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Band 03:
Das Böse von Oasis Falls
Paul Trenton
© 2017 Paul Trenton
All rights reserved.
Handlungen und Figuren sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit
tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein
zufällig.
Cover art: Daniela Hinterreiter | www.manegefrei.at
www.diamonusher.net
[email protected]
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Prolog
»Wir sollten das nicht tun«, flüsterte Clayton und
verschränkte seine Arme vor der Brust. Der Blick des
Jungen glitt suchend zur Seite und über die nächtlich
glänzende Fläche des kleinen Sees, an dem die zwei
Burschen saßen. Die Sonne war längst untergegangen und
hatte einem fast vollen Mond Platz gemacht, dessen
pockennarbiges Gesicht bleich aus dem Wasser lugte. Von
der gegenüberliegenden Seite des Sees drang leises
Plätschern, wo sich aus einer bewaldeten Anhöhe, über
zwei steile und mehrere flache, kaskadenartig auslaufende
Stufen, ein Zustrom frischen Nasses ergoss.
»Wovor hast Du Angst?« bohre Darryl. »Erwischt zu
werden? Hier ist doch niemand.« Als sein Freund nicht
antwortete, drehte er sich um und rief verspielt in den Wald
hinter sich: »Hallooo!? Echoooo!?«
»Pscht!« fuhr ihn Clayton an. »Das ist nicht witzig.« Er
seufzte tief. »Reverend Jim sagt auch, es sei Sünde.«
»Pah! Was weiß der schon? Dem ist doch nur wichtig,
dass es in der Kollekte mehr raschelt als klingelt.«
»Gott spricht zu ihm«, beharrte Clayton. »Und nach
allem, was passiert ist …« Ein weiterer, schwerer Seufzer.
»Das Böse ist nach Oasis Falls gekommen, und solange wir
weiter sündigen, wird es auch bleiben.«
»Oh, Mann, Clayton. Du glaubst doch diesen
Schwachsinn nicht etwa? Wir leben im 21. Jahrhundert.
Und Jimmy Jackson weiß genau, dass sich mit Angst mehr
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Geld verdienen lässt, als mit der Verbreitung der Frohen
Botschaft.«
Trotzig schüttelte Clayton den Kopf. »So oder so, wir
sollten nicht hier sein. Es ist gefährlich. Das sagt auch
Sheriff Hutches.«
Daryll stieß ein resignierendes Brummen aus. »Wegen
dem alten Ed? Keiner weiß, was mit dem passiert ist.
Wahrscheinlich war´s ein Landstreicher, der schon wieder
hundert Kilometer fort ist. Pech für Ed, egal für uns.«
»Ich weiß nicht. Er soll ziemlich zugerichtet gewesen
sein.« Mutlos ließ Clayton die Arme sinken.
»Auf jeden Fall hat ihn nicht der Teufel geholt, wenn
Du das meinst. Die Leute reden zu viel Quatsch.«
Vorsichtig rückte Daryll näher und legte einen Arm um
Claytons Taille; versuchte ihn näher zu ziehen. Stieß zuerst
auf Widerstand, aber nur kurz.
Eine Weile saßen sie so da, sagten nichts. Betrachteten
die spitzen Schatten der hoch aufragenden Bäume, die, im
sanften Auf und Ab des Wassers, am See sägten. Irgendwo
rief eine einsame Eule. Überall zirpten Massen von Grillen.
Der ankommende Sommer spendierte eine laue Nacht, und
Daryll kam nicht umhin zu bemerken, dass ihn die
friedliche Stimmung und die angenehme Nähe zum Körper
seines Freundes ziemlich geil machten. Eigentlich hatte er
nur einen angenehmen Abend verbringen wollen und hätte
jetzt einfach gerne einen geblasen bekommen. Aber so wie
Clayton im Moment drauf war, würde ein falsches Wort
reichen und er würde nach Hause verschwinden. Und Daryll
hatte keine Lust wieder auf Handbetrieb umzuschalten.
Nicht wegen falscher Moralvorstellungen, und schon gar
nicht wegen eines unerklärlichen Todesfalls und
Horrorstorys, die bei jedem Mal erzählen weiter
aufgeplustert wurden. Zwei, drei Iterationen noch, und die
Leute würden von Bigfoot oder dem Slenderman sprechen.
