"Ärmer geht`s nicht. Reicher kaum. Wie scharf ist die

Dok 5 – Das Feature; 15.01.2017
Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
scharf ist die Armutsschere wirklich?
Musik: „Impulsion“
Atmo A 40
Sprecher:
Der Sozialäquator ist aus Asphalt. Ihn zu überqueren, fast unmöglich.
Sprecher:
A40 heißt die Grenze. Die Stadtautobahn durchfräßt das Revier. Duisburg, Essen,
Dortmund. Einmal quer durch. Mitten durch die Städte. Mitten durch die Gesellschaft.
Nirgends sonst in Deutschland ist ein Ballungsraum mit fünf Millionen Menschen so
gespalten wie hier. Reicher Süden. Armer Norden. Auf welcher Seite du geboren
bist, entscheidet, was du wirst.
O-Ton Janine
Also, wir leben vom Amt, wir beziehen Hartz4. Und also mit Hartz4 kann man
nicht große Sprünge machen.
O-Ton Heike Derichs-Weiss
Was Rang und Namen hat, die wohnen schon ganz gerne hier. In Bredeney.
Weil es ist ein schönes, weit gezogenes Villenviertel, wo man eben genau
weiss, dass der Nachbar nicht zu Krethi und Plethi gehört.
Sprecher:
A 40. Grenze zwischen Arm und Reich. Besonders scharf durchtrennt sie Essen.
Eine Stadt als Sinnbild für das Land. Die Kluft wächst - zwischen Garnichts und
immer mehr, warnen Sozialexperten. Armut wird in Deutschland immer schwerer zu
überwinden, alarmiert der jährliche Armutsbericht des Paritätischen
Gesamtverbands: Danach sind über 15 Prozent der Deutschen arm. Die zehn
Prozent der Reichsten besitzen immer mehr. Schon jetzt sind es zwei Drittel des
Vermögens.
O-Ton
Und im Endeffekt bleibt man da, wo man 10 Euro am Tag ausgeben kann. Mehr
nicht.
O-Ton
Dass es sicherlich eine Grenze gibt: unsere A40, wo auf der einen Seite Leute
mit mehr und auf der anderen die mit weniger Geld wohnen.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2017
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Dok 5 – Das Feature; 15.01.2017
Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
scharf ist die Armutsschere wirklich?
O-Ton Mann am Kiosk
Die dicken Bonzen werden immer fetter und die große Masse wird immer
ärmer.
Sprecher:
Alarm! rufen Politiker und Sozialverbände. Aber: Wächst die Armutsschere
tatsächlich? Wird Deutschland immer ungleicher? Aussagen, die auf den Prüfstand
gehören. Panikmache bringt niemanden weiter. Statistiken helfen nur bedingt. Es
zeigt sich bei genauem Hinsehen, wie schwierig Vieles zu vergleichen ist. Was heißt
es eigentlich, arm zu sein – in einem der reichsten Länder der Welt? Und wohin geht
die Fahrt, wenn sich nichts ändert? Deutschland unterm Brennglas. Die A40 in
Essen.
ANSAGE:
Ärmer geht's nicht - Reicher kaum. Wie scharf ist die Armutsschere wirklich? Ein
Feature von Antje Passenheim.
Musik aus
A40 leise/Vogelgezwitscher
Sprecher:
So klingt die Stadtautobahn auf der Sonnenseite.
Der Süden von Essen. Die Welt der Albrechts, Thyssens, Deichmanns zählt zu den
reichsten Gegenden der Republik. 50 der bundesweit umsatzstärksten Unternehmen
kommen von hier. In der Liga der profitabelsten Giganten zieht Essen mit Hamburg
und München gleich. Rund 120 Einkommensmillionäre leben in Essen. Alle im
Süden. Keiner von ihnen im Norden. Und so
Musik: „Unleashed du Lac“
Sprecher:
So klingt die A40 dort. Die Schattenseite. Einer der ärmsten Flecken
Westdeutschlands. Was sich anhört wie ein Klischee, ist Realität. Auf dem
Sozialatlas der Essener Stadtverwaltung ist der Süden hell.
Der Norden ist rot. Es gibt so viele Arbeitslose, dass die Kinder in manchen Vierteln
keinen mehr kennen, der regelmäßig zum Job geht. Dort sind 80 von Hundert aller
jungen Menschen abhängig von staatlicher Hilfe. Jedes 4. Kind lebt in Armut,
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Dok 5 – Das Feature; 15.01.2017
Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
scharf ist die Armutsschere wirklich?
ermittelte die Bundesagentur für Arbeit. Keine Region im Westen Deutschlands ist so
schlimm dran wie das Ruhrgebiet. Kaum eine Stadt hier so arm wie Essen.
Sprecher:
Aber viele hier sind so arm wie Janine.
Sie und andere Menschen, die hier über ihre Einkommensverhältnisse reden,
nennen wir auf deren Wunsch nur beim Vornamen, der teilweise geändert wurde.
Musik aus
Sprecher:
Janine weiß: Nach unten geht es schnell.
O-Ton Janine:
Dann wurd' ich halt schwanger und, weil ich halt gearbeitet hab, war ich
verpflichtet, das auch anzugeben. Und da hieß es: Wir rufen Dich an. Kam
nichts. Ja und dadurch bin ich dann in Hartz 4 gerutscht…
Sprecher:
Drei Kinder hat die 29-Jährige. Erzieht sie über weite Strecken allein. Eins, vier und
fünf sind sie. An einen Job ist nicht zu denken.
O-Ton Janine
Also mit Hartz 4 kann man nicht große Sprünge machen.
Sprecher:
Auch kleine nicht - mit rund elfhundert Euro im Monat ist es nicht leicht, drei kleine
Kinder zu versorgen.
O-Ton Janine
Die Anziehsachen werden ja auch immer teurer. Die Lebensmittel werden ja
auch immer teurer.
Sprecher:
Zweimal die Woche nimmt der Familientisch der Caritas in der Gemeinde St. Gertrud
Janine zumindest diese Sorge: Sattwerden.
Atmo Familientisch: Klappernde Teller/Gemurmel
Atmo beim Essen
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Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
scharf ist die Armutsschere wirklich?
Sprecher:
Die rund 50 Tische sind voll besetzt. Kinder drängen nach vorn. Eine Schlange bildet
sich um einen großen Topf mit dampfender Gemüsesuppe. Ausgewogene
Mahlzeiten aus Spenden. Ehrenamtliche Helfer wollen diesen Familien Lust aufs
gesunde Essen machen. Für manche Kinder ist schon ein Stück Blumenkohl eine
neue Welt.
O-Ton Janine
Die Kinder kennen das teilweise gar nicht mehr. Dass sieht man hier in der
Gruppe sehr. Hier wird ja gesund gekocht mit Obst und Gemüse. Dass dann
wirklich auch die Kinder kommen und fragen: Was ist denn das da in der
Suppe? Was eigentlich ganz normal ist. Aber sie kennen das nicht, weil es das
nicht Zuhause gibt.
Sprecher:
Gut Essen, das ist Luxus. Gemeinsam Essen auch, meint Janine.
O-Ton Janine:
… weil sie es sich einfach nicht mehr leisten können, mal eben mit der Familie
essen zu gehen.
Aber kochen könnten sie doch?
Ja, das stimmt. Aber die nehmen sich die Zeit halt nicht mehr.
Sprecher:
Einkaufen, Rechnen, Kochen – Es sei halt einfacher, schnell mal was Billiges von Mc
Donalds zu holen. Wenn man hetzt vom einen Mini-Job zum andern.
O-Ton Janine:
Zwei Jobs, jeder von denen hat zwei Jobs. Damit die sich über Wasser halten
können.
Musik: „Unleashed du Lac“
Sprecher:
Gut bezahlte Arbeit ist rar, seit die Zechen und Fabriken aus Essens Norden
verschwunden sind.
