taz.die tageszeitung

Butterwegge: Der Überzeugungstäter
Chancenlos, aber unverdrossen – der linke Präsidentschaftskandidat ▶ Seite 5
AUSGABE BERLIN | NR. 11246 | 6. WOCHE | 39. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
MITTWOCH, 8. FEBRUAR 2017 | WWW.TAZ.DE
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Merkels Mauer
ABSCHOTTUNG Die Kanzlerin hat versprochen, die Zahl
der Flüchtlinge zu reduzieren. Gesagt, getan: Nun
forciert Merkel die Maßnahmen der EU, um Afrikaner
von der Flucht über das Mittelmeer abzuhalten. Alles
über den EU-Afrika-Gipfel heute in Malta ▶ SEITE 3
ENERGIEWENDE Die
Fledermäuse und die
Windkraft: neue Zahlen,
neue Ideen ▶ SEITE 8
GEHALTSDECKEL VW-
Manager sollen weniger
verdienen ▶ SEITE 2, 12
WAHLMÄNNER Wahl-
forscher Jung über
Kandidat Schulz ▶ SEITE 4
BERLIN Mieterproteste
in der Kreuzberger OttoSuhr-Siedlung ▶ SEITE 21
Fotos oben: dpa, laif
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
verboten unterstützt selbstverständlich gern und aus voller Lunge das komplette und
auch im Winter ausnahmslos
überall geltende Rauchverbot
im neuen taz-Gebäude. Sehr
gute Sache, das! Wieso? Und
warum kein einziger Schutzraum für Raucher eingerichtet
wird? Und ob das alle richtig
finden? Also bitte! verboten
wäre nicht verboten, wenn es
bei einer Verbotsdiskussion auf
die Gefühle anderer Leute oder
gar auf gute Gegenargumente
Rücksicht nehmen würde. Außerdem gibt es keine. Schließlich soll das Ding ja auch nicht
Rauch-Haus heißen, sondern
Ruch-Haus!
Schlechte Aussichten für Flüchtlinge, die nach Europa wollen: Nach dem EU-Türkei-Pakt „wenden wir uns jetzt der zentralen Mittelmeerroute zu“, kündigte Angela Merkel vorige Woche an.
Schon 2015 hatte die CDU-Chefin gesagt, auch Deutschland sei nun überfordert. „Deshalb wollen und werden wir die Zahl der Flüchtlinge spürbar reduzieren“ Foto: Christophe Stramba-Badiali/laif
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KOMMENTAR VON CHRISTIAN JAKOB ZUM EU-AFRIKA-GIPFEL
E
Viel Geld, viel Druck, viel Heuchelei
ine der seltsamsten Eigenschaften
der EU ist ihre Doppelmoral. Sie gefällt sich in der Rolle des besseren
Teils der freien Welt. Gerade jetzt, wo die
Trump-Regierung in Washington ein für
liberal gesinnte Menschen abstoßendes
Projekt nach dem anderen präsentiert,
betont die EU gern die Werte, denen sie
sich verbunden fühlt.
Aber was die Migrationspolitik betrifft, steht die EU bisher nicht besser da.
Europas Mauer heißt Mittelmeer, und an
ihr sind allein im letzten Jahr 25-mal so
viele Menschen gestorben wie entlang
der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Europa könnte daraus die Konsequenzen ziehen und es anders machen.
Doch sie tut das Gegenteil. Einmal
mehr bittet die EU in diesen Tagen die
ärmsten Staaten der Welt zum Gipfel
nach Malta und versucht sie auf die Sicherung der europäischen Grenzen einzuschwören – mit viel Geld und mit
Druck. Angela Merkels Deutschland ist
die treibende Kraft in diesem Prozess.
Dessen Folgen zeichnen sich bereits jetzt
schon ab: mehr Tote, mehr Internierung.
All das nimmt Brüssel in Kauf, in
vorauseilendem Gehorsam vor den
Rechtspopulisten. Drei Treffen in nur
einer Woche – und jedes Mal werden
die Flüchtlinge aus Afrika als größte Gefahr für Europa dargestellt. Obwohl 2016
nicht mehr als etwa 180.000 Menschen
kamen. Dieses politische Schauspiel
dürfte Populisten wie Geert Wilders, dem
Front Na­tional und der AfD eher nützen
als schaden.