»Ich habe es vergangene Woche mit Mary-Ann
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probiert«, platzte es aus Clayton plötzlich heraus.
»Was?!«
»Ja, auf dem Heustadel ihres Vaters. Ich habe ihnen
geholfen, Düngersäcke abzuladen. Und irgendwann waren
wir dann allein, Mary-Ann und ich. Wir haben ein wenig
rumgealbert. Dann hat sie gemeint, ich solle mit
hochkommen, sie müsse mir was zeigen.«
»Und? Was?«
»Ich dachte zuerst, vielleicht hat sich irgendein Tier im
Heu eingenistet, aber … also …« Entnervt schlug er die
Hände über dem Kopf zusammen. »Mann! Ihre Titten.«
Daryll konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Echt
jetzt? Einfach so?«
»Ja, sie hat einfach ihr Kleid fallen gelassen und dann
denn BH. Ich mein´, sie waren echt schön anzuschauen.«
Unbewusst spielte seine Hand mit dem kleinen Kegel, der
an einem Lederband um seinen Hals hing. Ein glatt polierter
elfenbeinfarbiger
Haifischzahn,
angeblich
mehrere
Millionen Jahre alt. Nachdenklich kneteten seine Finger den
Anhänger.
Ungeduldig wippte Daryll vor und zurück. »Und
weiter?«
»Dann hat sie gemeint, ich solle die Zwillinge nicht nur
blöd anglotzen, sondern sie anfassen und küssen.«
»Und hast Du?«
»Natürlich. Was hätte ich denn sonst tun sollen? — Sie
haben sich weicher angefühlt, als ich gedacht habe. Und
dann ist mir Mary-Ann direkt an die Hose gegangen.«
Daryll grunzte. Er wusste nicht, ob er neidisch sein
sollte, oder nicht. Er hatte sich nie etwas aus Mädchen
gemacht und bis jetzt auch angenommen, dass es bei
Clayton ähnlich wäre. Er spürte, wie Eifersucht durch
seinen Körper zu kriechen begann. »Und dann?« fragte er.
»Habt Ihr es getan?« Seine Stimme hatte einen ärgerlichen
Unterton angenommen.
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Clayton schüttelte traurig den Kopf. »Ich konnte nicht.
Ich meine, ich wollte es. Ich dachte, das ist, was Gott will.
Mann und Frau und so. Aber ich konnte einfach nicht. Es
hat sich nichts gerührt … da unten.« Nachdenklich ließ er
den Kopf hängen.
Ein erleichtertes Lächeln legte sich auf Darryls Gesicht.
Vorsichtig schob er einen Finger unter Claytons Kinn und
zog dessen Kopf näher. Küsste ihn auf die Lippen; zuerst
ganz sanft, dann fordernder. Im ersten Moment verschloss
sich Clayton, dann ließ er es geschehen, öffnete leicht
seinen Mund, damit Darryls Zunge eindringen konnte. »Das
wär Dir bei mir nicht passiert«, flüsterte dieser zwischen
zwei Küssen. Ein Griff zwischen Claytons Beine bestätigte
seine Theorie. Gleichzeitig spürte er, dass er selbst den
Ständer seines Lebens bekam. Nicht wissend, dass es auch
der Letzte seines Lebens sein würde.
Mit einem kurzen, empörten Schrei flatterte irgendwo
hinter ihnen ein Nachtvogel auf. Clayton schreckte aus dem
Kuss seines Freundes hoch.
»Was ist?« fragte Daryll und versuchte seine Hand im
Hosenbund von Clayton verschwinden zu lassen.
»Hast Du das nicht gehört?« flüsterte dieser. Ängstlich
wich er zurück. »Da ist doch was …«
»Quatsch«, sagte Daryll und richtete sich ärgerlich auf.
In seiner Hose pochte es gewaltig, es fiel ihm schwer, sich
zu konzentrieren. Angespannt lauschte er in die Dunkelheit.
Nichts war zu hören. Tatsächlich nichts, wie ihm jetzt
auffiel. Und das war durchaus ein wenig seltsam. Was war
mit den Grillen passiert? Und auch sonst gab es in jedem
Wald nächtliche Geräusche.
