Manuskript

SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Wissen - Manuskriptdienst
Geheimlabor Obninsk
Erinnerungen an ein sowjetisches Atomprojekt
Autorin: Gisela Erbslöh
Redaktion: Anja Brockert
Regie: Maria Ohmer
Sendung: Donnerstag, 09.10.2014, 8.30 Uhr, SWR 2
Wiederholung: Donnerstag, 19.01.2017, 8.30 Uhr, SWR 2
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1
O-Ton 1
(Lidija Kondratjewa, russ.)
Zitatorin 1 (overvoice):
Die Amerikaner fürchtete man wie das Feuer, weil sie über Japan die Atombombe
abgeworfen hatten.
Autorin:
Sowjetunion,1948. Etwa hundert Kilometer von ihrem Heimatort Moskau entfernt treten
die achtzehnjährige Chemielaborantin Lidija Kondratjewa und ihre Kolleginnen ihre
erste Stelle an. Der Staat hat sie in eine geheime Forschungseinrichtung geschickt.
O-Ton 2
(Kondratjewa)
Zitatorin 1 (overvoice):
Als dann unsere erste Atombombe gezündet wurde, waren wir glücklich. Gott sei Dank,
jetzt haben wir etwas, womit wir uns verteidigen können.
Autorin:
Vier Jahre sind seit der Vertreibung der deutschen Truppen aus der Sowjetunion
vergangen. Die Zerstörungen im Land sind gewaltig, die Bevölkerung hungert. Das
Verhältnis zu den ehemaligen westlichen Verbündeten hat sich erheblich verschlechtert,
und die atomare Aufrüstung der USA scheint nur eine Möglichkeit offenzulassen: die
Sowjetunion muss gleichziehen.
Ansage:
„Geheimlabor Obninsk - Erinnerungen an ein sowjetisches Atomprojekt“. Eine Sendung
von Gisela Erbslöh.
Musik:
Autorin:
Obninsk, 2014. Ich bin hierher gereist, um die einstigen Mitarbeiter des Geheimlabors
nach ihren Erinnerungen zu befragen. Denn die meisten dieser Zeitzeugen sind heute
bereits um die 80, manche noch etwas älter. Lidija Kondratjewa weiß noch genau, wie
sie damals, vor über 60 Jahren, in Obninsk ankam - und zu ihrer Überraschung auf
deutsche Wissenschaftler stieß:
O-Ton 3
(Lidija Kondratjewa)
Zitatorin 1 (overvoice):
Man nahm uns am Bahnhof Óbninskoje in Empfang und wir gingen zu Fuß weiter, die
Leninstraße entlang. Das war damals eine Betonpiste mitten im Wald. Die Stadt gab es
noch nicht, nur ganz wenige Häuser. Es regnete, wir gingen dahin, wo wir hin sollten
und verstanden nicht, was das für Menschen waren, die uns begegneten. Im Objekt
waren sie auch, in schwarzen Regenmänteln, sie sprachen nicht Russisch. Wir waren
total schockiert - wo sind wir gelandet? (Lacht)
2
Autorin:
Das „Objekt“ oder „Postfach 276“, so wird das geheime „Laboratorium W“ damals zur
Tarnung genannt. Es wird vom NKWD verwaltet, jener sowjetischen Behörde, die für
die innere und äußere Sicherheit des Landes zuständig ist und später auch MWD, dann
KGB heißen wird. Der Arbeits-und Wohnbereich der Forscher ist von Stacheldraht und
Wachtürmen umgeben, bewaffnete NKWD-Leute patrouillieren mit scharfen Hunden.
