taz.die tageszeitung

Grünes Spitzenduo: Göring-Eckardts Neuer
Wie sich Cem Özdemir gegen Robert Habeck und Anton Hofreiter durchsetzte ▶ Seite 4, 12
AUSGABE BERLIN | NR. 11229 | 3. WOCHE | 39. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
DONNERSTAG, 19. JANUAR 2017 | WWW.TAZ.DE
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Ein Platz für kritischen
Journalismus aus der Türkei
PRESSEFREIHEIT Heute startet die taz.gazete, eine türkisch-deutsche Onlineplattform für Meinungsvielfalt und
Widerspruchsgeist. Zum Auftakt erinnern KollegInnen an den 2007 ermordeten Hrant Dink ▶ SEITE 3, 18 und gazete.taz.de
ENDLICH Frei im Mai
statt im Jahr 2045:
Warum Whistleblowerin
Chelsea Manning von
Barack Obama begnadigt wurde ▶ SEITE 13
EXTREM Die Einlassun-
gen des AfD-Politikers
Höcke zur deutschen
Geschichte ▶ SEITE 2, 12
ENTLASSEN Berliner
Studierende gehen für
Andrej Holm auf die
Barrikaden ▶ SEITE 21
Fotos oben: reuters; Ostkreuz
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Spannendes Finale im Wettstreit der politischen Spitzenmänner: Wer schafft es, die
Massen aufzuregen und die
Medien zu elektrisieren? Toni
Hofreiter, der letzte langhaarige Linke der Partei? Cem Özdemir, der schwäbische Obama,
oder Robert Habeck, der norddeutsche Frauenschwarm? Es
war unglaublich knapp, bis
endlich entschieden war, wer
zum Auftakt des Wahljahrs mit
Abstand am meisten Interesse
und Aufmerksamkeit bekommen hat. Die ganze Nacht lang
wurde mitgefiebert und gezittert, dann stand der S­ ieger
fest:
Björn Höcke!
EDITORIAL ZUM START DER TAZ.GAZETE
L
TAZ MUSS SEI N
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Im Kampf für die Pressefreiheit: Protestaktion nach staatlichen Repressalien gegen prokurdische Medien 2016 in Istanbul Foto: Guy Martin/Panos
Der tägliche Kampf um die Freiheit
iebe Leser*innen,
die aktuellen Entwicklungen in der
Türkei sind schnell, besorgniserregend,
folgenreich, widersprüchlich, verwirrend, dramatisch, aufwühlend, traurig,
ärgerlich, unübersichtlich … Vor allem
aber sind sie eins: wichtig. Für uns, das
taz.gazete-Team, genauso wie für Sie,
liebe Leser*innen. Das zeigten Ihre zahlreichen Zuschriften, als unser Projekt
bekannt gegeben wurde. Wir erhielten
Danksagungen und Kritiken, Themenvorschläge und Vorwürfe, noch bevor
wir online gegangen sind.
Heute ist es so weit. Von nun an werden Sie, dank der Förderung durch die
taz Panter Stiftung, auf www.gazete.taz.
de täglich Berichte zum aktuellen Geschehen in der Türkei finden. Interviews,
Reportagen, Meinungsstücke, Satire von
Journalist*innen, die aus der Türkei berichten, sowie von Journalist*innen, die
sich an anderen Orten der Welt mit den
Auswirkungen der aktuellen Zustände
in der Türkei auf die türkischsprachige
Diaspora auseinandersetzen. Die taz.gazete-Texte werden nicht nur online erscheinen, sondern auch regelmäßig in
der taz und der taz.am wochenende zu
lesen sein.
Dass wir am 19. Januar 2017 mit taz.gazete online gehen, ist kein Zufall. Heute
jährt sich zum zehnten Mal der Todestag
von Hrant Dink – einem mutigen Journalisten, der wegen seiner Aussagen auf
offener Straße in Istanbul erschossen
wurde. Hrant Dink kämpfte um eine öffentliche Aufarbeitung des Genozids an
den Armeniern – und er kämpfte für freie
Meinungsäußerung. Das wurde ihm am
19. Januar 2007 zum Verhängnis.
Zehn Jahre später steht es leider immer noch denkbar schlecht um die freie
Presse in der Türkei. Fast 150 Jour­na­
list*innen sitzen derzeit in Haft, kritische Medien stehen unter enormem
Druck oder werden direkt ausgeschaltet. Die Meinungshoheit im Land haben
die sogenannten Poolmedien, die der Regierung von Präsident Erdoğan nahestehen und auf Regierungslinie berichten.
