nach
wie vor Zugang zu Kreisen der
politischen Führung. Nemzow
wirkte als integrierende Kraft,
die die zerstrittene Opposition
um sich sammeln konnte.
Nach dem Mord verstrickte
sich die einst vielversprechende
Partei Parnas in inneren Streitereien. Den Rest erledigt der
Inlandsgeheimdienst FSB. Er
filmte den Mitbegründer von
Parnas und früheren russischen
Premier Michail Kasjanow in einer unzweideutigen Bettszene
kurz vor den Dumawahlen im
Herbst 2016 und ließ die Nation
daran teilhaben. KLAUS-HELGE DONATH
Schwerpunkt
Zur Diskussion
DON N ERSTAG, 9. FEBRUAR 2017
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Was werfen die Kritiker Trump vor? Im Hinblick auf eine
demokratische Debatte ist es dringend nötig, genauer hinzusehen
Kein Tag vergeht, ohne dass Bilder von Demonstrationen gegen Donald Trump um die Welt gehen. Hier bei einer Protestaktion am Brandenburger Tor in Berlin am 4. Februar 2017 Foto: Stefan Boness/Ipon
Ende des Kuschelns
ESSAY Geht es den Kritikern von US-Präsident Trump wirklich um die Verteidigung gemeinsamer westlicher Werte? Schön wär’s
VON BETTINA GAUS
Freiheit, Menschenrechte, Demokratie,
Gewaltenteilung
und gutes Benehmen: Seit dem
Amtsantritt von US-Präsident
Donald Trump ist der Eindruck
entstanden, dass diese Themen
ein Herzensanliegen aller möglichen Leute sind – von Wirtschaftsmagnaten bis zu Spitzenpolitikern. Das freut diejenigen, die sich mit den meisten
dieser Anliegen lange alleingelassen fühlten. Aber es steht zu
befürchten, dass sie sich zu früh
freuen. Es gibt Indizien dafür,
dass die scheinbare Übereinstimmung hinsichtlich der Kritik an Trump auf einem Missverständnis beruht.
Ja: Die Sorge bei den Verbündeten der USA wächst angesichts der politischen Richtung, die Donald Trump einschlägt. Nein: Sie meinen nicht
alle dasselbe, wenn sie gemeinsam den neuen Präsidenten der
Vereinigten Staaten kritisieren.
Je lauter dieser Chor singt, desto
seltener wird nach seinem Repertoire gefragt.
Die Frage, wer Trump eigentlich verurteilt und aus welchen
Gründen, wird immer seltener
gestellt. Hauptsache, Widerspruch. Das gaukelt eine Gemeinsamkeit vor, die nicht besteht.
Kein Tag vergeht, ohne dass
Bilder von Demonstrationen
um die Welt gehen, auf denen
sympathische Frauen und Männer selbst gebastelte Schilder
mit freundlichen Botschaften
hochhalten. Kein Tag vergeht, an
dem Donald Trump nicht mit einer neuen, bizarren Äußerung
für Kopfschütteln sorgt – in fast
allen politischen Lagern, selbst
in seinem eigenen. Kein Tag vergeht ohne ungewöhnlich deut-
liche Kritik am US-Präsidenten
von jemandem, dem oder der
man das eigentlich nie zugetraut hätte. Wenn das kein Hinweis darauf ist, dass es eben
doch gemeinsame westliche
Werte gibt, die auch gemeinsam verteidigt werden!
Schön wär’s. Davon kann
keine Rede sein. Zunächst einmal und vor allem ist das ein
Hinweis auf die Gesetzmäßigkeiten, denen Medien folgen. Mit Inhalten hat das nicht
zwangsläufig etwas zu tun – und
schon gar nicht mit einer Analyse dieser Inhalte.