Von Stalin angeworbene Deutsche haben das Labor eingerichtet. Sie arbeiten hier
schon seit zwei Jahren: Physiker und Chemiker, hochqualifizierte Ingenieure,
Elektroniker, Techniker und Handwerker. Ihr wissenschaftlicher Leiter ist der
Kernphysiker Heinz Pose. 1946, ein Jahr nach Kriegsende, sind sie gekommen, bis
1952 werden sie bleiben, zusammen mit ihren Familien – gut hundert Personen. Erst
nach und nach stoßen auch sowjetische Wissenschaftler, Laboranten und weitere
Spezialisten dazu. Die sowjetischen Fachleute wissen, dass sie von nun an in einem
geschlossenen Ort leben werden. Aber niemand erklärt ihnen, dass sie damit zum
sowjetischen Atomprojekt gehören und was das überhaupt ist. Leiter des Projekts ist
der berüchtigte ehemalige NKWD-Chef Lawrentij Berija. Ein Mann mit unbegrenzten
Vollmachten, erläutert der Wissenschaftspublizist Boris Gorobets.
O-Ton 5
Boris Gorobets
Zitator (overvoice):
Diese Vollmachten hatte ihm Stalin gegeben. Berijas vorrangiges Ziel war die
Atombombe, dafür schuf er sein eigenes Imperium. Und innerhalb dieses Imperiums
wurde niemand angerührt - nicht die Juden, trotz der antijüdischen Kampagne dieser
Jahre, und nicht die politisch Andersdenkenden. Für Berija zählte nur, dass das Ziel, die
Bombe, erreicht würde, er hat das selbst so gesagt. Allerdings wusste kaum ein
Spezialist genau, woran er arbeitete. Er bekam seine Aufgabe und das nötige Material,
und das war’s. Manche errieten natürlich, was sie machten. Aber erraten ist nicht das
Gleiche wie wissen. Und darüber zu reden war verboten, das hatte sehr ernste Folgen.
Deshalb haben alle geschwiegen, sie hatten Angst.
Atmo 2: Musik-Gemisch aus verschiedenen Sälen im Haus der Kultur oder leise
Stimmen von Veteraninnen im Auditorium - unterlegen
Autorin:
Meine erste Begegnung mit Veteranen des sowjetischen Atomprojekts findet im „Haus
der Kultur“ an der Leninstraße statt. Arrangiert hat das Treffen der Ingenieur Georgij
Toschinskij.
O-Ton 6
(Toshinskij)
Zitator (overvoice):
Es war doch eine erstaunliche Zeit. Die Sowjetunion und Deutschland waren Todfeinde
gewesen, es hatte eine Unmenge von Opfern gegeben, und da kommen, gleich nach
Kriegsende, diese deutschen Spezialisten nach Obninsk. Sie verfügen über ein Wissen
und über Erfahrungen, die uns, den jungen sowjetischen Spezialisten, noch gänzlich
fehlen. Überall gibt es Hinweis-Schilder auf Deutsch, das Institut ist mit deutschen
Geräten und Büchern ausgestattet - erinnern sie sich, wie es damals hier aussah?
3
(Stimmen: Ja, Ja)
Regie: O-Ton Toschinskij durchlaufen lassen
Autorin:
Toschinskij, Mitte achtzig, hat sein Leben lang Reaktoren für Atom-U-Boote berechnet.
Er arbeitet noch heute mit Nachwuchswissenschaftlern des „Energetisch Physikalischen
Instituts“ zusammen, das aus dem einstigen Geheimlabor hervorgegangen ist. Nach
seiner Begrüßungsrede gibt Toschinskij das Wort an die etwa zwanzig betagten
Kollegen im Auditorium weiter: Experten der Atomforschung verschiedenster
Richtungen.
O-Ton 7
(Galina Lovchikova)
Zitatorin 2 (overvoice):
Ich war im Krieg in Leningrad gewesen und hatte viel Leid erlebt, bei den Unsrigen und
bei den Fremden. Der Klang der deutschen Sprache allein löste bei mir furchtbare
Erinnerungen aus.
O-Ton 8
(Lidija K., murmelt leise)
Zitatorin 1 (overvoice):
Das war bei uns allen so.
O-Ton 9
(Galina L.)