Es ist aber nicht so, dass es in der Türkei keine oppositionelle Presse mehr
gäbe – mit dieser Behauptung beginge
man großes Unrecht an unzähligen Kol­
leg*innen, die Tag für Tag ihre Freiheit
und ihr Leben riskieren, um zu recherchieren, an Fakten zu kommen, mit Zeugen zu sprechen – ob im Westen oder im
Osten des Landes.
Es ist uns ein wichtiges Anliegen, diese
Stimmen zu stärken, die es inzwischen
so schwer haben, sich Gehör zu verschaffen. Und es ist uns wichtig, vom täglichen
Kampf der Minderheiten zu berichten,
vom feministischen Widerstand, von der
Situation der LGBTIQ*-Bürger*innen und
von der zunehmenden Entmachtung der
demokratisch gewählten, prokurdischen
Unzählige Kolleg*innen
riskieren Tag für Tag
ihr Leben, um an Fakten
zu kommen
Abgeordneten und Bürgermeister*innen.
taz.gazete wird keine Nachrichten in
Echtzeit liefern. Wir werden keinen News­
ticker haben, der bedeutende Ereignisse
in wenigen Worten schnell zusammenfasst. Wir wollen gründliche Geschichten
und ausgeruhte Analysen bringen, die einen Überblick bieten – in einer Zeit, in der
dieser immer schwieriger zu behalten ist.
taz.gazete ist auch ein solidarisches
Projekt, das sich für die Meinungsvielfalt und die Pressefreiheit ausspricht.
Wir solidarisieren uns mit unseren Kol­
leg*innen in der Türkei und laden sie
dazu ein, auf unserer Plattform ihre Beobachtungen zu teilen, ihre Recherchen
zu publizieren – aber auch von ihren Arbeitsbedingungen zu berichten.
Denn es ist wichtig, sich immer wieder vor Augen zu führen, welchen Preis
Journalist*innen überall auf der Welt zahlen, um uns täglich mit Nachrichten und
Geschichten zu versorgen. In der Türkei
ist er in diesen Tagen eindeutig zu hoch.
FATMA AYDEMIR, ALI ÇELIKKAN, EBRU TASDEMIR, CANSET IÇPINAR UND ELISABETH KIMMERLE
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Schwerpunkt
DON N ERSTAG, 19. JAN UAR 2017
AfD
PORTRAIT
Der Rechtsausleger des rechten Flügels der Rechtspopulisten randaliert verbal. Ein Fall für den Rechtsstaat?
Zurück in die Vergangenheit
PROVOKATION Der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke bezeichnet das Holocaust-Mahnmal
Neuer Präsident des Europäischen
Parlaments: Antonio Tajani Foto: dpa
Berlusconis
Mann in Brüssel
E
r hat das Parlament gespalten wie kein anderer. Eine
„Provokation“ und „unwählbar“ sei der Kandidat der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), hieß es bei Sozial­
demokraten, Grünen und
Linken. Als „Berlusconi-Buddy“
und „Fiat-Freund“ wurde Antonio Tajani verschrien, weil
er einst Sprecher des „BungaBunga“-Premiers und später EUIndustriekommissar mit Faible
für italienische Kleinwagen war.
Doch am Tag seiner Wahl ging
Tajani auf seine Kritiker zu. „Wir
sind nicht immer einer Meinung. Aber wir wissen alle, dass
wir Lösungen finden müssen“,
sagte der 63-jährige Mitgründer
der populistischen Forza Italia.
Er werde ein „neutraler“ Präsident sein und nicht versuchen,
„eine politische Agenda zu pushen“, beteuerte er. Ein Friedensangebot an seine Kritiker.
