Katalog/Catalogue - Sebastian Burger

Sebastian
Burger
/
T H R O U G H A G L A S S,
CLEARLY
Stefan
Guggisberg
G2 Kunsthalle
MMKoehn
THROUGH A GLASS,
CLEAR LY
28
23
5
8
7
9
6
10
13
11
21
30
Mit Through a Glass, Clearly von Sebastian Burger
(geb. 1980 in Magdeburg) und Stefan Guggisberg
(geb. 1980 in Thun) zeigt die G2 Kunsthalle die fünfte
Sonderausstellung seit ihrer Gründung im März 2015.
Im Fokus stehen neue Papierarbeiten der beiden
Künstler. Burger und Guggisberg sind Absolventen
der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
und Meisterschüler von Neo Rauch. Die Schau ist ein
Dialog zweier Positionen, deren künstlerische Entwicklung durchaus Parallelen aufweist. Anhand der
ausgestellten Werke wird jedoch auch die Ausdifferenzierung ihrer künstlerischen Sprachen für den
Besucher erlebbar.
Gemeinsam ist beiden ihr grundsätzliches Interesse
an der visuell-haptischen Formulierung von Materialien und Oberflächen, während der jeweilige
gedankliche Kontext in unterschiedliche Richtungen
weist: Im Zentrum von Stefan Guggisbergs Arbeiten
steht die Auseinandersetzung mit Urkräften und
kosmologischen Ideen. Er formt künstliche Bildwelten,
in denen Naturelemente und -kräfte wie Wasser,
Stein, Luft und Licht eine besondere Rolle spielen.
Seine unverwechselbaren Bildfindungen haben
bisweilen archaischen Charakter und zeugen von
der inneren Wahrheit der Dinge, die der universellen
Logik von Raum und Zeit Folge zu leisten scheint.
Sebastian Burger konzentriert sich im Unterschied
dazu auf die physischen und stofflichen Qualitäten von
Materialien wie Glas, Metall, Plastik oder Leder und
ist in seiner Bildsprache von Pop- und Medienkultur
beeinflusst. Neben autobiografischen Verweisen
sind in seinen Kompositionen Themen aus Musik,
Literatur und Film — unter anderem utopische ScienceFiction-Elemente — zu neuen Sinn- und Bildgefügen
verwoben, die zwischen Stillleben, Landschaft
und Comic changieren.
Der Ausstellungstitel Through a Glass, Clearly darf
als »Klangmodell« durchaus wörtlich verstanden
werden. Die optische Durchdringung von Formen
und Strukturen spielt in den Werken beider Künstler
ebenso eine Rolle wie die Dichotomie von Sichtund Unsichtbarkeit. Burger und Guggisberg erschaffen jeweils neue spiegelglatte Welten aus scheinbar
realen, sehr greifbaren Dingen, die mit hoher Präzision
in der Ausführung aus dem Untergrund des Papiers
und lasierender Ölfarbe hervortauchen. Dabei wird
den Betrachtern der Kontrast zwischen Fragilität
und Beständigkeit in aller Klarheit vor Augen geführt.
Außerdem geht es um die Frage nach der Wahrnehmung von Bildern (in) unserer Zeit, die geprägt ist
von Filtern und Layern auf Tablet- oder SmartphoneDisplays.
In einer schier unendlichen Flut entstehen unablässig
und überall Abbilder auf leuchtenden Flachbildschirmen. Vor diesem Hintergrund müssen der entschleunigte, höchst aufwendige Entstehungsprozess
und die befremdliche Mischung aus transluzider
Optik und stumpfer, bisweilen verzerrter Spiegelbildlichkeit, die den Arbeiten beider Künstler zugrunde
liegen, beinahe anachronistisch anmuten; mithilfe
ihrer Werke kann der Betrachter jedoch die gläserne
Folie durchdringen, ihren Blick enttrüben und die
eigene Seherfahrung erweitern.
Parallel zur Ausstellung Through a Glass, Clearly
werden Teile der Sammlung Hildebrand in der
G2 Kunsthalle neu präsentiert. Die Eröffnungsausstellung G2 #1 vereinte auf einer Gesamtausstellungsfläche von mehr als tausend Quadratmetern in der
dritten Etage des ehemaligen Datenverarbeitungszentrums am Dittrichring in Leipzig über fünfzig Werke
aus der Privatsammlung des Unternehmers Steffen
Hildebrand mit dem Schwerpunkt Leipziger Gegenwartsmalerei. Seither ist die Sammlung Hildebrand
dauerhaft öffentlich zugänglich und wird in wechselnden Präsentationen für das Publikum erschlossen.
Seit November 2015 organisiert die G2 Kunsthalle
außerdem Sonderausstellungen zur aktuellen Kunst in
Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern.