Dann: ein kurzes Rascheln und das Knacken eines
Zweiges.
»Hast Du gehört?« flüsterte Clayton. »Da ist doch
jemand.«
Stille.
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»Wahrscheinlich ein Dachs«, brummte Daryll. »Von
denen gibt´s hier einige.« Er lauschte einen Moment und
war von seiner Theorie selbst nicht vollständig überzeugt.
Schließlich setzte er ein paar Schritte in den Wald. »Ist da
jemand? Ein kleiner, feiner, gemeiner Spanner? Komm raus
und ich zieh´ Dir die Ohren lang!« Ein weiterer Schritt, und
er war vom Dunkel des Waldes verschluckt.
»Scheiße« murmelte Clayton. Sein Herz pochte ihm bis
unter das Kinn. Er stand auf und begann nervös auf und ab
zu gehen. Sie hätten heute nicht hierher kommen sollen. Er
fand es ja selbst blöd, dass er an so etwas wie Sünde und die
Strafe Gottes glaubte, aber was er Daryll nicht erzählt hatte:
Er war an besagtem Morgen an der Stelle vorbeigekommen,
an der sie den alten Ed gefunden hatte. Sheriff Hutches
hatte neben Doc Myers gestanden, wie dieser gerade ein
Tuch über den toten Körper gebreitet hatte. Das, was
Clayton dabei noch von der Leiche hatte erspähen können,
hatte ausgereicht, dass ihn die Bilder bis in seine Träume
verfolgt hatten.
»Daryll?« rief er leise und machte ein paar Schritte in
den Wald. Er kannte diesen Ort, seit er ein kleiner Junge
war. Hatte sich hier zu jeder Tages- und Nachtzeit
herumgetrieben und dabei nie Angst verspürt.
Heute hatte er welche.
Kleine, knöcherne Finger, die über seine Haut krochen.
Er öffnete seinen Mund, um nochmals nach Daryll zu
rufen, als vor ihm ein Schrei ertönte. Ein schriller, heller
Kinderschrei. Erschrocken stolperte Clayton rückwärts. Und
als plötzlich zwei Schatten vor ihm aus dem Boden
wuchsen, folgte ein weiterer, unbedachter Schritt nach
hinten. Sein Fuß verfing sich in einer Wurzel, und er
landete auf seinem Hintern.
Einer der Schatten gewann an Klarheit und formte sich
zu Daryll, der ein breites Grinsen im Gesicht trug. »Ich
hatte also doch recht gehabt, mit dem Dachs«, erklärte er
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triumphierend. »Ein kleiner, ungezogener Frechdachs!« Mit
diesen Worten zog er einen Dreikäsehoch ins Mondlicht.
»Dein kleiner Bruder hat uns doch glatt nachgeschnüffelt!«
»Stimmt doch gar nicht«, nölte der Kleine. »Ich wollt´
mir nur den Mond im See anschauen …«
Clayton, der nach wie vor auf seinem Hosenboden saß,
stieß einen saftigen Fluch aus. »Scheiße, Ihr habt mich zu
Tode erschreckt! Verdammt, Petey … was schleichst Du
um die Uhrzeit mitten im Wald herum? Mom bekommt die
Krise, wenn sie das mitkriegt.« Seufzend war er im Begriff,
sich aufzurichten, als er in der Bewegung erstarrte. Sein
Blick hatte sich in der Schwärze hinter Daryll und Petey
festgefressen.
Dort, wo zwei rötliche Augen in der Dunkelheit
schimmerten.
»Was?« fragte Daryll.
»Da ist was«, flüsterte Clayton. »Hinter Euch.«
Peteys Augen verengten sich zu fragenden Schlitzen,
Daryll lachte. »Willst Du uns etwa Angst machen? Fast
hätte es geklappt.« Clayton schüttelte panisch den Kopf.
Das Rot der Augen wurde langsam dunkler, so dass es fast
zur Einbildung wurde, glomm dann wieder heller, als wären
es dämonische Zigaretten, an denen der Teufel persönlich
zog.