Bislang reagieren die meisten afrikanischen Staaten reserviert. Für sie gehören Entwicklung und Migration zusammen. Die reichen Industriestaaten profitieren ja auch seit Jahrhunderten von den
Vorteilen der Migration und des freien
Entwicklung oder Migra­
tion – so begegnet die EU
den afrikanischen Staaten
Verkehrs. Gegenüber den Afrikanern
aber macht die EU nun die gegenteilige
Logik auf: Entwicklung oder Migration.
Entweder ihr macht für uns eure Grenzen zu, auf eurem eigenen Kontinent –
oder wir helfen euch nicht mehr.
Beim ersten Valletta-Gipfel 2015 war
die Rede von Partnerschaft und gemeinsamen Interessen. Doch die afrikanischen Staaten monierten, dass ihre Vorschläge für Projekte der Partnerschaft
mit der EU abgebügelt wurden. Dabei
könnte es „Migrationspartnerschaft“
tatsächlich geben – sichere Fluchtwege,
Arbeitsvisa, Flüchtlingskontingente. Das
wäre dann tatsächlich der bessere Teil der
freien Welt.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
Der Tag
M IT TWOCH, 8. FEBRUAR 2017
NACH RICHTEN
taz intern
Silber für taz-Titel
Aus der Traum: Expräsident
Nicolas Sarkozy Foto: dpa
Angeklagt und
ausgeschieden
F
alls der französische Präsidentschaftskandidat
François Fillon wegen der
„Penelopegate“-Affäre
doch
noch das Handtuch werfen
muss, wird Expräsident Nicolas Sarkozy ihn nicht ersetzen
können. Das steht jetzt fest,
denn der Konservative muss
sich selbst vor Gericht verantworten. Die Justiz macht damit klar, dass selbst ein früherer Staatschef nicht über dem
Gesetz steht. Sarkozy hatte sich
mehrfach über die Richter lustig
gemacht und sie unter anderem
als „kleine Erbsen“ verspottet.
Jetzt kommt die Retourkutsche: Zusammen mit 13 Mitangeklagten wird er in der sogenannten Bygmalion-Affäre
wegen illegaler Finanzierung
seiner Wahlkampagne von 2012
zur Rechenschaft gezogen. Sarkozy hatte damals fast doppelt
so viel ausgegeben, als das Gesetz es erlaubte. Zudem wurde
laut Anklage der heimliche Aufwand durch betrügerische Rechnungen der befreundeten Organisatoren von Bygmalion durch
seine Partei beglichen.
Als Sarkozy im letzten November bei den Vorwahlen der
Konservativen schon in der ersten Runde ausschied, ahnte
man schon, dass seine Karriere
zu Ende gehen würde. Heute ist
er 62 Jahre alt, er hat die höchsten Ämter und Posten erobert,
die Stufen bis an die Spitze der
Macht erklommen. Obwohl ihm
seine Gattin Carla Bruni davon
abriet, wollte er nochmals antreten – nicht zuletzt wohl auch
deshalb, um als Präsident in den
Genuss der Immunität zu kommen.
In seiner arroganten und
selbstherrlichen „Blingbling“Manier hatte Sarkozy wohl gehofft, dass er sich allein mit
der Kraft seiner Unschuldsbeteuerungen der Justiz entziehen könnte. Nur ist die Tatsache, dass jemand schon einmal
Präsident der Republik war, kein
vollständiges Alibi. Auch sein
Vorgänger Jacques Chirac war
nach seiner Präsidentschaft wegen illegaler Finanzierung verurteilt worden. Nur hielt sich
Sarkozy seit jeher für so einzigartig und überzeugend, dass ihn
das nichts anging.
Wie Fillon muss nun auch Sarkozy zu seinem Leidwesen konstatieren, dass die Mogeleien
bei der Finanzierung von Karrieren und Kampagnen von ihren Landsleuten nicht mehr als
Kavaliersdelikt toleriert werden.