Sprecher:
Die Fördertürme ziehen nur noch Kulturtouristen von Außerhalb an. Produziert wurde
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Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
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seit ihrer Stilllegung Arbeitslosigkeit. Was den Meisten bleibt, sind Mini-Jobs und
Mindestlohn. 8 Euro 84 für die Stunde Arbeit in Discountern, Fitnessclubs oder
Sonnenstudios. Future Sun bietet Urlaubsbräune für 3 Euro 99.
Musik aus
Atmo Restaurant Mintrops Stadthotel Margaretenhöhe
Sprecher:
In einem Gourmet-Restaurant im Essener Süden gibt's für diesen Preis noch nicht
einmal eine Karaffe Tafelwasser zum Mittagsmenue.
O-Ton Kellner
…Hier ist gehobener Service angesagt.
Sprecher:
An den meisten Tischen des Restaurants "M" lassen die Gäste soviel Geld, wie
Hartz4-Bezieherin Janine für eine ganze Woche hat.
O-Ton Kellner wieder hoch
… dann auch gerne fürn Tigerfish auf Trüffelrisotto dann auch gerne mal 27
Euro 50 pro Person.
Musik: „Hypnos“
Sprecher:
Das Publikum im Stadtteil Bredeney ist Gutes gewöhnt, meint Heike Derichs-Weiss.
Hier im Süden ist die Kunsthistorikern und Taxi-Unternehmerin aufgewachsen. Am
Baldeneysee, dem Herzen der Wohlstandsoase, lebt es sich entspannt.
O-Ton Heike Derichs:
Es gibt natürlich im Freizeitbereich sehr viele Sachen, weil Golf, Tennis,
Yachten haben... ist natürlich im Essener Süden das Ding
Sprecher:
Der schnöde Alltag nicht so sehr. Zumindest in der Innenstadt. Einen Supermarkt
gibt es erst gar nicht.
Atmo Glocke Feinkostladen
Sprecher:
Dafür herrscht Hochbetrieb im Feinkostladen. Bredeney kaufe mit Tradition,
schwärmt der Inhaber. Seine Waren sind hier gefragt.
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Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
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O-Ton Verkäufer
Ja, ich denke, das ist also Lachsfilet und das ist Kaviar. Und das ist Gänseleber
in frischer Ware und nicht in konservierter Ware.
Atmo Vogelgezwitzscher
Musik aus
Sprecher:
Wie konserviert wirkt dagegen das Brucker Holt-Viertel im Bredeneyer Westerwald.
O-Ton Heike Derichs-Weiss
Das ist ja irre. Das ist ja ganz irre!
Sprecher:
Immer wieder ist Taxiunternehmerin Derichs-Weiss begeistert, wenn sie Kunden in
dieses Nobelviertel fährt. Auf den Baumbestandenen Straßen begegnet ihr nur selten
ein anderes Auto. Im Schleichgang kann sie dann die Pracht der großen Villen an
sich vorbeiziehen lassen. Hinter hohen Hecken glänzen ihre Dächer mit Erkern und
aufgesetzten Pavillons. Es sind die teuersten Häuser von Essen. Viele von ihnen so
viel Wert wie ein Niedriglohnarbeiter in seinem ganzen Leben nicht verdient.
O-Ton Heike Derichs-Weiss
Was Rang und Namen hat, die wohnen schon ganz gerne hier. Weil es ist ein
schönes, weit gezogenes Villenviertel, wo man auch genau weiß, dass der
Nachbar nicht zu Krethi und Plethi gehört.
Sprecher:
Essens Einkommensmillionäre zieht es Ins Bermudadreieck zwischen den südlichen
Stadtteilen Kettwig, Werden und Bredeney. Und besonders viele hierher. Oberhalb
des Baldeneysees, neben Wald und Wiesen - ein paar Fahrminuten zur Düsseldorfer
Kö. Eifelhang, Zeißbogen - Schon die Straßennamen klingen nach Ruhe und
Entspannung. Die Stauders, Albrechts und auch den verstorbenen KruppPatriarchen Berthold Beitz - sie alle zog es hierher.
O-Ton Heike Derichs-Weiss
Wir müssen mal sehen, wo wir das überhaupt sehen können...
Sprecher:
Doch gerade das wollen diese Bewohner nicht. Wer hier lebt, will seine Ruhe.
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Dok 5 – Das Feature; 15.01.2017
Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
scharf ist die Armutsschere wirklich?
Während Kameras und Sprechanlagen alles sehen und hören, was sich draußen tut,
versperren Mauern und Stahltore den Blick hinein.
Atmo Hundegebell
Sprecher:
Ab und zu bellt ein Hund dahinter. Doch bleibt er genauso unsichtbar wie sein
Halter.
O-Ton Heike Derichs-Weiß/Albrecht:
Also, hier ist es ziemlich zu. Du siehst eine hohe Hecke, ein riesengroßes Tor.
Weil, die Albrechts, die wollen auf jeden Fall für sich sein.
Sprecher:
Wie alle andern hier.
O-Ton Schöne und Reiche
Die Schönen und Reichen wollen ja Privatsphäre. Deshalb haben die sich ja
auch mit Sicherheit in eine idyllische Straße zurückgezogen. Und du hast hier
zu manchen Villen ein großes schmiedeeisernes Tor und einen langen
Anfahrtsweg.
Atmo Vogelgezwitscher
Sprecher:
Weit weg von hier der Norden mit seiner Armut. Weit weg der Familientisch der
Caritas.
Musik: „Unleashed du Lac“
Atmo Familientisch
O-Ton Silke Michel
Es ist hier so, dass wir einen Raum schaffen, der Begegnung möglich macht
unter den Familien, die sich ja häufig selber in Problemlagen befinden und da
einen Austausch miteinander finden können.
Musik aus
Sprecher:
Silke Michel vom Sozialdienst Katholischer Frauen in Essen sieht mit Sorge: Die
Armut wird immer weiblicher. Nur wenige Männer löffeln ihre Suppe an den
Vierertischen zwischen all den Frauen und Kindern. Kein Zufall: Die Hälfte aller in
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Dok 5 – Das Feature; 15.01.2017
Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
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Armut lebender Kinder wächst in Deutschland bei Alleinerziehenden auf. Meist bei
den Müttern. Michel und ihr Team hören ihnen zu und reagieren.
O-Ton Silke Michel
Aktuell beispielsweise bieten wir zum Thema Schulden etwas an. Auffällig
geworden ist, das Ganze dadurch, dass leider einige Frauen hier mit
demselben Problem zu kämpfen hatten, dass sie in die JVA mussten, weil da
eben ganz viele Schwierigkeiten zusammengekommen sind.
Musik: „Unleashed du Lac“
Sprecher:
40 Prozent der Deutschen haben kein Vermögen, um schlechte Zeiten auszubügeln.
Sie sind zu lange arbeitslos. Oder arbeiten für zu geringe Löhne. Im Vergleich zu den
Lebenshaltungskosten sind die heute weit weniger wert als noch vor 15 Jahren.
Nach durchgesickerten Zahlen aus dem im Januar 2017 noch nicht veröffentlichten
Armuts- und Reichtums-Bericht der Bundesregierung waren im Vorjahr über zwei
Millionen Haushalte überschuldet. Größtenteils unverschuldet: Es kommt zu wenig
Geld rein, um ein Mindestmaß an Leben zu finanzieren. Schon eine kaputte
Waschmaschine oder eine Krankheit kann in so einem Haushalt alles zum Kippen
bringen. Auch das Selbstbewusstsein, weiß Silke Michel:
Musik aus
O-Ton Silke Michel
Es ist auch das Management mit dem Geld. Es sind persönliche Fähigkeiten
und Fertigkeiten, die es manchmal zu stärken gilt. Man befindet sich dann
schnell in einer Spirale.
Musik:
Schneider Blues Rockband Dude
Song „Jetset“
Sprecher:
Jährlich singt Ulrich Schneider den Blues - nicht nur in seiner Band „Dude“. Der Chef
des Paritätischen Gesamtverbands warnt: Die Kluft zwischen Arm und Reich wird
größer. Ungleichheit bedroht den Sozialfrieden in Deutschland. Dabei blüht die
Wirtschaft - ungeachtet weltweiter Unsicherheiten. Um 1,8 Prozent wuchs sie 2016.
