PREIS DEUTSCHLAND 4,90 € DIEZEIT WO C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I RTS C H A F T W I S S E N U N D KU LT U R Die Spaltung der Welt Hatte Marx doch recht? 26. Januar 2017 No 5 Warum Sigmar Gabriel nicht will Sechs Monate rang der SPD-Chef mit der Entscheidung, ob er Kanzlerkandidat werden soll. ZEIT-Redakteur Bernd Ulrich hat ihn dabei beobachtet Politik, Seite 2 Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT Gierige Manager, schreiende Ungerechtigkeit und der Aufstand der Vergessenen: Karl Marx sah alles kommen. Was man von ihm heute noch lernen kann – dem Marxismus zum Trotz DOSSIER UND WIRTSCHAFT GABRIELS VERZICHT DER NEUE KURS IN DEN USA Aufschlag SPD Welch eine Ironie! Martin Schulz kann jetzt gegen Merkel den Rebellen geben: Wie Sanders in den USA oder Macron in Frankreich VON MARC BROST M an kann ihn besonders feige nennen oder ausgesprochen mutig; einen Angsthasen oder den ersten Politiker seit Lan‑ gem, der auf Macht verzich‑ tet, weil ganz oben zu sein eben doch nicht alles ist. Sigmar Gabriel wird nicht Kanzlerkandidat der SPD, und auf einmal wirkt sein monatelanges Schweigen in der KFrage nicht wie das Zaudern eines Mannes, den man gern wankelmütig nennt. Nein, da hat es sich einer schwer gemacht, hat abgewogen zwi‑ schen dem, was er kann und für seine Partei noch tun könnte – und dem, was die Bürger von ihm halten. Sigmar Gabriel geht politisch ungeschla‑ gen vom Feld. Er hat die SPD gegen parteiinterne Widerstände in die große Koalition geführt. Und er hat dazu beigetragen, dass vieles, was im letzten Wahlkampf als unmöglich galt (Mindestlohn!), heute ganz selbstverständlich ist. Aber Gabriel weiß eben auch um die Meinung der Wähler über sich, er kennt die Ergebnisse einer Umfrage, die er vor Monaten nur für sich hat in Auftrag geben lassen. Dabei kam heraus, dass selbst Gabriels Anhänger in der SPD der Ansicht sind, dass Martin Schulz die besseren Chancen hätte. Ein Kanzlerkandidat Schulz muss nur konfrontieren, kooperieren muss er nicht Man kann sich schon vorstellen, dass es Politi‑ ker (und Wirtschaftsbosse und Kulturgrößen) gibt, die sich nicht im Geringsten darum sche‑ ren würden, was andere von ihnen halten – weil sie davon überzeugt sind, die Besten zu sein. Und in der SPD war es in den vergangenen Mo‑ naten auch nicht so, dass alle wichtigen Partei‑ leute Gabriel gedrängt hätten, zu verzichten. Es war vielmehr umgekehrt: Gabriel verzichtet, ob‑ wohl ihn alle drängten, doch bitte anzutreten. Auch das widerspricht den gängigen Klischees von Macht und Politik. Nun also Schulz. Mit ihm kommt das Flir‑ rende, das Internationale in den Wahlkampf. Wer sich im Europaparlament einst mit Silvio Berlusconi anlegte, wird auch die richtigen Worte für Donald Trump finden. Dazu kommt: Schulz wird zwar SPD-Vorsitzender, rückt aber nicht an den Kabinettstisch der Kanzlerin. Das macht ihn im Wahlkampf freier – und den Wahlkampf interessanter. Für die Kanzlerin be‑ deutet die Kandidatur von Martin Schulz erst einmal: nichts. Ihr eigentlicher Gegner ist viel größer und unberechenbarer – es ist das Volk. Aber gerade weil Schulz so viel freier sprechen und auftreten kann, erscheint die Kanzlerin nun angreifbar. Merkels mitunter lähmende Rhe torik; ihr Unvermögen, die Menschen mitzu reißen; ihre Unfähigkeit, so etwas wie gesell‑ schaftliche Ziele zu formulieren: All dies sind Einladungen zur Konfrontation. Und Schulz muss nur konfrontieren, braucht nicht zu ko operieren. Er wird sich – obwohl ein Mann des Establishments – als politischer Außenseiter ge‑ ben, etwa so