RUDOLF BALMER
Eine schöne Auszeichnung für
das taz-Team, das die Titelseiten
unserer Zeitung produziert: Bei
der Preisverleihung des medium
magazins an die „Journalisten
des Jahres 2016“ erhielt das tazTitelseiten-Team am Dienstagabend im Deutschen Historischen
Museum in Berlin den 2. Preis
in der Kategorie „Team“, hinter
dem siegreichen Rechercheteam
correctiv und vor dem drittplatzierten Team von dpa next.
■■Zur Begründung für die Auszeichnung der taz erklärte die
Jury: „Die taz beweist täglich,
dass die Kunst und Kultur der
Titelseite essenziell bleibt. Sie
Die ersten 100 Tage.
Dorothea Hahn,
taz-Korrespondentin
in den USA, über den
Alltag unter Trump
blogs.taz.de
Fischer, Jörg Kohn, Aletta Lübbers, Tim Seidel, Sonja Trabandt
und Christiane Voß, der FotoredakteurInnen Erik Irmer, Mathias
Königschulte, Isabel Lott, Elke
Seeger und Petra Schrott, der
Repro-Kolleginnen Claudia Benders, Maria Jessel, Aletta Lübbers
und Daniela Leupelt und der am
Enstehungsprozess der Titelseiten meist beteiligten ChefredakteurInnen Georg Löwisch, Katrin
Gottschalk und Barbara Junge
■■Es ist aber auch eine Auszeichnung für die Vorschläge und Ti­tel­
ideen aus dem ganzen Haus und
für alle, die wir jetzt vielleicht aus
Versehen vergessen haben.
URTEI L ZU VATER-KONTAKT
taz.de/twitter
Der Kindeswille
ist entscheidend
taz.de/facebook
STRASSBURG | Lehnt ein Kind aus
Loyalität zur Mutter jeglichen
Umgang mit seinem getrennt lebenden Vater ab, hat dieser nur
eine geringe Chance auf einen
Kontakt. Auch wenn die Mutter jahrelang den Umgang mit
dem Vater vereitelt hat, muss
bei der Durchsetzung des Umgangsrechts immer erst das Kindeswohl berücksichtigt werden,
urteilte gestern der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und billigte das Vorgehen
polnischer Behörden und Gerichte in einem Umgangs- und
Sorgerechtsstreit. (epd)
taz.de/vimeo
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Armutsrisiko für VW-Manager
So viel kriegen sie
GELD Der VW-Aufsichtsrat will Managergehälter auf 10 Millionen Euro begrenzen.
Die SPD findet das gut, obwohl sie selbst Verantwortung für die Spitzensaläre trägt
VON HANNES KOCH
BERLIN taz | Ulrich Hocker freut
sich, dass seine alte Forderung
nun auch beim VW-Konzern
Gehör findet. „Vorstandsgehälter über 10 Millionen Euro pro
Jahr stören den sozialen Frieden“, sagt der Präsident der
Deutschen Schutzvereinigung
für Wertpapierbesitz, die die
Interessen von Aktionären vertritt. Genau diese Summe will
der Aufsichtsrat des Autobauers nun offenbar als künftige
Obergrenze für VW-Chef Matthias Müllers Bezahlung und die
seiner Kollegen festlegen.
10 Millionen Euro – das kann
man immer noch für sehr viel
Geld halten. Es wäre aber deutlich weniger, als früher mitunter
gezahlt wurde. Ex-VW-Chef Martin Winterkorn erhielt zu Spitzenzeiten 17,5 Millionen Euro.
Mit der angepeilten Begrenzung zöge Deutschlands größter Fahrzeugproduzent eine
weitere Konsequenz aus dem
Betrugsskandal um gefälschte
Dieselabgaswerte.