Zugleich setzte sich Tajani damit auch von seinem Amtsvorgänger Martin Schulz (SPD) ab,
der die Agenda nach eigenem
Gusto bestimmte und sich oft
über die Wünsche der 751 Abgeordneten hinwegsetzte. Damit
soll nun Schluss sein. EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU)
hatte die Linie schon vor Tagen
vorgegeben: Tajani soll mehr repräsentieren und moderieren,
so wie der Präsident des Deutschen Bundestags in Berlin.
Das europäische Engagement
fiel bei dem gebürtigen Römer
bisher eher mau aus. Zwar war
Tajani von 2010 bis 2014 EU-Industriekommissar in Brüssel.
Doch er setzte kaum eigene Akzente. Und den VW-Dieselskandal, der in seine Amtszeit fiel,
hat er komplett verschlafen.
Bei der Europawahl 2014 zog
er ins Europaparlament ein – als
Vizepräsident. Außerdem arbeitete er im Industrieausschuss
mit sowie in den Delegationen
für die Beziehungen mit Brasilien, Mercosur und der Parlamentarischen Versammlung
Europa-Lateinamerika.
Zum Präsidenten des EU-Parlements gewählt wurde Tajani
nun durch das neue Bündnis
der Konservativen mit den Liberalen. Das Koalitionsprogramm
trägt eine liberale Handschrift
– und keine konservative. Allerdings stellte Tajani klar, dass
er sich daran nicht gebunden
fühle. Seine Prioritäten fasst er
in drei Worten zusammen: „Sicherheit, Migration und Jobs“.
Sehr ambitioniert klingt es
ERIC BONSE
nicht. Ausland SEITE 11
in Berlin als „Schande“ und fordert eine 180-Grad-Wende in der Erinnerungspolitik
VON GARETH JOSWIG
BREMEN taz | Dienstagabend in
Dresden, die selbsternannten
„Patrioten“ im Brauhaus „Winzler“ applaudieren mehrfach im
Stehen. Sie klatschen im Takt
und skandieren dazu „Höcke!
Höcke! Höcke!“ Der Thüringer
AfD-Chef Björn Höcke will der
Star des Abends sein, nennt
sich selbst gleich zu Beginn seiner Worte einen „unbequemen
Redner“. Danach suhlt er sich
eine Dreiviertelstunde lang im
Applaus seiner circa 500 AnhängerInnen. Geladen hat die als radikal geltende Jugendorganisation „Junge Alternative“ der AfD.
Das Compact-Magazin streamt
die Veranstaltung live auf Youtube. Pegida bewacht den Saal.
Davor protestieren rund 200 Gegendemonstranten.
Höcke sagt: „Wir Deutschen,
also unser Volk, sind das einzige
Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.“
Höcke meint damit das Denkmal für die ermordeten Juden
Europas, kurz „Holocaust-Mahn-
mal“ genannt, das in Berlin an
die Schoah, den nationalsozialistischen Genozid an den Juden
im Zweiten Weltkrieg, erinnert.
Dass er nun jedoch den Ort des
Denkmals oder sogar das Denkmal selbst als Schande bezeichnet, ist neu. Damit versucht er
noch am Tag, an dem das Bundesverfassungsgericht die NPD
wegen vermeintlicher Irrelevanz nicht verboten hat, den
Diskurs weiter nach rechts zu
verschieben.
Seine Worte sind verschieden
interpretierbar: Bezeichnet er
das Mahnmal als Schande oder
bezeichnet er es als Schande,
dass dort kein Siegerdenkmal
steht? Man kann es verschieden verstehen und das ist vermutlich auch so intendiert.
Kernaussage seiner Rede ist:
„Wir brauchen nichts anderes
Man kann Höcke
verschieden ver­
stehen. Das ist ver­
mutlich so intendiert
als eine erinnerungspolitische
Wende um 180 Grad.“ Höcke,
ein beurlaubter Geschichtslehrer, will die deutsche Geschichte
wieder als Siegergeschichte lehren und fordert eine nationalistische Geschichtsschreibung.
Schon mehrfach war der AfDPolitiker wegen der Verwendung
von NS-Vokabular aufgefallen.
