Butterwegge: Der Überzeugungstäter Chancenlos, aber unverdrossen – der linke Präsidentschaftskandidat ▶ Seite 5 AUSGABE BERLIN | NR. 11246 | 6. WOCHE | 39. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ MITTWOCH, 8. FEBRUAR 2017 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Merkels Mauer ABSCHOTTUNG Die Kanzlerin hat versprochen, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren. Gesagt, getan: Nun forciert Merkel die Maßnahmen der EU, um Afrikaner von der Flucht über das Mittelmeer abzuhalten. Alles über den EU-Afrika-Gipfel heute in Malta ▶ SEITE 3 ENERGIEWENDE Die Fledermäuse und die Windkraft: neue Zahlen, neue Ideen ▶ SEITE 8 GEHALTSDECKEL VW- Manager sollen weniger verdienen ▶ SEITE 2, 12 WAHLMÄNNER Wahl- forscher Jung über Kandidat Schulz ▶ SEITE 4 BERLIN Mieterproteste in der Kreuzberger OttoSuhr-Siedlung ▶ SEITE 21 Fotos oben: dpa, laif VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! verboten unterstützt selbstverständlich gern und aus voller Lunge das komplette und auch im Winter ausnahmslos überall geltende Rauchverbot im neuen taz-Gebäude. Sehr gute Sache, das! Wieso? Und warum kein einziger Schutzraum für Raucher eingerichtet wird? Und ob das alle richtig finden? Also bitte! verboten wäre nicht verboten, wenn es bei einer Verbotsdiskussion auf die Gefühle anderer Leute oder gar auf gute Gegenargumente Rücksicht nehmen würde. Außerdem gibt es keine. Schließlich soll das Ding ja auch nicht Rauch-Haus heißen, sondern Ruch-Haus! Schlechte Aussichten für Flüchtlinge, die nach Europa wollen: Nach dem EU-Türkei-Pakt „wenden wir uns jetzt der zentralen Mittelmeerroute zu“, kündigte Angela Merkel vorige Woche an. Schon 2015 hatte die CDU-Chefin gesagt, auch Deutschland sei nun überfordert. „Deshalb wollen und werden wir die Zahl der Flüchtlinge spürbar reduzieren“ Foto: Christophe Stramba-Badiali/laif TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.664 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Europas Mauer heißt Mittelmeer, und an ihr sind allein im letzten Jahr 25-mal so viele Menschen gestorben wie entlang der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Europa könnte daraus die Konsequenzen ziehen und es anders machen. Doch sie tut das Gegenteil. Einmal mehr bittet die EU in diesen Tagen die ärmsten Staaten der Welt zum Gipfel nach Malta und versucht sie auf die Sicherung der europäischen Grenzen einzuschwören – mit viel Geld und mit Druck. Angela Merkels Deutschland ist die treibende Kraft in diesem Prozess. Dessen Folgen zeichnen sich bereits jetzt schon ab: mehr Tote, mehr Internierung. All das nimmt Brüssel in Kauf, in vorauseilendem Gehorsam vor den Rechtspopulisten. Drei Treffen in nur einer Woche – und jedes Mal werden die Flüchtlinge aus Afrika als größte Gefahr für Europa dargestellt. Obwohl 2016 nicht mehr als etwa 180.000 Menschen kamen. Dieses politische Schauspiel dürfte Populisten wie Geert Wilders, dem Front National und der AfD eher nützen als schaden. Bislang reagieren die meisten afrikanischen Staaten reserviert. Für sie gehören Entwicklung und Migration zusammen. Die reichen Industriestaaten profitieren ja auch seit Jahrhunderten von den Vorteilen der Migration und des freien Entwicklung oder Migra tion – so begegnet die EU den afrikanischen Staaten Verkehrs. Gegenüber den Afrikanern aber macht die EU nun die gegenteilige Logik auf: Entwicklung oder Migration. Entweder ihr macht für uns eure Grenzen zu, auf eurem eigenen Kontinent – oder wir helfen euch nicht mehr. Beim ersten Valletta-Gipfel 2015 war die Rede von Partnerschaft und gemeinsamen Interessen. Doch die afrikanischen Staaten monierten, dass ihre Vorschläge für Projekte der Partnerschaft mit der EU abgebügelt wurden. Dabei könnte es „Migrationspartnerschaft“ tatsächlich geben – sichere Fluchtwege, Arbeitsvisa, Flüchtlingskontingente. Das wäre dann tatsächlich der bessere Teil der freien Welt. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT Der Tag M IT TWOCH, 8. FEBRUAR 2017 NACH RICHTEN taz intern Silber für taz-Titel Aus der Traum: Expräsident Nicolas Sarkozy Foto: dpa Angeklagt und ausgeschieden F alls der französische Präsidentschaftskandidat François Fillon wegen der „Penelopegate“-Affäre doch noch das Handtuch werfen muss, wird Expräsident Nicolas Sarkozy ihn nicht ersetzen können. Das steht jetzt fest, denn der Konservative muss sich selbst vor Gericht verantworten. Die Justiz macht damit klar, dass selbst ein früherer Staatschef nicht über dem Gesetz steht. Sarkozy hatte sich mehrfach über die Richter lustig gemacht und sie unter anderem als „kleine Erbsen“ verspottet. Jetzt kommt die Retourkutsche: Zusammen mit 13 Mitangeklagten wird er in der sogenannten Bygmalion-Affäre wegen illegaler Finanzierung seiner Wahlkampagne von 2012 zur Rechenschaft gezogen. Sarkozy hatte damals fast doppelt so viel ausgegeben, als das Gesetz es erlaubte. Zudem wurde laut Anklage der heimliche Aufwand durch betrügerische Rechnungen der befreundeten Organisatoren von Bygmalion durch seine Partei beglichen. Als Sarkozy im letzten November bei den Vorwahlen der Konservativen schon in der ersten Runde ausschied, ahnte man schon, dass seine Karriere zu Ende gehen würde. Heute ist er 62 Jahre alt, er hat die höchsten Ämter und Posten erobert, die Stufen bis an die Spitze der Macht erklommen. Obwohl ihm seine Gattin Carla Bruni davon abriet, wollte er nochmals antreten – nicht zuletzt wohl auch deshalb, um als Präsident in den Genuss der Immunität zu kommen. In seiner arroganten und selbstherrlichen „Blingbling“Manier hatte Sarkozy wohl gehofft, dass er sich allein mit der Kraft seiner Unschuldsbeteuerungen der Justiz entziehen könnte. Nur ist die Tatsache, dass jemand schon einmal Präsident der Republik war, kein vollständiges Alibi. Auch sein Vorgänger Jacques Chirac war nach seiner Präsidentschaft wegen illegaler Finanzierung verurteilt worden. Nur hielt sich Sarkozy seit jeher für so einzigartig und überzeugend, dass ihn das nichts anging. Wie Fillon muss nun auch Sarkozy zu seinem Leidwesen konstatieren, dass die Mogeleien bei der Finanzierung von Karrieren und Kampagnen von ihren Landsleuten nicht mehr als Kavaliersdelikt toleriert werden. RUDOLF BALMER Eine schöne Auszeichnung für das taz-Team, das die Titelseiten unserer Zeitung produziert: Bei der Preisverleihung des medium magazins an die „Journalisten des Jahres 2016“ erhielt das tazTitelseiten-Team am Dienstagabend im Deutschen Historischen Museum in Berlin den 2. Preis in der Kategorie „Team“, hinter dem siegreichen Rechercheteam correctiv und vor dem drittplatzierten Team von dpa next. ■■Zur Begründung für die Auszeichnung der taz erklärte die Jury: „Die taz beweist täglich, dass die Kunst und Kultur der Titelseite essenziell bleibt. Sie Die ersten 100 Tage. Dorothea Hahn, taz-Korrespondentin in den USA, über den Alltag unter Trump blogs.taz.de Fischer, Jörg Kohn, Aletta Lübbers, Tim Seidel, Sonja Trabandt und Christiane Voß, der FotoredakteurInnen Erik Irmer, Mathias Königschulte, Isabel Lott, Elke Seeger und Petra Schrott, der Repro-Kolleginnen Claudia Benders, Maria Jessel, Aletta Lübbers und Daniela Leupelt und der am Enstehungsprozess der Titelseiten meist beteiligten ChefredakteurInnen