Die Berichterstattung über Afghanistan von 2008

Kreis Lippe
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LIPPISCHE LANDES-ZEITUNG NR. 205, DIENSTAG, 2. SEPTEMBER 2008
Kabul hinter
Panzerglas
Eindrücke aus einer geschundenen Stadt
■ Kabul. Als Transportpanzer
vom Typ „Fuchs“ die deutsche
Journalistengruppe, zu der auch
ein Vertreter der LZ gehört, aus
dem Lager „Camp Warehouse“
Richtung Kabul-Innenstadt
transportieren, wird kurzfristig
die Hauptstraße gesperrt. Dann
nimmt unsere Kolonne den gesamten Raum auf den Fahrbahnen in die Stadt ein, alle anderen
Fahrzeuge müssen mit Abstand
dahinter bleiben.
Aus Sicherheitsgründen,
die Straße gilt als Ziel von Anschlägen. Hupend schaffen
sich die Panzer
ihren Platz nach
vorn, stecken
bleiben wäre
das schlimmste. Die Soldaten
stehen in den offenen Luken, die
Waffen im Anschlag. Das sieht
besatzermäßig, martialisch aus,
nicht freundlich. Doch die Soldaten sehen darin Sicherheit für
sich und ihre Fracht.
„Signifi kant“ sei die Lage
in Kabul, ist im „Camp
Warehouse“ zu lesen, lang ist die
Liste mit Anschlagswarnungen.
Wenn sich ein Fahrzeug zu eng
dem Konvoi nähert, bekommt
der Fahrer deutliche Zeichen,
im Notfall, so sagen die Männer, würden sie schießen.
Nur durch einen kleinen Sehschlitz in der Hecktür des Radpanzers ist etwas von der Stadt
zu erblicken, besser zu erahnen.
Brüchig ummauerte Höfe rasen
vorbei. Kleine Hütten, Ruinen,
dazwischen Zeilen mit kleinen
Läden oder Werkstätten. Das
Leben in Kabul, so viel kann
man sehen, spielt sich auf den
Straßen ab. Kinder an Wasserstellen winken den Panzern hinterher, aber die Soldaten winken
nicht zurück.
Als sich die Panzertüren wieder öff nen, stehen wir in einer
anderen Welt. Das Irene Salimi Childrens Hospital ist neu,
wirkt modern und freundlich.
In großen Zimmern liegen 6 bis
8 der kleinen Patienten, begleitet von ihren Müttern. 50 Plätze
hat das Krankenhaus, das weitgehend aus deutschen Spenden
finanziert wird. Auch die Einsatzunterstützungskompanie
der Bundeswehr in Kabul fördert das Hospital.
Hier werden Kinder behandelt, die chirurgische oder orthopädische Eingriffe erdulden müssen, beispielsweise die
Korrektur von Missbildungen.
Gleichzeitig werden Arbeitsmöglichkeiten für Afghanen
geschaffen. Zentral liegt ein
großes Spielzimmer mit Kuscheltieren, Kasperletheaterfiguren, Lego-Steinen und Spielautos. Auch eine eigene Schule
hat das Hospital, in das Eltern
aus dem ganzen Land ihre Kinder bringen. „Manchen hat es
hier so gut gefallen, dass sie gar
nicht wieder wegwollten“, sagt
Azis, unser junger Dolmetscher,
lächelnd. Nichts lässt sich leichter glauben als das.
Ein Morgen in Kundus: Hinter dem Rollfeld des Flugplatzes geht die Sonne auf.
Der Silberstreif am Horizont wird schmaler
DER HINTERGRUND: Die Augustdorfer Soldaten stehen in Afghanistan vor schweren Aufgaben
■ Mazar-I-Sharif / Augustdorf (te). Seit dem Mittwoch
vergangener Woche hat es drei
Angriffe auf deutsche Patrouillen nahe Kundus in Nordafghanistan gegeben, und an einem
Checkpoint von deutschen und
afghanischen Einheiten wurden
eine Frau und zwei Kinder erschossen, weil der Fahrer ihres Wagens alle Haltezeichen
ignoriert hatte. Wie gefährlich
ist der Einsatz?
Wer danach fragt, erhält
von den Militärs Antworten,
die je nach Ebene unterschiedlich ausfallen. Im Hauptquartier der ISAF in Kabul hat sich
die Lage in Afghanistan für
den deutschen Stabschef, General Hans-Lothar Domröse,
im Vergleich zum vergangenen
Jahr nicht verschlechtert – aber
auch nicht verbessert. Er lenkte am vergangenen Donnerstag
den Blick auf Faktoren, die nicht
Schwer bewaffnet: Ein Soldat am Turm-MG des Transportpanzers militärischer Art sind: Es fehlen
für die Fahrt durch Kabul.
