Grundwerte über Bord

Pleiten, Plattitüden und Pragmatismus
Was unterscheidet das postfaktische und faktische vom präfaktischen Zeitalter? Demokratie und Vernunft sind schon
längst durch Expertenwesen und Sachzwänge ersetzt worden. Und Armut und Entfremdung nehmen zu. Seite 23
Foto: 123rf/villorejo99
Sonnabend/Sonntag, 4./5. Februar 2017
STANDPUNKT
In den USA
durchgefallen
72. Jahrgang/Nr. 30
Bundesausgabe 2,30 €
www.neues-deutschland.de
Grundwerte über Bord
Gabriel trägt dick
auf in Washington
EU beschließt Zehn-Punkte-Programm gegen Migration aus Nordafrika
Außenminister sieht US-Besuch als
Grundlage für weitere Gespräche
Simon Poelchau über die Reise
von Sigmar Gabriel in die USA
Sigmar Gabriel ist ja richtig fleißig. Nicht ganz eine Woche im
Amt, da macht er als neuer Außenminister schon seine erste
Dienstreise. Und die führt ihn
gleich über den großen Teich zu
seinem ebenfalls frischgebackenen
US-Amtskollegen Rex Tillerson
und Vizepräsident Mike Pence.
Doch Gabriel macht lediglich
als Außenminister dort weiter, wo
er als Wirtschaftsminister aufgehört hat. Nachdem seine Hauptaufgabe im alten Amt nämlich
darin bestanden hatte, gegen den
Widerstand von Globalisierungskritikern wie Umwelt- und Verbraucherschützern Freihandelsabkommen wie CETA mit Kanada
und TTIP mit den USA voranzutreiben, versucht er nun, die neue
protektionistische US-Regierung
von den Vorteilen des globalen
Freihandels zu überzeugen.
Als Wirtschaftsminister hätte
Gabriel damit vielleicht gerade so
noch ein »Ausreichend« verdient,
doch als Außenminister ist er damit durchgefallen. Denn in seinem
neuen Amt ist von ihm zu erwarten, dass er die Administration um
den neuen US-Präsidenten Donald
Trump zur Räson ruft und zeigt,
was man von ihm in good old Europe hält. Argumente dafür liefert
Trump wahrlich am laufenden
Band, denn er ist ein Rechtspopulist, der die Geschichte um Jahrzehnte zurück drehen will.
Dass Gabriel nun keine klaren
Worte findet, hat nichts mit feinfühliger Diplomatie, sondern
vielmehr mit fehlenden Überzeugungen und Werten zu tun, für
die man kämpft. Doch dies ist
man ja von Gabriel aus seiner Zeit
als Wirtschaftsminister gewohnt.
UNTEN LINKS
Nur noch einmal schlafen. Nach
Monaten der Ungewissheit, des
Zankens und Zauderns findet das
Versöhnungstreffen zwischen
Angela Merkel und Horst Seehofer
statt. Es heißt natürlich nicht so,
wird als Zukunftstreffen verkauft,
zielt allerdings nur auf die nahe
Zukunft. Es soll schlicht den
Burgfrieden zwischen CSU und
CDU bis zur Bundestagswahl sichern. Dass die Kanzlerin und
CDU-Chefin Herrin ihrer Emotionen ist, dürfte kaum bezweifelt
werden. Ob aber der bayerische
Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende tatsächlich bis Ende September alle Sticheleien, Erpressungsversuche und Drohungen
unterdrücken kann, steht in den
Sternen. Vielleicht aber schafft es
ausgerechnet die politische Konkurrenz von der SPD, dass die
beiden vorübergehend Seit an Seit
marschieren. Denn die gegenwärtige Schulz-Euphorie dürfte – bei
aller Irrationalität und etwaiger
Vergänglichkeit – sowohl Merkel
als auch Seehofer aufgeschreckt
haben. Doch auch Notbündnisse
haben ihr Verfallsdatum. oer
ISSN 0323-3375
Washington. Bundesaußenminister Sigmar
Gabriel sieht nach seinem Besuch bei der USRegierung die Grundlage für weitere Gespräche gelegt. Es habe »eine große Bandbreite gemeinsamen Verständnisses« gegeben, sagte Gabriel nach Treffen mit Vizepräsident Mike Pence und Außenminister Rex
Tillerson am Donnerstagabend (Ortszeit) in
Washington. Die zuletzt mehrfach geäußerte
heftige Kritik der neuen US-Regierung an
Deutschland wiederholten seine Gesprächspartner demnach nicht.