Nicht selten tauchen in seinen
Reden Begriffe auf wie „TatElite“, die Merkels „Pseudo-Eliten“ ablösen sollten. „Tat-Elite“
war auch die Selbstbezeichnung
der SS – ein Umstand, der Höcke
nicht unbekannt sein dürfte. Die
AfD nennt er gern „fundamen­
tal­oppositionelle Bewegungspartei“. Adolf Hitler hatte die
NSDAP einst „Partei der Bewegung“ genannt.
Am Dienstagabend in Dresden sagt Höcke: „Bis jetzt ist
unsere Geistesverfassung, unser Gemütszustand immer noch
der eines total besiegten Volkes.“ In seiner Rhetorik scheint
„das Volk“ ein undifferenzierter
Körper zu sein. Eine Metapher,
die ein vereinfachtes organisches Verständnis von Gesell-
schaft zeichnet. Der Volkskörper
ist eine Sprachfigur aus dem 19.
und 20. Jahrhundert. Besonders
gern haben ihn die Nationalsozialisten benutzt – in einer antisemitischen und rassehygienischen Absicht.
Höcke zieht in dieser Passage seiner Rede eine Linie von
der Bombardierung Dresdens
durch die Alliierten bis zur Geschichtsaufarbeitung der Nachkriegszeit: „Man wollte nichts
anderes, als uns unsere kollektive Identität rauben. Man
wollte uns mit Stumpf und Stil
vernichten, man wollte unsere
Wurzeln roden. Und zusammen
mit der dann nach 1945 begonnenen systematischen Umerziehung hat man das dann auch
fast geschafft.“ Höcke sagt damit
nichts anderes, als das er zu dem
Geschichtsbewusstsein vor 1945
zurückkehren will.
Jürgen Kasek, Chef der Thüringer Grünen und Jurist, twitterte nach der Rede: „Wer nach
dem AfD-Auftritt heute in Dresden daran zweifelt, dass wir das
Wiedererwachen des NS sehen,
dem ist nicht mehr zu helfen.“
Mehrere
Anzeigen
gegen Höcke
Hat der
AfDler NS-Verbrechen
verharmlost?
VOLKSVERHETZUNG
FREIBURG taz | Mehrere Bundes-
tagsabgeordnete haben Björn
Höcke inzwischen angezeigt.
Der erste war Diether Dehm von
der Linken, es folgten seine Fraktionsvorsitzenden Sarah Wagenknecht und Dietmar Bartsch sowie die SPD-Frau Michaela Engelmeier.
Alle werfen Höcke „Volksverhetzung“ vor. Als „Volksverhetzung“ werden im Strafgesetzbuch (§ 130) mehrere Delikte
zusammengefasst. Bei der klassischen Volksverhetzung geht
es um die Aufstachelung zum
Hass gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen und die Verletzung der Menschenwürde
durch Beschimpfung bestimmter Gruppen.
Seit 1994 wird als Volksverhetzung auch bestraft, wenn
der Holocaust geleugnet, gebilligt oder verharmlost wird. Seit
2005 ist darüber hinaus jede
Billigung, Verherrlichung oder
Rechtfertigung der NS-Herrschaft strafbar. Schutzgut ist
stets der „öffentliche Frieden“.
Diether Dehm erkennt in Höckes Rede gleich zweifach eine
Volksverhetzung. Zum einen
rufe Höcke zum Hass gegen alle
auf, die die antifaschistische Erinnerungskultur bewahren wollen. Zum anderen verharmlose
Höcke die NS-Verbrechen. „Wer
eine
erinnerungspolitische
Wende um 180 Grad fordert und
„Beunruhigende
Meinungen“ gehören
zum freiheitlichen
Staat
Schande: Björn Höcke Foto: Fabrizio Bensch/reuters
„In höchstem Maße menschenfeindlich“
REAKTION
Höckes Rede wird heftig von Parteien und Verbänden kritisiert – selbst von AfD-Chefin Petry
BERLIN taz | Das Papier stammt
aus dem Dezember. Mit „sorgfältig geplanten Provokationen“
wolle man in die Öffentlichkeit
gehen, beschloss der AfD-Bundesvorstand damals. Nun hat einer der Parteivorderen wieder
eine Provokation gesetzt: Björn
Höcke. Mit seiner Dresdner Rede
löste der AfD-Rechtsaußen und
Thüringer Parteichef am Mittwoch einen bundesweiten Proteststurm aus.