Darylls Lachen verebbte, als er merkte, dass es Clayton
todernst war. Trotz des Mondlichts war zu erkennen, dass
sein Gesicht aschfahl geworden war. »Bitte«, flüsterte er,
als er aus Richtung der Augen ein Schnüffeln zu vernehmen
glaubte. So leise, dass es nur hörbar war, weil sich eine
erdrückende Stille über den Wald gelegt hatte. Langsam
wandte sich Daryll um, bereit, dem Blick seines Freundes
zu folgen.
Das war der Moment, als das Böse von Oasis Falls sein
nächstes Opfer forderte.
Clayton glaubte zwei rote Leuchtspuren zu sehen, als
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die feurigen Augen nach vorne flogen. Aus der Dunkelheit
materialisierte sich ein bleicher Dämon. Mit einem
animalischen Knurren stürzte er sich auf Daryll und riss ihn
zu Boden. Kreischend wurde Petey zur Seite geschleudert,
krachte gegen einen Baumstamm und sackte benommen zu
Boden. Mit Panik in den aufgerissenen Augen robbte
Clayton am Hosenboden rückwärts. Hilflos musste er mit
ansehen, wie die Kreatur Daryll herumwarf und ihr Gebiss
in seinen Nacken schlug. Das Geräusch krachender
Knochen hallte echoend weit über den See hinaus und
vermischte sich mit Claytons Schrei. Endlich war es ihm
gelungen, sich aufzurappeln und loszulaufen. Das Böse,
dachte er, das Böse ist unsere Stadt gekommen. Verzweifelt
blickte er sich um. Sah, wie die Kreatur mit einem
schnorchelnden Geräusch ihren Kopf in die Höhe riss. Blut
und Fleischfetzen troffen von der Fratze.
Clayton hyperventilierte und lief, als wäre der Teufel
persönlich hinter ihm her. Äste peitschten in sein Gesicht,
zerrten an seiner Kleidung. Er spürte, wie sein T-Shirt
zerriss, während er nicht wusste, wohin er eigentlich rannte.
Er hatte einfach seinen Beinen vertraut, dass sie ihn von
dem Ort des Schreckens fortbrachten.
»Petey!« brach es plötzlich aus ihm hervor. Er zauderte,
zögerte. Er hatte seinen kleinen Bruder alleine mit der
Kreatur zurückgelassen. Und Daryll, dessen sterbende
Augen ihm vorwurfsvoll hinterher geblickt hatten.
Er blieb stehen. Sein Gesicht war tränennass, und sein
Herz pulste in seiner Brust. Hin und hergerissen stand er
unschlüssig mitten im Wald. Blickte nach oben, wo der
Mond zwischen den Baumwipfeln hervorlugte, aber auch
keine Antwort wusste.
Clayton fasste sich ein Herz.
Drehte sich um und rannte zurück.
Kam dabei kaum fünf Schritte.
Dann war das Böse über ihm.
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Der Kühlergrill des schwarzen Honda Accord V6, von dem
das geflügelte Logo der Motorradlinie prangte, fraß
unerbittlich das staubige Asphaltband in sich hinein, und
das seit Tagen. Unermüdlich rollten die Reifen, und im
Wageninneren dröhnte laute Rockmusik; Paranoid von
Black Sabbath.
Der Soundtrack meines Lebens, dachte Diamon Usher,
der mit mürrischer Miene hinter dem Lenkrad saß. Vor
wenigen Stunden hatte er die Grenze zu Kansas hinter sich
gelassen und steuerte weiter stur Richtung Westen. War bis
jetzt meist üppige Natur seine Begleiterin gewesen, wurde
die Landschaft nun trockener, und sattes Grün mischte sich
des Öfteren mit Erdtönen. Usher hasste es jetzt schon.
Für ihn war es seine eigene Art der Katharsis. Auf der
Flucht vor sich selbst, dorthin zu gehen, wo er es am
wenigsten aushielt. Bis er all das, was rund um ihn war, so
sehr satt hatte, dass ihm sein eigenes Leben wieder
erträglicher schien. So dass er wieder Einklang mit sich
selbst finden konnte, um danach zufriedener in eine der
großen Städte zurückkehren zu können. Dort, wo er sich
immer am wohlsten gefühlt hatte. Wo der nächste
Coffeeshop immer nur eine Ecke entfernt lag und Shops
und Bars beinahe rund um die Uhr geöffnet hatten.