wie Bernie Sanders in den USA oder Emmanuel Macron in Frankreich. Martin Schulz ist kein Linker. Genauso we‑ nig wie das neue Führungsduo der Grünen links ist. Das minimiert die ohnehin kleine Macht‑ option Rot-Rot-Grün. Aber wenn die SPD sich nun stärker um die innere Sicherheit kümmert, um zusätzliche Polizisten und schärfere Gesetze; wenn die Grünen das liberale Korrektiv bilden und die Linken einfach links sind, dann könn‑ ten sich diese drei im Wahlkampf ergänzen, statt sich gegenseitig Stimmen wegzunehmen. Ist Martin Schulz der richtige Kandidat? Dass nun so viel Hoffnung mitschwingt, hat auch damit zu tun, dass sich auf ihn fast alle Erwartungen projizieren lassen. Aber wie Schulz unter enormem Druck und extremer Beobach‑ tung wirklich agiert, weiß heute noch niemand. Erinnern wir uns an Peer Steinbrück, der vor dem Wahlkampf 2013 als bestmöglicher Kan‑ didat galt, aber im Wahlkampf nie einzulösen vermochte, was sich so viele Sozialdemokraten von ihm versprochen hatten. Womöglich hilft es da, dass Gabriels Ver‑ zicht der SPD nun ein Gefühl beschert, das sie sehr lange – und gerade im letzten Wahlkampf – nicht kannte. Monatelang haben die Sozis dem Druck standgehalten. Sie haben sich den gängigen Mechanismen widersetzt, wonach Zeitpläne nicht mehr zu halten sind, wenn die Medien schreiben oder senden, es sei nun Zeit für eine Entscheidung. Jetzt also ist Martin Schulz der Kanzler kandidat, und in zwei Wochen wird Frank- Walter Steinmeier der nächste Bundespräsident sein. Dazu kommt das ganz neue Gefühl von Souveränität und Selbstdisziplin. Es ist kein schlechter Start ins Wahljahr für die SPD. www.zeit.de/audio Die Wirtschaftspolitik von Donald Trump ist vor allem ein Selbstbereicherungsprogramm für die alten Eliten VON MARK SCHIERITZ E s sieht ganz so aus, als müssten sich die Amerikaner unter Donald Trump an eine neue Rolle ge wöhnen: die des Opfers. Aus Sicht des neuen Präsidenten hat sich der Rest der Welt zusammengetan, um der US-Mittelschicht den ihr zustehenden Wohl‑ stand »zu entreißen« und sich auf Kosten von »Millionen von amerikanischen Arbeitern« hemmungslos zu bereichern. Doch das sind – um in Trumps Jargon zu bleiben – Fake-News. In Wahrheit geht es ihm um etwas ganz anderes: Er macht aus einem inner amerikanischen Verteilungskonflikt einen weltweiten und lenkt damit von den eigentlichen Problemen ab. Denn auch siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gilt: Kein Land verfolgt international so entschlossen seine Interessen wie die Vereinigten Staaten, die ihre Ordnungs vorstellungen noch im hintersten Winkel der Welt verteidigen. Die Globalisierung ist eine amerikanische Erfindung, durchgesetzt wurde sie von Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank, in denen die Amerikaner den Ton angeben. Und zwar nicht, um anderen Ländern damit einen Gefallen zu tun, sondern in der Überzeugung, dass eine wirt‑ schaftlich prosperierende Staatengemeinschaft langfristig im amerikanischen Interesse ist. Niemand hat die Amerikaner gezwungen, die Steuern zu senken und Kriege zu führen Man kann lange darüber streiten, ob der freie Welthandel seine Heilsversprechen eingelöst hat. Die Vorstellung aber, die USA seien von der Globalisierung überrollt worden, ist ab wegig. Die amerikanische Wirtschaftsleistung hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren mehr als verdoppelt. Das ist für eine reife Volks‑ wirtschaft durchaus ordentlich. Viele Ameri kaner haben an der Öffnung der Märkte gut verdient – das gilt nicht zuletzt für die Mit glieder im Kabinett der