C. Bonneuil ua: The Shock of the Anthropocene 2017-1 - H-Soz-Kult

C. Bonneuil u.a.: The Shock of the Anthropocene
Bonneuil, Christophe; Fressoz, Jean-Baptiste:
The Shock of the Anthropocene. The Earth, History and Us. London: Verso 2016. ISBN: 978-178478-079-1; 320 S.
Rezensiert von: Matthias Heymann, Centre
for Science Studies, Aarhus University
Unter dem Namen Anthropozän wird die Benennung einer neuen geochronologischen irdischen Epoche vorgeschlagen. Sie soll das
Holozän ablösen und den Zeitabschnitt umfassen, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen,
geologischen und atmosphärischen Prozesse
auf der Erde geworden ist. Das Konzept des
Anthropozäns, das zunächst von Naturwissenschaftlern beschrieben wurde, ist mit einigem Enthusiasmus auch von Geistes- und Sozialwissenschaftlern aufgenommen worden.
Zwar bestehen durchaus Zweifel daran, ob
das Anthropozän von der International Commission on Stratigraphy als neuer geologischer Zeitabschnitt anerkannt wird. Doch das
dürfte nicht entscheidend sein für die Karriere
dieses Begriffes, der bereits lebhafte Diskussionen hervorgerufen, eine zunehmend unüberschaubare Zahl von Publikationen hervorgebracht und zur Gründung von neuen,
ausdrücklich dem Anthropozän gewidmeten
Zeitschriften Anlass gegeben hat. Überdies
sind mindestens zwei Dutzend Ausstellungsprojekte in Vorbereitung, die neben anderen
Aktivitäten und zahlreichen Medienberichten
dazu beitragen, diesen Begriff auch in der
weiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.1
Das Buch der Historiker Christophe Bonneuil und Jean-Baptiste Fressoz ist ein überfälliger Versuch, das Anthropozän-Konzept
zu historisieren, kritisch zu hinterfragen, seine Attraktivität wie seine Schwächen zu ermessen und die Rolle der Geistes- und Sozialwissenschaftler in diesem Diskurs zu reflektieren. Bonneuil und Fressoz teilen die Auffassung, dass ökologische Probleme tiefgreifend sind und langfristige Konsequenzen unausweichlich zu sein scheinen. Sie zeigen sich
der Idee des Anthropozäns zunächst wohlgesonnen. Das „Anthropocene label [. . . ] is an
essential tool for understanding what is happening to us“ (S. xi). In den ersten zwei Kapiteln fassen sie die naturwissenschaftlichen
2017-1-104
Erkenntnisse zusammen, die zeigen, dass der
Mensch zum maßgeblichen Faktor für globale Umweltveränderungen geworden ist –
wir leben im Anthropozän, und das seit langem. Nicht nur ist die Menschheit damit in
einer gänzlich neuen Situation. Auch unsere Auffassungen und Repräsentationen von
der Welt würden damit umgewälzt. Beipflichtend zitieren sie Bruno Latour: Das Anthropozän sei „the most decisive philosophical, religious, anthropological and, as we shall see,
political concept yet produced as an alternative to the very notions of ‘Modern’ and ‘modernity’“ (S. 19).2
Umso abrupter trifft den Leser die heftige Kritik am Konzept des Anthropozäns, die
die Autoren im dritten und vierten Kapitel
leisten. Die Befürworter des Konzepts, Naturwie Geisteswissenschaftler, werden von hier
an nicht ohne ironischen Unterton als „anthropocenologists“ bezeichnet (zu denen sich
die Autoren nicht zählen), ihre Interpretation
des neuen Erdzeitalters als „grand narrative“
relativiert. Dieses „grand narrative“ offenbart
den Autoren zufolge erhebliche Schwächen.
Dazu zählen die von den „anthropocenologists“ konstruierten „Stufenmodelle“ (S. 49),
in denen beispielsweise die Industrielle Revolution seit etwa 1780 oder die Great Acceleration seit 1945 den Punkt des Eintrittes in das
Anthropozän markieren. Diese Stufenmodelle halten sie aus historischer Sicht für „obsolete and excessively teleological“ (S. 54).
Unbehagen bereitet den Autoren der übertriebene Fokus auf quantitative Datenreihen,
die die Anthrozänologen als eine ihrer wichtigsten Evidenzen ins Feld führen. Dabei entstehe, so Bonneuil und Fressoz, ein Blick aus
der Vogelperspektive, der jede geographische
und soziale Differenzierung zugunsten aggregierter sozio-ökonomischer Faktoren wie Demographie, Wirtschaftswandel oder Energie1 Helmuth
Trischler, The Anthropocene: A Challenge for
the History of Science, Technology, and the Environment, in: N.T.M. 24 (2016), S. 309–335. Neugegründete
Zeitschriften sind: The Anthropocene Review (geistesund sozialwissenschaftliche Perspektiven, Verlag Sage
Publications) und Elementa: Science of the Anthropocene (Naturwissenschaften, Verlag BioOne, ab Januar
2017 University of California Press).
2 Bruno Latour, Facing Gaia: Six lexture on the political theology of nature, Gifford Lectures 2013,
http://afterxnature.blogspot.dk/2013/03/pdf-oflatours-gifford-lectures.html (16.10.2016), S. 77.