Möglichkeiten. Er würde zur rechten Zeit spüren, wann es
so weit war und wohin er sich wenden sollte.
Während Ozzy Osbourne von Jon Bon Jovi abgelöst
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wurde, tauchte am Horizont ein Pünktchen auf. Die Straße
lag wie mit dem Lineal gezogen in einer flachen, kargen
Landschaft. Usher kniff konzentriert die Augen zusammen;
unbewusst drehten seine Finger die Lautstärke von Dyin'
Ain't Much of a Livin' zwei Stufen nach unten. Während der
Honda auf das Pünktchen zurollte, expandierte es zu einem
vollwertigen Punkt, wuchs langsam zu einer Linie und
immer weiter, bis es schließlich Menschengröße erreicht
hatte. Neben der Straße stand ein junger Afroamerikaner.
Beige Cargohose und ein eng anliegendes, schwarzes TShirt, unter dem sich ein durchtrainierter Oberkörper
abzeichnete. Einen großen, militärisch wirkenden,
Rucksack hatte er über die Schulter gehängt und den
Anhalterdaumen weit ausgestreckt. Usher überlegte kurz
und verringerte die Geschwindigkeit. Dann entschied er,
dass er keine Lust auf einen Beifahrer hatte und gab wieder
Gas. Enttäuschung legte sich auf das junge — fast noch
jugendlich wirkende — Gesicht. Im Vorübergleiten trafen
sich ihre Blicke.
»Sorry, Bro«, flüsterte Usher. »Diesmal nicht.« Seine
Hand griff zum Lautstärkeregler, um Bon Jovis Stimme
wieder mehr Nachdruck zu verleihen, als der Motor des
Hondas zu stottern begann. »Was zum..?« zischte Usher.
Das Auto bockte vorwärts und gab ein Geräusch von sich,
als hätte es sich gerade verschluckt. Usher wurde in seinem
Sitz durchgerüttelt, dann starb der Motor mit einem letzten
Rucken. Der Wagen rollte aus.
»Fuck!« entkam es Usher Mund, wütend hämmerte er
auf das Lenkrad. Dabei rotzte ein nach Sterben klingendes
Hupen aus dem Motorraum. Fluchend drehte er wiederholt
den Zündschlüssel, aber außer einem kläglichen Quietschen
des Anlassers passierte nichts. Dafür zeigte ihm ein Blick in
den Rückspiegel, dass der junge Schwarze die Situation
wohl missverstand und freudig näherkam. »Mist«, flüsterte
Usher. Er hasste es, wenn die Dinge eine Eigendynamik
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entwickelten, über die er keine Kontrolle hatte.
»Danke, Mann!« rief der Anhalter, als er am offenen
Seitenfenster angekommen war. »Ich hatte schon Angst, Sie
würden weiterfahren!« Ohne abzuwarten, riss er die Tür auf
und ließ sich ungefragt auf den Beifahrersitz fallen.
Erleichtert wischte er sich über das, vom Schweiß leicht
glänzende, kahle Haupt. »Verdammt heiß, da draußen!«
»Ähm… ja…« brummte Usher, der sich nach wie vor
an der Zündung abmühte. Es war ohnehin egal. Sie steckten
hier fest, und er hatte keine Ahnung, wie weit die nächste
Stadt entfernt liegen mochte. Das letzte Ortsschild, an das er
sich erinnerte, lag über dreißig Kilometer zurück. Andere
Fahrzeuge hatte er seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen.
»Es ist nur so«, setzte er zur Erklärung der Situation an,
als aufröhrendes Motorengeräusch und das anspringende
Autoradio seinen Einwand abwürgten. Ein skeptisches
Runzeln legte sich auf seine Stirn, und vorsichtig tippte er
probeweise aufs Gas — der Motor schnurrte wie ein
Kätzchen. »Also gut«, sagte er zu seinem ungebetenen
Beifahrer. »Dann fahren wir jetzt wohl zusammen.«
Im Radio meldeten sich AC/CD lautstark zu Wort.
