Band 03: Das Böse von Oasis Falls Paul Trenton © 2017 Paul Trenton All rights reserved. Handlungen und Figuren sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig. Cover art: Daniela Hinterreiter | www.manegefrei.at www.diamonusher.net [email protected] -2- Prolog »Wir sollten das nicht tun«, flüsterte Clayton und verschränkte seine Arme vor der Brust. Der Blick des Jungen glitt suchend zur Seite und über die nächtlich glänzende Fläche des kleinen Sees, an dem die zwei Burschen saßen. Die Sonne war längst untergegangen und hatte einem fast vollen Mond Platz gemacht, dessen pockennarbiges Gesicht bleich aus dem Wasser lugte. Von der gegenüberliegenden Seite des Sees drang leises Plätschern, wo sich aus einer bewaldeten Anhöhe, über zwei steile und mehrere flache, kaskadenartig auslaufende Stufen, ein Zustrom frischen Nasses ergoss. »Wovor hast Du Angst?« bohre Darryl. »Erwischt zu werden? Hier ist doch niemand.« Als sein Freund nicht antwortete, drehte er sich um und rief verspielt in den Wald hinter sich: »Hallooo!? Echoooo!?« »Pscht!« fuhr ihn Clayton an. »Das ist nicht witzig.« Er seufzte tief. »Reverend Jim sagt auch, es sei Sünde.« »Pah! Was weiß der schon? Dem ist doch nur wichtig, dass es in der Kollekte mehr raschelt als klingelt.« »Gott spricht zu ihm«, beharrte Clayton. »Und nach allem, was passiert ist …« Ein weiterer, schwerer Seufzer. »Das Böse ist nach Oasis Falls gekommen, und solange wir weiter sündigen, wird es auch bleiben.« »Oh, Mann, Clayton. Du glaubst doch diesen Schwachsinn nicht etwa? Wir leben im 21. Jahrhundert. Und Jimmy Jackson weiß genau, dass sich mit Angst mehr -3- Geld verdienen lässt, als mit der Verbreitung der Frohen Botschaft.« Trotzig schüttelte Clayton den Kopf. »So oder so, wir sollten nicht hier sein. Es ist gefährlich. Das sagt auch Sheriff Hutches.« Daryll stieß ein resignierendes Brummen aus. »Wegen dem alten Ed? Keiner weiß, was mit dem passiert ist. Wahrscheinlich war´s ein Landstreicher, der schon wieder hundert Kilometer fort ist. Pech für Ed, egal für uns.« »Ich weiß nicht. Er soll ziemlich zugerichtet gewesen sein.« Mutlos ließ Clayton die Arme sinken. »Auf jeden Fall hat ihn nicht der Teufel geholt, wenn Du das meinst. Die Leute reden zu viel Quatsch.« Vorsichtig rückte Daryll näher und legte einen Arm um Claytons Taille; versuchte ihn näher zu ziehen. Stieß zuerst auf Widerstand, aber nur kurz. Eine Weile saßen sie so da, sagten nichts. Betrachteten die spitzen Schatten der hoch aufragenden Bäume, die, im sanften Auf und Ab des Wassers, am See sägten. Irgendwo rief eine einsame Eule. Überall zirpten Massen von Grillen. Der ankommende Sommer spendierte eine laue Nacht, und Daryll kam nicht umhin zu bemerken, dass ihn die friedliche Stimmung und die angenehme Nähe zum Körper seines Freundes ziemlich geil machten. Eigentlich hatte er nur einen angenehmen Abend verbringen wollen und hätte jetzt einfach gerne einen geblasen bekommen. Aber so wie Clayton im Moment drauf war, würde ein falsches Wort reichen und er würde nach Hause verschwinden. Und Daryll hatte keine Lust wieder auf Handbetrieb umzuschalten. Nicht wegen falscher Moralvorstellungen, und schon gar nicht wegen eines unerklärlichen Todesfalls und Horrorstorys, die bei jedem Mal erzählen weiter aufgeplustert wurden. Zwei, drei Iterationen noch, und die Leute würden von Bigfoot oder dem Slenderman sprechen. »Ich habe es vergangene Woche mit Mary-Ann -4- probiert«, platzte es aus Clayton plötzlich heraus. »Was?!