Zitatorin 2 (overvoice):
Später hab ich dann eingesehen, ich bin hier, um zu arbeiten. Und diese Deutschen
waren ja gebildete Menschen.
O-Ton 10
(Lidija Kondratjewa)
Zitatorin 1 (overvoice):
Sie waren unterschiedlich. Die Deutschen, die mit ihrer Familie gekommen waren,
hatten Verträge vom sowjetischen Staat. Sie waren sehr freundlich.
O-Ton 11
(G. Lovchikova)
Zitatorin 2 (overvoice):
Keppel hat sich immer beklagt. Er und Engelhardt hatten keinen Vertrag, sie waren
Kriegsgefangene.
O-Ton 12
(V. Dmitrieva)
Zitatorin 2 (overvoice):
4
Mir war das sehr unangenehm.
Autorin:
Bei der Anwerbung der deutschen Fachleute hatte es keine Rolle gespielt, ob sie aktive
Nationalsozialisten, Mitläufer oder Nazi-Gegner gewesen waren. Es war ein durch und
durch pragmatisches Verhältnis auf beiden Seiten: Die Sowjetunion brauchte die
hochqualifizierten Deutschen, weil sie schlichtweg zu wenig Wissenschaftler und
Techniker im Bereich der Atomforschung hatte. Und die Deutschen waren froh, dem
Hunger und der Perspektivlosigkeit im Nachkriegsdeutschland zu entkommen.
O-Ton 15
(Soja Gromova)
Zitatorin 1 (overvoice):
Sie haben so gut gearbeitet, sogar - schön. Und das haben sie auch mich gelehrt.
Autorin:
Es kommt bei diesem Veteranentreffen der Atomforschung noch viel Schönes zur
Sprache - etwa dass ein deutscher Elektrotechniker namens Kurt Flach ein Denkmal
verdient hätte, weil er bei den abendlichen Tanzveranstaltungen so wunderbar
Bandoneon spielte; und dass die Laboranten und Hochschulabsolventen von den
deutschen Spezialisten nicht nur beruflich gelernt hätten, sondern auch Deutsch und
Englisch und sogar Tennisspielen. Doch die Beziehungen seien reine
Arbeitsbeziehungen gewesen, das betonen sie alle.
O-Ton 16
(Vladelen)
Zitatorin 2 (overvoice):
Weil dermaßen hinter allen her spioniert wurde und wehe, wenn irgendwer mit
irgendwem erwischt worden wäre.
O-Ton 17
(Kondratjewa)
Zitatorin 1 (overvoice):
Riewe hatte uns zu Weihnachten eingeladen, eine Absolventin der Universität Moskau,
eine aus Gorki und mich. Es war aber verboten zu Deutschen zu gehen, ohne
Erlaubnis, also ohne, dass unsere Sicherheitsleute es wussten. Wissen Sie, wer das
war, Dr. Riewe, mein erster Vorgesetzter? Ein ganz ungewöhnlicher, guter Mensch. Ein
deutscher Jude. Als Hitler an die Macht kam, ging er irgendwohin in den Norden, mit
seiner Familie. Vor dem deutschen KZ wurden sie gerettet, aber bei uns ist er
hineingeraten.
Regie: O-Ton läuft weiter: (Autorin: Erzählen Sie doch. Sie: Ich könnte schon, aber hier,
im Auditorium? (lacht unsicher) unterlegen
Autorin:
Mehr möchte Lidija Kondratjewa im Auditorium erst mal nicht dazu sagen. Vielleicht
später, allein.
5
Atmo 3: Schritte im Treppenhaus, Stimme von Vladelen Dmitrieva
Autorin:
Ich besuche also einige Veteranen in ihren Wohnungen. Auch Vladelen Dmitrieva, die
erklärt, warum ihnen das Reden über die Vergangenheit manchmal so schwer fällt.