Usher legte den ersten Gang ein und fuhr los. Aus den
Lautsprechern plärrte Brian Johnson. Sie waren wieder
unterwegs; am Highway to Hell.
Set, wie der junge Beifahrer hieß — mein Name ist Set,
ohne
H
—,
präsentierte
sich
nach
kurzem
Vorstellungsgeplänkel als schweigsamer Typ, der nur bis in
die nächste Stadt mitgenommen werden wollte. Beides
Punkte, die Usher mehr als recht waren. Was er erfahren
hatte, war, dass Set ohne H auf der Suche nach seinem
Bruder war. Er ging davon aus, dass er hier
durchgekommen war, hatte aber seit Wochen kein
Lebenszeichen von ihm vernommen. »Wir sind uns
ziemlich ähnlich«, erklärte er. »Ich bin mir sicher, ihn hier
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irgendwo zu finden.«
Als erwarte er ihn dort zu finden, blickte er konzentriert
auf die Smartwatch an seinem linken Arm und wischte ein
paar Menüfenster zur Seite. In Ushers Augen wirkte das
Ganze weniger wie eine Uhr denn ein futuristisches
Armband. Passgenau schmiegte es sich um das Handgelenk
und schien ein einziger biegsamer Bildschirm zu sein.
»Sieht nicht aus, wie die Teile, die die Obsthändler
verkaufen«, mutmaßte Usher.
»Hm?« Dann klärte sich Sets Miene, als er die
Anspielung verstand. »Hab´ ich von meiner Firma
bekommen. Ist ein nettes Spielzeug.« Mit einer raschen
Geste dreier Finger schloss er die aktuelle Anwendung und
ließ den Bildschirm in Schwärze verblassen. Jetzt sah das
Teil tatsächlich wie ein breites, dunkel schimmerndes
Armband aus.
Zufrieden grunzend legte Set den Kopf zurück und
schloss kurz die Augen. »Tut gut, mal nicht laufen zu
müssen. Danke, noch mal, Mann!«
»Nichts zu danken«, seufzte Usher, machte eine
wegwerfende Handbewegung und konzentrierte sich auf die
Straße. Die Landschaft schien wieder grüner und üppiger zu
werden. Und kaum eine viertel Stunde später tauchten erste
Anzeichen von Besiedelung auf. Weitläufige, bestellte
Felder, auf denen ab und zu windschiefe, vom Wetter
gemarterte, graue Holzhütten standen. Weidezäune, hinter
denen Vieh graste.
Ein Stück weiter hatte sich eine kleine
Menschenansammlung eingefunden. Ushers und Sets Blick
schwenkten synchron nach links. Neben einem hageren
Kerl in dunkelblauen Latzhosen stand ein hünenhafter Kerl
mit Respekt einflößender Leibesfülle. Zu ihren Füßen lag
eine Kuh, die augenscheinlich tot war. Für einen Moment
spülte Usher ein Geschmack von Metall durch den Mund.
Selbst aus der Entfernung konnte er den unnatürlich
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abstehenden Kopf erkennen, der halb vom massigen
Nackenbereich
abgetrennt
war.
Der
umliegende
Wiesenbereich hatte sich von eingetrocknetem Blut
rostbraun gefärbt. Eine Kolonie Fliegen schwirrte nervös
über dem Kadaver.
Der Hüne, der — mit sandfarbenem Uniformhemd und
Stern auf der Brust — augenscheinlich der Sheriff sein
musste, schob sich in einer nachdenklichen Bewegung den
Stetson retour und tupfte sich mit einem weißen Tuch über
die schweißnasse Stirn. Neben ihm kniete ein kleinerer Kerl
mit runden Brillen und einer aufgeklappten Ledertasche —
wohl der Veterinär des Ortes. Für einen Moment kreuzte
sich Ushers Blick mit dem des Sheriffs, dann waren sie
auch schon vorbei gerollt. »War vielleicht ein Bär«,
mutmaßte Set mit wenig Überzeugung in der Stimme.