« »Ja, auf dem Heustadel ihres Vaters. Ich habe ihnen geholfen, Düngersäcke abzuladen. Und irgendwann waren wir dann allein, Mary-Ann und ich. Wir haben ein wenig rumgealbert. Dann hat sie gemeint, ich solle mit hochkommen, sie müsse mir was zeigen.« »Und? Was?« »Ich dachte zuerst, vielleicht hat sich irgendein Tier im Heu eingenistet, aber … also …« Entnervt schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. »Mann! Ihre Titten.« Daryll konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Echt jetzt? Einfach so?« »Ja, sie hat einfach ihr Kleid fallen gelassen und dann denn BH. Ich mein´, sie waren echt schön anzuschauen.« Unbewusst spielte seine Hand mit dem kleinen Kegel, der an einem Lederband um seinen Hals hing. Ein glatt polierter elfenbeinfarbiger Haifischzahn, angeblich mehrere Millionen Jahre alt. Nachdenklich kneteten seine Finger den Anhänger. Ungeduldig wippte Daryll vor und zurück. »Und weiter?« »Dann hat sie gemeint, ich solle die Zwillinge nicht nur blöd anglotzen, sondern sie anfassen und küssen.« »Und hast Du?« »Natürlich. Was hätte ich denn sonst tun sollen? — Sie haben sich weicher angefühlt, als ich gedacht habe. Und dann ist mir Mary-Ann direkt an die Hose gegangen.« Daryll grunzte. Er wusste nicht, ob er neidisch sein sollte, oder nicht. Er hatte sich nie etwas aus Mädchen gemacht und bis jetzt auch angenommen, dass es bei Clayton ähnlich wäre. Er spürte, wie Eifersucht durch seinen Körper zu kriechen begann. »Und dann?« fragte er. »Habt Ihr es getan?« Seine Stimme hatte einen ärgerlichen Unterton angenommen. -5- Clayton schüttelte traurig den Kopf. »Ich konnte nicht. Ich meine, ich wollte es. Ich dachte, das ist, was Gott will. Mann und Frau und so. Aber ich konnte einfach nicht. Es hat sich nichts gerührt … da unten.« Nachdenklich ließ er den Kopf hängen. Ein erleichtertes Lächeln legte sich auf Darryls Gesicht. Vorsichtig schob er einen Finger unter Claytons Kinn und zog dessen Kopf näher. Küsste ihn auf die Lippen; zuerst ganz sanft, dann fordernder. Im ersten Moment verschloss sich Clayton, dann ließ er es geschehen, öffnete leicht seinen Mund, damit Darryls Zunge eindringen konnte. »Das wär Dir bei mir nicht passiert«, flüsterte dieser zwischen zwei Küssen. Ein Griff zwischen Claytons Beine bestätigte seine Theorie. Gleichzeitig spürte er, dass er selbst den Ständer seines Lebens bekam. Nicht wissend, dass es auch der Letzte seines Lebens sein würde. Mit einem kurzen, empörten Schrei flatterte irgendwo hinter ihnen ein Nachtvogel auf. Clayton schreckte aus dem Kuss seines Freundes hoch. »Was ist?« fragte Daryll und versuchte seine Hand im Hosenbund von Clayton verschwinden zu lassen. »Hast Du das nicht gehört?« flüsterte dieser. Ängstlich wich er zurück. »Da ist doch was …« »Quatsch«, sagte Daryll und richtete sich ärgerlich auf. In seiner Hose pochte es gewaltig, es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Angespannt lauschte er in die Dunkelheit. Nichts war zu hören. Tatsächlich nichts, wie ihm jetzt auffiel. Und das war durchaus ein wenig seltsam. Was war mit den Grillen passiert? Und auch sonst gab es in jedem Wald nächtliche Geräusche. Dann: ein kurzes Rascheln und das Knacken eines Zweiges. »Hast Du gehört?