Diese konzeptionelle Erweiterung des Ausstellungsprogramms der G2 Kunsthalle ermöglicht den Dialog
der Sammlung mit anderen Medien und neuen
künstlerischen Positionen. Im Rahmen von G2 #5
werden erstmals auch Werke von Benjamin Bergmann,
Björn Dahlem, Marcel Dzama, Jens Einhorn, Grit
Hachmeister, Gregor Hildebrandt, Anna K. E., Juliana
Ortiz, Thomas Ruff, Tal R und Thomas Schütte aus
dem Sammlungsbestand gezeigt. Mit dieser Auswahl
wird den Medien Skulptur, Installation, Fotografie und
Zeichnung größerer Raum gegeben. Diese Präsentation belegt einmal mehr die breite Ausrichtung
der Sammlung Hildebrand, die weit über den Fokus
Leipzig hinausgeht.
Anka Ziefer
Leiterin, G2 Kunsthalle
1
5
R I V O , 2016
Öl auf Papier, 70 × 50 cm
6
M A G I L L , 2016
Öl auf Papier, 70 × 50 cm
7
O C M A S , 2016
Öl auf Papier, 70 × 50 cm
8
A L E X A N D E R , 2016
Öl auf Papier, 100 × 70 cm
9
D A V I D , 2016
Öl auf Papier, 100 × 70 cm
10
B E G S , 2016
Öl auf Papier, 100 × 70 cm
11
D I P T A M , 2016
Öl auf Papier, 100 × 70 cm
13
M O T E L J O H N L Y K E S , 2016
Öl auf Papier, 140 × 100 cm
14
W A R M L E A T H E R E T T E , 2016
Öl auf Papier, 100 × 70 cm
15
T V O D , 2016
Öl auf Papier, 100 × 70 cm
16
L U C I A , 2016
Öl auf Papier, 35 × 45 cm
17
A I C U L , 2016
Öl auf Papier, 35 × 45 cm
Sebastian
Burger
Sebastian Burgers Blickwinkel ist metaphorisch vom Bildausschnitt bestimmt,
im Sinne eines »geschlossenen« Systems, das alles einbezieht, was in den Bildern
und Zeichen, Haltungen und Gesten erkennbar und sichtbar präsent ist, die sich
nach geometrischen Mustern zusammensetzen und gleichzeitig voneinander
ablösen — Dynamiken aus Licht und Schatten, chromatische Variationen und klare
Konturen, »Décadrages« und Off-Screens, die wiederkehrenden Archetypen
eines bestimmten, in der Malerei wurzelnden Kinotypus. Dafür wird, so wie in
Robert Wienes Film Das Kabinett des Dr. Caligari (1920), der realitätsnahe Effekt
der bühnenbildnerischen Lösungen, der verwendeten Plastiken und Stilistiken
nicht etwa »verborgen« und aufgesogen, wie es im fotografischen Realismus
üblicherweise geschieht, sondern durch Überfrachtung des einzelnen Bildausschnitts mit expressiven grafisch-linearen Elementen exponiert und emphatisiert.
Tatsächlich stellt dieser Film vielleicht den Höhepunkt der Unterordnung des
Filmischen unter das Malerische dar, zumal die Malerei hier fast in Reinkultur
erscheint, in einer Art utopischem Versuch, die Kinoleinwand wie die Leinwand
eines Gemäldes zu behandeln, oder besser: die Expressivität der Malerei
mehr oder weniger direkt auf die Kinoleinwand zu transponieren. Infolge dieser
Korrelation können Sebastian Burgers Werke durch empirische und ästhetische
Herangehensweisen wie »piktorialistische« Filme betrachtet werden, die eine
enorme Geschicklichkeit und Technik offenbaren, gelegentlich von ironischen
Pausen durchsetzt sind und, wie die Filme des französischen Regisseurs
Jean-Luc Godard, Gelegenheit zur Konfrontation der Zeit in der Malerei mit der
Zeit im Film bieten.
