[Bilingualism: A challenge for the developing brain] (PDF

196 Originalia
Bilingualismus: eine Herausforderung für das sich
entwickelnde Gehirn
Bilingualism: A Challenge for the Developing Brain
Autoren
K. D. Bartl-Pokorny1, C. Theoharidou1, M. Dreu1, 2, G. Vogrinec1, F. Pokorny1, V. B. Talisa3, G. Feigl2,
C. Einspieler1, P. B. Marschik1, 3
Institute
1
Zentrum für Physiologische Medizin, Institut für Physiologie (IN:spired; Developmental Physiology & Developmental
Neuroscience), Medizinische Universität Graz, Österreich
2
Zentrum für Theoretisch-Klinische Medizin, Institut für Anatomie, Medizinische Universität Graz, Österreich
3
Center for Genetic Disorders of Cognition and Behavior, Kennedy Krieger Institute, Johns Hopkins University School of
Medicine, Baltimore, USA
Schlüsselwörter
▶ Bilingualismus
●
▶ Eye-Tracking
●
▶ Schriftspracherwerb
●
▶ Spracherwerb
●
Zusammenfassung
Abstract
Der Einsatz neurophysiologischer Methoden in
der Bilingualismus-Forschung zeigte – entgegen ursprünglicher Annahmen –, dass bilinguale
SprecherInnen nicht notwendigerweise andere
neuronale Regionen für die Sprachverarbeitung
aktivieren als monolinguale SprecherInnen. Faktoren wie die Kompetenz in einer Zweitsprache
(L2) und das Alter bei Beginn des L2-Erwerbs
können allerdings die Repräsentation der L2 im
„bilingualen Gehirn“ beeinflussen. So wurde ein
späterer Erwerbsbeginn, verglichen mit einem
frühen Start in die Zweisprachigkeit, vielfach mit
einer geringeren L2-Kompetenz und mit differierenden neurophysiologischen Aktivierungsmustern für sprachbezogene Aufgaben in Verbindung gebracht. Die bilinguale Forschung mit
engem Bezug zu neurowissenschaftlichen Disziplinen konzentrierte sich diesbezüglich bis dato
jedoch weitgehend auf sprachliche Fähigkeiten
im Erwachsenenalter und beschäftigte sich erst
in ihrer jüngsten Entwicklung zunehmend mit
dem Erwerbsverlauf sprachlicher Fähigkeiten.
Die Ergebnisse unserer Langzeitbeobachtung an
3 bilingualen Kindern, die alle gleich lange und
unter vergleichbaren Umständen ihre Zweitsprache lernten, deuten auf einen Zusammenhang zwischen dem Alter zu Beginn des Erwerbs
und den grammatikalischen Fähigkeiten in der
L2 hin; Wortschatz und Lesefähigkeit scheinen
hingegen nicht mit dem Alter bei Erwerbsbeginn zusammenzuhängen. Weiters reagierte das
L2-Sprachsystem des ältesten Kindes am stabilsten auf eine vorübergehende Veränderung der
sprachlichen Umgebung. Um jedoch generalisierte Aussagen über linguo-kognitive Entwicklungsverläufe bei Kindern und Jugendlichen, die
gleichzeitig mehrere Sprachen erlernen, treffen
zu können, bedarf es weiterer interdisziplinärer
Forschungsbestrebungen zum sich entwickelnden „multilingualen Gehirn“.
Neurophysiological studies have demonstrated
that first language (L1) and second language (L2)
processing are not necessarily represented in different neural regions. However, factors such as
language competence and age at onset of L2 acquisition can influence the representation of L2
in the “bilingual brain”. Bilinguals who acquired
a second language later in life were frequently
reported as having different activation patterns
for linguistic tasks as compared to bilinguals
with an early age at onset of L2 acquisition. Furthermore, later acquisition of L2 has often been
associated with a poorer language outcome.
Previous neuroscientific research on bilinguals
primarily addressed the language outcome of bilinguals in adolescence and adulthood, but there
remains a significant gap in knowledge regarding the developmental trajectory of language
capacities that has only recently started to be
systematically addressed. The current longitudinal study presents an examination of 3 bilingual children with the same duration of bilingual
language exposure but different ages at onset of
L2 acquisition. Our observations indicate a relationship between the age at onset of acquisition
and the grammatical competence of L2 later in
life. However, lexicon and reading competence
were not influenced by age at onset of L2 acquisition. Furthermore, the L2 system of the child
who was the oldest at the onset of L2 acquisition
displayed the most robustness after a temporary
change in linguistic environment. To generalize
these findings and detect general developmental
trends in children acquiring 2 or more languages
at a time, more interdisciplinary research on the
developing “multilingual brain” is needed.