« flüsterte Clayton. »Da ist doch jemand.« Stille. -6- »Wahrscheinlich ein Dachs«, brummte Daryll. »Von denen gibt´s hier einige.« Er lauschte einen Moment und war von seiner Theorie selbst nicht vollständig überzeugt. Schließlich setzte er ein paar Schritte in den Wald. »Ist da jemand? Ein kleiner, feiner, gemeiner Spanner? Komm raus und ich zieh´ Dir die Ohren lang!« Ein weiterer Schritt, und er war vom Dunkel des Waldes verschluckt. »Scheiße« murmelte Clayton. Sein Herz pochte ihm bis unter das Kinn. Er stand auf und begann nervös auf und ab zu gehen. Sie hätten heute nicht hierher kommen sollen. Er fand es ja selbst blöd, dass er an so etwas wie Sünde und die Strafe Gottes glaubte, aber was er Daryll nicht erzählt hatte: Er war an besagtem Morgen an der Stelle vorbeigekommen, an der sie den alten Ed gefunden hatte. Sheriff Hutches hatte neben Doc Myers gestanden, wie dieser gerade ein Tuch über den toten Körper gebreitet hatte. Das, was Clayton dabei noch von der Leiche hatte erspähen können, hatte ausgereicht, dass ihn die Bilder bis in seine Träume verfolgt hatten. »Daryll?« rief er leise und machte ein paar Schritte in den Wald. Er kannte diesen Ort, seit er ein kleiner Junge war. Hatte sich hier zu jeder Tages- und Nachtzeit herumgetrieben und dabei nie Angst verspürt. Heute hatte er welche. Kleine, knöcherne Finger, die über seine Haut krochen. Er öffnete seinen Mund, um nochmals nach Daryll zu rufen, als vor ihm ein Schrei ertönte. Ein schriller, heller Kinderschrei. Erschrocken stolperte Clayton rückwärts. Und als plötzlich zwei Schatten vor ihm aus dem Boden wuchsen, folgte ein weiterer, unbedachter Schritt nach hinten. Sein Fuß verfing sich in einer Wurzel, und er landete auf seinem Hintern. Einer der Schatten gewann an Klarheit und formte sich zu Daryll, der ein breites Grinsen im Gesicht trug. »Ich hatte also doch recht gehabt, mit dem Dachs«, erklärte er -7- triumphierend. »Ein kleiner, ungezogener Frechdachs!« Mit diesen Worten zog er einen Dreikäsehoch ins Mondlicht. »Dein kleiner Bruder hat uns doch glatt nachgeschnüffelt!« »Stimmt doch gar nicht«, nölte der Kleine. »Ich wollt´ mir nur den Mond im See anschauen …« Clayton, der nach wie vor auf seinem Hosenboden saß, stieß einen saftigen Fluch aus. »Scheiße, Ihr habt mich zu Tode erschreckt! Verdammt, Petey … was schleichst Du um die Uhrzeit mitten im Wald herum? Mom bekommt die Krise, wenn sie das mitkriegt.« Seufzend war er im Begriff, sich aufzurichten, als er in der Bewegung erstarrte. Sein Blick hatte sich in der Schwärze hinter Daryll und Petey festgefressen. Dort, wo zwei rötliche Augen in der Dunkelheit schimmerten. »Was?« fragte Daryll. »Da ist was«, flüsterte Clayton. »Hinter Euch.« Peteys Augen verengten sich zu fragenden Schlitzen, Daryll lachte. »Willst Du uns etwa Angst machen? Fast hätte es geklappt.