Ein näherkommendes Ortsschild enthüllte, wo sie
waren. OASIS FALLS — GEGRÜNDET 1772 stand darauf
zu lesen. Quer über den Untertitel hatte jemand mit roter
Farbe VERDAMMT 2017 gesprayt. Die zum Teil
verlaufende Farbe erinnerte an geronnenes Blut. Irgendwo
tief in seinem Inneren spürte Usher, wie ein kleiner Funke
aufflackerte. Es war eine beginnende Neugier, die er sich
noch nicht eingestehen wollte. Nicht mein Problem, dachte
er und wischte das Gefühl fort. Schließlich sind wir alle
irgendwie verdammt.
Links und rechts tauchten erste schmucke, kleine
Häuser auf, und alle hundert Meter verdichtete sich die
Stadt ein wenig mehr. Sie rollten langsam über die
Hauptstraße, an der sich einladende Geschäfte
niedergelassen hatten. Auf den Gehsteigen war wenig
Bewegung, was wohl an Tageszeit und Hitze liegen mochte.
Sie passierten einen weitläufigen, begrünten Platz, dessen
zentrales Element ein Springbrunnen darstellte. Oasis Falls,
dachte Usher. Im Gegensatz zu dem Landstrich, den sie
zuvor durchquert hatten, schien hier an Wasser kein Mangel
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zu herrschen. Locker verteilte, hoch aufgeschossene
Laubbäume spendeten angenehmen Schatten. Aber auch
hier fanden sich kaum Menschen.
Am hinteren Ende des kleinen Parks, an einem Punkt,
der ihm am zentralsten schien, stoppte Usher den Wagen.
Nebenan luden ein paar hölzerne Bistrotische, die am
Gehsteig standen, zum Verweilen ein. The Little Oasis
stand in geschwungener Schrift auf einer Tafel über dem
Eingang. Usher fühlte sich versucht, einen Drink zu
nehmen, schob den Gedanken dann vehement zur Seite.
Sein Gefühl sagte ihm, er solle rasch wieder verschwinden.
Set kletterte vom Beifahrersitz und schulterte den
Rucksack. »Danke, Mann. Darf ich Sie noch auf eine Tasse
Kaffee einladen?«
Usher winkte ab. Er müsse weiter, erklärte er, hob die
Hand zu einem unverbindlichen Gruß und gab Gas.
Sehr viel weiter kam er fürs Erste nicht.
An der westlichen Stadtausfahrt lag Charlies Garage.
Eine kleine Werkstätte mit einer einzelnen Hebebühne und
einem heruntergekommenen Abschleppwagen, neben dem
ein paar altersschwache Gebraucht-PKW vor sich
hinrosteten. Außerdem zwei Zapfsäulen für Treibstoff.
Diese waren es, die Usher zu dem Halt veranlassten; die
demnächst ins Bodenlose stürzende Benzinnadel nötigte ihn
förmlich dazu.
»Hallo, Fremder«, begrüßte ihn eine quirlige Frau in
den Zwanzigern, die in roter Arbeitskleidung auf ihn
zukam. Sofort machte sie sich daran, die Tanksäule zu
bedienen. Unter einer zur Montur passenden Baseballkappe
quollen fröhliche, blonde Locken hervor. Das
verführerische Blitzen in den blauen Augen erzählte von
Problemen, die man kurzzeitig gerne haben wollte, aber
nicht sein Leben lang. Usher überlegte, ihr den Spitznamen
Troubles zu geben, während er sich erkundigte, wo Charlie
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sei.
»Ich bin Charlie«, tönte die Blonde selbstbewusst.
»Ursprünglich war´s mein Vater …« Sie deutete mit ihrem
Kinn in Richtung der Werkstätte, wo ein sehniger Mann in
den Fünfzigern unter der Hebebühne an einem Ford
schraubte. »Als ich heute Morgen in den Spiegel gesehen
habe, war ich´s noch immer«, bellte eine rauchige, aber
nicht unfreundliche Stimme unter dem Wagen hervor.
»So ist es, Paps!« Charlie zwinkerte Usher
verschwörerisch zu. »Vergangenes Jahr hat er mir den
Laden übergeben.« Sie wischte ihre öligen Hände in einem
Tuch mit zweifelhaftem Aussehen trocken und streckte die
Rechte Usher entgegen: »Charlene Riverdale.«
Usher griff zu und spürte neben einem kräftigen
Händedruck ein leichtes Knistern. Da war sie wieder, die
Versuchung, doch noch den einen oder anderen Tag —
vielleicht die eine oder andere Nacht — hier zu verbringen.