SPD-Parteichef Sigmar Gabriel sprach von „Demagogie“.
Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Josef Schuster,
von „in höchstem Maße menschenfeindlichen Worten“.
Die Provokation, sie könnte
diesmal für die AfD nach hinten losgehen. Am Mittag fühlte
sich selbst Parteichefin Frauke
Petry zu einer Distanzierung gezwungen. „Björn Höcke ist mit
seinen Alleingängen und ständigen Querschüssen zu einer Belastung für die Partei geworden“,
sagte sie einer Rechtspostille.
Schon im Dezember 2015
hatte Petry versucht, gegen Höcke vorzugehen. Damals hatte
der Rechtsaußen über einen „afrikanischen Ausbreitungstyp“
schwadroniert. Der AfD-Bundesvorstand beließ es am Ende bei
einem Appell: Höcke solle prüfen, „inwieweit seine Positionen
sich noch in Übereinstimmung
mit denen der AfD befinden“.
AfD-Vize Alexander Gauland
nimmt Höcke auch diesmal in
Schutz. Wenn der darauf hinweise, dass die Leistungen der
deutschen Geschichte im öffentlichen Diskurs oftmals „unter
der Erinnerung an diese zwölf
Jahre“ verschwänden, sei das für
ihn nachvollziehbar.
Höcke selbst verteidigte sich
am Mittwoch. Die Interpretation
seiner Rede sei „bösartig und bewusst verleumdend“. Zweifellos
müssten sich die Deutschen ihrer „immensen Schuld bewusst
sein“. Aber: „Schuldbewusstsein
allein kann keine gesunde Identität stiften.“
Seine Kritiker konnte Höcke
damit nicht besänftigen. „Hier
geht es nicht um irgendeine
Provokation“, sagte SPD-Parteichef Gabriel. „Björn Höcke verachtet das Deutschland, auf das
ist stolz bin.“ Josef Schuster vom
Zentralrat der Juden sagte: „Dass
70 Jahre nach der Schoah solche Aussagen eines Politikers in
Deutschland möglich sind, hätte
ich nicht zu glauben gewagt.“
Der Grünen-Innenexperte
Volker Beck forderte eine Beobachtung von Höckes AfD-Flügel
durch den Verfassungsschutz.
Eine Reihe von Bundestagsabgeordneten und NSU-Nebenklägern forderten auch ein Disziplinarverfahren gegen Höcke
durch das hessische Kultusministerium. Dort ist der 44-Jährige Abgeordnete verbeamteter Lehrer im ruhenden Verhältnis. „Niemand, der rhetorisch
und inhaltlich an die NS-Zeit
anknüpft und sich dies zu eigen macht, kann und darf Geschichtslehrer sein“, heißt es in
der Erklärung. KONRAD LITSCHKO
nur noch das Schöne, Große und
Gute der deutschen Geschichte
zeigen will, der will logischerweise zugleich die NS-Verbrechen ausblenden und verdrängen“, erklärte Dehm auf Nachfrage.
Juristisch wird er damit wohl
nicht durchkommen. Höckes
Rede enthält zwar massive Kritik
an der deutschen Erinnerungskultur, aber keine Aufrufe zum
Hass gegen einzelne Personen
oder Gruppen. Es kommt nicht
darauf an, was Höcke denkt, sondern was er gesagt hat.
Auch eine Verharmlosung der
NS-Verbrechen im strafrechtlichen Sinne liegt nicht vor. Höcke bestreitet nicht die Zahl der
Todesopfer oder die Qualität des
Völkermords. Er will nur nicht
mehr daran erinnern.
Das Bundesverfassungsgericht hat 1999 in seinem Wunsiedel-Beschluss den Volksverhetzungsparagrafen
geprüft
und dabei eine zurückhaltende
Auslegung gefordert. Die mögliche Konfrontation mit „beunruhigenden Meinungen“ gehöre
zum freiheitlichen Staat, so die
Richter des Ersten Senats. Der
Schutz vor einer „Vergiftung
des geistigen Klimas“, so heiß
es weiter, sei ebenso wenig ein
Eingriffsgrund wie der Schutz
der Bevölkerung vor einer Kränkung ihres Rechtsbewusstseins
durch eine „offenkundig falsche
Interpretation der Geschichte“.