Arbeitsplätze, Industrie, Auf-
bau. Domröse fasst das in dem
englischen Wort „built“ (bauen) zusammen. Das könne das
Militär nicht, das müssten andere tun. „Clear“ und „hold“ –
klären und halten – das sei den
Soldaten möglich, doch es fehle
an Wertschöpfung.
Das derzeitige Einsatzkontingent wird zu
großen Teilen
von der Panzerbrigade 21
aus Augustdorf getragen.
Deren Chef ist
General Jürgen
Weigt, gleichzeitig Ober- Jürgen Weigt
kommandierender für Nordafghanistan.
„Angespannt“ nannte er die
Lage am vergangenen Samstag, unmittelbar unter dem
Eindruck der Ereignisse. Regional und örtlich gesehen würden die Zwischenfälle das Verhältnis der Bevölkerung zu den
Der Weg
zurück
Trauer: Soldaten in Masar-ISharif gedenken des getöteten
Hauptfeldwebels Micha Meier.
ten „Quick Reaction Force“,
unmittelbar nach dem Tod des
Hauptfeldwebels in Kundus am
Mittwoch gesagt. Den Angehörigen seiner Soldaten riet er aber
zur Ruhe. „Wir haben das, was
Die Logistiker haben gut zu tun
VON
THORSTEN ENGELHARDT
N
Schreiben Sie dem Autor:
[email protected]
ISAF-Truppen natürlich beeinflussen. Aber die Bundeswehr
werde ihre Anstrengungen genauso fortsetzen. „Es wird jetzt
darum gehen, das gute Ansehen
Deutschlands nicht nachhaltig
zu betrüben“, sagt er.
Allgemein heißt es, die Deutschen genießen ein hohes Ansehen. Aber was die Menschen
dort denken, ließ sich für unsere
Journalistendelegation letztlich
nicht herausfinden. Alle von
der Bundeswehr vorgesehenen
Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme mit Einheimischen wurden gestrichen: eine Patrouillenfahrt aus Sicherheitsgründen,
ein abendliches Barbecue mit
afghanischen Journalisten aus
Rücksicht auf die Trauerfeier für
den gefallenen Hauptfeldwebel.
„Dieser Zwischenfall macht uns
betroffen. Das kann uns allen
passieren“, hatte Oberstleutnant
Gunnar Brügner, Kommandeur
der vom Augustdorfer Panzergrenadierbataillon 212 gestell-
Schrauben per
Luftfracht
KOMMENTAR
ach vier Tagen in Afghanistan wäre es
die pure Arroganz, zu behaupten, ich hätte begriffen, was in diesem Land
geschieht. Aber es ist mir
klar geworden, dass auch
die deutschen Soldaten
der ISAF-Schutztruppe sich längst in einem
Krieg befinden. Und in
einer Zwickmühle: Ohne
die ISAF-Soldaten, davon
bin ich überzeugt, wird es
für die Afghanen überhaupt keine Ruhe geben.
Deshalb kann ein sofortiger Rückzug keine Lösung
sein, obwohl ich wie jeder
froh wäre, wenn die vielen
Soldaten aus Augustdorf
und den anderen Standorten bald wieder nach Hause zurückkehren könnten.
Auf der anderen Seite wird
die „International Security Assistance Force“ allein
die Probleme des Landes
nicht lösen können. Der
Weg in die Heimat führt
nur über Bildung und Arbeit für die Afghanen.
FOTOS ENGELHARDT
55 000 Liter Sprit zum Fahren und Fliegen
■ Masar-I-Sharif (te) 30 000
Liter Dieselkraftstoff werden
von der Bundeswehr in Nordafghanistan am Tag benötigt.
Nicht nur für die Fahrzeuge,
sondern auch, um das eigene
Kraft werk im „Camp Marmal“
in Masar-I-Sharif zu betreiben.
25 000 Liter Flugbenzin für
Tornado-Aufk lärungsflugzeuge, Hubschrauber und Transall-Transporter kommen noch
hinzu. Angeliefert wird das alles von privaten Firmen, die die
Betriebsstoffe in Karachi, Pakistan, von Schiffen übernehmen und dann durch das Land
bis in den Norden Afghanistans fahren. Das sei sehr zuverlässig, sagt Oberstleutnant
Jochen Deuer, Chef des Logistik-Bataillons in Masar-I-Sharif. Oberleutnant Marco Obermaier (Foto) und seine Leute
haben ein Auge darauf, dass der
Sprit auch den Qualitätsanforderungen genügt, wenn er angeliefert wird. Dafür ist eigens
ein Labor eingerichtet worden,
in dem Proben untersucht werden, bevor der Tankwagen abladen kann. Außerdem werden
die Tankfahrzeuge von Kampfmittelräumern untersucht, bevor sie an die Einfallstutzen fahren dürfen.