« Clayton schüttelte panisch den Kopf. Das Rot der Augen wurde langsam dunkler, so dass es fast zur Einbildung wurde, glomm dann wieder heller, als wären es dämonische Zigaretten, an denen der Teufel persönlich zog. Darylls Lachen verebbte, als er merkte, dass es Clayton todernst war. Trotz des Mondlichts war zu erkennen, dass sein Gesicht aschfahl geworden war. »Bitte«, flüsterte er, als er aus Richtung der Augen ein Schnüffeln zu vernehmen glaubte. So leise, dass es nur hörbar war, weil sich eine erdrückende Stille über den Wald gelegt hatte. Langsam wandte sich Daryll um, bereit, dem Blick seines Freundes zu folgen. Das war der Moment, als das Böse von Oasis Falls sein nächstes Opfer forderte. Clayton glaubte zwei rote Leuchtspuren zu sehen, als -8- die feurigen Augen nach vorne flogen. Aus der Dunkelheit materialisierte sich ein bleicher Dämon. Mit einem animalischen Knurren stürzte er sich auf Daryll und riss ihn zu Boden. Kreischend wurde Petey zur Seite geschleudert, krachte gegen einen Baumstamm und sackte benommen zu Boden. Mit Panik in den aufgerissenen Augen robbte Clayton am Hosenboden rückwärts. Hilflos musste er mit ansehen, wie die Kreatur Daryll herumwarf und ihr Gebiss in seinen Nacken schlug. Das Geräusch krachender Knochen hallte echoend weit über den See hinaus und vermischte sich mit Claytons Schrei. Endlich war es ihm gelungen, sich aufzurappeln und loszulaufen. Das Böse, dachte er, das Böse ist unsere Stadt gekommen. Verzweifelt blickte er sich um. Sah, wie die Kreatur mit einem schnorchelnden Geräusch ihren Kopf in die Höhe riss. Blut und Fleischfetzen troffen von der Fratze. Clayton hyperventilierte und lief, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Äste peitschten in sein Gesicht, zerrten an seiner Kleidung. Er spürte, wie sein T-Shirt zerriss, während er nicht wusste, wohin er eigentlich rannte. Er hatte einfach seinen Beinen vertraut, dass sie ihn von dem Ort des Schreckens fortbrachten. »Petey!« brach es plötzlich aus ihm hervor. Er zauderte, zögerte. Er hatte seinen kleinen Bruder alleine mit der Kreatur zurückgelassen. Und Daryll, dessen sterbende Augen ihm vorwurfsvoll hinterher geblickt hatten. Er blieb stehen. Sein Gesicht war tränennass, und sein Herz pulste in seiner Brust. Hin und hergerissen stand er unschlüssig mitten im Wald. Blickte nach oben, wo der Mond zwischen den Baumwipfeln hervorlugte, aber auch keine Antwort wusste. Clayton fasste sich ein Herz. Drehte sich um und rannte zurück. Kam dabei kaum fünf Schritte. Dann war das Böse über ihm. -9- 1 Der Kühlergrill des schwarzen Honda Accord V6, von dem das geflügelte Logo der Motorradlinie prangte, fraß unerbittlich das staubige Asphaltband in sich hinein, und das seit Tagen. Unermüdlich rollten die Reifen, und im Wageninneren dröhnte laute Rockmusik; Paranoid von Black Sabbath. Der Soundtrack meines Lebens, dachte Diamon Usher, der mit mürrischer Miene hinter dem Lenkrad saß. Vor wenigen Stunden hatte er die Grenze zu Kansas hinter sich gelassen und steuerte weiter stur Richtung Westen. War bis jetzt meist üppige Natur seine Begleiterin gewesen, wurde die Landschaft nun trockener, und sattes Grün mischte sich des Öfteren mit Erdtönen. Usher hasste es jetzt schon. Für ihn war es seine eigene Art der Katharsis. Auf der Flucht vor sich selbst, dorthin zu gehen, wo er es am wenigsten aushielt. Bis er all das, was rund um ihn war, so sehr satt hatte, dass ihm sein eigenes Leben wieder erträglicher schien. So dass er wieder Einklang mit sich selbst finden konnte, um danach zufriedener in eine der großen Städte zurückkehren zu können. Dort, wo er sich immer am wohlsten gefühlt hatte. Wo der nächste Coffeeshop immer nur eine Ecke entfernt lag und Shops und Bars beinahe rund um