CHRISTIAN RATH
Schwerpunkt
Medienfreiheit
DON N ERSTAG, 19. JAN UAR 2017
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Heute vor 10 Jahren wurde Hrant Dink erschossen. Die ersten Texte
auf unserem neuen Webportal taz.gazete beschäftigen sich mit ihm
mutig, in einem Saal voller nationalistischer junger Türken
zu sprechen – doch Dink stellte
sich diesem Publikum. Gleich
sein erster Satz war ein Schlag
ins Gesicht: „Ihr glaubt an beidseitige Gefechte, wie es eure Geschichtsschreiber behaupten.
Ich aber sage, dass in diesem
Land ein Genozid an meinen
Vorfahren stattgefunden hat.
Und nur davon handelt mein
Vortrag.“
Standing Ovations für Mut
Chefredakteur Hrant Dink in der Redaktion der von ihm mitbegründeten Wochenzeitung „Agos“ Foto: Agos
Sprechen statt flüstern
GEDENKEN Zum Todestag von Hrant Dink schreibt einer seiner engsten Weggefährten, wie der Chefredakteur
der Zeitung „Agos“ Tabus brach – und warum die Türkei heute einen wie ihn so bitter nötig hat
VON AYDIN ENGIN
Zehn Jahre sind seit dem Mord
an Hrant Dink vergangen. Eine
lange Zeit, um dieses Ereignis
langsam, aber sicher in die Tiefen unserer Gedächtnisse zu
verdrängen. Dabei braucht die
Türkei heute dringend Menschen wie Hrant Dink.
Ich spreche von einer Türkei,
in der aus unterschiedlichen
Lagern Feinde werden; die sich
rasant von einer Demokratie
zu einer Oligarchie entwickelt;
in der Laizismus nicht mehr als
Grundsatz, sondern als stechender Dorn gegen die Entwicklung
zu einem neuen System wahrgenommen wird. Wie, wenn vor
einer Notoperation gerufen wir:
„Wir brauchen dringend Blut“,
schwirrt mir die Forderung
durch den Kopf: „Wir brauchen
dringend einen Hrant Dink für
dieses kranke Land!“ Warum?
Die armenischen Gemeinde
in der Türkei hatte vor einem
Jahrhundert noch Millionen
Mitglieder – heute sind es noch
60.000. Diese Menschen leiden
zwar schwer an den Wunden
von 1915 – aber sie hatten sich
verängstigt entschieden, jede
Handlung des Staates zu dulden.
Zu flüstern, statt zu sprechen.
Dink durchbrach das Tabu
und sprach von 1915. Dass es
heute in der Türkei junge Armenier gibt, die im Parlament,
in den Medien, auf Veranstaltungen und Demonstrationen
selbstbewusst ihre Gleichberechtigung deklarieren, ver-
Wer war Hrant Dink?
■■Der Journalist und Mitheraus-
geber der in Istanbul erscheinenden Wochenzeitung Agos wurde
am 15. September 1954 im
ostanatolischen Malatya als Kind
armenischer Eltern geboren.
■■Er studierte Zoologie und
Philosophie und war als Student
politisch links engagiert. Nach
dem Putsch von 1980 wurde er
mehrmals verhaftet.
■■1996 gründete er mit Freunden Agos, in der politisch heikle
Themen auf Armenisch und
Türkisch offen diskutiert werden.
■■Am 19. Januar 2007 wurde
Dink in Istanbul auf offener
­Straße erschossen.
danken wir zu einem Großteil
seinem Mut. Als 1915 noch ein
gewöhnliches Jahr war, der Monat April noch ein gewöhnlicher
Monat und der 24. noch ein gewöhnlicher Tag, schrieb er: Am
24. April 1915 begann der Genozid an den Armeniern!
Das mit einen Satz das größte
aller türkischen Tabus gebrochen wurde, erstaunte selbst
viele in der armenischen Gemeinde. Die Regierung und
türkische Nationalisten waren
schockiert. Wenig später, am
12. Oktober 2006, verabschiedete die französische Nationalversammlung ein Gesetz, das
die Leugnung des Genozids an
den Armeniern unter Strafe
stellt. Dink verkündete in den
türkischen
Mainstream-Me-
dien: „Ich werde nach Paris gehen und dort lauthals verkünden: ‚1915 wurde kein Genozid
an den Armeniern verübt.‘ Der
französische Staat wird mich
für diese Äußerung bestrafen.