Offenbar könnte der Aufsichtsrat am 24. Februar die Begrenzung beschließen. Die Bewegung bei VW passt zur aktuellen Debatte über soziale
Gerechtigkeit. Mit ihrem Kanzlerkandidaten Martin Schulz
befeuert die SPD diese Auseinandersetzung. Schulz selbst
hat überhöhte Vorstandsgehälter jüngst kritisiert. SPD-Vizechef Thorsten Schäfer-Gümbel
forderte einen „Gesetzentwurf
noch in dieser Legislaturperiode.“
Darin solle stehen, dass Unternehmen Managergehälter
von über 500.000 Euro im Jahr
nicht mehr von der Ertrags-
steuer abziehen könnten. Die
Folge: Die Eigentümer und Aktionäre müssten Millionensaläre vollständig selbst finanzieren, was mäßigend wirken
könnte. Die absolute Höhe der
Verdienste lasse sich per Gesetz
allerdings nicht reglementieren, sagte Schäfer-Gümbel. Au-
Ex-VW-Chef Martin
Winterkorn erhielt
zu Spitzenzeiten
17,5 Millionen Euro
ßerdem regte der SPD-Vize an:
„Wir brauchen ein festgeschriebenes Maximalverhältnis zwischen der Vergütung von Vorständen und Managern auf der
einen Seiten und dem Durchschnittseinkommen der Arbeit-
nehmer auf der anderen Seite.“
Als Beispiel nannte er eine Proportion von eins zu acht.
Wenngleich Linke und Grüne
im Bundestag derartige Idee
grundsätzlich
unterstützen,
dürfte daraus in dieser Legislaturperiode nichts mehr werden. Die Union wird ein solches Gesetz verhindern. Diese
Blockade ist aber nur ein Teil
der Geschichte. Auch die SPD
trägt eine Verantwortung dafür, dass Exzesse bei der Vorstandsbezahlung bisher möglich sind. So wirkten an der besonderen Vergütungskultur bei
VW diejenigen sozialdemokratischen Politiker mit, die im Aufsichtsrat des Konzerns saßen.
Und selbst SPD-Bundesregierungen brachten nur Regelungen zuwege, die allenfalls gewisse Einschränkungen beinhalteten. Seit 2001 gibt es eine
Besserverdiener: vier von neun VW-Vorstandsmitgliedern um Chef Matthias Müller (Mitte) mit Ministerpräsident Weil Foto: P. v. Ditfurth/dpa
Maximallohngesetz ist möglich
VERFASSUNGSRECHT
■■Die Spitzenmanager in
Deutschland verdienen laut
Studie der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz im
internationalen Vergleich sehr
gut, werden aber von Kollegen
übertroffen.
■■Die Chefs der DAX-Unternehmen erhielten im Jahr 2015 im
Durchschnitt eine Gesamtvergütung von 5,1 Millionen Euro. Die
Chefs der großen französischen
Firmen bekamen 4,7 Millionen
Euro; die in der Schweiz sackten
6,8 Millionen Euro ein. In den
USA verdienten die Chefs der
großen börsennotierten Firmen
im Schnitt 16,4 Millionen Euro.
■■Spitzenverdiener in Deutschland war Daimler-Chef Dieter
Zetsche mit 8,5 Millionen Euro,
gefolgt von Merck-Chef KarlLudwig Kley mit 7,9 Millionen
Euro. VW-Chef Müller kommt auf
7,3 Millionen Euro. Renault-Chef
Carlos Ghosn bekam dagegen
15,2 Millionen Euro. In den USA
bekam Walt-Disney-Boss Robert
Iger 39,2 Millionen Euro, gefolgt
von GE-Chef Jeffrey R. Immelt mit
23,6 Millionen Euro. (taz)
unter Bundeskanzler Gerhard
Schröder ins Leben gerufene Regierungskommission, die einen
Verhaltenskodex für Aktiengesellschaften weiterentwickelt.
Darin stehen Empfehlungen
und Anregungen. Ein absoluter Deckel oder ein festgelegtes
Verhältnis zwischen Managerund Arbeitnehmerverdiensten
existiert im hiesigen Recht jedoch nicht.
Im Vergleich zu anderen Staaten macht Deutschland mit dieser Haltung keine Ausnahme.