Georg Löwisch, Katrin Gottschalk und Barbara Junge ■■Es ist aber auch eine Auszeichnung für die Vorschläge und Titel ideen aus dem ganzen Haus und für alle, die wir jetzt vielleicht aus Versehen vergessen haben. URTEI L ZU VATER-KONTAKT taz.de/twitter Der Kindeswille ist entscheidend taz.de/facebook STRASSBURG | Lehnt ein Kind aus Loyalität zur Mutter jeglichen Umgang mit seinem getrennt lebenden Vater ab, hat dieser nur eine geringe Chance auf einen Kontakt. Auch wenn die Mutter jahrelang den Umgang mit dem Vater vereitelt hat, muss bei der Durchsetzung des Umgangsrechts immer erst das Kindeswohl berücksichtigt werden, urteilte gestern der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und billigte das Vorgehen polnischer Behörden und Gerichte in einem Umgangs- und Sorgerechtsstreit. (epd) taz.de/vimeo Folgen Liken Klicken www.taz.de Armutsrisiko für VW-Manager So viel kriegen sie GELD Der VW-Aufsichtsrat will Managergehälter auf 10 Millionen Euro begrenzen. Die SPD findet das gut, obwohl sie selbst Verantwortung für die Spitzensaläre trägt VON HANNES KOCH BERLIN taz | Ulrich Hocker freut sich, dass seine alte Forderung nun auch beim VW-Konzern Gehör findet. „Vorstandsgehälter über 10 Millionen Euro pro Jahr stören den sozialen Frieden“, sagt der Präsident der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, die die Interessen von Aktionären vertritt. Genau diese Summe will der Aufsichtsrat des Autobauers nun offenbar als künftige Obergrenze für VW-Chef Matthias Müllers Bezahlung und die seiner Kollegen festlegen. 10 Millionen Euro – das kann man immer noch für sehr viel Geld halten. Es wäre aber deutlich weniger, als früher mitunter gezahlt wurde. Ex-VW-Chef Martin Winterkorn erhielt zu Spitzenzeiten 17,5 Millionen Euro. Mit der angepeilten Begrenzung zöge Deutschlands größter Fahrzeugproduzent eine weitere Konsequenz aus dem Betrugsskandal um gefälschte Dieselabgaswerte. Offenbar könnte der Aufsichtsrat am 24. Februar die Begrenzung beschließen. Die Bewegung bei VW passt zur aktuellen Debatte über soziale Gerechtigkeit. Mit ihrem Kanzlerkandidaten Martin Schulz befeuert die SPD diese Auseinandersetzung. Schulz selbst hat überhöhte Vorstandsgehälter jüngst kritisiert. SPD-Vizechef Thorsten Schäfer-Gümbel forderte einen „Gesetzentwurf noch in dieser Legislaturperiode.“ Darin solle stehen, dass Unternehmen Managergehälter von über 500.000 Euro im Jahr nicht mehr von der Ertrags- steuer abziehen könnten. Die Folge: Die Eigentümer und Aktionäre müssten Millionensaläre vollständig selbst finanzieren, was mäßigend wirken könnte. Die absolute Höhe der Verdienste lasse sich per Gesetz allerdings nicht reglementieren, sagte Schäfer-Gümbel. Au- Ex-VW-Chef Martin Winterkorn erhielt zu Spitzenzeiten 17,5 Millionen Euro ßerdem regte der SPD-Vize an: „Wir brauchen ein festgeschriebenes Maximalverhältnis zwischen der Vergütung von Vorständen und Managern auf der einen Seiten und dem Durchschnittseinkommen der Arbeit- nehmer auf der anderen Seite.“ Als Beispiel nannte er eine Proportion von eins zu acht. Wenngleich Linke und Grüne im Bundestag derartige Idee grundsätzlich unterstützen, dürfte daraus in dieser Legislaturperiode nichts mehr werden. Die Union wird ein solches Gesetz verhindern. Diese Blockade ist aber nur ein Teil der Geschichte. Auch die SPD trägt eine Verantwortung dafür, dass Exzesse bei der Vorstandsbezahlung bisher möglich sind. So wirkten an der besonderen Vergütungskultur bei VW diejenigen sozialdemokratischen Politiker mit, die im Aufsichtsrat des Konzerns saßen. Und selbst SPD-Bundesregierungen brachten nur Regelungen