© H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved.
verbrauch zum Verschwinden bringe. Historisches Verständnis bleibe auf der Strecke, aussagekräftige Erklärungsmodelle ließen sich
nicht aus Datensammlungen ableiten. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse und statistische Daten ersetzen nicht Quellenkritik und
kritische historische Differenzierung.
Den Mangel an Differenzierung und kritischer Reflexion machen die Autoren besonders deutlich durch die Frage „Who is the Anthropos?“ (Kapitel 4). Allzu schnell sei von
der Menschheit als einheitlichem Akteur die
Rede. Wer aber ist der Mensch des Anthropozäns? „Is it not eminently diverse, with extremely different responsibilities in the global
ecological disturbance?“ (S. 70) Auch stilisierten die Anthropozänologen häufig einen Moment des Erwachens, um dann die Menschheit in zwei Kategorien einzuteilen: einerseits
die „uninformierte Masse der Weltbevölkerung“, die noch gar nicht begriffen habe, dass
sie zu einem „geological agent“ geworden sei;
anderseits eine „schmale Elite von Wissenschaftlern, die die dramatische und unsichere Zukunft des Planeten“ offenbare (S. 65).
Diesen Führungsanspruch der wissenschaftlichen Elite ziehen die Autoren gründlich in
Zweifel.
Die Kritik von Bonneuil und Fressoz richtet sich aber nicht nur an Naturwissenschaftler, sondern insbesondere an die Geistes- und
Sozialwissenschaften. Sie sind geradezu verwundert darüber, dass viele Geistes- und Sozialwissenschaftler, „in their desire to contribute to the official narrative of the Anthropocene“ (S. 67), sich so vorbehaltlos den Daten, Perspektiven und historischen Deutungen der Naturwissenschaftler angeschlossen
haben3 . „Now it is the sciences of the Earth
system, and no longer historians, who name
the epoch in which we are living.“ (S. 66) Das
Anthropozän wird als ein attraktives Konzept gesehen, um die umfassenden Umweltveränderungen durch den Menschen zu beschreiben. Doch die Ergebnisse jahrzehntelanger geistes- und sozialwissenschaftlicher
Forschung und Differenzierung, die etwa die
Rolle von Ideologien und Herrschaftsmechanismen analysiert und sichtbar gemacht haben, gerieten den Autoren nach damit ins
Hintertreffen.4
Im Gegenzug bieten Bonneuil und Fres-
soz eine eigene Historisierung der Anthropozänologen und des hegemonialen Anspruchs
ihrer „neuen Kosmographie“ (S. 48) an. Diese sei dem „scientific imaginary“ des Kalten
Kriegs verhaftet (S. 60). Computermodelle,
Kriegsspiele und strategische Machtphantasien, so vermuten sie, bilden den ideologischen
Urgrund für die Idee des Anthropozäns. Der
radikal allumfassende Anspruch des Begriffs
Anthropozän gleiche dem vielfach beschriebenen und interpretierten Blick vom Weltraum aus auf die kleine Erde und biete wie
dieser nur „a radically simplistic interpretation of the world“ (S. 62).
Dass die naturwissenschaftlichen Methoden in der Erforschung des Anthropozäns
Priorität haben sollten, halten die Autoren für
nicht akzeptabel. Sie erklären das Konzept
des Anthropozäns nicht als untauglich, sondern wollen es sich als Historiker aneignen,
geistes- und sozialwissenschaftliche Perspektiven an die erste Stelle setzen und so dazu
beitragen, den Diskurs zu repolitisieren.5 Das
Konzept des Anthropozän sei wichtig, um die
„nutzlose Unterscheidung“ zwischen Moderne und Reflexiver Moderne aufzuheben. Es
zwinge uns nämlich, die Gegenwart als einen
„culminating point of a history of destructions“ (S. 170) zu verstehen, dem eine lange
Tradition der Reflektion gesellschaftlicher Naturverhältnisse vorausgeht. Jene, die das Narrativ eines ökologischen Erwachens vertreten,
würden die Reflexivität vergangener Gesellschaften ignorieren und damit die lange Geschichte des Anthropozäns depolitisieren.