Key words
▶ bilingualism
●
▶ eye tracking
●
▶ literacy acquisition
●
▶ language acquisition
●
Bibliografie
DOI http://dx.doi.org/
10.1055/s-0032-1312674
Online-Publikation: 20.7.2012
Klin Neurophysiol 2012;
43: 196–202
© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York
ISSN 1434-0275
Korrespondenzadresse
Ao.Univ.-Prof. Dr. Christa
Einspieler
Institut für Physiologie
Zentrum für Physiologische
Medizin
Medizinische Universität Graz
Harrachgasse 21/V
8010 Graz
Österreich
[email protected]
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Bartl-Pokorny KD et al. Bilingualismus: eine Herausforderung für … Klin Neurophysiol 2012; 43: 196–202
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Einleitung
▼
Sprachkontakt1 und Mehrsprachigkeit sind seit langem viel diskutierte Phänomene, die in Zeiten zunehmender Globalisierung
und Kosmopolitismus neue Dimensionen erreichen. Besonders
eindrucksvoll zeigt sich dies bei mehrsprachig aufwachsenden
Kindern oder Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die vielfach scheinbar mühelos 2 oder mehrere Sprachen
gleichzeitig erwerben und beherrschen. Bilingualismus birgt jedoch nicht nur Vorteile, wie etwa einen Erleichterungseffekt für
das Erlernen weiterer Sprachen [1] und ausgeprägte exekutive
Fähigkeiten wie das Wechseln zwischen Sprachen (Switching)
[2], sondern bringt mitunter auch Schwierigkeiten mit sich.
Vielfach haben Kinder mit Migrationshintergrund aufgrund eingeschränkter Fähigkeiten in ihrer Zweitsprache (L2), so diese
gleichzeitig Unterrichts- und Amtssprache ist, größere Schwierigkeiten in der Schule und geringere Bildungschancen im Vergleich zu Kindern, deren Muttersprache (L1) ident mit der Unterrichtssprache ist [3]. Essentiell für die sprachliche Integration
und die optimale Förderung mehrsprachig aufwachsender Kinder sind die Kenntnis der Faktoren, welche die Sprachentwicklung beeinflussen sowie ein fundiertes Wissen über neuronale
Besonderheiten im sich entwickelnden „bilingualen Gehirn“.
Abb. 1 Schematische Darstellung der für die Sprachverarbeitung relevanten Areale der linken Großhirnhemisphäre.
Neurophysiologische Korrelate der Sprachverarbeitung
Die ersten Überlegungen zur zentralen Sprachverarbeitung bei
Mehrsprachigkeit stammten nicht aus der Spracherwerbsforschung sondern von Läsionsstudien an PatientInnen nach bereits erfolgtem Spracherwerb. Scoresby-Jackson [4] stellte bereits wenige Jahre nach der Entdeckung des Broca-Areals (und
somit der erstmaligen Zuordnung linguistischer Funktionen zu
einem spezifischen Areal der linken Großhirnhemisphäre [5])
die Hypothese auf, dass die Muttersprache im Broca-Areal und
Fremdsprachen in angrenzenden Bereichen des Gyrus frontalis
inferior lokalisiert sind. Ähnlich wie Broca begründete ScoresbyJackson seine Hypothese mit dem Funktionsverlust der sprachlichen Fähigkeiten nach einer umschriebenen Hirnläsion, im konkreten Fall mit aphasischen Phänomenen in der L2 eines mehrsprachigen Patienten. Beinahe 3 Jahrzehnte später beobachtete
Pitres [6] bei einigen bilingualen AphasiepatientInnen, dass sie
weniger Zeit zur Erholung von einem Sprachverlust in der häufiger verwendeten Sprache, die nicht zwangsläufig die L1 war, benötigten als erforderlich gewesen wäre um die Sprache neu zu
erwerben. Er schloss daraus, dass ein Insult nicht notwendigerweise die Zerstörung, sondern eine temporäre Afunktionalität
relevanter Areale bewirken kann, was den Zugriff auf das Sprachsystem vorübergehend blockiert. Seine Beobachtung, dass vorrangig eine Erholung der dominanten Sprache der PatientInnen
stattfindet, erklärte er mit der Annahme stabiler Verbindungen
für diese zwischen den Arealen, die für die Sprachverarbeitung
relevant sind [6]. Diese häufig beschriebene ungleiche Erholung
von L1 und L2 nach einem temporären Sprachverlust veranlasste
Albert und Obler [7] zur Annahme einer ausgeglicheneren Repräsentation der Sprachen in den beiden Hemisphären bei bilingualen SprecherInnen im Vergleich zu einer linkshemisphärischen Dominanz bei den meisten monolingualen SprecherInnen. Karanth und Rangamani [8] stellten allerdings keine höhere
Inzidenz von Aphasie bei bilingualen SprecherInnen mit rechtsseitigen Läsionen im Vergleich zu monolingualen SprecherInnen
1
Sprachkontakt bezeichnet das Aufeinandertreffen von mindestens 2 Sprachen auf (a) kollektiver Ebene (Sprechergemeinschaft) oder (b) individueller Ebene (einzelner Sprecher) (Metzler Lexikon Sprache 1993).
Abb. 2 Schematische Darstellung der Signalweiterleitung in der linken
Großhirnhemisphäre beim Nachsprechen (dunkelgrau) bzw. beim lauten
Vorlesen (hellgrau) eines Wortes.
fest. In den letzten Jahrzehnten wurde durch den Einsatz und die
ständige Weiterentwicklung bildgebender Verfahren eine differenziertere Beschreibung neurofunktioneller Korrelate der
Sprachverarbeitung möglich. Sowohl bei mono- als auch bei bilingualen SprecherInnen sind primär linkshemisphärische Areale im Assoziationscortex um den Sulcus lateralis an Sprachverar▶ Abb. 1, 2). Dieser für die Sprabeitungsprozessen beteiligt [9] (●
che relevante Assoziationscortex erstreckt sich vom Gyrus frontalis inferior (GFI) über den Gyrus supramarginalis und den
Gyrus angularis im Parietallappen bis zum Gyrus temporalis
superior (GTS) und zum Gyrus temporalis medius (GTM) [10]
▶ Abb. 1).