„Absolute Gehaltsobergrenzen
legte die Politik nach der Finanzkrise nur für Banken fest, die sie
mit öffentlichem Geld stützte“,
sagte Michael Kramarsch, Chef
der Unternehmensberatung
HKP-Group. „Darüber hinaus
sind mir international keine
Vergütungsdeckel oder festgelegten Abstände zwischen
Arbeitnehmer- und Vorstandsbezahlung
bekannt.“
THEMA
DES
TAGES
Der Gesetzgeber könnte eine Deckelung von Managergehältern für die ganze Wirtschaft vorschreiben
FREIBURG taz | Was derzeit bei
TRUMPLAND
macht mit ihrem magazinigen
Cover vor, wie wichtig ist es ist,
als Zeitung auf einen Blick in den
sozialen Medien präsent zu sein.“
■■Der Preis würdigt die Arbeit
der taz.eins-RedakteurInnen
Gereon Asmuth, Patricia Hecht,
Klaus Hillenbrand, Sunny Riedel,
Rüdiger Rossig und Lukas Wallraff, der taz.am.wochenende-TitelgestalterInnen Sebastian Erb,
Jörn Kabisch, Klaus Raab, Martin
Reichert, Daniel Schulz, Annabelle Seubert, Luise Strothmann,
Paul Wrusch und Felix Zimmermann, der LayouterInnen Karoline Bofinger, Kay Böhm, Bernd
Cornely, Regina Ewald, Nadine
DI E TAZ I M N ETZ
VW diskutiert wird, könnte der
Bundestag auch für die ganze
Wirtschaft festlegen. Ein entsprechendes
Maximallohngesetz kann – je nach Ausgestaltung – durchaus mit dem
Grundgesetz vereinbar sein.
Neben der bei VW diskutierten Deckelung der Vorstandsgehälter bei 10 Millionen Euro pro
Jahr käme auch ein Modell infrage, über das in der Schweiz
2013 eine Volksabstimmung
stattfand. Danach dürfte in einem Unternehmen niemand
mehr als zwölfmal so viel verdienen wie der schlechtbezahlteste Mitarbeiter. Die von den
Schweizer Jungsozialisten lancierte „1:12-Initiative“ wurde von
der Bevölkerung allerdings mit
65 Prozent abgelehnt.
Dass der Gesetzgeber in die
freie Lohnvereinbarung eingreift, wäre in Deutschland
kein Novum. Bestes Beispiel ist
das 2014 beschlossene Mindest-
lohngesetz, das jedem Beschäftigten einen Stundenlohn von
zurzeit 8,84 Euro sichert.
Die Vertragsfreiheit ist zwar
als Teil der „Allgemeinen Handlungsfreiheit“ im Grundgesetz geschützt. Wie in fast alle
Grundrechte (außer der Menschenwürde) darf der Gesetzgeber aber auch hier eingreifen – wenn er Gründe hat und
das Gesetz verhältnismäßig ist.
Ob Nutzen und Eingriff in einem angemessenen Verhältnis
stehen, prüft im Streitfall das
Bundesverfassungsgericht.
Bei einem Maximallohngesetz käme es natürlich darauf an,
wo die Obergrenze konkret festgesetzt wird. 10 Millionen Euro
pro Jahr sind sicher eher verhältnismäßig als 500.000 Euro.
Auf der anderen Seite müsste
der Gesetzgeber erklären, was er
mit dem Gesetz bezweckt. Anders als beim Mindestlohn hat
beim gesetzlich definierten Maximallohn ja niemand einen un-
mittelbaren Vorteil. Letztlich hat
der Gesetzgeber aber einen weiten Einschätzungsspielraum:
Wenn er behauptet, eine Deckelung der Managergehälter
fördere den Zusammenhalt der
Gesellschaft, wird Karlsruhe das
wohl akzeptieren.
Ein
Gleichheitsproblem
könnte sich jedoch ergeben,
wenn die Obergrenze nur für
Manager gälte, aber nicht für
Fußballspieler und Popstars.