O-Ton 18
(Vladja)
Zitatorin 2 (overvoice):
Damals war alles so geheim, dass ich noch gestern, als wir mit Ihnen im „Haus der
Kultur“ zusammensaßen, Angst hatte, jemand könnte etwas Verbotenes sagen. So sehr
hat man es uns eingehämmert. Obwohl ich weiß, dass die Untersuchungen und
Ergebnisse von damals längst nicht mehr geheim sind. Aber als wir noch im alten
Laborgebäude arbeiteten, war es so streng, dass auf den Treppenabsätzen des
russischen Flügels Aufpasser standen. Denn wenn dein Arbeitsplatz im Erdgeschoss
war, durftest du nicht in die oberen Stockwerke gehen.
Autorin:
Was heute noch vom Geheimlabor und der ersten Wissenschaftler-Siedlung übrig ist
zeigt mir der Ingenieur Georgij Toschinskij. In seinem Wagen fahren wir über die lange
Leninstraße auf das heutige Institutsgelände zu. Am Straßenrand alte Bäume und
stattliche Wohnblocks der 40er und 50er Jahre, mit weitläufigen, begrünten Innenhöfen.
Fast alle diese Häuser, erzählt Toschinskij, wurden damals von sowjetischen
Lagerinsassen für die Spezialisten des Atomprojekts gebaut.
O-Ton 19
(Toschinskij, im Auto)
Zitator (overvoice):
Viele Häftlinge hatte man der Spionage verdächtigt. Wenn einer Fremdsprachen
konnte, war es ja möglich, dass er für den englischen oder deutschen Geheimdienst
arbeitete. Überall wurden Spione und Feinde vermutet, und so schrieben die Leute
schnell mal eine Denunziation: der und der spricht englisch und spioniert. Sehen Sie,
hier war überall Wald, sonst nichts. Und diese Häuser hier lagen schon innerhalb des
Stacheldrahts. Direkt vor uns ist das Institut und was man so ungefähr durch das
Eingangstor sieht, ist das Gebäude, in dem auch die Deutschen arbeiteten. (anhalten,
Handbremse)
Atmo 5: Drehkreuz am FEI-Eingang, dann Schritte, ab und zu Toschinskijs Stimme unterlegen
Autorin:
Eine doppelte Absperrung, erst Metallgitter, dann Stacheldrahtzaun. Auch das heutige
„Energetisch Physikalische Institut“ ist verbotenes Terrain für alle, die nicht dort
arbeiten. Durch den bewachten Eingang mit dem automatischen Drehkreuz ist das
riesige alte Laborgebäude nur ungefähr zu erkennen. Ein länglicher Platz trennt das
Institutsgelände von den gegenüberliegenden Wohnhäusern.
O-Ton 20
(Toschinskij, sehr leise und kurz)
6
Zitator (overvoice):
Irgendwo hier haben die Deutschen gewohnt - im Hof waren die Tennisplätze, damals
waren es zwei, heute vier.
Atmo 6: Spaziergang Vladelen Dmitrieva – Tennisplatz, Geräusch vom Spiel
Autorin:
Von den deutschen Wissenschaftlern und Fachleuten, die damals im Geheimlabor
arbeiteten, lebt heute niemand mehr. Ihre Kinder aber, die damals die russische Schule
am Ort besuchten, haben einiges zu berichten. Cornelius Weiss etwa, Jahrgang 1933,
Chemieprofessor und erster Rektor der Leipziger Universität nach der Wende. Sein
Vater war der Radiochemiker Carl Friedrich Weiss.
O-Ton 21 (Cornelius Weiss):
Der Zaun war am Anfang für uns transparent, nach außen und auch wieder zurück,
aber nicht für die Umgebenden. Die durften da gar nicht rein. Die konnten nicht in
unsere Wohnungen. Wenn sie das gekonnt hätten, wären ihnen wahrscheinlich die
Augen übergegangen. Denn die Hälfte der Deutschen war vom Krieg ziemlich
unbeschädigt. Die hatten in Kisten ihre Möbel mit. Also Stehlampen, wo am Stamm ein
Eichhörnchen hochklettert und ähnliches Bürgerliches.