zuwege, die allenfalls gewisse Einschränkungen beinhalteten. Seit 2001 gibt es eine Besserverdiener: vier von neun VW-Vorstandsmitgliedern um Chef Matthias Müller (Mitte) mit Ministerpräsident Weil Foto: P. v. Ditfurth/dpa Maximallohngesetz ist möglich VERFASSUNGSRECHT ■■Die Spitzenmanager in Deutschland verdienen laut Studie der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz im internationalen Vergleich sehr gut, werden aber von Kollegen übertroffen. ■■Die Chefs der DAX-Unternehmen erhielten im Jahr 2015 im Durchschnitt eine Gesamtvergütung von 5,1 Millionen Euro. Die Chefs der großen französischen Firmen bekamen 4,7 Millionen Euro; die in der Schweiz sackten 6,8 Millionen Euro ein. In den USA verdienten die Chefs der großen börsennotierten Firmen im Schnitt 16,4 Millionen Euro. ■■Spitzenverdiener in Deutschland war Daimler-Chef Dieter Zetsche mit 8,5 Millionen Euro, gefolgt von Merck-Chef KarlLudwig Kley mit 7,9 Millionen Euro. VW-Chef Müller kommt auf 7,3 Millionen Euro. Renault-Chef Carlos Ghosn bekam dagegen 15,2 Millionen Euro. In den USA bekam Walt-Disney-Boss Robert Iger 39,2 Millionen Euro, gefolgt von GE-Chef Jeffrey R. Immelt mit 23,6 Millionen Euro. (taz) unter Bundeskanzler Gerhard Schröder ins Leben gerufene Regierungskommission, die einen Verhaltenskodex für Aktiengesellschaften weiterentwickelt. Darin stehen Empfehlungen und Anregungen. Ein absoluter Deckel oder ein festgelegtes Verhältnis zwischen Managerund Arbeitnehmerverdiensten existiert im hiesigen Recht jedoch nicht. Im Vergleich zu anderen Staaten macht Deutschland mit dieser Haltung keine Ausnahme. „Absolute Gehaltsobergrenzen legte die Politik nach der Finanzkrise nur für Banken fest, die sie mit öffentlichem Geld stützte“, sagte Michael Kramarsch, Chef der Unternehmensberatung HKP-Group. „Darüber hinaus sind mir international keine Vergütungsdeckel oder festgelegten Abstände zwischen Arbeitnehmer- und Vorstandsbezahlung bekannt.“ THEMA DES TAGES Der Gesetzgeber könnte eine Deckelung von Managergehältern für die ganze Wirtschaft vorschreiben FREIBURG taz | Was derzeit bei TRUMPLAND macht mit ihrem magazinigen Cover vor, wie wichtig ist es ist, als Zeitung auf einen Blick in den sozialen Medien präsent zu sein.“ ■■Der Preis würdigt die Arbeit der taz.eins-RedakteurInnen Gereon Asmuth, Patricia Hecht, Klaus Hillenbrand, Sunny Riedel, Rüdiger Rossig und Lukas Wallraff, der taz.am.wochenende-TitelgestalterInnen Sebastian Erb, Jörn Kabisch, Klaus Raab, Martin Reichert, Daniel Schulz, Annabelle Seubert, Luise Strothmann, Paul Wrusch und Felix Zimmermann, der LayouterInnen Karoline Bofinger, Kay Böhm, Bernd Cornely, Regina Ewald, Nadine DI E TAZ I M N ETZ VW diskutiert wird, könnte der Bundestag auch für die ganze Wirtschaft festlegen. Ein entsprechendes Maximallohngesetz kann – je nach Ausgestaltung – durchaus mit dem Grundgesetz vereinbar sein. Neben der bei VW diskutierten Deckelung der Vorstandsgehälter bei 10 Millionen Euro pro Jahr käme auch ein Modell infrage, über das in der Schweiz 2013 eine Volksabstimmung stattfand. Danach dürfte in einem Unternehmen niemand mehr als zwölfmal so viel verdienen wie der schlechtbezahlteste Mitarbeiter. Die von den Schweizer Jungsozialisten lancierte „1:12-Initiative“ wurde von der Bevölkerung allerdings mit 65 Prozent abgelehnt. Dass der Gesetzgeber in die freie Lohnvereinbarung eingreift, wäre in Deutschland kein Novum. Bestes Beispiel ist das 2014 beschlossene Mindest- lohngesetz, das jedem Beschäftigten einen Stundenlohn von zurzeit 8,84 Euro sichert. Die Vertragsfreiheit ist zwar als Teil der „Allgemeinen Handlungsfreiheit“ im Grundgesetz geschützt. Wie in fast alle Grundrechte (außer der Menschenwürde) darf der Gesetzgeber aber auch hier eingreifen – wenn er Gründe hat und das Gesetz verhältnismäßig ist. Ob Nutzen und Eingriff in einem angemessenen Verhältnis stehen, prüft im Streitfall das Bundesverfassungsgericht. Bei einem Maximallohngesetz käme es natürlich darauf an, wo die Obergrenze konkret festgesetzt wird. 10 Millionen Euro pro Jahr sind sicher eher verhältnismäßig als 500.000 Euro. Auf der anderen Seite müsste der Gesetzgeber erklären, was er mit dem Gesetz bezweckt. Anders als beim Mindestlohn hat beim gesetzlich definierten Maximallohn ja niemand einen un- mittelbaren Vorteil. Letztlich hat der Gesetzgeber aber einen weiten Einschätzungsspielraum: Wenn er behauptet, eine Deckelung der Managergehälter fördere den Zusammenhalt der Gesellschaft, wird Karlsruhe das wohl akzeptieren. Ein Gleichheitsproblem könnte sich jedoch ergeben, wenn die Obergrenze nur für Manager gälte, aber nicht für Fußballspieler und Popstars. CHRISTIAN RATH Schwerpunkt Grenzen M IT TWOCH, 8. FEBRUAR 2017 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 2015 vereinbarten die Regierungen Europas und Afrikas in Malta ein gemeinsames Vorgehen gegen MigrantInnen. Jetzt ziehen sie Bilanz Geld bieten und Übel androhen EUROPA UND AFRIKA Seit über einem Jahr versucht die EU, afrikanische Staaten zu überreden, sich als Ko-Grenzschützer herzugeben AUS VALLETTA CHRISTIAN JAKOB Wenn sich am Mittwoch und Donnerstag Vertreter der Europäischen und der Afrikanischen Union auf Malta treffen, dürfte es krachen. Die Europäer plagen sich mit der Flüchtlingskrise – für die Bevölkerung Afrikas hingegen ist Migration vor allem ein Versprechen auf ein besseres Leben. Seit mehr als einem Jahr versucht die EU, über ein Dutzend afrikanischer Staaten dazu zu bringen, sich als europäische Ko-Grenzschützer herzugeben. Im November 2015 hatte sie deshalb Minister und Präsidenten vieler Staaten Afrikas zum ersten Mal nach Malta geladen. Sie versprach ihnen auf dem Valletta-Gipfel 1,8 Milliarden Euro in einem „Nothilfefonds für Afrika“. Mit dem Scheckbuch sind Brüsseler Diplomaten seither durch Afrikas Hauptstädte gereist. Über 2,5 Milliarden Euro hat die EU als Motivationshilfe aus dem zwischenzeitlich aufgestockten „Nothilfefonds“ verteilt: Die eigentlich für Entwicklungszusammenarbeit gesperrte Diktatur Eritrea erhielt 85 Millionen Euro, das klassi- taz-Rechercheprojekt ■■Migration Control: Auf einer eigenen Webseite hat die taz eine umfassende Dokumentation der EU-Migrationskontrolle in Afrika erstellt: taz.de/migcontrol mit Länderreports, Hintergrundtexten und Originaldokumenten. Fünf Monate lang wurde dafür in 21 Ländern recherchiert. Die Seite ist in Kürze auch auf Englisch und Französisch verfügbar. ■■taz-Serie: Vom 17. November bis 15. Dezember 2016 wurden Recherchen wöchentlich in der taz veröffentlicht, am 16. Dezember folgte ein taz-Dossier mit den wichtigsten Ergebnissen. Weitere Reportagen erschienen in der taz.am wochenende am 17. Dezember und am 28. Januar 2017. Agadez, Niger: ein Sammelpunkt für jene, die es nicht nach Europa geschafft haben – oder die zurückgeschickt wurden Foto: Josh Haner/NYT/Redux/laif sche Auswanderungsland Senegal konnte sich über 160 Millionen Euro aus dem Fonds freuen. 