(●
Zu den Faserverbindungen innerhalb des Assoziationscortex um
den Sulcus lateralis gehören der Fasciculus arcuatus und der Fasciculus longitudinalis zwischen dem posterioren Teil des GTS
und dem prämotorischen Cortex (dorsale Verbindung I), sowie
zwischen dem BA 44 und dem posterioren Teil des GTS (dorsale
Verbindung II), die Capsula extrema zwischen dem anterioren
Teil des GTS und dem BA 45 (ventrale Verbindung I) und der Fasciculus uncinatus zwischen dem anterioren Teil des GTS und der
Pars opercularis (ventrale Verbindung II) [10]. Im sich entwickelnden Gehirn bestehen die ventralen Verbindungen sowie die
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dorsale Verbindung I bereits bei der Geburt, wohingegen die
dorsale Verbindung II bis zum Schulalter noch nicht vollständig
ausgereift ist, was eine mögliche Erklärung für Schwierigkeiten
beim Verstehen von syntaktisch komplexen Sätzen bei jüngeren
Kindern sein könnte [11]. Auch werden z. B. bei Vorschulkindern
für die syntaktische Verarbeitung interhemisphärische Verbindungen über das Corpus callosum zwischen den beiden GTS
stärker aktiviert, während in späteren Entwicklungsstadien eine
stärkere Nutzung intrahemisphärischer Verbindungen beobachtet werden kann [12].
Vor der Nutzung der inter- und intrahemisphärischen Verbindungen zur weiteren sprachlichen Dekodierung muss ein akustisches oder visuelles Sprachsignal erst aufgenommen werden.
Akustische Informationen werden zunächst über den Hörnerv
in das Corpus geniculatum mediale im Thalamus übertragen.
Die weitere Verarbeitung erfolgt beidseits in den Gyri temporales transversi (Heschl’sche Querwindungen, BA 41), welche die
primäre Hörrinde bilden, und in der sekundären Hörrinde (BA
42). Vorzugsweise werden im linken Temporallappen segmentale sprachliche Einheiten (z. B. Phoneme) und in der entsprechenden rechtshemisphärischen Region suprasegmentale Einheiten
(z. B. Intonation, Akzent oder andere prosodische Merkmale)
verarbeitet [10]. Das Signal wird dann in das Wernicke-Areal (BA
22; posteriorer Teil) weitergeleitet, das eine wichtige Rolle bei
der semantischen Dekodierung, dem Verstehen einer Äußerung,
▶ Abb. 1, 2). Visuelle Informationen hingegen gelangen
spielt (●
zunächst von der Retina über den Sehnerv in das Corpus geniculatum laterale, von wo sie in den primären visuellen Cortex (BA
17) verschaltet und dann zur Weiterverarbeitung an die sekundären und tertiären Sehzentren (BA 18, 19) weitergeleitet wer▶ Abb. 1, 2). Dem in den 1960er Jahren entwickelten Werden (●
nicke-Geschwind-Modell [13] zufolge wird das Signal anschließend in den Gyrus angularis und den Gyrus supramarginalis
transferiert, wo die Umwandlung in eine lautliche Form erfolgt,
welche dann wiederum im Wernicke-Areal weiterverarbeitet
▶ Abb. 1). Neuere Studien zeigten, dass die Umwerden kann (●
wandlung in eine lautliche Form beim Lesen von bekannten visuellen Einheiten (Morpheme, Wörter) nicht unbedingt erforderlich ist, sondern dass die visuelle Information in diesem Fall
zur weiteren Verarbeitung an das sogenannte „visuelle Wortformareal“ (BA 37) des occipitotemporalen Cortex bestehend aus
einem Teil des Gyrus fusiformis und Teilen des GTM und des GTI
▶ Abb. 1, 2). Die semantische Verarbeiweitergeleitet wird [14] (●
tung erfolgt anschließend wiederum im Wernicke-Areal. Beim
Nachsprechen von Wörtern oder beim Vorlesen wird Information vom Wernicke-Areal über den Fasciculus arcuatus weiter in
das Broca-Areal (BA 44 und 45 innerhalb des GFI) transferiert,
wo das entsprechende Artikulationsprogramm für die Äußerung
erstellt wird. Neben seiner entscheidenden Bedeutung für die
Sprachproduktion ist das Broca-Areal auch an der Entscheidungsfindung bei semantischer Ambiguität beteiligt, fungiert
als Arbeitsspeicher bei der Verarbeitung von komplexer Syntax
und spielt eine große Rolle bei der Verarbeitung grammatikalischer Strukturen [10]. Der Output des Broca-Areals wird in den
prämotorischen und den supplementär motorischen Cortex (BA
6) sowie in den primär motorischen Cortex (BA 4) weitergeleitet,
von wo aus die feinmotorische Steuerung und Koordination der
▶ Abb. 1, 2).