Autorin:
Wie die meisten deutschen Forscher hatte auch Carl Friedrich Weiss nach seiner
Festnahme durch Anwerbungsoffiziere einem Zwei-Jahres-Vertrag mit der Sowjetunion
zugestimmt. Freilich wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht, dass die Sowjets sich an die
vereinbarte Frist nicht halten würden. In Obninsk würde er seine
Grundlagenforschungen zur Radioaktivität weiterführen. Vor allem aber konnte er dem
Hunger entkommen, der 1946 in Nachkriegsdeutschland herrschte, und seiner Familie
ein relativ privilegiertes Leben bieten - zumindest im Vergleich zu den Einheimischen.
Die meiste Zeit verbrachten die Deutschen in Obninsk freilich abgeschottet von den
Russen. Innerhalb der deutschen Forscherkolonie lenkte man sich mit gemeinsamen
Freizeitaktivitäten ab:
O-Ton 25 (Cornelius Weiss):
Meine Mutter hat einen Chor gegründet, Weihnachtskrippen-Spiele aufgeführt. Wir
haben uns auf alle nur erdenkliche Weise mit Sachen beschäftigt, die von dieser
hoffnungslos erscheinenden Lage der Unsicherheit, des Nichtwissens, wann kommen
wir nun endlich zurück - ablenkten und erfüllten. Mein Vater machte regelmäßig, die
ganzen fünf Jahre, jeden Freitag einen Leseabend - er muss viele tausend Seiten
gelesen haben. Und das Ganze hat dazu geführt, dass die Menschen sich nicht
zermürbenden, spiralförmigen Gedanken - warum bin ich hier, warum komm ich hier
nicht raus, was wird aus den Kindern - zeitweise ablenken konnten.
Atmo: Spaziergang Vladelen Dmitrieva - ihre Stimme, ab und zu Autos - Baulärm
Autorin:
60 Jahre später erkunde ich zusammen mit der Mathematikerin Vladelen Dmitrieva die
Umgebung des ehemaligen Geheimlabors. Wir steigen zum Ufer des ProtwáFlüsschens hinunter, in dem die Deutschen badeten. Wir suchen die Stellen am Zaun
des Instituts, wo sich deutsche Soldaten-Gräber befanden. Und sie zeigt mir das
7
Verwaltungshäuschen, in dem sie damals zur Bandoneon-Musik von Kurt Flach
tanzten, und wo der erste Laden des Objekts eröffnet wurde. Er war – im Vergleich zu
anderen Läden im Land – luxuriös bestückt. Den Ausländern, die ihr Wissen und
Können in das sowjetische Atomprojekt investierten, sollte es gut gehen.
Atmo: Straße zwischen den Häusern
Autorin
Vladelens heutige Wohnung liegt kaum fünf Minuten zu Fuß vom Eingang des
„Energetisch Physikalischen Instituts“ entfernt. Damals lag das Gebäude innerhalb des
geschlossenen Objekts. Von ihrem Fenster aus schaut sie auf üppige Stockrosen und
Feuerlilien im Hof. Sie wachsen genau dort, wo einmal das Labor des Radiochemikers
Carl Friedrich Weiß stand. Es musste dann wegen radioaktiver Verseuchung
abgerissen werden. Zu der Zeit war Vladelen bereits ohne besondere Ausbildung
Rechnerin im Laboratorium geworden.