Die scheinbare
Übereinstimmung
hinsichtlich der
Kritik an Trump
beruht auf einem
Missverständnis
Medien, vor allem elektronische Medien, bedienen sich sogenannter human touch stories,
also besonders eindrucksvoller
Geschichten über Einzelschicksale, um Interesse zu wecken
und Einschaltquoten zu steigern. Deshalb wurde die Berichterstattung über das Einreiseverbot für Bürgerinnen und Bürger
aus sieben überwiegend muslimischen Ländern in die USA begleitet von herzzerreißenden Erzählungen über getrennte Familien.
Wunderbar, dass solche Geschichten es einmal in die
Hauptnachrichten schaffen. Weniger wunderbar, dass im Windschatten dieser Informationen
das Augenmerk von dem abgelenkt wird, was in Europa, auch
in Deutschland, geschieht und
was in den letzten Jahren geschah.
Zur Erinnerung: Die Bedingungen für die Zusammenführung von Familien aus Krisengebieten ist in Deutschland 2016
dramatisch verschärft worden.
Bis zu zwei Jahren müssen sie
jetzt darauf warten.
Zur Erinnerung: Deutschland hat Asylsuchende nach
Afghanistan abgeschoben. Das
ist ein Staat, in dem seit Jahren
ein gemeinsamer Militäreinsatz
von Ländern stattfindet, die von
sich behaupten, sie verteidigten
westliche Werte. Und sie verfolgten mehrere Ziele, zum Beispiel
die Einführung der Demokratie.
Der Erfolg ist gering.
Kanzlerin Angela Merkel hat
mit der Kürzung von Mitteln
für Schleswig-Holstein gedroht,
weil das Bundesland gegenwärtig keine Asylbewerber nach Afghanistan abschieben will. Worin besteht eigentlich der Unterschied zu einer von Donald
Trump angekündigten Streichung von Geldern für Kalifornien, das Immigranten ohne
gültige Papiere nicht juristisch
verfolgen will?
Zur Erinnerung: Gerade erst
hat sich die Europäische Union
auf ein Zehn-Punkte-Programm
verständigt, mit dem die Flucht
über das Mittelmeer verhindert werden soll. Hüter westlicher Werte und Unterzeichnerstaaten der UN-Flüchtlingskonvention behaupten zu glauben,
dass eine engere Zusammenarbeit mit dem Failed State Libyen
das Flüchtlingsproblem in Europa lösen könne. Aber: Worin
unterscheidet sich das – grundsätzlich – vom Bau der Mauer
nach Mexiko, die Donald Trump
angekündigt hat?
Zur Erinnerung: Flüchtlinge
sollen von Europa ferngehal-
ten werden – mithilfe des türkischen Präsidenten. Dabei hält
ihn innerhalb der EU wohl niemand mehr für einen Verbündeten im Hinblick auf Menschenrechte und Demokratie.
Sollte Recep Tayyip Erdoğan
das Abkommen aber nicht mehr
erfüllen können oder wollen,
dann kann man ja nach anderen Partnern suchen.
Erwogen werden derzeit beispielsweise Vereinbarungen mit
dem ägyptischen Präsidenten
Abdel Fattah al-Sisi, der Oppositionelle ohne jede Rücksicht auf
internationale Konventionen
verfolgt. Immerhin ist Ägypten
ein langjähriger Verbündeter
der westlichen Welt. Der überwältigende Anteil der Militärausgaben des Landes wird von
den USA bezahlt – da wird man
ja wohl wenigstens verlangen
können, dass er uns Probleme
vom Hals hält. Oder?
Zurück nach Deutschland.
Zur Erinnerung: Thomas Oppermann – das ist der Fraktionsvorsitzende der traditionsreichen
sozialdemokratischen Partei
Deutschlands – trat zunächst
dafür ein, gerettete Bootsflüchtlinge vom Mittelmeer in „Auffanglager“ nach Libyen zurückzuschicken. Inzwischen hat er
seine Position ein wenig differenziert. Ein wenig.