300 Millionen gab die EU für Sudan und Libyen aus anderen Töpfen frei, dazu noch über eine halbe Milliarde als eine Art Sonderentwicklungshilfe für Staaten wie Niger. Auf den Weg gebracht, wenn auch noch stockend, ist auch der Aufbau der mit 6 Milliarden Euro dotierten „Africa Investment Facility“, einer Art Investitionsschutzversicherung, mit der die EU sagenhafte 62 Mil liarden Euro Privatkapital nach Afrika lotsen will. Staaten, die sich der Zusammenarbeit verweigern, wurde mit Kürzungen der Hilfe und Handelsnachteilen gedroht. Doch wenige Staaten, etwa Marokko und Senegal, zeigten sich ähnlich willig wie Niger und begannen, die Migrationskorridore stärker zu kontrollieren (siehe Interview unten). Nigers Regierung setzte die Strafen für Schlepper auf 30 Jahre Haft herauf. 20 deutsche Bundespolizisten sollen in Niger lokale Grenzer ausbilden. Kann die EU so ihr Ziel erreichen? „Konkret messbare Er- gebnisse“, wie der EU-Rat sie von den afrikanischen Partnerstaaten verlangt, gibt es nicht. Ende letzten Jahres verkündete die EU-Kommission, dass die Zahl der Flüchtlinge, die durch Niger nach Libyen kämen, von 70.000 im Mai 2016 auf nur noch 1.500 im November gefallen sei. 102 Schlepper seien verhaftet und 95 ihrer Fahrzeuge beschlagnahmt worden. Kurz darauf korrigierte die Internationale Organisation für Migration (IOM), auf deren Zählung die Meldung zurückging: Es seien im November 11.500, nicht 1.500 Menschen gezählt worden – ein für November eher hoher Wert. Fast täglich Einsätze Die weiterführende MittelmeerRoute aus Libyen nach Italien ist nach wie vor offen. Seit Anfang dieses Jahres kamen 9.360 Menschen auf diesem Weg nach Europa – 50 Prozent mehr als im entsprechenden Vorjahreszeitraum. Ertrunken sind seit dem 1. Januar mindestens 228 Menschen – 2,5-mal so viele wie im Vorjahreszeitraum. Die privaten europäischen Rettungsorganisationen vor der libyschen Küste melden fast täglich Einsätze, bei denen sie teils hunderte Menschen aus Seenot retten. Die meisten afrikanischen Staaten warten eher ab. Kein einziges Land hat bisher ein Rücknahmeabkommen unterschrieben, wie es die EU so dringend fordert. Manche fürchten Proteste der Bevölkerung, die ihnen Verrat vorwirft, wenn sie den Europäern nachgeben. Auch die Afrikanische Union (AU) kritisiert, dass die EU mit afrikanischen Staaten einzeln verhandelt statt mit der AU als Ganzes. Auf ihrem Gipfel in Äthiopien vorige Woche ernannte sie Ugandas Präsident Yoweri Museveni zum AU-Unterhändler für Migrationsverhandlungen mit der EU. Eine regelrechte Bruchlandung erlitt die EU-Diplomatie Mali kürzlich in Mali. Die Regierung in Bamako unterschrieb Mitte Dezember ein Abkommen. Geködert worden war sie mit mehreren hundert Millionen Euro, zudem ist sie durch französische Eingreiftruppen und EU-Militärmissionen recht eng mit der EU verbunden. Der Verhandlungsführer aufseiten der Europäer, der nie- „Die Preise haben sich verdreifacht“ FOLGEN Migrationsexpertin Marina Schramm über Schleuserrouten nach Libyen und die Lage dort taz: Frau Schramm, im Oktober 2016 hat die Bundeskanzlerin Angela Merkel Niger besucht und dem Land Geld geboten, damit es den Weg nach Libyen versperrt. Was hat sich seither verändert? Marina Schramm: Wir betreiben Aufnahmeeinrichtungen für rückkehrende Transitmigranten. Aus den Befragungen dieser Menschen ergibt sich, dass sich die Routen verändert haben. Der bislang hauptsächlich frequentierte Weg nach Libyen führte mitten durch die Wüste, aber entlang der weni- gen Brunnen und Städte. Dort war auch vorher schon die nigrische Armee präsent. Schon seit August interveniert sie und nimmt gezielt die Fahrer der Migranten fest. Einige der Fahrer zahlen vielleicht Schmiergeld, die meisten weichen aber offenbar auf andere Routen aus. Das bedeutet also: Die Schlepper meiden auf dem Weg durch die Sahara nun die Wasserstellen? Ja. Es gibt nicht viele Brunnen, ohne Trinkwasser