O-Ton 26
(Vladelen Dmitrieva)
Zitatorin 2 (overvoice):
1947 hatte ich die Schule beendet. Ich wurde Serviererin am Buffet, in der Kantine des
„Objekts“, und verkaufte Wodka und machte die Kasse. Eines Tages kam der
wissenschaftliche Leiter der Russen, Lejpunskij, und fragte, wie alt ich sei. Ich sagte:
18. „Und wie steht es mit der Mathematik?“ Ich hatte die Mathematik immer geliebt. Am
nächsten Tag schickte er mir den Doktoranden Ssabsówitsch, der paukte mit mir die
höhere Mathematik und ich wurde als Rechnerin ins Forschungslabor versetzt. Ich teilte
und multiplizierte auf dem Papier - ohne irgendwelche Apparate - und was ich
berechnete, wusste ich nicht.
Musik:
Sie erfuhr es, wie die meisten ihrer Kollegen, Jahre später. Sie hatte die Parameter des
ersten Kernkraftwerks der Welt berechnet. Das ging 1954 in Obninsk ans Netz und
bedeutete für die Sowjetunion einen riesigen Triumph. Obninsk wurde nun eine offene
Stadt, aber das Kraftwerk diente dann nicht etwa der Stromerzeugung für die
Bevölkerung, sondern der Forschung und der Lehre. Die erste Atombombe der
Sowjetunion war bereits 1949 erfolgreich getestet worden. Sie war allerdings in einem
anderen geheimen Laboratorium entstanden. Lange Zeit glaubte man, dass das
geheime „Laboratorium W“ bei der Eisenbahn-Haltestelle Óbninskoje nie mit der
Entwicklung von Atomwaffen zu tun gehabt hätte. Stimmt aber nicht, sagt der
ehemalige Laborant und Techniker Vladímir Solovjóv:
O-Ton 27
(Solovjov)
Zitator (overvoice):
In den neunziger Jahren, während der Perestrojka, erfuhr ich, dass man sich hier auch
mit Berechnungen von Atombomben befasst hatte, ganz am Anfang der 50er Jahre.
Über eine 500-Kilotonnen-Bombe sind sie aber nicht hinausgekommen - deshalb wurde
der Vorschlag von Andréj Sácharow angenommen, der zu der sehr viel stärkeren
8
Wasserstoff-Bombe führte. Und hier, in Obninsk, hörte man auf, sich damit zu
beschäftigen.
Autorin
Und was genau war im Laboratorium W die Aufgabe der deutschen Spezialisten? Die
Chemikerin Lidija Ignatieva:
O-Ton 28
(Lidija Ignatieva)
Zitatorin 2 (overvoice):
Die russische Atomtechnik war ja erst im Entstehen begriffen. Deshalb mussten von
jedem Schritt immer mehrere Varianten entwickelt und ausprobiert werden - und das
haben sie getan.
Autorin
Die wichtigste Variante, mit der sich die Deutschen befassten, erklärt mir der 98-jährige
Physiker Olég Dmítrievitsch Kasatschkówskij. Kurz vor seinem Tod 2014 habe ich ihn in
seinem kleinen Häuschen in Obninsk besucht. Kasatschkowskij hatte 1947 im
geheimen Labor angefangen und war später viele Jahre Direktor des „Energetisch
Physikalischen Instituts“. Bei unserem Gespräch hatte er Tatsachen und Personen
noch sehr gut im Gedächtnis - folgte aber auch jetzt noch der lange eingeübten
Strategie, gewisse Institutionen und Ereignisse nie beim Namen zu nennen.
O-Ton 29
(Oleg D. Kasatschkowskij, sehr alte, brüchige Stimme)
Zitator (overvoice):
Es war unsere Aufgabe unter der Leitung von Ilja Lejpunskij die friedliche Nutzung von
Atomenergie zu erforschen. Von ihm stammte die Idee, dass die Deutschen einen
Reaktor erarbeiten sollten, in dem als Bremser Beryllium verwendet würde. Beryllium
vermehrt die Neutronen. Die richtige Neutronenbalance ist für das Funktionieren eines
Reaktors sehr wichtig. Und die Deutschen waren einige Jahre lang damit beschäftigt.
Sie kamen aber zu dem Schluss, dass die Verwendung von Beryllium nicht sinnvoll ist.