Multimillionäre und Milliardäre des Donald J. Trump. Keine Frage: Zu viele Menschen haben von diesem Wohlstand zu wenig abbekommen. Aber sind die Chinesen schuld daran, dass George W. Bush fast zwei Billionen Dollar für einen sinnlosen Krieg gegen den Irak ausge geben hat, während – wie Trump richtigerweise feststellt – die amerikanische Infrastruktur seit vielen Jahren »auseinanderfällt und verrottet«? Sind die deutschen Exportüberschüsse dafür verantwortlich, dass der Spitzensteuersatz in den USA heute nur noch etwa halb so hoch ist wie in den siebziger Jahren? Und tragen die Mexikaner die Verantwortung für die Ent fesselung der Wall Street, die Millionen ein facher Amerikaner den Job gekostet hat? Und vor allem: Was sagt es eigentlich über den selbst ernannten Arbeiterfreund Donald Trump aus, wenn dieser ankündigt, die Steu‑ ern weiter senken und die Banken wieder de regulieren zu wollen? Wenn er als eine seiner ersten Amtshandlungen im Oval Office die unter Barack Obama eingeführte staatliche Kranken versicherungspflicht lockert? Nach Schätzungen des Kongresses könnte allein das dazu führen, dass etwa 32 Millionen Amerikaner ihren Versicherungsschutz verlieren. Was an Donald Trump so fasziniert, ist, dass ausgerechnet ein Unternehmer nach Jahren des Primats der Ökonomie die Rückkehr des Politi‑ schen zu verkörpern scheint. Man kann seine Antrittsrede so lesen, als sei hier einer nicht mehr bereit, die Globalisierung als unabänder liches Schicksal hinzunehmen – und trete ihr stattdessen im Namen der nationalen Selbstbe‑ stimmung mutig entgegen. Diese Faszination wird nicht durch Empö‑ rung über sein schlechtes Benehmen geschmä‑ lert, sondern nur dadurch, dass seine Politik ganz klar als das benannt wird, was nach Abzug der Gerechtigkeitsrhetorik übrig bleibt: ein Selbst‑ bereicherungsprogramm für die alten Eliten. Wirklich gestalten lässt sich die Globalisierung nur durch mehr, nicht durch weniger internatio‑ nale Zusammenarbeit – bei den Steuern, beim Klima, bei der Migration. Dieses dem mächtigsten Mann der Welt bei‑ zubringen wird auch die Aufgabe der deutschen Kanzlerin sein – im Idealfall durch gute Argu‑ mente, aber zur Not auch durch eine Politik, die den Preis der Abschottung für Trump zumindest in die Höhe treibt. Für amerikanische Konzerne wie Facebook und Google ist Europa ein wichti‑ ger Markt, die Amerikaner unterhalten Militär‑ basen in vielen Ländern der Welt, sie nutzen Spitzentechnologie aus Deutschland. Das muss nicht so bleiben. www.zeit.de/audio Hausaufgaben? Nie wieder! – Warum die Kinder an einer Schule in Niedersachsen jeden Nachmittag freihaben LEO-Kinderseite, S. 73 PROMINENT IGNORIERT 1200 Türen Die Eröffnung des Berliner Flug‑ hafens, von Kennern zutraulich BER genannt, muss um ein weite‑ res Jahr verschoben werden, weil sich die 1200 Türen im Fall eines Brandes nicht automatisch schlie‑ ßen. Hinter der siebten Tür von Herzog Blaubarts Burg lauert das Grauen, hinter der dreizehnten des Märchens Marienkind leuch‑ tet die Dreifaltigkeit. Hinter der 1200. Tür des BER steckt vermut‑ lich nur eine Besenkammer. GRN. Kleine Fotos (v. o.): Horst Bredehorst/laif; Patrick Pleul/dpa Pictures-Alliance Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de ABONNENTENSERVICE: Tel. 040 / 42 23 70 70, Fax 040 / 42 23 70 90, E-Mail: [email protected] PREISE IM AUSLAND: DK 49,00/FIN 7,50/N 66,00/E 6,10/ CAN 6,30/F 6,10/NL 5,30/ A 5,00/CH 7.30/I 6,10/GR 6,70/ B 5,30/P 6,30/L 5,30/H 2090,00 o N5 7 2. J A H RG A N G C 7451 C 05 4 190745 104906
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