die Uhr geöffnet hatten. Möglichkeiten. Er würde zur rechten Zeit spüren, wann es so weit war und wohin er sich wenden sollte. Während Ozzy Osbourne von Jon Bon Jovi abgelöst - 10 - wurde, tauchte am Horizont ein Pünktchen auf. Die Straße lag wie mit dem Lineal gezogen in einer flachen, kargen Landschaft. Usher kniff konzentriert die Augen zusammen; unbewusst drehten seine Finger die Lautstärke von Dyin' Ain't Much of a Livin' zwei Stufen nach unten. Während der Honda auf das Pünktchen zurollte, expandierte es zu einem vollwertigen Punkt, wuchs langsam zu einer Linie und immer weiter, bis es schließlich Menschengröße erreicht hatte. Neben der Straße stand ein junger Afroamerikaner. Beige Cargohose und ein eng anliegendes, schwarzes TShirt, unter dem sich ein durchtrainierter Oberkörper abzeichnete. Einen großen, militärisch wirkenden, Rucksack hatte er über die Schulter gehängt und den Anhalterdaumen weit ausgestreckt. Usher überlegte kurz und verringerte die Geschwindigkeit. Dann entschied er, dass er keine Lust auf einen Beifahrer hatte und gab wieder Gas. Enttäuschung legte sich auf das junge — fast noch jugendlich wirkende — Gesicht. Im Vorübergleiten trafen sich ihre Blicke. »Sorry, Bro«, flüsterte Usher. »Diesmal nicht.« Seine Hand griff zum Lautstärkeregler, um Bon Jovis Stimme wieder mehr Nachdruck zu verleihen, als der Motor des Hondas zu stottern begann. »Was zum..?« zischte Usher. Das Auto bockte vorwärts und gab ein Geräusch von sich, als hätte es sich gerade verschluckt. Usher wurde in seinem Sitz durchgerüttelt, dann starb der Motor mit einem letzten Rucken. Der Wagen rollte aus. »Fuck!« entkam es Usher Mund, wütend hämmerte er auf das Lenkrad. Dabei rotzte ein nach Sterben klingendes Hupen aus dem Motorraum. Fluchend drehte er wiederholt den Zündschlüssel, aber außer einem kläglichen Quietschen des Anlassers passierte nichts. Dafür zeigte ihm ein Blick in den Rückspiegel, dass der junge Schwarze die Situation wohl missverstand und freudig näherkam. »Mist«, flüsterte Usher. Er hasste es, wenn die Dinge eine Eigendynamik - 11 - entwickelten, über die er keine Kontrolle hatte. »Danke, Mann!« rief der Anhalter, als er am offenen Seitenfenster angekommen war. »Ich hatte schon Angst, Sie würden weiterfahren!« Ohne abzuwarten, riss er die Tür auf und ließ sich ungefragt auf den Beifahrersitz fallen. Erleichtert wischte er sich über das, vom Schweiß leicht glänzende, kahle Haupt. »Verdammt heiß, da draußen!« »Ähm… ja…« brummte Usher, der sich nach wie vor an der Zündung abmühte. Es war ohnehin egal. Sie steckten hier fest, und er hatte keine Ahnung, wie weit die nächste Stadt entfernt liegen mochte. Das letzte Ortsschild, an das er sich erinnerte, lag über dreißig Kilometer zurück. Andere Fahrzeuge hatte er seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen. »Es ist nur so«, setzte er zur Erklärung der Situation an, als aufröhrendes Motorengeräusch und das anspringende Autoradio seinen Einwand abwürgten. Ein skeptisches Runzeln legte sich auf seine Stirn, und vorsichtig tippte er probeweise aufs Gas — der Motor schnurrte wie ein Kätzchen. »Also gut«, sagte er zu seinem ungebetenen Beifahrer. »Dann fahren wir jetzt wohl zusammen.