Hätten die Deutschen das nicht entdeckt, wäre vielleicht ein Beryllium-Reaktor gebaut
und viel Geld verschwendet worden. Ihr wissenschaftlicher Leiter Pose bewies das
Gegenteil und das war für uns sehr wichtig.
Autorin
Den Deutschen war bei ihrer Anwerbung geraten worden, möglichst viele Dinge des
täglichen Gebrauchs mit in die Sowjetunion zu nehmen, denn dort herrschte ein noch
größerer Mangel als im zerbombten Deutschland. Wer nicht ausgebombt worden war,
folgte dem Rat. So kamen nicht nur Lampen mit Eichhörnchen, sondern ganze
Privatbibliotheken, Musikinstrumente und sogar Konzertflügel ins Forschungszentrum.
O-Ton 31
(Kasatschkowskij)
Zitator (overvoice):
9
Die Deutschen haben auch Konzerte gegeben und nicht nur im eigenen Kreis. Meine
Frau, Tamára Belánova, zum Beispiel, konnte sehr gut singen und machte bei einigen
Konzerten mit. So kamen sich Russen und Deutsche näher.
Musik:
Autorin
Doch dann wurden die Sicherheitsmaßnahmen immer schärfer. Je näher der erste
sowjetische Atomtest rückte, desto mehr wurde die Bewegungsfreiheit der deutschen
Spezialisten und ihrer Familien eingeschränkt. Immer enger rückte der Zaun um das
Gelände, in dem sie lebten und wissenschaftliche und technische Höchstleistungen
vollbringen sollten. Sie mussten nun für jeden Schritt außerhalb des Objekts um einen
sogenannten Begleiter vom NKWD bitten. Daran erinnert sich auch Cornelius Weiss:
O-Ton 32 (Cornelius Weiss):
Der Begleiter immer für zwei Personen, nie weiter weg als 150 Zentimeter.
Autorin:
Da beschloss ein Großteil der deutschen Spezialisten zu streiken. Ein heikler Beschluss
in der Sowjetunion des Jahres 1949, dem die sowjetischen Kollegen wohl überwiegend
verständnislos gegenüber standen. Von den russischen Veteranen des Atomprojekts
mag sich denn auch 60 Jahre später niemand an diesen Streik erinnern – mit
Ausnahme der ehemaligen Laborantin Lidija Kondratjeva. Ausgerechnet ihr Chef, der
von ihr so geschätzte Spezialist für Spektralanalyse Karl Heinrich Riewe, sollte
zusammen mit dem Elektroniker Karl Renker Rädelsführer des Streiks gewesen sein
und wurde verhaftet.
O-Ton 33
(Lidija Kondratjewa)
Zitatorin 1 (overvoice):
Ich glaube nicht daran, dass es seine Initiative war, er war nicht der Typ des Anführers,
der anderen seine Meinung aufdrängt. Riewe verhielt sich bei der Arbeit so
verantwortlich, als sei es sein Eigentum, mit dem er arbeitete. Da wurden zum Beispiel
Versuchstische geliefert. Weil es aber keine Schuppen zum Unterstellen gab, standen
sie monatelang auf der Straße, nur mit Brettern abgedeckt, und wurden nass. So was
hat ihn furchtbar aufgeregt. Riewe beschwerte sich dauernd. „Pjotr Iwánowitsch, bitte,
Geräte und Arbeitsmittel stehen im Wasser oder im Schnee, sie gehen doch alle
kaputt.“
Atmo: vielleicht weiteren O-Ton Kondratjewa unterlegen
Autorin:
Piotr Iwanowitsch Zachárow war Oberst des NKWD und Verwaltungsdirektor des
Objekts. Kondratjewa und ihre Kolleginnen hatten zunächst vermutet, dass er die
Verhaftung Riewes betrieben habe, um den lästigen Deutschen loszuwerden.