Domenico de Chirico
2
3
4
5
6
7
10
11
12
13
14
15
16
17
21
K O N S T E L L A T I O N , 2015
Öl auf Papier, 35 × 42 cm
23
K O L L I S I O N , 2015
Öl auf Papier, 125 × 100 cm
Kunstsammlung Kanton Bern
24
W Ä R M E , 2015
Öl auf Papier, 65 × 50 cm
25
G R U N D , 2015
Öl auf Papier, 125 × 100 cm
26
R A D , 2014
Öl auf Papier, 30 × 25 cm
Kunstsammlung Stadt Zürich
27
W A S S E R , 2016
Digitaler Pigmentdruck und Öl auf Papier
65 × 50 cm
28
N A B E L , 2016
Öl auf Papier, 300 × 370 cm
30
E L E M E N T , 2016
Öl auf Papier, 195 × 245 cm
32
Z E N T R E N , 2012 / 2016
Öl auf Papier, 25 × 22 cm
Stefan
Guggisberg
Die Bilder von Stefan Guggisberg lassen mich stilistisch-inhaltlich an das
Konstruktionsprinzip des lateinischen Lehrgedichts De rerum natura (Über die
Natur der Dinge) aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. von Titus Lucretius Carus (Lukrez)
denken. Hier macht sich der römische Philosoph und Dichter zum Sprecher
der epikureischen Theorie zur Realität der Natur und zur Rolle des Menschen in
einem atomistischen Universum. De rerum natura beginnt mit einem groß angelegten Prolog, einer erhabenen Hymne an die Kraft, die es vermag, Inspiration
einzuhauchen: Venus, die Naturschöpferin. Lukrez legt hier seine grundlegende
Lehre von den Atomen dar: »(…) daß kein Ding aus nichts entsteht auf göttliche
Weise« *, und kein Ding ins Nichts zurückkehrt, allenfalls sich verwandelt. So wie
in Guggisbergs Malerei das »Leben« aus einer Gesamtheit von Primärkörpern
besteht, den unteilbaren und unzerstörbaren Körperatomen; die sich nach dem
Tod zersetzen und in der Leere eines unendlichen Universums bewegen. Materie
und Leere also bilden die Natur, und alle Gravitationselemente sind durch starke
Verbindungen miteinander verknüpft: Es handelt sich nicht um ein Chaos von
Dingen, sondern um wohldefinierte Einheiten, denen weder etwas hinzugefügt
noch etwas weggenommen werden kann. Darüber hinaus verwendet Stefan
Guggisberg, ganz im Stil von Lukrez, eine virtuose und feierliche Sprachästhetik:
Der Ton ist gewählt und die Konstruktion geometrisch komplex, um so die Sakralität
eines ebenso schöpferischen wie intellektuellen Unterfangens zu vermitteln.
Domenico de Chirico
*
18
Lukrez, De rerum natura. Welt aus Atomen, hg. und übers. von Karl Büchner,
lat.-dt. Ausgabe, Stuttgart 1973, S. 19.
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
31
Impressum
Diese Publikation erscheint anlässlich
der Ausstellung
THROUGH A GLASS, CLEARLY
Sebastian Burger / Stefan Guggisberg
© 2016 MMKoehn Verlag Berlin / Leipzig
und G2 Kunsthalle
© 2016 für die Texte: die Autoren
© 2016 für die Werke: die Künstler
G2 Kunsthalle, Leipzig
9. September 2016 —15. Januar 2017
Alle Werke von Sebastian Burger:
Courtesy Galerie Tobias Naehring, Leipzig
G2 Kunsthalle
Dittrichring 13
04109 Leipzig
www.g2-leipzig.de
Erschienen im
MMKoehn Verlag
Prenzlauer Allee 181
10405 Berlin
Deutschland
www.mmkoehnverlag.de
Herausgeber
Anka Ziefer
G2 gemeinnützige Gesellschaft
zur Förderung der Kunst mbH
Texte
Domenico de Chirico
Anka Ziefer
Gestaltung
Kay Bachmann
Redaktion
Karoline Mueller-Stahl
Anka Ziefer
Übersetzung aus dem Italienischen (S. 3, 19)
Sabine Heymann
Lektorat
Karoline Mueller- Stahl
Fotografie
Dotgain.info (Titelseite innen, S. 28)
Carsten Humme (S. 26)
Josephine Walter (S. 23)
Uwe Walter (S. 24, 25, 27, 32)
Bildbearbeitung
Dotgain.info
Druck, Bindung
PögeDruck, Leipzig
Auflage 500
Papier
LuxoArt 170 g/qm
Schrift
Helvetica BSK
Swiss 721 BT
32
ISBN 978- 3-944903- 36-1
Printed in Germany
Sebastian Burger
Sebastian Burger, geb. 1980 in Magdeburg, 2001–2003
Studium der Grafik und Druckgrafik an der Wiener
Kunstschule, 2005–2009 Studium der Malerei an der
Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, Fachklasse Neo Rauch, 2010–2012 Meisterschüler bei Neo
Rauch. Burger lebt und arbeitet in Leipzig. Einzelausstellungen u. a. in Leipzig (2016), Frankfurt am Main
(2014), Berlin (2013), Ausstellungsbeteiligungen u. a. in
Neapel (2016), New York (2016), London (2014) und
Hamburg (2012) sowie mehrfach in Leipzig und Berlin.
Stefan Guggisberg
Stefan Guggisberg, geb. 1980 in Thun (Schweiz),
1999–2003 Studium der Grafik an der Schule für
Gestaltung Biel, 2005–2009 Studium der Fotografie
und der Malerei an der Hochschule für Grafik und
Buchkunst Leipzig in den Klassen von Christopher
Muller, Neo Rauch und Timm Rautert, 2010–2012
Meisterschüler bei Neo Rauch. Guggisberg lebt und
arbeitet in Leipzig. Einzelausstellungen u. a. in Zürich
(2015), Stuttgart (2013), Lugano (2011), Luzern (2010),
Bern (2009), Ausstellungsbeteiligungen u. a. in Thun
(2015), Biel (2014), Oslo (2014), Aschaffenburg (2013)
sowie mehrfach in Leipzig und Bern.