Sprechmuskulatur erfolgt [15] (●
Zusätzlich zu den kortikalen Regionen sind auch subkortikale
Strukturen wie Thalamus, Insula, Cerebellum, aber auch Nukleus caudatus und Putamen an der Sprachverarbeitung beteiligt
[15, 16].
Einflussfaktoren auf die Sprachverarbeitung im
„bilingualen Gehirn“
Betrachtet man das neuronale System der Sprachverarbeitung
und seine Integrität unter Einbeziehung (a) der Altersspezifität
von Hirnstrukturen und -funktionen sowie (b) der unterschiedlichen Beanspruchung für den Erwerb der Muttersprache(n),
einer Zweitsprache (z. B. bei Kindern mit Migrationshintergrund, Fremdsprachenunterricht in der Schule), oder aber, wenn
wir uns als Erwachsene entschließen, eine neue Sprache zu erlernen, ändern sich die Anforderungen. Das sich entwickelnde
neuronale System reagiert anders in Abhängigkeit von Alter bei
Beginn des Erwerbs, Grad der Sprachbeherrschung, Inputverhältnis (i. e., wie viel Input stammt aus der jeweiligen Sprache),
Motivation und kognitiven Constraints. Im Gegensatz zur eingangs erwähnten Hypothese von Scoresby-Jackson [4], dass L1
und L2 bei bilingualen SprecherInnen in unterschiedlichen Gehirnarealen repräsentiert sind, geht man heute davon aus, dass
zumindest bei vergleichbarer Sprachkompetenz und frühem Erwerbsbeginn beider Sprachsysteme die Hirnareale für die Verarbeitung von L1 und L2 ident sind [17]. Ein höheres Alter bei Beginn des Erwerbs der L2 oder eine niedrigere Sprachkompetenz
kann sich folgendermaßen auf die neuronalen Korrelate der
Sprachverarbeitung auswirken: Perani und MitarbeiterInnen
[18] wiesen beispielsweise in ihrer Studie zum Sprachverständnis mittels Positronen-Emissions-Tomografie (PET) ähnliche Aktivierungsmuster für L1 und L2 bei hoher L2-Kompetenz nach,
während die Aktivierungsmuster bei niedrigerer L2-Kompetenz
unterschiedlich waren. Bilinguale SprecherInnen mit niedriger
L2-Kompetenz hatten im Gegensatz zu jenen mit höherer L2Kompetenz beim Zuhören von Erzählungen in der L2 keine Aktivierung in den Temporalpolen und im linken anterioren und
posterioren Teil des GTM [18]. Für semantische Entscheidungsaufgaben, untersucht bei Englisch-Mandarin SprecherInnen,
konnten Chee und MitarbeiterInnen [19] eine zusätzliche Aktivierung des rechten präfrontalen Cortex sowie eine stärkere Aktivierung des linken präfrontalen Cortex und von Arealen im
linken Parietallappen bei SprecherInnen mit niedrigem L2Sprachniveau belegen. Spanisch-Englisch sprechende ProbandInnen mit spätem L2-Erwerbsbeginn wiesen bei einer Benennungsaufgabe eine erhöhte Aktivität in der weniger kompetenten L2 in der rechten Insula, im anterioren Teil des Gyrus cingulus, im dorsolateralen präfrontalen Cortex und im linken Gyrus
fusiformis auf [20]. Da Alter bei Erwerbsbeginn und Sprachkompetenz oftmals zusammenhängen, ist eine getrennte Untersuchung des Einflusses dieser beiden Faktoren auf die Aktivierungsmuster im „bilingualen Gehirn“ schwierig. Dennoch wiesen einige Autoren auf einen großen Einfluss der Sprachkompetenz auf die Aktivierungsmuster bei semantischen Aufgaben
hin, während dem Alter bei Erwerbsbeginn vorwiegend eine
Auswirkung auf die Aktivierungsmuster bei syntaktischer Verarbeitung zugeschrieben wurde [21–23]. So stellten Weber-Fox
und Neville [21] in einer Studie unter Verwendung ereigniskorrelierter Potenziale (EKP) zu syntaktischen Regelverstößen Unterschiede zwischen bilingualen SprecherInnen mit frühem L2Erwerbsbeginn und (den in einer vorangehenden Studie mit
gleichem Design untersuchten) monolingualen SprecherInnen
[24] fest. Unterschiede bei Sätzen mit semantischen Regelverstößen waren jedoch nur dann bemerkbar, wenn der Erwerb der
L2 mit > 10 Jahren einsetzte.