ist der Weg schon schwieriger. Die Passage ist zudem deutlich teurer gewor- den. Rückkehrer berichten uns, dass die Preise sich verdreifacht haben. Was heißt das konkret? Früher kostete der Weg von Agadez nach Libyen umgerechnet rund 230 Euro, heute sind es fast 700 Euro. Welche Wege nehmen die Migranten heute? Marina Schramm ■■arbeitet als Programmkoordinatorin bei der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Agadez, Niger. Beweisen kann man das nicht, aber wir gehen davon aus, dass die neue Route weiter östlich, nahe der Grenze zum Tschad verläuft. Es gibt darauf hindeutende Hilferufe, die von Migranten in der Wüste aufgegeben werden. Wir versuchen das gerade zu verstehen, wohin sich die Wege verlagern. Es heißt, die Zahlen der Ankommenden in Libyen seien durch die Intervention der Armee stark zurück gegangen. Ist das zutreffend? In den sogenannten Ghettos in Agadez, den Gasthäusern, in de- derländische Außenminister Bert Koenders, erklärte, es handele sich um ein Rücknahmeabkommen, was einen wichtigen symbolischen Durchbruch für die EU auf dem Kontinent bedeutet hätte. Doch sein malischer Kollege Abdoulaye Diop dementierte wütend: Es handele sich keineswegs um ein Rücknahmeabkommen. Kurz darauf schickte Mali gar zwei aus Frankreich abgeschobene Männer wegen fehlender Papiere postwendend wieder nach Paris zurück – ein Affront gegenüber der einstigen Kolonialmacht. Als im Januar zwei Malier aus Deutschland per Charterflug in die Heimat abgeschoben wurden – Frontex bezahlte dafür 82.000 Euro – hagelte es in Mali Protest. Nicht alle Staaten müssen auf ihre Bevölkerung Rücksicht nehmen wie Mali. Alle aber dürften darauf spekulieren, dass für sie im Geschacher um den Flüchtlingsstopp deutlich mehr drin ist. Die EU steht unter Druck. Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland stehen an, überall sind Rechtspopulisten im Aufwind. Wie weit die EU zu gehen bereit ist, zeigte sich in den letzten Tagen: Da fielen alle bislang bestehenden Hemmungen, zu versuchen, Flüchtlinge sogar nach Libyen zurückzuschicken – den Inbegriff des Failed State, wo Mafiabanden Migranten in Transitlagern brutal misshandeln und erpressen. Jetzt sieht es so aus, als ob die EU so weitermachen will wie bisher: Sie wird den Afrikanern noch mehr Geld bieten und noch mehr Übel androhen, falls sie sich renitent zeigen. Mittelmeer MALTA TUNESIEN AFRIKA Tripolis ALGERIEN Mittelmeer LIBYEN NIGER MAURETANIEN MALI SENEGAL Mutmaßliche neue Fluchtroute Agadez Niamey taz.Grafik: infotext-berlin.de nen die Migranten auf die Passage warten, sind die Zahlen tatsächlich stark zurück gegangen. Im Sommer waren dort teils 300 Leute, heute sind es eher 20 bis 30. Da gibt es einen saisonalen Effekt. Wir glauben aber nicht, dass es keine Migration mehr nach Libyen gibt. Es gibt durchaus Gruppen, die auch heute reisen, aber wir sehen die nicht mehr unbedingt. Viele der Rückkehrer waren in Libyen. Was berichten die Ihnen? Es ist immer noch ganz klar, dass die Situation dort seht schwie- ÄGYPTEN TSCHAD SUDAN ERITREA 500 km rig ist, es sind ganz fürchterliche Zustände. Die Menschen berichten alle immer von Folter in Privatgefängnissen, von Erpressung. Die Familien müssen Geld schicken. Die, die wieder bei uns in Niger auftauchen, sind die, die es geschafft haben wegzulaufen oder bei denen die Familie es geschafft hat, Geld zu schicken. Aber sie berichten von ihren „Brüdern“, also Landsleuten, die da noch festsitzen. Und von den Erschießungen, von denen nun in den Medien zu lesen war, hören wir auch. INTERVIEW CHRISTIAN JAKOB
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