Gabriel zeigte sich zufrieden mit seinem
Besuch in der US-Hauptstadt. Die »ausgesprochen guten Gespräche« hätten ihm gezeigt, dass es in der neuen Regierung von Präsident Donald Trump Vertreter gebe, die ein
»großes Interesse am Ausbau und am Beibehalten der transatlantischen Beziehungen«
nicht nur zu Deutschland, sondern auch zur
Europäischen Union und zur NATO hätten.
Von US-Seite gab es keine öffentliche Einschätzung zu den Unterredungen mit dem
Gast aus Deutschland. AFP/nd
970 Angriffe auf
Asylunterkünfte
Zahl der Straftaten blieb 2016 hoch
Berlin betont Kampf gegen Rechts
Foto: Reuters/Yara Nardi
Valletta. Die EU-Staats- und Regierungschefs
haben sich beim Gipfel in Malta auf eine Strategie zur Abwehr von Flüchtlingen im zentralen Mittelmeer verständigt. Die 28 EU-Staaten
vereinbarten zehn »Prioritäten« zur Unterstützung des nordafrikanischen Transitlandes Libyen, wie aus einer am Freitag veröffentlichten Erklärung hervorgeht. Kurzfristig aufgenommen wurde darin ein Verweis auf ein am
Donnerstag geschlossenes Flüchtlingsabkommen zwischen Libyen und Italien.
Die Erklärung der Staats- und Regierungschefs sagt eine verstärkte Hilfe bei Ausbildung
und Ausrüstung der libyschen Küstenwache zu,
um wirksamer gegen Schmuggler auf der Route von Libyen nach Italien vorzugehen. Zudem
sollen internationale Organisationen dabei unterstützt werden, die Zustände in libyschen
Flüchtlingslagern zu verbessern. Die freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen in ihre Heimat
soll gefördert und der Grenzschutz zu Libyens
Nachbarländern verstärkt werden.
Italien hatte bereits am Donnerstagabend
eine Vereinbarung mit der libyschen Einheitsregierung in der Flüchtlingskrise geschlossen.
Libyen wurde dabei Geld, die beschleunigte
Ausbildung der libyschen Küstenwache und
Ausrüstung versprochen.
Vereinbart wurden »vorübergehende Aufnahmelager in Libyen unter ausschließlicher
Kontrolle des libyschen Innenministeriums«.
In sie sollen Flüchtlinge zur Abschiebung in ihre Heimatländer oder bei einer freiwilligen
Rückkehr gebracht werden. Hilfsorganisationen üben scharfe Kritik an den Plänen der EU.
Eine Zusammenarbeit mit Libyen, die vor allem der Abwehr von Migranten und Flüchtlingen diene, werfe die europäischen Grundwerte über Bord, kritisierte Oxfam. Günter
Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl,
sprach von einem »Verrat an den Werten Europas«. Agenturen/nd
Seite 6
Kehrtwende im Washingtoner Kapitol
Republikaner kippen Richtlinien für Umweltschutz und Waffenbesitz aus der Obama-Ära
Ein Amerika nach ultrakonservativem Bilde – auch in Senat
und Repräsentantenhaus schaffen die Republikaner gerade
neue Fakten.
Von Olaf Standke
Nicht nur der neue US-Präsident
mit seiner Erlass-Flut arbeitet daran, das Erbe seines demokratischen Vorgängers auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.
Auch die Republikaner im Kongress sind dabei, die Zeit im Eilverfahren zurückzudrehen. Dass
sie in beiden Häusern des Parlaments über eine Mehrheit verfügen, hilft dabei natürlich. Vor allem die unter Barack Obama
durchgesetzten Regulierungen für
die Öl- und Bergbauindustrie sind
ihnen ein Dorn im Auge.
Mit der Rücknahme einer Wasserschutzrichtlinie aus seiner
Amtszeit machte der Senat am
Donnerstag (Ortszeit) beispielsweise den Weg für Donald Trump
frei, diese Vorschrift endgültig zu
kippen. Sie hätte die Kohleindustrie zu einer gewissen Form von
Gewässerschutz verpflichtet – was
Tausende Arbeitsplätze kosten
würde, so die Begründung der Republikaner für ihr Nein.
Trump unterstützt die Neufassung nachdrücklich und kann sie
nun signieren. Er hatte den Abbau von ökologischen Regulierungen schon in einer seiner ersten Dekrete als Präsident verfügt.
Danach sollen Umweltbedenken
nicht mehr Infrastrukturprojekte
behindern, die als besonders
wichtig gelten, und Produktionsprozesse generell schneller genehmigt werden.