Alle menschenrechtlichen
Erwägungen, die derzeit von
Entscheidungsträgern gegen
Trump ins Feld geführt werden,
sind scheinheilig. Europa verhält sich – im Prinzip – nicht anders als der neue US-Präsident.
Das, was ihm wirklich zur Last
gelegt wird, ist sein wirtschaftspolitischer Kurs. Anders ausgedrückt: Wenn er sich zu internationalem Freihandel bekennt,
dann wird der exportorientierte
Rest der Welt mit seinen Men-
schenrechtsverletzungen schon
klarkommen. War ja bisher auch
nicht anders.
Aber über all den Scherzen,
die sich im Zusammenhang mit
Donald Trump anbieten – schon
wieder so ein blöder Tweet, was
haben wir gelacht, höh, höh,
höh! –, geht fast alles unter, was
sonst noch so passiert. Der USPräsident macht es seinen Gegnerinnen und Gegnern leicht: Je
länger man seine Äußerungen
auf Twitter verfolgt, desto eher
gewinnt man den Eindruck,
dass der Mann ein ernsthaftes
Intel­
ligenzproblem hat. Und
Europa
verhält sich
– im Prinzip –
nicht anders als
Donald Trump
vielleicht tatsächlich psychisch
krank ist.
Nüchtern betrachtet jedoch
geht es im Zusammenhang mit
seiner Präsidentschaft vor allem um zwei Probleme: Um die
Frage, ob Trump das Prinzip der
Gewaltenteilung anzuerkennen
bereit ist. Das ist ein überwiegend innenpolitisches Thema.
Und um die Frage, ob er willens
ist, geschlossene Verträge einzuhalten. Das ist ein überwiegend
außenpolitisches Thema.
Gegenwärtig sieht es so aus,
als wolle er – geradezu lustvoll
– beide Fragen verneinen. Er benimmt sich wie ein SchulhofBully, der umso lauter lacht, je
mehr seiner Klassenkameraden
vor ihm zurückweichen. Das ist
ja auch die einfachste Ebene
der Lagerbildung: Du passt dich
dem Typen in der Hoffnung auf
Vorteile an – wie zahlreiche USRepublikaner es getan haben,
deren devote Haltung gegenüber Trump sogar viele Parteifreunde und -freundinnen schockiert hat. Genützt hat es ihnen
nichts. Oder du verweigerst dich
in der Hoffnung, dass dein Mut
irgendwann in ferner Zukunft
anerkannt wird.
Aber Politik ist eben kein
Streit zwischen Heranwachsenden. Es ist ein Unterschied,
ob Bundesbank-Präsident Jens
Weidmann klar Stellung bezieht gegenüber der Behauptung von Donald Trump, die EU
würde sich Wettbewerbsvorteile
mit einem absichtlich schwach
gehaltenen Euro verschaffen.
Oder ob Menschenrechtler darauf hinweisen, dass der Kurs
von Donald Trump insgesamt
auf Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfassungsbruch hinausläuft.
Wenn es zum guten Ton gehört, sich vom Regierungschef
eines anderen Landes zu distanzieren, ist Misstrauen angebracht. Gegenwärtig ist die Stimmung im Lager all derjenigen,
die den neuen US-Präsidenten
kritisieren, allzu nett. Sie alle
tun so, als glaubten sie ernsthaft, einer Meinung zu sein im
Hinblick auf den neuen Kurs im
Weißen Haus.
Das sind sie nicht. Es gibt Kritiker und Kritikerinnen des USPräsidenten, denen es vor allem
um das Thema Menschenrechte
geht. Andere interessieren sich
vor allem für das Thema Freihandel. Das ist nicht dasselbe.
Man sollte auch nicht so tun,
als ob. Deshalb: Ende des Kuschelns, nach innen und nach
außen. Im Hinblick auf eine demokratische Diskussion wäre
das ein – überfälliger – Anfang.