Zusätzlich zu neurofunktionellen Besonderheiten wurde in neuesten Studien zum „bilingualen Gehirn“ auch ein Einfluss der
Sprachkompetenz und des Alters bei Beginn des Erwerbs auf den
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mikrostrukturellen Aufbau der weißen und grauen Substanz
diskutiert. Bisher konnte eine erhöhte Dichte der grauen Substanz im linken inferioren parietalen Cortex bei bilingualen SprecherInnen mit frühem L2-Erwerbsbeginn im Vergleich zu bilingualen SprecherInnen mit spätem Erwerbsbeginn und vor allem
im Vergleich zu monolingualen SprecherInnen festgestellt werden [25]. Eine höhere Sprachkompetenz korrelierte ebenso mit
einer erhöhten Dichte der grauen Substanz im Vergleich zu
SprecherInnen mit niedrigerem Kompetenzniveau [25]. Wie
Mohades und MitarbeiterInnen [26] kürzlich in einer DiffusionsTensor-Bildgebungsstudie (diffusion tensor imaging; DTI) an bilingualen und monolingualen Kindern herausfanden, wirkt sich
Mehrsprachigkeit und das Alter bei Beginn des L2-Erwerbs auch
auf die weiße Substanz aus. Bei bilingualen Kindern mit frühem
L2-Erwerbsbeginn wurden im linken Fasciculus occipitofrontalis inferior signifikant höhere fraktionelle Anisotropie-Werte
(FA-Werte) gemessen als bei bilingualen Kindern mit spätem L2Erwerbsbeginn und monolingualen Kindern. Die Untersuchung
des Faserbündels vom Corpus callosum zur Pars orbitalis ergab
die niedrigsten FA-Werte für die Gruppe der bilingualen Kinder
mit spätem Erwerbsbeginn der L2 [26].
Bis dato gibt es jedoch wenige neuroanatomische, neurofunktionelle oder behaviorale Studien, welche Entwicklungsbesonderheiten beim gleichzeitigen Erwerb mehrerer Sprachen im Rahmen von Langzeitstudien berücksichtigten. Unsere Beobachtung
an 3 Kindern mit unterschiedlichem Alter bei L2-Erwerbsbeginn
ermöglicht einen Einblick in Teilaspekte dieser Thematik. Darüber hinaus wurde der Einfluss der sprachlichen Umgebung bzw.
einer Veränderung derselben für einen umschriebenen Zeitraum auf die unterschiedlichen sprachlichen Ebenen der L2 dieser Kinder und den weiteren Verlauf des L2-Erwerbs untersucht.
Eigene Beobachtungen an 3 bilingualen Kindern
▼
Methodik
TeilnehmerInnen
Zur Erhebung der sprachlichen Fähigkeiten in der L2 (Deutsch)
wurden folgende Verfahren eingesetzt: (1) Austrian Communicative Development Inventories (ACDI; [27]; U1, U3), (2) Aktiver
Wortschatztest für 3- bis 5-jährige Kinder (AWST-R; Kiese-Himmel 2005, Beltz Test; U1–U3), (3) Peabody Picture Vocabulary
Test (PPVT-III; Dunn & Dunn 1997, American Guidance Service;
U1–U4), (4) Test zur Überprüfung des Grammatikverständnisses
(TROG-D; Fox 2006, Schultz-Kirchner; U1–U4), (5) Salzburger
Lese- und Rechtschreibtest II (SLRT-II; Moll & Landerl 2010, Huber; U4). Weiters wurde mittels (6) Eye-Tracking-System SensoMotoric Instruments iView X Hi-Speed (Abtastrate: 500 Hz, Leseabstand: 90 cm, Kalibrierung: 13 Punkt) die okulomotorische
Verarbeitung beim leise Lesen von Wörtern und Pseudowörtern
(SLRT; Landerl, Wimmer & Moser 1997, Huber; U4) erfasst. Da
K3 die für die Anwendung des Eye-Tracking-Systems vorausgesetzte Körpergröße unterschritt, konnte diese Aufgabe mit ihm
nicht durchgeführt werden.
Ergebnisse
Die mittels K-ABC erhobenen intellektuellen Fähigkeiten aller 3
Kinder lagen im Durchschnittsbereich.
Wortschatz
Sowohl bei den Communicative Development Inventories (Elterncheckliste) als auch bei den Testverfahren zum aktiven und
passiven Wortschatz zeigte sich erwartungsgemäß eine Zunahme über den Beobachtungszeitraum (U1 verglichen mit U3 bzw.
U4). Interessant war, dass K2 und K3 sowohl im passiven als
auch im aktiven Wortschatz zunächst eine geringe quantitative
Abnahme erkennen ließen, bevor ein „Wortschatzspurt“ ein▶ Abb. 3a, b). Beim ältesten der 3 Kinder hingegen war
setzte (●
sowohl im aktiven als auch im passiven Lexikon kurze Zeit nach
der Rückkehr nach Österreich (U2) ein minimaler Zuwachs er▶ Abb. 3a, b).
kennbar (●
Grammatikalische Fähigkeiten
Mit Zustimmung der Eltern wurde die Entwicklung der L2
(Deutsch) von 3 Spanisch-Deutsch sprechenden Geschwistern
(K1, K3: männlich; K2: weiblich) über einen Zeitraum von 43
Monaten (Untersuchungen U1–U4) beobachtet. Der Erwerb der
L2 begann nach der Übersiedelung von Südamerika nach Österreich. Die Kinder waren zu diesem Zeitpunkt 6;10, 5;2 und 3;4
Jahre; Monate alt. Die Familiensprache blieb in Österreich weiterhin Spanisch. Die beiden jüngeren Kinder K2 und K3 besuchten nach der Ankunft in Österreich den Kindergarten; K1 besuchte die Volksschule. Alle Kinder erhielten im Rahmen ihrer
schulischen Betreuung sprachfördernden Unterricht. Nach 11
Monaten in Österreich kamen die Kinder zur ersten Untersuchung (U1; K1: 7;9, K2: 6;1, K3: 4;3); U2 erfolgte unmittelbar
nach einem einmonatigen Aufenthalt in Südamerika, während
dessen mit den Kindern ausschließlich Spanisch gesprochen
wurde (K1: 7;10, K2: 6;2, K3: 4;4); U3 fand nach einem halben
Jahr, in dem die Kinder durchgängig in Österreich waren, statt
(K1: 8;4, K2: 6;8, K3: 4;10); U4 wurde nach weiteren 3 Jahren in
Österreich, im Alter von 11;4 (K1), 9;8 (K2) und 7;10 (K3),
durchgeführt.