Andererseits hätten die deutschen Kollegen Riewe nicht mitgeteilt, dass sie bereits
nach einem halben Tag den Streik wieder aufgaben. Vielleicht absichtlich, weil sie
Riewe nicht mochten?
Autorin:
10
Die angeblichen Rädelsführer verschwanden für fünf Jahre in berüchtigten Straflagern
in Kasachstan. 1955 aber ließ man sie - wie die übrigen deutschen Spezialisten - nach
Hause zurückkehren. Die Verhaftungen hatten im Geheimlabor die gewünschte
Wirkung: niemand traute sich, noch einmal zu protestieren. Aber die Atmosphäre im
Objekt war verdorben. Während der letzten drei Obnisnker Jahre blieb die Stimmung
der Deutschen schlecht. Sie fühlten sich eingesperrt und litten unter der Ungewissheit,
ob die Sowjets sie jemals nach Deutschland zurückkehren lassen würden. Die zwei
Jahre, die ihre Arbeitsverträge gültig sein sollten, waren ja längst um.
O-Ton 36
(Vladimir Solovjov)
Zitator (overvoice):
Mitte 1952 hieß es dann, die Deutschen müssen nach Suchumi an der SchwarzmeerKüste und eine Weile dort bleiben, bevor sie in ihre Heimat zurück dürfen. Ich glaube,
das war eine Quarantäne, sie sollten vergessen, was sie hier gemacht hatten.
Autorin:
1954 änderte sich der Status des Labors. Über seine Existenz - jetzt als „Energetisch
Physikalisches Institut“ - durfte nun offiziell gesprochen und geschrieben werden. Nicht
aber über die Deutschen, die hier sechs Jahre lang gearbeitet hatten. Eine Initiative
sowjetischer Lokalhistoriker, die ihnen in den 1960er Jahren einen Platz im städtischen
Museum von Obninsk einräumen wollte, wurde verboten. Erst in den 90er Jahren
begann man zögerlich, die Zeit der deutschen Atomexperten in die Stadtgeschichte mit
aufzunehmen.
Musik:
Autorin:
Obninsk ist heute eine Stadt mit 250.000 Einwohnern und zwölf weiteren
Forschungsinstituten - von der Entwicklung neuer Materialien für Luftverkehr und
Raumfahrt bis zur Strahlenmedizin. Auch das einst geheime „Energetisch Physikalische
Institut“ gilt noch als renommierte Einrichtung. Doch die goldene Zeit der russischen
Wissenschaft scheint mit dem Verebben der großzügigen sowjetischen Förderung
endgültig vorbei.
O-Ton 38
(Lidija Ignatieva)
Zitatorin 2 (overvoice):
Das Niveau, das unser Institut bis zu den 90er Jahren erreicht hatte, ist verloren
gegangen. Wenn früher in den Vereinigten Staaten Experimente gemacht wurden, hat
sich der sowjetische Staat darum gekümmert, dass die Wissenschaften und die Technik
auch bei uns weiter entwickelt wurden, zu unserer Sicherheit und zur Sicherheit des
Landes. Jelzin hat unsere Geheimnisse einfach offengelegt. Während Putin, glaube ich,
sich wieder um unsere Sicherheit kümmert.
11
*****
Literaturangaben:
Speziell zum "Laboratorium W", also zu Obninsk:
Cornelius Weiss, Risse in der Zeit. Ein Leben zwischen Ost und West. Reinbek bei
Hamburg, Rohwohlt Verlag 2012.
Nur auf Russisch:
Oleg D. Kasatschkowskij: Zapiski Fizika o Vojne i Mire (Aufzeichnungen eines
Physikers über Krieg und Frieden). Obninsk 2010.
Über das Geheimlaboratorium in Suchumi:
Nikolaus Riehl, Zehn Jahre im Goldenen Käfig. Erlebnisse beim Aufbau der
sowjetischen Uran-Industrie. Stuttgart 1988. Heinz und Elfi Barwich. Das rote Atom. München, Bern 1967
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