Das satte Klonk der Zapfsäule, die aufgehört hatte,
Benzin zu pumpen, riss ihn aus den abdriftenden Gedanken.
»Sehr erfreut«, sagte er, ohne seinen Namen zu nennen.
»Nur auf der Durchreise hier, Mister ..?«
»Kann man so sagen«, antwortete Usher kurz
angebunden und klaubte ihr ein paar Dollarscheine in die
Hand. »Danke für´s Benzin und machen Sie´s gut!« Er
setzte sich hinter das Steuer, drehte den Zündschlüssel und
fuhr, ohne noch einmal zurückzublicken, los. Der
Radiosender hatte mittlerweile von Rock zu Pop
gewechselt. Celine Dion sang It´s all coming back to me
now, und Usher tippte auf den Knopf für den
Sendersuchlauf. Das Ergebnis blieb dasselbe, und er
schaltete das Radio aus, während die im Rückspiegel
zusammenschrumpfende Charlene Riverdale dem seltsamen
Fremden stirnrunzelnd hinterher blickte.
Als Usher die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte,
machte sich Erleichterung breit. Egal welche Probleme die
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Stadt hatte, es hatte nichts mit ihm zu tun. Er war endlich
wieder unterwegs und endlich wieder alleine. Er konnte
nicht verhindern, zufrieden zu lächeln, als vor ihm die
westliche Ortstafel von Oasis Falls auftauchte. Warmer
Wind pfiff durch die geöffneten Fenster und zerzauste ihm
die, ohnehin schon wilden, Locken.
Es hätte ein Moment der absoluten Zufriedenheit sein
können.
Doch der Moment verging.
Wie schon früher am Tag, begann der Motor zu bocken
und zu rucken. »Nein, nein, nein!« rief Usher, als es ihn
wild durchschüttelte und der Wagen langsamer wurde. Mit
einem letzten Röcheln rollte er am Straßenrand aus.
»Komm schon«, flüsterte Usher und versuchte wieder
zu starten. Doch im Gegensatz zur ersten Panne rührte sich
nun überhaupt nichts mehr. Fuchsteufelswild stieg er aus
und ließ die Autotür knallen. »Verdammte Dreckskarre!«
fluchte er. »Ausgerechnet hier musst Du schlappmachen?«
Wütend trat er gegen den hinteren Reifen, wohl wissend,
dass ihn das auch nicht weiterbrachte. Auf einem kleinen
Baum, gleich neben dem unfreiwilligen Parkplatz, saß eine
weiße Taube und gurrte lautstark. »Verpiss Dich«, brüllte
Usher, griff sich einen Kiesel und schleuderte ihn nach dem
Vogel. Empört gurrend flatterte dieser hoch und davon.
Für eine Weile blickte Usher sehnsuchtsvoll
stadtauswärts, dann wandte er sich um, stopfte die Hände in
die Taschen und machte sich mürrisch auf den Weg
Richtung Stadt.
Ende der Leseprobe – erhältlich ab März 2017 auf
Amazon
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Über den Autor:
Paul Trenton wurde in den 70er-Jahren des vergangenen
Jahrhunderts in New York als Sohn eines Bundesbeamten und
einer italienisch-stämmigen Hausfrau geboren. Er war das
jüngste von drei Kindern. Als er zehn Jahre alt war starb sein
ältester Bruder, Pete, durch Suizid. Ein Jahr später verließ die
Familie die Neue Welt und übersiedelte nach Triest.
Heute lebt Trenton als Nomade in Europa, pendelt zwischen
dem Süden Italiens und dem Norden Schottlands. Wobei er
eine besondere Vorliebe für Österreich und die südsteirischen
Weinberge gefunden hat:
»Ich bin ein Kind der Städte. Aber die sanften, weiblichen
Formen der Landschaft beruhigen mich.«
Er liebt kräftigen Rotwein, schottischen Whisky, Espresso und
Pasta.
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