« Im Radio meldeten sich AC/CD lautstark zu Wort. Usher legte den ersten Gang ein und fuhr los. Aus den Lautsprechern plärrte Brian Johnson. Sie waren wieder unterwegs; am Highway to Hell. Set, wie der junge Beifahrer hieß — mein Name ist Set, ohne H —, präsentierte sich nach kurzem Vorstellungsgeplänkel als schweigsamer Typ, der nur bis in die nächste Stadt mitgenommen werden wollte. Beides Punkte, die Usher mehr als recht waren. Was er erfahren hatte, war, dass Set ohne H auf der Suche nach seinem Bruder war. Er ging davon aus, dass er hier durchgekommen war, hatte aber seit Wochen kein Lebenszeichen von ihm vernommen. »Wir sind uns ziemlich ähnlich«, erklärte er. »Ich bin mir sicher, ihn hier - 12 - irgendwo zu finden.« Als erwarte er ihn dort zu finden, blickte er konzentriert auf die Smartwatch an seinem linken Arm und wischte ein paar Menüfenster zur Seite. In Ushers Augen wirkte das Ganze weniger wie eine Uhr denn ein futuristisches Armband. Passgenau schmiegte es sich um das Handgelenk und schien ein einziger biegsamer Bildschirm zu sein. »Sieht nicht aus, wie die Teile, die die Obsthändler verkaufen«, mutmaßte Usher. »Hm?« Dann klärte sich Sets Miene, als er die Anspielung verstand. »Hab´ ich von meiner Firma bekommen. Ist ein nettes Spielzeug.« Mit einer raschen Geste dreier Finger schloss er die aktuelle Anwendung und ließ den Bildschirm in Schwärze verblassen. Jetzt sah das Teil tatsächlich wie ein breites, dunkel schimmerndes Armband aus. Zufrieden grunzend legte Set den Kopf zurück und schloss kurz die Augen. »Tut gut, mal nicht laufen zu müssen. Danke, noch mal, Mann!« »Nichts zu danken«, seufzte Usher, machte eine wegwerfende Handbewegung und konzentrierte sich auf die Straße. Die Landschaft schien wieder grüner und üppiger zu werden. Und kaum eine viertel Stunde später tauchten erste Anzeichen von Besiedelung auf. Weitläufige, bestellte Felder, auf denen ab und zu windschiefe, vom Wetter gemarterte, graue Holzhütten standen. Weidezäune, hinter denen Vieh graste. Ein Stück weiter hatte sich eine kleine Menschenansammlung eingefunden. Ushers und Sets Blick schwenkten synchron nach links. Neben einem hageren Kerl in dunkelblauen Latzhosen stand ein hünenhafter Kerl mit Respekt einflößender Leibesfülle. Zu ihren Füßen lag eine Kuh, die augenscheinlich tot war. Für einen Moment spülte Usher ein Geschmack von Metall durch den Mund. Selbst aus der Entfernung konnte er den unnatürlich - 13 - abstehenden Kopf erkennen, der halb vom massigen Nackenbereich abgetrennt war. Der umliegende Wiesenbereich hatte sich von eingetrocknetem Blut rostbraun gefärbt. Eine Kolonie Fliegen schwirrte nervös über dem Kadaver. Der Hüne, der — mit sandfarbenem Uniformhemd und Stern auf der Brust — augenscheinlich der Sheriff sein musste, schob sich in einer nachdenklichen Bewegung den Stetson retour und tupfte sich mit einem weißen Tuch über die schweißnasse Stirn. Neben ihm kniete ein kleinerer Kerl mit runden Brillen und einer aufgeklappten Ledertasche — wohl der Veterinär des Ortes. Für einen Moment kreuzte sich Ushers Blick mit dem des Sheriffs, dann waren sie auch schon vorbei gerollt. »War vielleicht ein Bär«, mutmaßte Set mit wenig Überzeugung in der Stimme. Ein näherkommendes Ortsschild enthüllte, wo sie waren. OASIS FALLS — GEGRÜNDET 1772 stand darauf zu lesen. Quer über den Untertitel hatte jemand mit roter Farbe VERDAMMT 2017 gesprayt. Die zum Teil verlaufende Farbe erinnerte an