CHRISTIAN RATH
Schwerpunkt
Grenzen
M IT TWOCH, 8. FEBRUAR 2017
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
2015 vereinbarten die Regierungen Europas und Afrikas in Malta ein
gemeinsames Vorgehen gegen MigrantInnen. Jetzt ziehen sie Bilanz
Geld bieten und Übel androhen
EUROPA UND AFRIKA Seit über einem Jahr versucht die EU, afrikanische Staaten zu überreden, sich als Ko-Grenzschützer herzugeben
AUS VALLETTA CHRISTIAN JAKOB
Wenn sich am Mittwoch und
Donnerstag Vertreter der Europäischen und der Afrikanischen Union auf Malta treffen,
dürfte es krachen. Die Europäer
plagen sich mit der Flüchtlingskrise – für die Bevölkerung Afrikas hingegen ist Migration vor
allem ein Versprechen auf ein
besseres Leben.
Seit mehr als einem Jahr versucht die EU, über ein Dutzend
afrikanischer Staaten dazu zu
bringen, sich als europäische
Ko-Grenzschützer herzugeben.
Im November 2015 hatte sie deshalb Minister und Präsidenten
vieler Staaten Afrikas zum ersten Mal nach Malta geladen. Sie
versprach ihnen auf dem Valletta-Gipfel 1,8 Milliarden Euro
in einem „Nothilfefonds für Afrika“.
Mit dem Scheckbuch sind
Brüsseler Diplomaten seither
durch Afrikas Hauptstädte gereist. Über 2,5 Milliarden Euro
hat die EU als Motivationshilfe
aus dem zwischenzeitlich aufgestockten
„Nothilfefonds“
verteilt: Die eigentlich für Entwicklungszusammenarbeit gesperrte Diktatur Eritrea erhielt
85 Millionen Euro, das klassi-
taz-Rechercheprojekt
■■Migration Control: Auf einer
eigenen Webseite hat die taz
eine umfassende Dokumentation
der EU-Migrationskontrolle in
Afrika erstellt: taz.de/migcontrol
mit Länderreports, Hintergrundtexten und Originaldokumenten.
Fünf Monate lang wurde dafür in
21 Ländern recherchiert. Die Seite ist in Kürze auch auf Englisch
und Französisch verfügbar.
■■taz-Serie: Vom 17. November
bis 15. Dezember 2016 wurden
Recherchen wöchentlich in der
taz veröffentlicht, am 16. Dezember folgte ein taz-Dossier mit den
wichtigsten Ergebnissen. Weitere
Reportagen erschienen in der
taz.am wochenende am 17. Dezember und am 28. Januar 2017.
Agadez, Niger: ein
Sammelpunkt für
jene, die es nicht
nach Europa
geschafft haben
– oder die
zurückgeschickt
wurden Foto: Josh
Haner/NYT/Redux/laif
sche Auswanderungsland Senegal konnte sich über 160 Millionen Euro aus dem Fonds freuen.
300 Millionen gab die EU für
Sudan und Libyen aus anderen
Töpfen frei, dazu noch über eine
halbe Milliarde als eine Art Sonderentwicklungshilfe für Staaten wie Niger.
Auf den Weg gebracht, wenn
auch noch stockend, ist auch
der Aufbau der mit 6 Milliarden
Euro dotierten „Africa Investment Facility“, einer Art Investitionsschutzversicherung, mit
der die EU sagenhafte 62 Mil­
liarden Euro Privatkapital nach
Afrika lotsen will. Staaten, die
sich der Zusammenarbeit verweigern, wurde mit Kürzungen
der Hilfe und Handelsnachteilen gedroht.
Doch wenige Staaten, etwa
Marokko und Senegal, zeigten
sich ähnlich willig wie Niger
und begannen, die Migrationskorridore stärker zu kontrollieren (siehe Interview unten). Nigers Regierung setzte die Strafen für Schlepper auf 30 Jahre
Haft herauf. 20 deutsche Bundespolizisten sollen in Niger lokale Grenzer ausbilden.
Kann die EU so ihr Ziel erreichen? „Konkret messbare Er-
gebnisse“, wie der EU-Rat sie
von den afrikanischen Partnerstaaten verlangt, gibt es nicht.