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Und auch für die absehbare Zukunft sagen die Experten unterschiedlichster Institute
Wachstum voraus. Doch Ökonomen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung
in Berlin mahnen: Das Wirtschaftswachstum könnte bedeutend größer sein. Die
zunehmende Ungleichheit schmälert es um mehrere Milliarden Euro. Eine Studie im
Auftrag der Friedrich Ebert Stiftung ergab: Weil die Schere bei den Einkommen seit
einem Vierteljahrhundert immer weiter aufgegangen ist, lag das Bruttoinlandsprodukt
im Jahr 2015 um knapp 50 Milliarden Euro niedriger als es bei gleichbleibender
Verteilung der Fall gewesen wäre. Der Grund: Die Einkommensschere bremst den
privaten Konsum. Außerdem investieren die Bezieher unterer und mittlerer
Einkommen weniger in Aus- und Weiterbildung. Das, so die Studie, bremst auf lange
Sicht Produktivität und Bruttoinlandsprodukt aus. Der Arbeitsmarkt sei einfach zu
zerrüttet, kritisiert der Chef des Paritätischen Gesamtverbands, Schneider:
Musik aus
O-Ton Schneider
Wir haben insbesondere durch die Agenda-Reformen einen starken Anstieg im
Niedriglohnsektor-Bereich geschaffen. Wir haben dafür gesorgt, dass man
leichter befristete Arbeitsverträge vergeben kann. Wir haben dafür gesorgt,
dass die Leiharbeit in Deutschland geradezu explosionsartig zugenommen hat.
Und damit ist das, was wir heute in Deutschland an Spaltung und Armut
erleben natürlich auch ein Produkt politischer Entscheidungen. Das Positive
daran ist: Weil es so ist, haben wir die Möglichkeit, es auch wieder zu
korrigieren.
Sprecher:
Erste Korrektur, so das Parteimitglied der Linken: Eine Reform von Hartz4. Und zwar
so, dass jeder eine Chance hat, mit seinem Geld über den Monat zu kommen.
O-Ton Schneider:
Nach unseren Berechnungen wären das im Moment 520 Euro plus
Wohnkosten.
Sprecher:
Momentan bekämen gerade mal ein Drittel aller Arbeitslosen auch tatsächlich noch
Arbeitslosengeld 1. Der Rest bezieht Hartz4 oder muss damit aufstocken, weil es
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hinten und vorne nicht reicht. Und auch dieses Geld gibt es nur mit bestimmten
Auflagen.
O-Ton Schneider
Man muss darüber hinaus die Sanktionen abschaffen, diese sind glaube ich
nicht mehr in irgendeiner Form legitimiert bei der heutigen
Arbeitsmarktsituation.
Sprecher:
Fast ein Drittel der offenen Stellen, die die Bundesagentur für Arbeit vermittelt, sind
Niedriglohnjobs im Leiharbeitsbereich. Auch die jahrelange Kritik von Armutsexperten
hat daran bis heute nichts geändert. In solchen Billigjobs kann keiner von der Stelle
kommen, ärgert sich Schneider.
O-Ton Schneider
Wir brauchen viel bessere öffentlich geförderte Beschäftigung, viel mehr
Anstrengungen für Bildungsmaßnahmen – gerade für Alleinerziehende in
Hartz4 – um Menschen sanktionsfreie Hilfen anzubieten.
Sprecher:
Der Sozialstaat habe sich arm gespart, um zu überleben. Auf Kosten eines Großteils
der Bevölkerung. Allen voran Arbeitslose, Rentner und ganz oben: Alleinerziehende:
O-Ton Schneider:
… und der allergrößte Teil von ihnen ist in Hartz4. Man muss sich das mal
vorstellen: Von den 1,9 Mio Kindern in Hartz4 sind eine Mio Kinder von
Alleinerziehenden. Und das ist ne Gruppe, bei der in den letzten Jahren
nochmals richtig reingekürzt wurde: Es wurde das Kindergeld voll
angerechnet, es wurde das Erziehungsgeld gestrichen für Alleinerziehenden
Hartz4, indem man auch hier den Sockel voll anrechnet. Das heißt: Ihnen wurde
das Leben eigentlich immer schwerer gemacht.
Sprecher:
Und noch eine Statistik vom Jahreswechsel 2016/2017. Eine EU-Untersuchung
spricht davon, dass in Deutschland 1, 7 Millionen Kinder unter 16 Jahren von Armut
betroffen waren. Noch im Sommer war gar von knapp 2,3 Millionen armer Kinder die
Rede - nach einer anderen Methodik damals. Viele Studien gibt es, oft auch schnelle
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Interpretationen. Dabei ist vieles nicht oder nur schwer vergleichbar, international
muss vielen Besonderheiten Rechnung getragen werden.
Musik: „Unleashed du Lac“
Sprecher:
Jenseits aller Methoden und Statistiken bleiben die Geschichten einzigartig und doch
oft gleich. Wie die von Janine. Das Viertel, in dem sie lebt, ist voll von
Alleinerziehenden. Der Norden ist der Teil von Essen mit dem größten
Kinderreichtum und gleichzeitig der mit der größten Kinderarmut der Region.
Reichtum und Armut, diese Begriffe haben mit vielen Statistiken eines gemein: sie
beschreiben die Wirklichkeit nur ungefähr. Und je nach Gebrauch, können sie mehr
verwirren als erklären.
Musik aus
Atmo Küche
Sprecher:
Was ist schon Armut, wenn man Kinder hat. Kinder sind Reichtum, sagt die Mutter,
die gerade in der Küche des Caritas-Familientischs beim Spülen hilft. Doch sie weiß
auch: Kinder können arm machen. Denn in unserer Gesellschaft gibt es Zwänge.
Zum Beispiel die, die Armut nicht zu zeigen.
O-Ton Janine
Man hat einen gewissen Druck dann auch als Eltern. Weil man will ja auch
nicht, dass die Kinder im Kindergarten untergehen, man will auch nicht, dass
die da Außenseiter werden. Und aus dem Grund gibt's dann viele, die wie ich
auch den Zwang verspüren, dann den Kindern Sachen zu kaufen, die in der
Mode sind aber wir müssen dann auf andere Sachen halt verzichten.
Sprecher:
Das Schlimmste, findet sie: Wenn Gleichaltrige ihren Kindern ansehen, dass sie von
Hartz4 leben. Sichtbare Armut sei ein Nachteil. Das geht vielen Kindern in ihrer
Nachbarschaft so, erzählt Janine:
O-Ton Janine:
Die werden gemobbt. Also die werden beleidigt. Das fängt ja klein an. Dann
wollen sie nicht mehr in die Schule gehen, weil die Eltern können denen das
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einfach nicht leisten, wie Schuhe oder Pullover oder wat auch immer jetzt
momentan halt in ist. Oder ob dat dat Handy is. Und aus dem Grund werden sie
dann gemobt, wollen dann nicht in die Schule, haben dann die Fehlstunden
und irgendwann auch n schlechteren Abschluss. Was jetzt gar nichts damit zu
tun haben muss, dass das Kind nicht gerade schlau ist.
Musik: „Unleashed du Lac“
Sprecher:
Janine spricht genau das aus, was Ökonomen und Soziologen im Fachjargon nicht
besser ausdrücken: Armut produziert Chancen-Ungleichheit. Und Janine stimmt
ihnen zu, wenn sie sagen: Armut macht krank.
O-Ton Janine
Die Markenschuhe von den Kindern. Weil ich selber immer drauf achte, dass
die Kinder ein gesundes Schuhwerk haben und ich der Meinung bin: Egal, ob
man jetzt Hartz4-Empfänger ist oder sonstiges - Viele gibt es ja dann auch, die
dann Rückenschmerzen haben. Oder Kinder, die dann halt krumm gehen. Und
das kommt alles von Armut.