Auch die grammatikalischen Fähigkeiten nahmen über den Beobachtungszeitraum (U1 verglichen mit U4) zu. Beim jüngsten
Kind zeigte sich nach der Rückkehr nach Österreich (U2) zunächst eine minimale quantitative Abnahme, bei K2 war keine
Veränderung feststellbar und bei K1 zeigte sich ein leichter Zu▶ Abb. 3c). Bei U3 und U4 ließ sich bei allen 3 Kindern
wachs (●
▶ Abb. 3c).
eine deutliche Steigerung erkennen (●
Schriftsprachliche Fähigkeiten
Beim Leseuntertest „Wörter“ aus dem SLRT-II erzielte K3 einen
Prozentrang (PR) zwischen 84 und 87; beim Leseuntertest
„Pseudowörter“ betrug der PR 88. Auch K1 und K2 erreichten bei
beiden Untertests Werte im Normbereich, wobei K2 einen nied▶ Abb. 4).
rigeren PR als die beiden anderen Kinder erzielte (●
Eye-Tracking
K2 benötigte in der Eye-Tracking-Untersuchung deutlich länger
für das Lesen der Wörter und Pseudowörter aus dem SLRT als
K1. Sie hatte längere Fixationen und mehr Sakkaden. Auch war
der Anteil der gegen die Leserichtung gerichteten Sakkaden (Re▶ Abb. 4).
gressionen) größer als jener von K1 (●
Untersuchungsmethoden
Die intellektuellen Fähigkeiten der Kinder wurden mithilfe der
deutschsprachigen Version der Kaufman Assessment Battery for
Children (K-ABC; Melchers & Preuß 2003, PITS; U4) ermittelt.
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200 Originalia
a
AWST-R
Anzahl korrekter Items
45
30
15
0
K1
K2
K3
U1
28
17
5
U2
32
16
4
U3
44
21
9
Anzahl korrekter Items
b
PPVT -III
180
165
150
135
120
105
90
75
60
45
30
15
0
K1
K2
K3
U1
39
39
23
U2
41
36
13
U3
120
73
39
U4
177
160
85
c
TROG-D
Anzahl korrekter Items
90
75
60
45
30
15
0
K1
K2
K3
U1
39
(PR = 0)
33
(PR = 2)
18
(PR = 2)
U2
41
(PR = 2)
33
(PR = 2)
17
(PR = 2)
U3
60
(PR = 18)
55
(PR = 24)
36
(PR = 32)
U4
78
(PR = n.a.)
78
(PR = 80)
62
(PR = 37)
Abb. 3 a Zuwachs des mittels AWST-R erhobenen aktiven Wortschatzes
in der L2 (Maximalwert = 75 korrekte Items) über einen Zeitraum von 7
Monaten (U1–U3), wobei U1 11 Monate nach Beginn des L2-Erwerbs
stattfand. Abkürzungen: AWST-R = Aktiver Wortschatztest für 3- bis
5-jährige Kinder (Kiese-Himmel 2005, Beltz Test), K = Kind, U = Untersuchung. b Zuwachs des mittels PPVT-III erhobenen passiven Wortschatzes
in der L2 (Maximalwert = 228 korrekte Items) über einen Zeitraum von
43 Monaten (U1–U4). Abkürzung: PPVT-III = Peabody Picture Vocabulary
Test (Dunn & Dunn 1997, American Guidance Service). c Zuwachs des
mittels TROG-D erhobenen grammatikalischen Verständnisses in der L2
(Maximalwert = 84 korrekte Items) über einen Zeitraum von 43 Monaten
(U1–U4). Abkürzung: TROG-D = Test zur Überprüfung des Grammatikverständnisses (Fox 2006, Schultz-Kirchner), PR = Prozentrang.
Diskussion
▼
Die neurowissenschaftlich orientierte Forschung zum Bilingualismus konzentrierte sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend auf strukturelle und funktionelle Besonderheiten in Zu-
sammenhang mit der L2-Kompetenz und dem Alter bei Beginn
des L2-Erwerbs. Vielfach deuten die Ergebnisse neurophysiologischer Studien darauf hin, dass sich diese beiden Parameter unterschiedlich auf die Aktivierungsmuster für verschiedene Aufgaben – wie etwa lexikalische und syntaktische Verarbeitung –
auswirken [21–23]. L2-Kompetenz und das Alter bei Beginn des
L2-Erwerbs hängen jedoch meist eng miteinander zusammen,
da früher L2-Erwerbsbeginn in der Regel mit höherem sprachlichen Kompetenzniveau im Erwachsenenalter einhergeht [25].