geronnenes Blut. Irgendwo tief in seinem Inneren spürte Usher, wie ein kleiner Funke aufflackerte. Es war eine beginnende Neugier, die er sich noch nicht eingestehen wollte. Nicht mein Problem, dachte er und wischte das Gefühl fort. Schließlich sind wir alle irgendwie verdammt. Links und rechts tauchten erste schmucke, kleine Häuser auf, und alle hundert Meter verdichtete sich die Stadt ein wenig mehr. Sie rollten langsam über die Hauptstraße, an der sich einladende Geschäfte niedergelassen hatten. Auf den Gehsteigen war wenig Bewegung, was wohl an Tageszeit und Hitze liegen mochte. Sie passierten einen weitläufigen, begrünten Platz, dessen zentrales Element ein Springbrunnen darstellte. Oasis Falls, dachte Usher. Im Gegensatz zu dem Landstrich, den sie zuvor durchquert hatten, schien hier an Wasser kein Mangel - 14 - zu herrschen. Locker verteilte, hoch aufgeschossene Laubbäume spendeten angenehmen Schatten. Aber auch hier fanden sich kaum Menschen. Am hinteren Ende des kleinen Parks, an einem Punkt, der ihm am zentralsten schien, stoppte Usher den Wagen. Nebenan luden ein paar hölzerne Bistrotische, die am Gehsteig standen, zum Verweilen ein. The Little Oasis stand in geschwungener Schrift auf einer Tafel über dem Eingang. Usher fühlte sich versucht, einen Drink zu nehmen, schob den Gedanken dann vehement zur Seite. Sein Gefühl sagte ihm, er solle rasch wieder verschwinden. Set kletterte vom Beifahrersitz und schulterte den Rucksack. »Danke, Mann. Darf ich Sie noch auf eine Tasse Kaffee einladen?« Usher winkte ab. Er müsse weiter, erklärte er, hob die Hand zu einem unverbindlichen Gruß und gab Gas. Sehr viel weiter kam er fürs Erste nicht. An der westlichen Stadtausfahrt lag Charlies Garage. Eine kleine Werkstätte mit einer einzelnen Hebebühne und einem heruntergekommenen Abschleppwagen, neben dem ein paar altersschwache Gebraucht-PKW vor sich hinrosteten. Außerdem zwei Zapfsäulen für Treibstoff. Diese waren es, die Usher zu dem Halt veranlassten; die demnächst ins Bodenlose stürzende Benzinnadel nötigte ihn förmlich dazu. »Hallo, Fremder«, begrüßte ihn eine quirlige Frau in den Zwanzigern, die in roter Arbeitskleidung auf ihn zukam. Sofort machte sie sich daran, die Tanksäule zu bedienen. Unter einer zur Montur passenden Baseballkappe quollen fröhliche, blonde Locken hervor. Das verführerische Blitzen in den blauen Augen erzählte von Problemen, die man kurzzeitig gerne haben wollte, aber nicht sein Leben lang. Usher überlegte, ihr den Spitznamen Troubles zu geben, während er sich erkundigte, wo Charlie - 15 - sei. »Ich bin Charlie«, tönte die Blonde selbstbewusst. »Ursprünglich war´s mein Vater …« Sie deutete mit ihrem Kinn in Richtung der Werkstätte, wo ein sehniger Mann in den Fünfzigern unter der Hebebühne an einem Ford schraubte. »Als ich heute Morgen in den Spiegel gesehen habe, war ich´s noch immer«, bellte eine rauchige, aber nicht unfreundliche Stimme unter dem Wagen hervor. »So ist es, Paps!« Charlie zwinkerte Usher verschwörerisch zu. »Vergangenes Jahr hat er mir den Laden übergeben.« Sie wischte ihre öligen Hände in einem Tuch mit zweifelhaftem Aussehen trocken und streckte die Rechte Usher entgegen: »Charlene Riverdale.« Usher griff zu und spürte neben einem kräftigen Händedruck ein leichtes Knistern. Da war sie wieder, die Versuchung, doch noch den einen oder anderen Tag — vielleicht die eine oder andere Nacht — hier zu verbringen. Das satte Klonk der Zapfsäule, die aufgehört hatte, Benzin zu pumpen, riss ihn aus den abdriftenden Gedanken. »Sehr erfreut«, sagte er, ohne seinen Namen zu nennen. »Nur auf der Durchreise hier, Mister ..?« »Kann man so sagen«, antwortete Usher kurz angebunden und klaubte ihr ein paar Dollarscheine in die Hand. »Danke für´s Benzin und machen Sie´s gut!« Er setzte sich hinter das Steuer, drehte den Zündschlüssel und fuhr, ohne noch einmal zurückzublicken, los. Der Radiosender hatte mittlerweile von Rock zu Pop gewechselt. Celine Dion sang It´s all coming back to me now, und Usher tippte auf den Knopf für den Sendersuchlauf. Das Ergebnis blieb dasselbe, und er schaltete das Radio aus, während die im Rückspiegel zusammenschrumpfende Charlene Riverdale dem seltsamen Fremden stirnrunzelnd hinterher blickte. Als Usher die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte, machte sich Erleichterung breit. Egal welche Probleme die - 16 - Stadt hatte, es hatte nichts mit ihm zu tun. Er war endlich wieder unterwegs und endlich wieder alleine. Er konnte nicht verhindern, zufrieden zu lächeln, als vor ihm die westliche Ortstafel von Oasis Falls auftauchte. Warmer Wind pfiff durch die geöffneten Fenster und zerzauste ihm die, ohnehin schon wilden, Locken. Es hätte ein Moment der absoluten Zufriedenheit sein können. Doch der Moment verging. Wie schon früher am Tag, begann der Motor zu bocken und zu rucken. »Nein, nein, nein!« rief Usher, als es ihn wild durchschüttelte und der Wagen langsamer wurde. Mit einem letzten Röcheln rollte er am Straßenrand aus. »Komm schon«, flüsterte Usher und versuchte wieder zu starten. Doch im Gegensatz zur ersten Panne rührte sich nun überhaupt nichts mehr. Fuchsteufelswild stieg er aus und ließ die Autotür knallen. »Verdammte Dreckskarre!« fluchte er. »Ausgerechnet hier musst Du schlappmachen?« Wütend trat er gegen den hinteren Reifen, wohl wissend, dass ihn das auch nicht weiterbrachte. Auf einem kleinen Baum, gleich neben dem unfreiwilligen Parkplatz, saß eine weiße Taube und gurrte lautstark. »Verpiss Dich«, brüllte Usher, griff sich einen Kiesel und schleuderte ihn nach dem Vogel. Empört gurrend flatterte dieser hoch und davon. Für eine Weile blickte Usher sehnsuchtsvoll stadtauswärts, dann wandte er sich um, stopfte die Hände in die Taschen und machte sich mürrisch auf den Weg Richtung Stadt. Ende der Leseprobe – erhältlich ab März 2017 auf Amazon - 17 - Über den Autor: Paul Trenton wurde in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts in New York als Sohn eines Bundesbeamten und einer italienisch-stämmigen Hausfrau geboren. Er war das jüngste von drei Kindern. Als er zehn Jahre alt war starb sein ältester Bruder, Pete, durch Suizid. Ein Jahr später verließ die Familie die Neue Welt und übersiedelte nach Triest. Heute lebt Trenton als Nomade in Europa, pendelt zwischen dem Süden Italiens und dem Norden Schottlands. Wobei er eine besondere Vorliebe für Österreich und die südsteirischen Weinberge gefunden hat: »Ich bin ein Kind der Städte. Aber die sanften, weiblichen Formen der Landschaft beruhigen mich.« Er liebt kräftigen Rotwein, schottischen Whisky, Espresso und Pasta. - 18 -
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