Dann werde ich zurückkehren
und in Ankara lauthals verkünden: ‚1915 wurde ein Genozid an
der armenischen Bevölkerung
verübt.‘ Diesmal wird mich der
türkische Staat bestrafen. Vielleicht werden sie mich auf diese
Weise brechen – aber das wird
nichts an der Wahrheit ändern.“
Würde man fragen, was es
zum Tabubruch braucht – ich
würde vier Dinge aufzählen,
die ich an Dink beobachtet habe.
Mut, Selbstbewusstsein,
Überzeugungskraft
und Stärke. Es ist
Mit
angehaltenem
Atem
lauschte das Publikum seinen
unaufgeregten, aber bestimmten Worten. Dann gab es Standing Ovations. Wäre ich nicht
selbst Zeuge dieser Veranstaltung, ich hätte Schwierigkeiten,
das zu glauben. So wird es jetzt,
wo ich diese Geschichte erzähle,
meinen Zuhörern gehen.
Zehn Jahre sind vergangen.
Die türkische Republik, ihrer
Verfassung zufolge ein Rechtsstaat, hat das Gerichtsverfahren zu einem Mord, dessen Täter und Drahtzieher bekannt
sind, nicht abgeschlossen. Wen
würde es wundern, wenn der
Prozess noch zehn Jahre läuft?
Erdoğan, der nach dem Mord
an Dink mit folgenden Worten Aufklärung versprach: „Ich
werde nicht zulassen, dass dieser Mord im Labyrinth von Ankara verschwindet und in Vergessenheit gerät“, ist gerade
schwer damit beschäftigt, die
letzten Reste der Demokratie zu
vernichten. Jene, die verkündeten, das Kurden-, Armenier- und
Zypernproblem zu lösen, sind
nun dabei, neue Probleme in
Syrien und im Irak zu schaffen.
Die Regierung, die mit dem
Versprechen an die Macht kam,
die Türkei an westeuropäische
Standards anzuschließen, kehrt
heute Europa den Rücken. Die
Türkei entwickelt sich zur Oligarchie wie Saudi-Arabien oder
Katar. Die Regierung will uns
weismachen, 1.400 Jahre alte religiöse Werte seien im 21. Jahrhundert noch zeitgemäß. Diskussionen darüber sind tabu.
Deshalb brauchen wir dringend einen Tabubrecher, wir
brauchen einen Hrant Dink.
Aus dem Türkischen
von Canset İçpınar
■■Aydın Engin, geb. 1941, ist
Journalist und Kolumnist. Im
Zuge der Verhaftungen nach
dem Putsch 2016 wurde er verhaftet, kam aber aufgrund
seines Alters wieder frei.
Gülen ist nicht an allem schuld
PROZESS
Seit dem Putschversuch von 2016 werden „Gülenisten“ verdächtigt, hinter dem Mord an Hrant Dink zu stehen
ISTANBUL taz | In seinem letzten
Artikel „Die Unruhe einer Taube
in meinem Gemüt“ vom 10. Januar 2007 schrieb Hrant Dink:
„Speicher und Chronik meines
Computers sind gespickt voll
mit Zeilen voller Hass und Drohungen. Besonders eine dieser
Nachrichten fand ich höchst beunruhigend, da sie aus Bursa
kam und eine unmittelbare Gefahr darstellte. Ich übergab den
Drohbrief der Staatsanwaltschaft in Şişli, muss hier aber
festhalten, dass sich in dieser Sache bis heute nichts getan hat.“
Neun Tage danach wurde
Dink vor dem Gebäude seiner
Zeitung Agos ermordet. Wie
sich später herausstellte, war der
Mord mit Kenntnis von Geheimdienstlern und Gendarmen im
Kreis Pelitli, Trabzon, geplant
worden. Nach dem Mord wurde
aufgedeckt, dass die Beamten
sich mehrerer Unterlassungen
schuldig gemacht hatten.