Das „kritische Zeitfenster“ für den Beginn der Sprachentwicklung und in der Folge persistierende sprachliche Defizite bis ins
Erwachsenenalter, wenn diese Periode „versäumt“ wird, sind
seit längerer Zeit unumstritten. Extrembeispiele für diese nicht
aufholbaren Einschränkungen sind uns aus zahlreichen Berichten über sozial isolierte und deprivierte Kinder (z. B. Genie, Kaspar Hauser) geläufig. Um die kritische Erwerbsphase genauer zu
beleuchten, gingen Mayberry und MitarbeiterInnen [28] zusätzlich der Frage nach dem Einfluss der Sprachmodalität auf die
weitere kommunikative Entwicklung nach. Sie konnten bestätigen, dass früher Sprachkontakt generell einen Vorteilseffekt für
das spätere Erlernen einer neuen Sprache hat; dies zeigte sich
sowohl bei ProbandInnen mit als auch ohne sensorischer Beeinträchtigung (vgl. auch [1, 21, 29]). Gehörlose TeilnehmerInnen
mit frühem Sprachkontakt hatten verglichen mit Gehörlosen,
die keinen oder kaum frühen Kontakt mit Sprache hatten, deutlich bessere sprachliche Fähigkeiten im Erwachsenenalter. Dieses Ergebnis war interessanterweise unabhängig davon, ob der
frühe Sprachkontakt lautsprachlich oder gebärdensprachlich
war [28].
Die Beanspruchung für das Sprach-Erwerbssystem unterscheidet sich für den primären Erwerb der Muttersprache und für
bilingualen oder frühen Zweitspracherwerb (z. B. bei Kindern
mit Migrationshintergrund) oder aber, wenn Erwachsene eine
weitere Sprache lernen. Die unterschiedlichen Anforderungen
variieren aufgrund von verschiedenen Faktoren wie Alter bei Beginn des Erwerbs und Grad der Sprachbeherrschung. Im sich
entwickelnden Gehirn zeigt sich dies strukturell und funktionell, denn erst das „Funktionieren“ gewisser neuronaler Strukturen führt zur weiteren Differenzierung derselben, was seinerseits eine Funktionsadaptierung oder -erweiterung ermöglicht.
So stehen zum Beispiel die zunehmende Differenzierung des
Broca-Areals bis ins frühe Kindergartenalter [30] und die Ausreifung der dorsalen Verbindung II bis ins Schulalter [11] in Verbindung mit der stetig wachsenden morphosyntaktischen Kompetenz. Gerade das Broca-Areal und die dorsale Verbindung II sind
an der Verarbeitung komplexer Sätze, die von jüngeren Kindern
noch nicht beherrscht werden und erst schrittweise erlernt werden müssen, essentiell beteiligt. Da das Gehirn strukturell wie
funktionell zu keinem Zeitpunkt in der Entwicklung ident ist
[31], liegt abhängig vom Alter bei Beginn des L2-Erwerbs eine
individuell unterschiedliche Ausgangssituation für das Erlernen
einer neuen Sprache vor. Zudem erschwert die individuell unterschiedliche Inputverteilung in der L2, die sich wiederum auf
die L2-Kompetenz auswirken kann [32], die Gewinnung homogener Stichproben bilingualer SprecherInnen. Dies liegt an unterschiedlichen sprachlichen Situationen, die etwa davon abhängen, ob die L1 eines Elternteils die Unterrichts- und Amtssprache ist, oder das Kind z. B. seine neue Sprache ausschließlich
außerhalb des familiären Umfelds in Bildungseinrichtungen erlernt, um nur 2 mögliche Szenarien zu nennen. Um die Auswirkungen des Alters bei Erwerbsbeginn auf die sprachlichen und
schriftsprachlichen Fähigkeiten in der L2 bestimmen zu können,
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Wörter
Pseudowörter
100
100
80
80
60
60
40
40
20
20
0
SLRT-II
[PR]
LZ
[S]
FD
[msx10]
Sakk.
0
Regr.
[%]
SLRT-II
[PR]
LZ
[S]
FD
[msx10]
Sakk.
Regr.
[%]
K1
95
10
21,4
42
10
K1
80
10
24,1
36
22
K2
60
22
35,4
54
15
K2
37
43
45,6
83
27
K1
K2
K1
Abb. 4 Lesen von „Wörtern“ (links oben) verglichen mit „Pseudowörtern“ (rechts oben) (SLRT-II; Moll & Landerl 2010, Huber) und der in der
Eye-Tracking-Untersuchung ermittelten Lesezeit, der durchschnittlichen
Fixationsdauer, der Sakkadenanzahl und des Anteils an Regressionen in den
Untertests „Häufige Wörter“ (links oben) und „Wortunähnliche Pseudowörter“ (rechts oben) (SLRT; Landerl, Wimmer & Moser 1997, Huber) von K1
und K2. Im unteren Teil der Abbildung sind Ausschnitte der Eye-TrackingErgebnisse von K1 und K2 dargestellt. K2 (jeweils rechtsstehende Grafik;
ist es unumgänglich, den Entwicklungsverlauf prospektiv zu beobachten und Zusammenhänge einzelner sprachlicher Domänen festzuhalten.