■ Masar-I-Sharif. (te) 3202
Soldaten aus Deutschland sind
derzeit in Afghanistan stationiert, rund 1100 davon aus
Augustdorf. Allein im „Camp
Marmal“, dem Hauptfeldlager, gelegen bei Masar-I-Sharif,
werden pro Tag 400 Kubikmeter Wasser verbraucht. Für den
Nachschub jeder Art ist das Logistik-Unterstützungsbataillon
zuständig.
Vor dem Stab des Bataillons
zeigt ein Wegweiser an: Von
hier sind es 4807 Kilometer
nach Augustdorf. Pioniere aus
der Garnison in der Senne stellen einen Teil der Logistik-Truppe, die unter dem Kommando von Oberstleutnant Jochen
Deuer vom Logistikbataillon 7
in Unna steht.
Die Pioniere sind unter anderem für die Wasseraufbereitung zuständig, sie bessern
aber auch Straßen und Brücken
aus, bauen Checkpoints – aber
auch schon mal einen Kinderspielplatz in einem Dorf. Nachschub und Unterstützung des
Infrastrukturaufbaus gehören
zu ihrem Auftrag.
Vom Toilettenpapier bis zum
Schützenpanzer wird alles Gut
per Luftfracht eingeflogen, auch
die Lebensmittel. Was das alles kostet, vermag der Oberstleutnant nicht zu nennen. Vier
Brunnen versorgen das Camp
mit Wasser. Marketenderwaren wie Zigaretten kommen
per Schiff, werden in Karachi in Pakistan dann auf Lkw
von Privatfirmen verladen und
Richtung Nordafghanistan gebracht. Kleinere „Handkäufe“
und Baumaterial stammen aus
Afghanistan selbst.
Zu den Aufgaben der Logistiker gehört auch die Instandhaltung der Fahrzeuge. Dabei
stellten die klimatischen Bedingungen die größten Herausforderungen, sagt Deuer. Zum
Beispiel seien immer wieder
Klimaanlagen ausgefallen.
Fahren auch
ohne ASU
Alle 10 000 Kilometer müssen an den Geländewagen vom
Typ „Wolf“ die Stoßdämpfer
ausgewechselt werden.
Vorschriften, die den Einsatz
behinderten, gebe es nicht, beteuert Deuer. Zwar müssen auch
die Militärfahrzeuge eine Abgasuntersuchung über sich ergehen lassen, aber der Offizier
macht klar: „Wenn ein Fennek (ein Panzerspähwagen) gebraucht wird, fährt er auch ohne
ASU raus.“
wir brauchen. Wir sind gut ausgestattet.“
Deutlich spürbar war in den
Tagen aber die Niedergeschlagenheit bei den Soldaten. Dass
am Donnerstagabend eine Frau
und zwei Kinder getötet worden
sind, ist nicht nur an sich fürchterlich, es macht auch die ISAFAufgabe noch mal sehr viel gefährlicher. „Niemand bleibt
von den Ereignissen unbeeindruckt“, sagte General Weigt.
Auch, weil die Soldaten es
mit einem so schön „asymmetrisch“ genannten Konflikt zu
tun haben. Ihr Gegner greift
nicht an, sondern legt Hinterhalte, er ist nicht genau zu identifizieren. „Taliban“ könnten es
genau so sein, wie Kriminelle
oder Volksgruppen, die sich im
Vergleich zu anderen benachteiligt sehen. Die Wahrheit ist in
Afghanistan vielschichtiger als
man es aus dem 5200 Kilometer
entfernten Deutschland erkennen kann.
FRAGEN UND
ANTWORTEN
Der Alltag
W
as bedeutet das Leben in den nordafghanischen Feldlagern?
Hier einige Alltagsfragen
und ihre Antworten:
Wie leben die Soldaten?
Das ist unterschiedlich. In
Masar-I-Sharif bestehen
die Unterkünfte zumeist
aus langen Containersiedlungen. In Kundus gibt es
auch fest gemauerte Häuser
in Atrium-Bauweise. Aber
es wird auch in Zelten übernachtet, die mit Fußboden
und – wie alle anderen Unterkünfte auch –Klimaanlagen ausgestattet sind.
Wie essen sie? Die Verpflegung wird in Masar
von einem privaten Unternehmen sichergestellt,
das die Küche betreibt. In
Kundus haben die Soldaten ihre eigene, von Bundeswehrangehörigen betriebene Küche.
Wie ist die medizinische Versorgung organisiert? Die Camps verfügen
über eigene Rettungszentren, mit kleiner Intensivstation. Für den Transport
Schwerstverletzter stehen
eine „Medevac“-Transall
und Hubschrauber bereit.
In Köln wartet zudem immer ein Airbus als fliegende Intensivstation.
(te)