Musik aus
Sprecher:
Wieviel Paar Schuhe ihre zwei Jungs haben? Öznur könnte es aus dem Kopf gar
nicht sagen.
O-Ton
Nee, weiß ich nicht. So viele haben wir nicht immer gleichzeitig, weil die
werden immer so schnell abgelaufen. Die spielen viel Fußball. … ich sag mal
mit Fußballschuhen 5, 6 Paar und dann, wenn die kaputt gehen, bekommt man
halt neue.
Musik: „Nimmerland Waltz 2“
Sprecher:
Über Geld muss die Mittvierzigerin dabei nicht nachdenken, davon spricht ihr
elegantes Wohnzimmer, in das Öznur zum Espresso einlädt. Stilvolle Möbel
italienischer Designer, freier Blick in den gepflegten Garten durchs große Fenster.
Kein Autolärm dringt von der Straße ins Haus. Das Wohnviertel in Bredeney zählt zu
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den besten in Essen. Kinder radeln auf den verkehrsberuhigten Straßen zwischen
gepflegten Vorgärten der Ein- bis Zweifamilien- Häuser. Direkt vor der Tür ein
Wäldchen - ein Katzensprung zur Villa Hügel des Industriemagnaten Krupp. Und
gleich daneben der Baldeneysee. Öznur und ihre Familie fühlen sich wohl. Der ältere
Sohn steht kurz vor dem Abitur und macht gerade seinen Führerschein. Der jüngere
feiert bald seinen zwölften Geburtstag. Fußballschuhe und ein iPhone - Wünsche, die
für Öznurs Familie völlig im Rahmen sind. Im Alltag muss nicht viel gerechnet
werden. Urlaub gehört mehrmals im Jahr dazu:
Musik aus
O-Ton
Wenn's geht, alle Ferien. Also bis auf die Weihnachtsferien 2-3mal im Jahr.
Sprecher:
Manchmal denkt Öznur schon darüber nach, dass dieser Luxus für ihre Söhne völlig
normal ist.
O-Ton
Weil sie das von Anfang an kennen.
O-Ton
…die sagen jetzt aber nicht, dass sie sich finanziell reich fühlen, das nicht. Das
kommt denen normal vor.
Sprecher:
Öznurs Mann ist selbstständig. Die gelernte Chemielaborantin und Chemotechnikerin
hat vor ein paar Jahren auch wieder angefangen zu arbeiten. Nicht, weil sie das Geld
brauchten. Sondern weil sie Lust dazu hatte. Teilzeit - das war für sie ganz klar.
O-Ton
Weil ich halt mehr Zeit für die Kinder haben möchte. Nachmittags mit
Hausaufgaben und Nachhilfe, was auch immer ansteht.
Atmo Öznur über Freisprechanlage im Auto/Gespräch mit ihrem Sohn
Sprecher:
Öznur ist viel im Auto unterwegs, Fahrten zum Fußball-Training. Fahrten zur
Nachhilfe …
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Atmo: Mutter und Sohn unterhalten sich über den bevorstehenden
Elternabend.
Musik: „Nimmerland Waltz 2“
Sprecher:
Vielleicht werden Öznurs Söhne mal studieren, gern auch im Ausland. Möglich ist
alles.
Musik: „Time Log Part 1“
Sprecher:
Auf der anderen Seite der A40 haben die wenigsten Eltern Geld für
Nachhilfestunden.
Atmo Straße
Sprecher:
Altenessen. Der Stadtteil hat es in sich. Jedes dritte Kind wächst mit staatlicher
Unterstützung auf. Viele mit nur einem Elternteil. Der günstige Wohnraum zieht alle
an, die wenig haben. Hartz4-Empfänger, Migranten aus dem Libanon oder aus
Osteuropa. Sie leben in graubraunen Arbeiterblocks aus den 1960ern. Zerbrochenes
Glas und dicker Staub – Viele dunkle Fensterfronten zeugen davon, dass hier viel frei
ist. Und weg wollen die meisten.
Sprecher:
Bierbuden, Dönerläden und der Dreiklang der großen Lebensmittel-Discounter
locken Kunden mit schmalem Budget. Sogar zur letzten Ruhe geht es in Altenessen
günstig. Ein Bestatter wirbt mit „Sale“. Ausverkauf auch auf dem allerletzten Weg.
Sprecher:
In einem Hinterhof sticht ein weißer Neubau aus der trüben Hausmasse heraus:
"Lernhaus" steht in bunten Lettern drauf. Ein kleines Sprungbrett für den Weg aus
der Armut. Wer in der Einrichtung des Essener Kinderschutzbunds einen Platz
bekommt, lernt, dass es sinnvoll ist, zu lernen.
Musik aus
Atmo Lernhaus Essen: Geschirrklappern, Tische verrücken
Sprecher:
Franziska Engels weiß: Sie muss eingreifen, bevor der Lärmpegel ein gewisses Maß
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überschreitet. Sonst wird es chaotisch. Die Pädagogin und ihr Team müssen 20
Kinder in Schach halten, die nach der Grundschule hierher kommen. Gerade haben
sie ihr Mittagessen beendet. Jetzt machen sie Hausaufgaben. Die Tische werden zu
Viererblöcken zusammengeschoben. Der Speiseraum verwandelt sich binnen
Minuten in mehrere abgeteilte Klassenzimmer. Auch Computer stehen bereit. Tafeln
oder Trennwände mit angepinnten Wort- oder Rechen-Kärtchen schaffen Raum für
Lerngruppen von maximal acht Schülern. Jede wird von einem Helfer betreut.
Atmo Lernhaus: Hausaufgaben, Kinderstimmen
Sprecher:
Die Rechnung im Lernhaus geht so: Lernen sozial abgehängte Kinder wieder, mit
Spaß zu lernen, kann es ihnen besser gelingen, den Teufelskreis der Armut zu
durchbrechen, erklärt der Leiter des Essener Kinderschutzbunds, Martin Hollinger.
Das kostenlose Konzept reicht vom freien warmen Essen über Hausaufgabenhilfe bis
zur Freizeitbetreuung. Die Mitarbeiter sind konstante Partner der Kinder. Ein
wichtiger Baustein im Kampf gegen die Ghettoisierung dieser Viertel, weiß Hollinger.
Diejenigen, die es sich leisten können, ziehen weg:
O-Ton Hollinger
Ziehen in den Essener Süden und letztendlich bleiben dann die Ärmsten der
Armen über. Wir haben keine Durchmischung mehr.
Sprecher:
Jedes vierte Kind in Altenessen wächst mit nur einem Elternteil auf. Oft müssen
ältere Geschwister Aufgaben der Eltern übernehmen.
O-Ton Hollinger
In ganz harten Fällen kommt es vor, dass sie die Eltern sogar wecken - für die
kleinen Geschwister das Frühstück machen. Zur Schule bringen, abholen, also
die komplette Erziehungsarbeit…
Sprecher:
Viele Eltern sind so beschäftigt mit ihren eigenen Problemen - Sie sehen keine
Möglichkeit ihre Kinder zu fördern. Haupterzieher ist oft der Fernseher oder das
Internet. Die Mehrheit der Kinder aus den ärmsten Haushalten sei einfach sich selbst
überlassen, klagt Pädagogin Engels:
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Dok 5 – Das Feature; 15.01.2017
Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
scharf ist die Armutsschere wirklich?
Atmo Lernhaus/Hausaufgabenbetreuung
O-Ton Engels
Also das fängt schon damit an, dass es ihnen an Arbeitsmaterialien fehlt - also
bei den grundlegenden Sachen. An Schreibmaterial, an Heften für die Schule.
Aber auch natürlich daran, dass sie nicht die neusten Sportschuhe haben, die
alle andern haben in der Klasse. Oder dass die in den Ferien nicht die großen
Ausflüge machen können, die andere Kinder jetzt zum Beispiel mit ihren Eltern
machen.
Sprecher:
Die einen reagieren mit Aggression. Andere spornt es an, beobachtet Engels.
O-Ton Engels
Und da haben wir jetzt auch schon einige, die Abitur machen und die Abitur
gemacht haben. Und die studieren möchten und die haben auch ganz konkrete
Ziele.
O-Ton Engels
Die sagen: ich möchte hier auch aus Altenessen raus und ich möchte studieren
und Arzt werden - oder solche Berufe ergreifen.
Sprecher:
Franziska Engels kennt das. Sie selbst ist unter schwierigen Bedingungen gestartet
Daher weiß sie auch: Würde sie die Kinder fragen, fühlst du dich arm, würde erstmal
keiner sagen ja. Den Blick auf den Süden kennen sie nicht. Armut schmort im Norden
im eigenen Saft.
Atmo A 40
Musik: “Time Log Part 1“
Sprecher:
Der Sozialäquator trennt auch die Wahrnehmung.
O-Ton Engels
Weil, die sind einfach härter im Nehmen. Das, was wir von außen als arm
empfinden, empfinden die selber gar nicht so, weil die nur davon umgeben
sind. Die wohnen in Altenessen, dem Nachbarn geht's genauso oder den
Nachbarskindern. Allen, die hierhin kommen, die in die Schule gehen. Meistens
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Dok 5 – Das Feature; 15.01.2017
Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
scharf ist die Armutsschere wirklich?
haben die alle das Gleiche mitbekommen von Zuhause.
Sprecher:
Pädagogin Engels sieht jetzt schon Probleme für viele, die irgendwann aus dem
Viertel rausmüssen.
O-Ton Engels
Wenn die auf die weiterführenden Schulen kommen. Da kommen so viele
Kinder aus verschiedenen Stadtbezirken zusammen. Das ist einfach ein
himmelweiter Unterschied. Ob man mit Kindern arbeitet, die hier aus Kettwig
oder Werden oder Burgaltendorf kommen oder ob man hier in Altenessen,
Karnap die Kinder betreut.
Atmo A 40
Sprecher:
Je weiter nördlich, desto niedriger das Selbstwertgefühl. Franziska Engels kennt das
aus ihrer eigenen Studienzeit.
O-Ton Engels
Die meisten, die Lehramt studieren, haben auch Lehrereltern und ich nicht.
Und oft zweifelt man dann doch an sich selbst. Mehr als vielleicht andere. Also
im Nachhinein hat mir das mehr geholfen, das zu werden, was ich heute bin,
als daran zu verzweifeln. Und das möchte ich den Kindern auch mitgeben: Du
hast nicht die besten Bedingungen. Aber mach das Beste draus.
Musik aus
Sprecher:
Damit es den Kindern mal besser geht als ihren Eltern. Dieser Wunsch ist längst
nicht mehr realistisch, kritisiert der Chef des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung in Berlin, Marcel Fratzscher. Den wenigsten Deutschen gelinge
es heute, sich einen höheren Lebensstandard zu erarbeiten als, den, in den sie
hineingeboren wurden. Konnten in den 1990ern noch mehr als die Hälfte der
einkommensarmen Menschen ihr Gehalt so stark verbessern, dass sie der Armut
entflohen, schafft das heute nur noch weniger als die Hälfte, schreibt Fratzscher in
seinem Buch "Verteilungskampf".
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Dok 5 – Das Feature; 15.01.2017
Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
scharf ist die Armutsschere wirklich?
O-Ton Fratzscher:
Die Ungleichheit in Deutschland steigt - nämlich bei Einkommen, bei Vermögen
aber vor allem die Chancenungleichheit - nämlich für Kinder aus
sozialschwachen Familien wird es schwieriger einen guten Bildungsabschluss
zu bekommen, ne gute Ausbildung, n guten Job und letztlich auch ein gutes
Einkommen.
Sprecher:
Die reichsten zehn Prozent besitzen zwei Drittel des Vermögens, die ärmere Hälfte
hat dagegen praktisch nichts oder ist hochverschuldet. Die Schere zwischen hohen
und niedrigen Einkommen klafft nach Analyse von Fratzschers Institut immer weiter
auseinander. Als eine Folge schrumpft die Mittelschicht. Konnten zu Beginn
der1980er Jahre noch 65 Prozent der Einkommen zur Mitte gezählt werden, sind es
heute fast zehn Prozent weniger. Auf der einen Seite wachsen die Gehälter der
Besserverdiener. Auf der anderen boomt die Zahl der Arbeitsplätze mit Mindestlohn
oder Teilzeitstellen. Laut Bundesarbeitsministerium verdiente noch im Herbst 2016
jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland weniger als zehn Euro die Stunde. Die
Löhne dieser Niedrigverdiener werden seit 16 Jahren immer weniger wert, klagt
Fratzscher. Das Schlimmste aber sei: Es gibt keine Chancengleichheit. In kaum
einem europäischen Land beeinflusse die soziale Herkunft die Aufstiegschancen so
sehr wie in Deutschland, meint der DIW-Chef:
O-Ton Fratzscher:
All das, was wir heute wissen - aus vielen Studien ist, dass die ersten sechs
Lebensjahre eines Menschen entscheidend sind, was aus diesem Menschen
wird. Was er für ne Bildung, Ausbildung bekommt. Was er für' n Job hat, die
Gesundheit - also das zieht sich durch das ganze Leben durch.
Musik: „Nimmerland Waltz 2“
Sprecher:
Hans hat einfach Glück gehabt. Er ist auf der richtigen Seite der A40 geboren.
O-Ton Hans gibt Kommando:
Alexa spielt Beatles
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Dok 5 – Das Feature; 15.01.2017
Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
scharf ist die Armutsschere wirklich?
Musik: Octopus’s Garden“
Sprecher:
Ein sprachgesteuerter Roboter bespaßt die dreiköpfige Familie in ihrem mit
Gemälden drapierten und feinsten italienischen Beleuchtungskörpern illuminierten
Hightech-Bungalow. Von der Straße ist er nicht einsehbar. Hinter der hohen Hecke
liegt ein kleines Paradies. Ein Garten mit Teich und vielen Skulpturen. Selbst die
Hecken sind wie Designersessel geformt. In der schmalen Zufahrt parken ein
Porsche, ein BMW und ein Motorrad. Ein Stellplatz des Dreifach-Carports ist gerade
leer.
O-Ton Alexa
Mach lauter!
Sprecher:
Hans hat es sich verdient, sagt er. Der Mediziner und seine Frau, die PsychologieProfessorin ist. Aus eigener Kraft haben sie sich Wohlstand geschaffen. Hans‘ Vater
war Schreiner. Hat sich hochgearbeitet. Hat Innenarchitektur in der Essener
Folkwang-Schule dazu gelernt. Neugierde und Bildungshunger – das habe Hans von
seinem Vater geerbt.
O-Ton Hans Homer
Der hat mit mir Latein gesprochen, obwohl er nie Abitur gemacht hat. Das war
für mich immer sehr faszinierend. Und Homer konnte er auch zitieren.
Sprecher:
Weiterkommen. Mit den eigenen Händen. Dem eigenen Kopf. Das habe ihm der
Vater beigebracht, sagt Hans. Als er selber Medizin studierte, wollte er das daher
ohne seine Eltern schaffen. Sein Studium finanzierte er mit einem
leistungsorientierten Stipendium.
Musik aus
O-Ton Hans
Meine Eltern haben das Geld, was sie für die Ausbildung hätten zahlen
müssen, in eine Art Konto eingezahlt. In eine Art Fonds. Das konnte ich dann
nutzen, um am Ende des Studiums das Geld für bestimmte Investitionen zu
nutzen. Erst in Aktien. Und dann in Immobilien.
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Dok 5 – Das Feature; 15.01.2017
Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
scharf ist die Armutsschere wirklich?
Sprecher:
Sein erstes Haus hat Hans von ihnen geerbt.
O-Ton
Und aus diesem einen Haus ist dann, weil ich Erziehungsurlaub gemacht hab,
mit Zeit im Erziehungsurlaub mit der Zeit noch ein etwas größeres geworden.
Sprecher:
Und noch eins und noch eins. Zwölf Häuser besitzt der Arzt inzwischen. Teils stehen
sie in der Toscana. In seinem Job gehört er zu den Spitzenverdienern. Doch seine
Sprechstunde macht Hans nur noch, weil er Lust darauf hat. Das Honorar ist ein
Klacks im Vergleich zum siebenstelligen Vermögen, das Hans am Finanz- und
Immobilienmarkt vermehrt. Zusammen mit dem Professoren-Gehalt seiner Frau.
Aber reich, lacht Hans…
O-Ton Hans
…Reich sind immer die anderen.
O-Ton Hans
Ich lebe hier im Verhältnis zum Essener Norden wie in einem andern Kosmos.
Es gibt hier solche prekären Verhältnisse nicht. Das hängt aber auch damit
zusammen, dass auch hier die Menschen sich daran orientieren, was der
nächste ist. Was der Nachbar macht. Und wie die Gemeinschaft hier in dieser
Wohngegend aufgestellt ist.
Musik: „Impulsion“
Sprecher:
Hans‘ Sohn Benedikt studiert Wirtschaft. Der Vater sieht es als seine Aufgabe, ihm
beizubringen, finanziell auf eigenen Füßen zu stehen. Eines Tages wird Benedikt
dann trotzdem das Vermögen seiner Eltern erben. Mit mehrstelligen
Millionenbeträgen im Rücken und guter Bildung wird er ins Berufsleben starten. Der
heute 21-jährige wird einer der Glücklichen sein, in der Dekade der
Erbengesellschaft. Sie wird Deutschlands Vermögensverhältnisse noch einmal mehr
verändern, warnen Experten. Die Vermögensabteilungen der deutschen Banken
rechnen damit, dass in den kommenden Jahren bis zu viertausend Milliarden Euro
weitergereicht werden an die Erbengeneration. Denn, so das Deutsche Institut für
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Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
scharf ist die Armutsschere wirklich?
Wirtschaftsforschung: Noch nie in der Geschichte des Landes waren die
Privatvermögen so groß wie heute. Noch nie wurde durch die lange Zeit ohne Krieg
so viel an die nächste Generation weitergegeben. Das wiederum gefährdet den
sozialen Frieden. Denn während wenige immer mehr erben, schauen Kinder wie die
der Alleinerziehenden Hartz4-Empfängerin Janine im Norden der A40 in die Röhre.
Auch sie werden erben: die Armut. Laut Statistik wird sie größer, diese Generation
der Armen in Deutschland. Doch das Paradoxe: Laut Statistik gehört auch Hans‘
Sohn und der künftige Millionenerbe Benedikt dazu. Denn wenn der Student in
wenigen Wochen in eine Wohngemeinschaft zieht, wird er für eine Weile in den
Armutsbericht der Bundesregierung eingehen: als armutsgefährdet. Mit einem
offiziellen Budget von 900 Euro im Monat.
Musik aus
O-Ton Hans kommandiert Sprachcomputer Alexa
Alexa: Erzähl einen Witz….
Atmo A 40
Sprecher:
Das, was die Statistik der Bundesregierung misst, hat nichts mit Menschen zu tun,
die hungern und sich ihr Geld mit Flaschensammeln verdienen, meint Judith
Niehues, Verteilungsexpertin am Arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft
in Köln. Da solche – sogenannte absolute - Armut im Wohlfahrtsstaat praktisch
überwunden ist, wird der Armutsbegriff bei uns relativiert, erklärt sie:
O-Ton
Relative Armut, also das sind die, die von Armut bedroht sind. Das wird immer
bemessen an dem mittleren Einkommen der Gesellschaft. Also an dem
Einkommen, was die Gesellschaft in zwei Hälften teilt.
Sprecher:
Wer lediglich 60 Prozent dieses Einkommens der Mitte hat oder gar weniger, der gilt
demnach als armutsgefährdet. Ein Single ist das mit 979 Euro im Monat. Bei zwei
Erwachsenen mit zwei Kindern unter 14 Jahren liegt der Schwellenwert bei rund
2000 Euro. In Deutschland betrifft das rund zwölfeinhalb Millionen Menschen. Die
Crux an diesem Maß: Die Statistik zählt jeden, der einen Haushalt hat. Den
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Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
scharf ist die Armutsschere wirklich?
Studenten in Duisburg, der von 8-900 Euro lebt und trotzdem viel Reichtum im
Rücken hat. Genauso wie die Rentnerin, die sich ihre Rente von knapp 600 Euro mit
83 Jahren noch immer mit drei Putzstellen aufbessern muss. Weil sie ihr Leben lang
niedrige Sozialbeiträge eingezahlt hat. Solch eine Statistik verzerrt das Bild, warnt
der Generalsekretär des Caritas-Verbands, Georg Cremer:
O-Ton Cremer:
Ich finde es richtig, ein Maß zu haben, was die Menschen mit geringem
Einkommen misst an der Mitte der Gesellschaft. Und das ist in einem reichen
Land eben was anderes als in Afrika. Und dann sind 15% so definiert im
Armutsrisiko. Nur, was das Problem ist: Der relative Begriff und die absolute
Armut werden munter durcheinander geworfen. Jeder Zeitungsartikel, der über
diese Zahl berichtet, hat ein Bild von Wohnungslosen oder von
Flaschensammlern.
Sprecher:
Armutspolemik bringt uns nicht weiter, sagt Cremer, der sich hauptberuflich für die
Armen einsetzt. Im Gegenteil: Panische Überzeichnungen befördern die Angst in der
Mittelschicht. Sie sorgen für Scheuklappen und Abschottung. Bis hin zur
Politikverdrossenheit. Ein Vorwurf, den der Chef des Paritätischen Gesamtverbands,
Schneider, nicht gelten lässt:
O-Ton Schneider
Dafür - und darauf weisen wir immer hin - sind in den Statistiken z. Bsp. keine
Obdachlosen enthalten. Keine Sozialhilfebezieher in Pflege- oder
Behindertenheimen. Und nicht mal Flüchtlinge in Aufnahmeeinrichtungen sind
in dieser Statistik enthalten. Das heißt: Wenn man all die raus rechnen würde,
die vielleicht zu Unrecht in diese Statistik fallen, würde aber alle reinnehmen,
die dringend rein gehörten, dann wäre die Zahl der Armen wahrscheinlich noch
höher.
Sprecher:
Und der Streit von Ökonomen und Sozialforschern unterschiedlichster
politischer Farbe noch größer: Denn selbst, wenn dieses Land nur aus BugattiFahrern und Milliardären bestehen würde: Nach der EU-weit gängigen 60-Prozent© Westdeutscher Rundfunk Köln 2017
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Dok 5 – Das Feature; 15.01.2017
Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
scharf ist die Armutsschere wirklich?
Rechnung fiele immer ein Teil unter die Grenze des Armutsrisikos. Kommen reiche
Leute dazu, so schaffen sie damit in der Statistik automatisch mehr Armut. Die Quote
sinkt dagegen, wenn alle ärmer werden. Andere Statistiken rechnen wieder anders.
Danach ist der Anteil der Bevölkerung, der unter Bedingungen „erheblicher
materieller Deprivation“ lebt, so kann man Armut auch beschreiben, zuletzt sogar
geringer geworden. Die Armut in Deutschland geht danach zurück.
Sozialwissenschaftliche Spitzfindigkeiten und Methodenstreitereien verzerren die
Wirklichkeit – so wie auch die Wahrnehmung von Armut sehr unterschiedlich sein
kann.
Atmo Diskussion mit Judith Niehues
Sprecher:
Verteilungsexpertin Niehues erlebt das regelmäßig, wenn sie
Sprecher:
– landauf, landab - mit Menschen über alle Aspekte von Arm und Reich diskutiert:
Sprecher:
Zu ihren Lieblingsstellen gehört dann die, an der die promovierte Volkswirtin ihrem
Publikum erklärt, dass viele darunter zu den Reichen gehören:
O-Ton Judith Niehues
Da gehört man zu als Single, wenn man 3200 Euro netto zur Verfügung hat.
Das klingt natürlich für die meisten schwer erreichbar, aber wenn man jetzt
zum Beispiel in einem Paarhaushalt ohne Kinder lebt, dann muss man nicht
das Doppelte zur Verfügung haben, um diesen Lebensstandard zu erreichen also man braucht ja keine zwei Wohnzimmer, nicht unbedingt zwei Bäder usw.
- und als Paar ohne Kinder gehört man mit 4800 Euro netto zu den reichsten
zehn Prozent.
Sprecher:
Jedes mal blickt Niehues dann auf schüttelnde Köpfe.
O-Ton Judith Niehues
Wenn ich erkläre, ab wann man eben zu den obersten 10 Prozent gehört oder
auch zur oberen Mittelschicht - also einfach zum besserverdienenden Teil der
Gesellschaft - dann hab ich ganz häufig die Erfahrung, dass die Leute das
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Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
scharf ist die Armutsschere wirklich?
einfach gar nicht glauben können.
Sprecher:
Die Verteilungsexpertin erklärt sich das so:
O-Ton Judith Niehues
Weil sie sich eher mit Leuten vergleichen, mit denen sie auch etwas zu tun
haben - also mit ihrem Umfeld. Die meisten bewegen sich immer in sehr
homogenen Umfeldern - also Akademiker haben viel mit anderen Akademikern
zu tun. Und deswegen ist ihre Referenz - also woran sie sich bemessen, nicht
der Durchschnitt der Gesamtgesellschaft, sondern der Durchschnitt ihres
Umfelds. Und der liegt bei Akademikern natürlich deutlich höher und somit
nehmen sie quasi das Durchschnittseinkommen ihres Umfelds als
Durchschnitt der Gesellschaft an. Und dadurch unterschätzen sie einfach ihre
Position in der Gesellschaft.
Sprecher:
Schmoren im eigenen Saft. Auch andersrum sei das der Fall: Wer arm ist, sieht sich
nicht immer als arm.
O-Ton Judith Niehues
Sie wohnen ja auch oft in Gebieten, wo eher ebenfalls ärmere Menschen
wohnen. Und deswegen haben sie wieder eine andere Referenz und fühlen sich
gar nicht so arm. Und man sieht auch, wenn man jetzt die armen Menschen
befragt, wo sie glauben, wo Reichtum beginnt - dann ist das natürlich viel
niedriger als wenn man reiche Menschen fragt.
Sprecher:
Doch über ihr eigenes Geld sprechen die Deutschen nicht gern – Über
Ungerechtigkeit hingegen schon. In fast allen Befragungen beklagen viele Deutsche
durch die Bank: In unserem Land geht es einfach ungerecht zu. In einer
repräsentativen Umfrage der Friedrich Ebert Stiftung gaben sogar 82 Prozent der
Befragten an, dass der Wohlstand in Deutschland ihrer Meinung nach zu ungleich
verteilt ist.
O-Ton Judith Niehues
Wenn es um Verteilung geht. Da kann natürlich jeder was mit anfangen. Jeder
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Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
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hat da ne Meinung zu und das gibt dann schon Situationen, wo Leute ein
deutlich sechsstelliges Gehalt haben und dann sagen sie: Ach die Reichen, die
müssen auch wirklich mal stärker besteuert werden. Sonst kommt es hier bald
zu sozialen Unruhen. Dann denk ich hmmm….
Atmo A 40
Musik: PA Sports: „100 Bars Legacy“
Sprecher:
Zurück zur A 40. Dorthin, wo Nord und Süd zusammenfließen: Beim Essener Rapper
PA Sports. Er kennt beide Seiten des Sozialäquators. Erlebte das behütete Zuhause
im Süden, die Straße im Norden, den Knast, den Erfolg und den Reichtum. Nur eins
kennt er nicht:
Musik aus
O-Ton PA Sports
Ich bin gar kein Typ für Mitleid. Ich bin überhaupt keiner, der sagt: Ja, das sind
jetzt die schlechten Gegenden und die ham keinen guten Job… Nein, nein,
nein. Jeder Mensch ist seines eigenen Glückes Schmied. Es gibt Menschen,
die wollen nicht. Die besitzen nicht den Horizont, um in ihrem Leben etwas zu
bewegen.
Sprecher:
Über mangelnde Bewegung kann der erfolgreiche Musiker nicht klagen. Er hat so
ziemlich alles erlebt auf der Skala zwischen arm und reich.
Atmo Shisha-Bar
Sprecher:
Stolz wie ein König überblickt er sein neu errichtetes Imperium: Auf einem schwarzgoldenen Sofa auf einer Empore thront der Besitzer über seiner Shisha-Bar.
O-Ton PA Sports
Ja, also, dass ich mal so'n Laden eröffne oder es mal dahin bringe, hab ich mir
eigentlich schon gedacht. Mein Ziel ist es natürlich, irgendwann mal 10 oder 20
so Läden zu haben. Wenn einem eine Sache im Leben klappt, dann zählt nur
noch Disziplin und Ehrgeiz.
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Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
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Sprecher:
Die Phoenix Lounge ist eine Hochglanz-Shishabar. Vom Cocktail bis zur
Wasserpfeife gibt es alles - im schicken Ambiente. Ungewöhnlich für diese Gegend
am dunklen Rand von Oberhausen.
O-Ton PA Sports
Wir sind eigentlich in dieser Gegend in einem der schlimmsten Brennpunkte
von NRW, vom Ruhrgebiet. Und ich bin immer noch hier und ich bin für die
Menschen in dieser Gegend sowas wie ein Hoffnungsträger.
Musik: PA Sports „100 Bars Legacy“
Sprecher:
Der rappende Messias von Oberhausen. Er zeigt allen, wie man aufsteigt. Auch,
wenn man ganz unten war. Welt verkehrt. Er hat den Sozialäquator umgedreht. Eine
Geschichte, die in den vielen Sozialstatistiken nur schwer abgebildet werden kann.
Aber eine Geschichte, die viel davon erzählt, wie sich Armut und Reichtum anfühlen.
Auf beiden Seiten der A 40.
Sprecher:
Als Kind iranischer Einwanderer wuchs PA Sports im Essener Süden auf.
Sprecher:
Die Eltern sind Akademiker. Doch weil das iranische Diplom in Deutschland nichts
galt, eröffneten sie einen Lebensmittelladen. Sie legten Wert auf die Bildung ihres
Sohnes. Doch Rap ist die Musik des Ghettos. PA Sports zieht die Straße vor.
O-Ton PA Sports
Dann fängt' s an mit den ersten harmlosen Drogen, die man konsumiert. Dann
wird's irgendwann mal verkauft, damit man sich ein paar Dinge leisten kann,
die man sich von Zuhause aus nicht einfach so leisten kann. Und aus diesen
Sachen heraus entstehen dann die echten Dinge.
Sprecher:
Drogen, Raub, Gewalt und unerlaubter Besitz von Waffen. Trotz des Starts im guten
Süden geht es nach unten - ganz schnell.
O-Ton PA Sports
Dann bin ich irgendwann mit 20,21 im Gefängnis gelandet. Und dann hab ich
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halt danach angefangen zu sagen, dass ich mich nur noch um meine Karriere
und meine Musik kümmern möchte und damit abschließen will.
Musik aus
Sprecher:
Man kann mich aus dem Ghetto nehmen, zitiert PA gern einen Kollegen. Aber nicht
das Ghetto aus mir. Der 26-Jährige verschreibt sich der Vorbild-Rolle. Er weiß, was
viele junge Menschen in den armen Vierteln seiner Stadt fühlen. Und er weiß, wie er
sie motivieren kann.
O-Ton PA Sports
Dadurch, dass ich einen Laden hab und dadurch, dass ich ein schönes Auto
vor der Tür stehen hab und dadurch, dass ich ne Firma mittlerweile hab - ich
hab meine eigene Plattenfirma - da geb ich den Leuten die Hoffnung - auch
vielen Jugendlichen, die immer noch damit beschäftigt sind, Scheiße zu bauen:
Dicker hör doch mal auf! Zeig mal, dass Du Disziplin hast.
Sprecher:
Das schöne Auto vor der Tür ist ein getunter Mercedes der obersten Luxusklasse.
O-Ton PA Sports
Sowas wie ein Auto, Materialismus, eine Rolex-Uhr, ne dicke Goldkette für
10,15.000 Euro sind halt die Dinge, die Kids aus meiner Generation auf der
Straße sehen und auch haben wollen.
O-Ton PA Sports
Vom Tellerwäscher zum Millionär - das ist kein Spruch, der auf Deutschland
angewendet werden kann. Gibt's nicht. Es gibt nicht einen Tellerwäscher, der
hier zum Millionär wurde, außer, wenn er mal im Lotto gewonnen hat, vielleicht.
Musik „Impulsion“
Sprecher:
Ein Lottogewinn, das wäre es nach Ansicht von Armutsexperten, wenn sie und die
Politik endlich einen gemeinsamen Nenner finden würden. Um der wachsenden
Ungleichheit zu begegnen. Und die existierende Armut realistisch beim Namen zu
nennen. Denn die zwei Seiten der Medaille widersprechen sich nicht: Es gibt sie, die
tiefe Armut - auch im reichsten Land Europas. Doch es gibt kein Indiz dafür, dass
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finanzielle Armut bei uns wächst. Wohl aber soziale Armut. Wohl aber die immer
ungleichere Verteilung des Reichtums. Im jährlichen Index der Bertelsmann Stiftung
zur sozialen Gerechtigkeit belegt das reiche Deutschland lediglich Platz sieben –
hinter den skandinavischen Ländern, den Niederlanden und Österreich. Deutschland
hat europaweit mit 7,2 Prozent die niedrigste Jugendarbeitslosenquote. Und doch
steigt bei uns das Risiko junger Menschen, arm zu werden. Und damit ihre Stimme
zu verlieren, weiß der Kölner Soziologe Jürgen Friedrichs,
Musik aus
O-Ton Friedrichs
Es ist geradezu verblüffend zu sehen: Je höher der Anteil der
Sozialhilfeempfänger ist, desto höher ist der Anteil der Wahlverweigerung.
Also der Nichtwähler. Und das ist natürlich ein großes Problem: Wenn diese
Personen jetzt resigniert sind, weil sie meinen, keiner von denen, die sich da
zur Wahl stellen, kann mir helfen.
Sprecher:
Natürlich handeln Politiker lieber im Sinne der Menschen, von denen sie sich ihre
Stimme erhoffen. Im Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichts der
Bundesregierung für 2017 war dies auch zunächst ein Thema. Politische
Veränderungen sind wahrscheinlicher, wenn sie von einer großen Anzahl von
Menschen mit höherem Einkommen unterstützt werden – hieß es mal in dem Bericht.
Doch genau diesen Passus ließ die Regierung nach Medienberichten streichen.
Bevor der Bericht in die letzte Ressort-Abstimmung gehen konnte. Dabei sagt er nur,
was längst bekannt ist: Armut hat keine Stimme.
Musik: “Unleashed du Lac”
Sprecher:
Die A 40 ist überall. Essens Sozialäquator in fast allen deutschen Großstädten
präsent, sagt Soziologe Friedrichs, dessen Team die Spaltung unserer Metropolen
intensiv untersucht hat.
O-Ton Friedrichs
Wenn sie eine Gesellschaft haben mit starken Einkommens- und - wie gerade
in Deutschland - mit starken Vermögensunterschieden, also eine sozial
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Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
scharf ist die Armutsschere wirklich?
ungleiche Gesellschaft, werden sich die Haushalte auch ihrem Einkommen
entsprechend mit Wohnraum versorgen. Das heißt, sobald Sie soziale
Ungleichheit haben, haben Sie auch räumliche Ungleichheit.
Sprecher:
Sie führt dazu, dass in einem Stadtteil 80 Prozent die Oberstufe absolvieren und im
anderen 20 Prozent.
Atmo A 40
Sprecher:
Führt dazu, dass in letzterem viele Hauptschulabsolventen leben – die das
sechsfache Armutsrisiko von Abiturienten haben. Experten wie Friedrichs mahnen:
Gerade Viertel mit vielen wirtschaftlich Benachteiligten brauchen daher auch bessere
Schulen. Und: Mehr Menschen aus Armutsvierteln brauchen Zugang zu besseren
Wohngebieten. Damit sich die Armut nicht weiter vererbt:
Musik aus
O-Ton Friedrichs9:
Weil in den Gebieten mit hoher Armut - also hoher Arbeitslosigkeit und
Sozialhilfe-Empfängern - positive Rollenvorbilder fehlen. Ich sehe nicht
genügend Leute, die morgens um halb sieben mit der Aktentasche auf der
Straße sind und zur Arbeit streben. Ich sehe aber Klassenkameraden, die es in
Ordnung finden, die Schule zu schwänzen und sich lieber auf der Straße
rumzutreiben.
Sprecher:
Das Zementieren der Armutsviertel ist nicht nur ein wirtschaftliches Risiko für unser
Land, warnen Ökonomen und Soziologen wie Friedrichs. Gespaltene Städte wie
Essen sind eine Gefahr für die Demokratie, sagt DIW-Chef Fratzscher. Staatlich
gelenkte Umverteilung der falsche Weg.
Fratzscher :
Viele sagen: Wir haben doch ne ganz tolle Marktwirtschaft. Die funktioniert. Der
Staat verteilt viel um. Das ist sicherlich richtig, dass der Sozialstaat in
Deutschland groß ist, aber es geht nicht darum, umzuverteilen und soziale
Leistungen zu verteilen, sondern es geht auch darum, den Menschen Chancen
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2017
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Dok 5 – Das Feature; 15.01.2017
Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie
scharf ist die Armutsschere wirklich?
in ihrem Leben zu geben, mit der eigenen Hände Arbeit für sich sorgen zu
können.
Musik: „Impulsion“
Atmo A 40
Sprecher:
Es ist mehr als nur eine Frage der Moral. Ungleichheit ist nicht nur ungerecht. Sie ist
- emotionslos betrachtet - auch wirtschaftlich schlicht unvernünftig. Denn
Ungleichheit bremst unser Wirtschaftswachstum.
Das sagt nicht nur die zitierte Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Sprecher:
Der Sozialäquator spaltet. Im Ruhrgebiet heißt er A40. Doch nicht nur dort trennt er
zwei Wirklichkeiten voneinander. Zwei Welten, die kaum noch Berührung miteinander
haben. Eine Leistungsgesellschaft auf dem Weg zurück zum Ständestaat. Wer sich
an die Ungleichheit gewöhnt wie an den Lärm einer Autobahn, stellt dem Sozialstaat
ein Armutszeugnis aus. So wenig wie Lärmschutzwände das Rauschen einer
Autobahn verhindern. So wenig hilft Polemik allerdings auch im Kampf gegen Armut
weiter. Nicht die Schere zwischen Arm und Reich ist die Gefahr: Es ist die verzerrte
Darstellung zweier Welten, die sich selber anders wahrnehmen als sie es gegenseitig
tun. Zwei Welten, die wieder eine durchlässige Verbindungsstraße brauchen. Damit
die Route am Schluss nicht wirklich das wird: Armut ohne Ende.
ABSAGE
Ärmer geht’s nicht. Reicher kaum. Wie scharf ist die Armutsschere wirklich?
Ein Feature von Antje Passenheim
Es sprach: Claudia Matschulla
Technische Realisation: Matthias Fischenich und Barbara Göbel
Regieassistenz: Katarina Schnell
Regie: Thomas Leutzbach
Redaktion: Frank Christian Starke
Musik aus
Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks 2017
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2017
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