Der Weg zum Mord wurde geebnet, als Dink wegen eines Berichts über die armenische Herkunft von Sabiha Gökçen (der
Adoptivtochter Atatürks und
einer der ersten Pilotinnen der
Türkei, Anm. d. Red.) angezeigt
wurde. Deswegen wurde er vorgeladen. Wie er später in einem
Artikel für die Tageszeitung Radikal schrieb, sagte der Stellvertreter des Gouverneurs zu ihm:
„Sollten Sie nicht vorsichtiger
sein bei Ihren Berichten?“ Das
beweist, dass Dink unmittelbar
von Staatsbeamten bedroht
wurde. Später stellte sich heraus, dass bei dem Gespräch der
Geheimdienstmitarbeiter Özel
Yılmaz anwesend war. Trotz starker Belege wurde er nicht einmal als Zeuge gehört, weil der
Staatsanwalt das Verfahren einstellte.
Obwohl Journalisten und
Juristen unermüdlich darum
kämpften, konnten die für den
Mord mitverantwortlichen Beamten lange nicht vernommen
werden. Erst als der Europäische
Menschenrechtsgerichtshof die
Ermittlungen 2010 als ineffektiv
verurteilte, wurde der Weg für
Untersuchungen frei. Die „Immunität“ der damals mitverantwortlichen Geheimdienstler, die
der Gülen-Bewegung angehören
sollen, fiel aber erst im Zuge des
Bruchs zwischen AKP und Gülen-Bewegung 2013. Auch die
Gendarmen in Trabzon, die
von den Mordplänen gewusst
haben sollen, wurden erst nach
dem Putschversuch 2016 verhaftet. Auch ihnen wird Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung
vorgeworfen.
Die Gülenisten, die vor dem
Zerwürfnis mit der AKP die Sicherheitsbehörden und Justiz unterwandert hatten, wollten den Mord dem „ErgenekonVerfahren“ angliedern, das sich
damals vor allem gegen Oppositionelle richtete. Dabei wurden
Regierungsgegner bezichtigt,
Mitglied einer illegalen Organisation zu sein und einen Putsch
vorzubereiten. In diesem großen Sack sollte auch der Mord
an Hrant Dink versinken.
Auf ähnliche Weise ging die
Regierung dann, nach dem
Bruch mit der Gülen-Bewegung,
gegen eben diese vor. Nun warf
sie Personen, die eine andere
politische Meinung als die Regierung vertraten, vor, Anhänger von Fethullah Gülen zu sein.
Dieser Sack war um einiges größer als der bei den Prozessen,
die die Gülenisten zuvor geführt
hatten. So wurde etwa der Journalist Ahmet Şık – der zuvor aufgrund des Vorwurfs eingesperrt
war, Ergenekon-Mitglied zu sein
– erneut inhaftiert; nur hieß es
diesmal, er betreibe Propaganda
für die Gülen-Bewegung.
Heute stehen wir an einem
Punkt, wo der Eindruck erweckt werden soll, für den DinkMord seien ausschließlich Gülen-Leute verantwortlich. Damit hier kein Missverständnis
aufkommt: Unter den Verantwortlichen für den Mord befinden sich tatsächlich Gülen-An-
hänger – aber sie waren nicht
allein. Es gibt weitere Staatsbeamte, die nichts mit der Bewegung zu tun haben, aber den
Mord zuließen. Sie taten trotz
ihrer Verpflichtung, Dinks Leben zu schützen, nichts.
Unmittelbar nach dem Mord
an Hrant Dink vor zehn Jahren
sagte Erdoğan in seiner damaligen Position als Premierminister: „Kein Verbrechen wird
in den dunklen Korridoren von
Ankara untergehen.“ Doch auch
an seinem zehnten Jahrestag ist
der Dink-Mord noch nicht aus
„den dunklen Korridoren von
Ankara“ gehoben.
CANAN COŞKUN
Aus dem Türkischen
von Sabine Adatepe
Flimmern + Rauschen SEITE 18