Ende letzten Jahres verkündete
die EU-Kommission, dass die
Zahl der Flüchtlinge, die durch
Niger nach Libyen kämen, von
70.000 im Mai 2016 auf nur
noch 1.500 im November gefallen sei. 102 Schlepper seien verhaftet und 95 ihrer Fahrzeuge
beschlagnahmt worden. Kurz
darauf korrigierte die Internationale Organisation für Migration (IOM), auf deren Zählung die Meldung zurückging:
Es seien im November 11.500,
nicht 1.500 Menschen gezählt
worden – ein für November eher
hoher Wert.
Fast täglich Einsätze
Die weiterführende MittelmeerRoute aus Libyen nach Italien ist
nach wie vor offen. Seit Anfang
dieses Jahres kamen 9.360 Menschen auf diesem Weg nach Europa – 50 Prozent mehr als im
entsprechenden Vorjahreszeitraum. Ertrunken sind seit dem
1. Januar mindestens 228 Menschen – 2,5-mal so viele wie im
Vorjahreszeitraum. Die privaten
europäischen Rettungsorganisationen vor der libyschen Küste
melden fast täglich Einsätze, bei
denen sie teils hunderte Menschen aus Seenot retten.
Die meisten afrikanischen
Staaten warten eher ab. Kein
einziges Land hat bisher ein
Rücknahmeabkommen unterschrieben, wie es die EU so dringend fordert. Manche fürchten
Proteste der Bevölkerung, die
ihnen Verrat vorwirft, wenn
sie den Europäern nachgeben.
Auch die Afrikanische Union
(AU) kritisiert, dass die EU mit
afrikanischen Staaten einzeln
verhandelt statt mit der AU
als Ganzes. Auf ihrem Gipfel
in Äthiopien vorige Woche ernannte sie Ugandas Präsident
Yoweri Museveni zum AU-Unterhändler für Migrationsverhandlungen mit der EU.
Eine regelrechte Bruchlandung erlitt die EU-Diplomatie
Mali kürzlich in Mali. Die Regierung in Bamako unterschrieb
Mitte Dezember ein Abkommen. Geködert worden war sie
mit mehreren hundert Millionen Euro, zudem ist sie durch
französische Eingreiftruppen
und EU-Militärmissionen recht
eng mit der EU verbunden.
Der Verhandlungsführer aufseiten der Europäer, der nie-
„Die Preise haben sich verdreifacht“
FOLGEN
Migrationsexpertin Marina Schramm über Schleuserrouten nach Libyen und die Lage dort
taz: Frau Schramm, im Oktober 2016 hat die Bundeskanzlerin Angela Merkel Niger besucht und dem Land Geld geboten, damit es den Weg nach
Libyen versperrt. Was hat sich
seither verändert?
Marina Schramm: Wir betreiben Aufnahmeeinrichtungen
für rückkehrende Transitmigranten. Aus den Befragungen
dieser Menschen ergibt sich,
dass sich die Routen verändert
haben. Der bislang hauptsächlich frequentierte Weg nach Libyen führte mitten durch die
Wüste, aber entlang der weni-
gen Brunnen und Städte. Dort
war auch vorher schon die nigrische Armee präsent. Schon
seit August interveniert sie und
nimmt gezielt die Fahrer der Migranten fest. Einige der Fahrer
zahlen vielleicht Schmiergeld,
die meisten weichen aber offenbar auf andere Routen aus.
Das bedeutet also: Die Schlepper meiden auf dem Weg durch
die Sahara nun die Wasserstellen?
Ja. Es gibt nicht viele Brunnen,
ohne Trinkwasser ist der Weg
schon schwieriger. Die Passage
ist zudem deutlich teurer gewor-
den. Rückkehrer berichten uns,
dass die Preise sich verdreifacht
haben.
Was heißt das konkret?
Früher kostete der Weg von
Agadez nach Libyen umgerechnet rund 230 Euro, heute sind es
fast 700 Euro.
Welche Wege nehmen die Migranten heute?