Unsere Studie – wenn auch nur an 3 Kindern – ermöglichte eine
Langzeitbeobachtung der sprachlichen und schriftsprachlichen
Fähigkeiten ausgehend von einem unterschiedlichen Alter beim
Erstkontakt mit der neuen Sprache, jedoch bei gleich langem
und vergleichbar intensivem Kontakt mit selbiger. Nach ihrem
ersten Aufenthaltsjahr in Österreich kehrten die Kinder für einen Monat nach Südamerika zurück, wo sie ausschließlich in
ihrer L1 kommunizierten. Das L2-Sprachsystem des ältesten
Kindes K1 war – wie sich unmittelbar nach der Rückkehr zeigte
– vergleichsweise gefestigter (zwischen U1 und U2) als die untersuchten Teilaspekte der Sprachsysteme von K2 und K3. Gewisse sprachliche Kapazitäten (Wortschatz und grammatikalische Fähigkeiten) zeigten eine relative Stabilität (i. e., U2 im Vergleich zu U1 sogar eine leichte Verbesserung der Testergebnisse
für K1) auf die Veränderung der sprachlichen Umgebung. Bei K2
und K3 beobachteten wir hingegen bei den lexikalischen Fähigkeiten in der L2 durch den vorübergehenden ausschließlichen
Kontakt mit der L1 einen leichten Rückgang (i. e., quantitative
Abnahme bei den beiden Wortschatztests); bei K3 zeigte sich
zusätzlich ein leichter Rückgang bei den grammatikalischen
Fähigkeiten (i. e., quantitative Abnahme beim Grammatiktest)
▶ Abb. 3a, b, c). Im weiteren Verlauf ihrer Sprachentwicklung
(●
zeigten alle Kinder rasch eine Steigerung in Wortschatz und
Grammatik der L2. Im Wortschatz war die quantitative Zunahme über den Untersuchungszeitraum bei K1 am größten und
beim jüngsten Kind (K3) am geringsten. In der Grammatik hingegen wurde bei K1 der geringste Zuwachs beobachtet. Dieses
Ergebnis deutet möglicherweise darauf hin, dass sich ein höheres Alter bei Beginn des Erwerbs eher auf die grammatikalischen
K2
violett) zeigt sowohl bei den Wörtern als auch bei den Pseudowörtern des
SLRT längere Fixationszeiten (erkennbar durch größere Kreise) und eine
größere Anzahl an Fixationen (Anzahl an Kreisen) verglichen mit K1 (SLRT,
Form A; Landerl, Wimmer & Moser 1997, Huber; www.testzentrale.de.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Hans Huber). Abkürzungen:
SLRT = Salzburger Lese- und Rechtschreibtest, LZ = Lesezeit, FD = durchschnittliche Fixationsdauer, Sakk. = Sakkadenanzahl, Regr. = Regressionen,
K = Kind.
Fähigkeiten auswirken kann, was sich mit den Resultaten früherer behavioraler und auch neurophysiologischer Studien deckt
[21–23, 29]. Kovelman und Mitarbeiterinnen [33] konnten nachweisen, dass sich ein höheres Alter bei Beginn des L2-Erwerbs
negativ auf die Lesefähigkeiten in der L2 auswirkt. Dies konnte
in unserer Fallstudie jedoch nicht bestätigt werden. K2 erreichte
beim SLRT-II die niedrigsten PR. Ihre schlechteren Ergebnisse im
SLRT-II im Vergleich zu K1 spiegelten sich auch in ihren Augenbewegungen beim Lesen wider: K2 benötigte längere Fixationen, mehr Sakkaden und einen größeren Anteil an Regressionen
▶ Abb. 4). Diese Augenbewegungsmuster sind für frühere Stadi(●
en des unauffälligen Leseerwerbs durchaus typisch, können aber
auch bei Jugendlichen mit Dyslexie auftreten [34, 35]. Bei der Interpretation der Augenbewegungen beim Lesen ebenso wie bei
der Interpretation der Leistungen in anderen sprachlichen Bereichen ist es essentiell, das Alter sowie die Erfahrung mit einer
(Schrift-)sprache zu berücksichtigen. So müssen auch alle standardisierten Tests bei bilingualen Kindern sehr vorsichtig interpretiert werden, da die meisten Tests ausschließlich für monolinguale Kinder normiert sind [36]. Um generalisierte Aussagen
über linguo-kognitive Entwicklungsverläufe bei Kindern und Jugendlichen, die gleichzeitig mehrere Sprachen erlernen, treffen
zu können, bedarf es weiterer interdisziplinärer Forschungsbestrebungen zum sich entwickelnden „multilingualen Gehirn“.
Danksagungen
▼
Wir möchten uns sehr herzlich bei den Kindern und ihrer Familie bedanken, so viele Aufgaben mitgemacht und Fragen beantwortet zu haben. Unser Dank gilt auch Frau Professorin Ulrike Willinger, Medizinische Universität Wien, dafür, dass sie
uns ihre deutschsprachige Adaptierung des PPVT zur Verfügung
Bartl-Pokorny KD et al. Bilingualismus: eine Herausforderung für … Klin Neurophysiol 2012; 43: 196–202
202 Originalia
stellte. Diese Studie wurde vom Land Steiermark, der Stadt Graz,
der Franz Lanyar Stiftung (P337) und dem FWF (Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung P19581-B02) gefördert.
Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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