So will man auch die Genehmigungsverfahren für den Bau
von zwei umstrittenen, milliardenschweren Erdölleitungen wieder aufnehmen. Obama hatte die
aus Kanada kommende Keystone
Pipeline 2015 und die Dakota Access Pipeline, die durch das Gebiet der Standing-Rock-Sioux-In-
dianer verläuft und Wasservorräte bedroht, vergangenen Dezember nach Protesten aus Umweltgründen gestoppt. Besonders pikant: Am Projekt in North Dakota
verdient auch der Unternehmer
Trump.
»Donald Trump will
die Umweltschützer
demoralisieren.«
Der internationale Klimaschutzverband 350.org
Für parlamentarischen Protest
der Demokraten sorgt zudem der
Beschluss des Repräsentantenhauses zur Aufhebung der Regelung, wonach Ölfirmen Zuwendungen an ausländische Regierung offenlegen müssen. Dieses
Gesetz war eine Folge der Finanzkrise und sollte für mehr Transparenz sorgen. Tim Kaine, Sena-
tor aus Virginia, kündigte in der
zweiten Kongresskammer Widerstand gegen die Erosion der Umweltpolitik aus der Obama-Ära an,
zumal schon weitere Schritte angekündigt worden sind.
Auch in Sachen Waffenbesitz
wollen die Republikaner die ohnehin laxen Regeln in den USA
weiter lockern. Hier haben sie im
Repräsentantenhaus eine Richtlinie im Visier, die ausführliche
Hintergrundchecks für bestimmte
potenzielle Waffenkäufer vorsieht
und auf rund 75 000 Menschen
mit psychischen Problemen zielt.
Noch muss der Senat zustimmen.
In den Eckpunkten seines Regierungsprogramms hatte Trump
versprochen, das Recht auf Waffenbesitz nicht antasten zu wollen. Jedem US-Bürger müsse es
ermöglicht werden, sich selbst zu
verteidigen. Die Demokraten
warfen den Republikanern vor,
dem einflussreichen Waffenlobby-Verband NRA regelrecht hörig
zu sein.
Seiten 2, 3, 7 und 8
Berlin. Auch im vergangenen Jahr ist die Zahl
der Straftaten gegen Flüchtlinge und deren
Unterkünfte hoch geblieben: Nach Angaben
des Bundesinnenministeriums vom Freitag
wurden insgesamt 970 Straftaten gegen Asylbewerberunterkünfte registriert. Zudem meldeten die Bundesländer 2396 Straftaten gegen Flüchtlinge außerhalb der Unterkünfte.
Die Bundesregierung verurteilte die Häufigkeit der Straftaten. Gesellschaft und Politik trügen bei diesem Thema gemeinsam
eine große Verantwortung gegen ein stilles
Einverständnis und bloßes Hinnehmen solcher Taten, sagte die stellvertretende Regierungssprecherin, Ulrike Demmer, in Berlin. Sie betonte, dass die Bekämpfung von
Rechtsextremismus eine der grundlegenden
Aufgaben von Staat und Gesellschaft sei. Im
Jahr 2015 – dem Jahr mit dem größten Andrang von Flüchtlingen – wurden 1031
Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte erfasst. Rund ein Zehntel davon waren Brandstiftungen, die vielerorts Schlagzeilen machten. epd/nd
Kommentar Seite 2
Rumänen dauerhaft
im Protestmodus
Massenaufmärsche gegen den Erlass
der Regierung reißen nicht ab
Bukarest. Zehntausende haben in ganz Rumänien den dritten Tag in Folge gegen die sozialliberale Regierung demonstriert. Der Protest richtet sich gegen die per Eilverordnung
eingeschränkte Strafverfolgung von Amtsmissbrauch. Trotz der bisherigen Kritik auch
aus den eigenen Reihen lehnt es Ministerpräsident Sorin Grindeanu nach wie vor ab,
die umstrittene Verordnung abzuschaffen.
Staatspräsident Klaus Johannis reichte
beim Verfassungsgericht eine Klage gegen die
Verordnung ein und ermahnte die Regierung, die Justiz nicht weiter zu behindern.
»Hände weg von DNA«, sagte Johannis zu Berichten über Pläne der Regierung, die Antikorruptionseinheit der Staatsanwaltschaft,
DNA, abzuschaffen. In der Hauptstadt Bukarest ließen sich die Menschen nicht von den
Krawallen am Vorabend abschrecken: Der gut
einen Hektar große Platz vor dem Regierungssitz war am Donnerstagabend voller
friedlicher Demonstranten. Weitere Hochburgen der Proteste waren die Städte Timisoara, Cluj und Iasi. dpa/nd