Marina Schramm
■■arbeitet als Programmkoordinatorin bei der Internationalen
Organisation für Migration (IOM)
in Agadez, Niger.
Beweisen kann man das nicht,
aber wir gehen davon aus, dass
die neue Route weiter östlich,
nahe der Grenze zum Tschad
verläuft. Es gibt darauf hindeutende Hilferufe, die von Migranten in der Wüste aufgegeben werden. Wir versuchen das
gerade zu verstehen, wohin sich
die Wege verlagern.
Es heißt, die Zahlen der Ankommenden in Libyen seien
durch die Intervention der Armee stark zurück gegangen. Ist
das zutreffend?
In den sogenannten Ghettos in
Agadez, den Gasthäusern, in de-
derländische Außenminister
Bert Koenders, erklärte, es handele sich um ein Rücknahmeabkommen, was einen wichtigen
symbolischen Durchbruch für
die EU auf dem Kontinent bedeutet hätte. Doch sein malischer Kollege Abdoulaye Diop
dementierte wütend: Es handele
sich keineswegs um ein Rücknahmeabkommen. Kurz darauf
schickte Mali gar zwei aus Frankreich abgeschobene Männer wegen fehlender Papiere postwendend wieder nach Paris zurück
– ein Affront gegenüber der
einstigen Kolonialmacht. Als im
Januar zwei Malier aus Deutschland per Charterflug in die Heimat abgeschoben wurden –
Frontex bezahlte dafür 82.000
Euro – hagelte es in Mali Protest.
Nicht alle Staaten müssen auf
ihre Bevölkerung Rücksicht nehmen wie Mali. Alle aber dürften
darauf spekulieren, dass für sie
im Geschacher um den Flüchtlingsstopp deutlich mehr drin
ist.
Die EU steht unter Druck.
Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland stehen an, überall sind
Rechtspopulisten im Aufwind.
Wie weit die EU zu gehen bereit ist, zeigte sich in den letzten Tagen: Da fielen alle bislang
bestehenden Hemmungen, zu
versuchen, Flüchtlinge sogar
nach Libyen zurückzuschicken
– den Inbegriff des Failed State,
wo Mafiabanden Migranten in
Transitlagern brutal misshandeln und erpressen.
Jetzt sieht es so aus, als ob
die EU so weitermachen will
wie bisher: Sie wird den Afrikanern noch mehr Geld bieten
und noch mehr Übel androhen,
falls sie sich renitent zeigen.
Mittelmeer
MALTA
TUNESIEN
AFRIKA
Tripolis
ALGERIEN
Mittelmeer
LIBYEN
NIGER
MAURETANIEN
MALI
SENEGAL
Mutmaßliche
neue Fluchtroute
Agadez
Niamey
taz.Grafik: infotext-berlin.de
nen die Migranten auf die Passage warten, sind die Zahlen tatsächlich stark zurück gegangen.
Im Sommer waren dort teils 300
Leute, heute sind es eher 20 bis
30. Da gibt es einen saisonalen
Effekt. Wir glauben aber nicht,
dass es keine Migration mehr
nach Libyen gibt. Es gibt durchaus Gruppen, die auch heute
reisen, aber wir sehen die nicht
mehr unbedingt.
Viele der Rückkehrer waren in
Libyen. Was berichten die Ihnen?
Es ist immer noch ganz klar, dass
die Situation dort seht schwie-
ÄGYPTEN
TSCHAD
SUDAN
ERITREA
500 km
rig ist, es sind ganz fürchterliche Zustände. Die Menschen
berichten alle immer von Folter in Privatgefängnissen, von
Erpressung. Die Familien müssen Geld schicken. Die, die wieder bei uns in Niger auftauchen,
sind die, die es geschafft haben
wegzulaufen oder bei denen die
Familie es geschafft hat, Geld zu
schicken. Aber sie berichten von
ihren „Brüdern“, also Landsleuten, die da noch festsitzen. Und
von den Erschießungen, von denen nun in den Medien zu lesen
war, hören wir auch.
INTERVIEW CHRISTIAN JAKOB