Der Rest des Buches (Part III, Kapitel 5–11)
steht für das Bemühen, sich dem Anthropozän in seiner historischen Komplexität als
3 Z.B.
stützen sich die Historiker John R. McNeill und
Peter Engelke in ihrer Umweltgeschichte des Anthropozäns seit 1945 über weite Strecken überwiegend auf
naturwissenschaftliche Literatur. John McNeill und Peter Engelke, The Great Acceleration. An Environmental History of the Anthropocene since 1945. Cambridge,
Mass. 2014.
4 So auch Andreas Malm und Alf Hornborg, The Geology of Mankind? A Critique of the Anthropocene Narrative, in: The Anthropocene Review 1 (2014), S. 62–69.
5 Z.B. Charles Tung, Baddest Modernism: The Scales and
Lines of Inhuman Time, in: Modernism/modernity 23
(9/2016), S. 515–538; Ian Baucom, History 4°: Postcolonial Method and Anthropocene Time, in: Cambridge
Journal of Postcolonial Literary Inquiry 1 (3/2014),
S. 123–42.
© H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved.
C. Bonneuil u.a.: The Shock of the Anthropocene
Historiker anzunehmen und eine Vielzahl
von Narrativen des Anthropozäns als „explanatory perspectives“ zu entwickeln. Dafür
verwenden sie „somewhat barbarous neologisms“, von denen nicht ganz klar ist, ob diese ernst gemeint sind und die Vielfalt relevanter Perspektiven betonen sollen, oder sie (vielleicht gleichzeitig) dazu dienen, die Mode
der Neologismen zu ironisieren.6 Dazu zählen Perspektiven der Energiegeschichte und
Kohlendioxidemissionen („Thermocene“, Kapitel 5), Militärgeschichte und Umweltzerstörung („Thanatocene“, Kapitel 6) und der
Entwicklung der Konsumgesellschaft („Phagocene“, Kapitel 7). Die Geschichtswissenschaft habe die Aufgabe, die historisch entwickelten „grammars of environmental reflexivity“ wiederherzustellen, die teilweise viele
Jahrhunderte zurückreichen („Phronocene“,
Kapitel 8). Darunter verstehen die Autoren
– Latour folgend – Konzepte des MenschUmwelt-Verhältnisses, die noch nicht die Externalisierung von Natur und die erst im 19.
und 20. Jahrhundert entstandene kategorische Dualität von Natur und Kultur beinhalteten.7 Diese Externalisierung habe eine kulturelle Blindheit („Agnotocene“, Kapitel 9)
sowie den Höhenflug des Kapitalismus und
die mit diesem verknüpften Technostrukturen
(„Capitalocene“, Kapitel 10) erst möglich gemacht. „It is this profit-oriented technostructure that swung the Earth system into the Anthropocene.“ (S. 222)
Der Begriff des Anthropozäns – und das
macht dieses Buch deutlich – ist ein politischer Begriff, der Aufmerksamkeiten weckt
und lenkt (und als solcher auch von Paul
Crutzen ins Spiel gebracht wurde). Als wissenschaftlicher Begriff hat er per se nur begrenzten analytischen Wert. Dieser entsteht
eher aus der kritischen Auseinandersetzung
mit ihm. Dafür ist das vorliegende Buch ein
Beispiel. Den Autoren ist ein wichtiger Beitrag zur Debatte um das Anthropozän gelungen. Der Stil und die Sprache (vielleicht auch
die direkte Übertragung ins Englische) machen die Lesearbeit vor allem im ersten Teil
des Buches zuweilen anstrengend. Aber der
Aufwand lohnt sich. Wer sich für die Rolle
der Geisteswissenschaften im Ringen um ein
Verständnis globaler Umweltveränderungen
und die Diskurse um das Anthropozän inter-
2017-1-104
essiert, dem sei das Buch dringend empfohlen.
HistLit 2017-1-104 / Matthias Heymann über
Bonneuil, Christophe; Fressoz, Jean-Baptiste:
The Shock of the Anthropocene. The Earth, History and Us. London 2016, in: H-Soz-Kult
10.02.2017.
6 André
Micoud, Entry into the Anthropocene (2014),
http://www.metropolitiques.eu/Entry-into-theAnthropocene.html (31.10.2016). Derartige Neologismen haben eine gewisse (zweifelhafte) Konjunktur.
Z.B. Donna Haraway, Anthropocene, Capitalocene,
Plantationocene, Chthulucene: Making Kin, in: Environmental Humanities 6 (2015), S. 159–165; Jason
W. Moore (Hrsg.), Anthropocene or Capitalocene?
Nature, History, and the Crisis of Capitalism, Oakland
2016; Gregory T. Cushman / Zachary Caple (Hrsg.),
Phosphorus and the Opening of the Plantationocene, in: RCC Perspectives 2016, No. 5, München (im
Erscheinen).
7 Bruno Latour, We have Never Been Modern, Cambridge, Mass. 1993.
© H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved.