Pressemitteilung der FDP-Bundestagsfraktion zur Rentenreform, 1957

Archiv des Liberalismus, Druckschriftensammlung, D2-2568
FREIE DEMOKRATISCHE aPARTEI
BUNDESTAGSFRAKTION
INFORMATIONSRUNDBRIEF
Nr. 89
( 2. Wahl.periode)
Verantwortlich: Reg.-Rat a. D. Frit:z: Niebel
BONN, den
Nicht :z:ur Veröffentlichung
Erscheint einmal
1•2.1957
w~chentlich
Liebe Parteifreunde!
Die ~entenschlacht ist geschlagen. Wir geben Ihnen .daher heute einen Uberbliek über die
R e n t · e · n :r e ·.f , ·o ·r m„
In der 187. Plenarsitzung verabschiedete· der Bundestag in der Nacht
vön ~lontag, dem 21.1. auf Dienstag, dem 22.1 •. de:ri Entwurf eine~ Gesetz~s zur Neuregelung der . Rentenversioherung- der 4.rbei ter und zur
Neuregelung . des Rechts der Rentenversicherung der ~estellten. In
der namentlichen .SchlußabstirmnuQt stimmten 397 Abg§lordne. te mit "Y-a'',
32 mit nNein", 10 . eri,thi~l;tenq. ßia . der St~~. · A:t.s einzige Fraktion ·
stimmte die FTIP geschlossen gegen d.as Gesetz. ·
Der RegierÜngsentwu~f ·zu ·diesem G.esetzgebungswerk war erst · im Sommer - O,es · vergangenen Jahres, also _fast drei Jahre nach .der Ankündigung einer umfassenden Sozialreform. durch den Bundeskanzler, dem
Bundestag vorgelegt und .. vom Sozialpolitischen Ausschuß in der in
Anbetracht "des Umfanges und der Schwierigkeit der Materie außergewöhnlich kurzen Zeit von knapp vier Monaten durchg.~pei tscht worden.
Für die Behandlu:q.g der Angestelltenv~rsicherung standen praktisch
nur dreiTage -zur Verfügung. Andere Ausschüsse, wie beispielsweise
der Wirtschaftspol:i,. tische Aus~chuß oCI.er d.er Rechtsausschuß, ·wurden
überhaupt nicht beteiligt. Die Vorarbeiten d~r Regierung .. waren so
unzulänglich, daß während der Ausschußberatungen in der Offentlichkeit ·ein heftiger Streit über die Richtigkeit där versicherungsma.:.
thematischen Unterlagen entstehen ~onrtte, in dem-auch die Bank Deutscher Länder .~ls Hüterin der Währung mähnend ihre Stimme - e+:7hob. ,:iAIlein d'ie CDU/CSU :r;eichte währ:end der Aussohti.ßberatµngen inelirere P.undert Abäride·~ngsanträge ein, die offe:p.bar im Bundesarbei tsministeritun eiligst zur Ausbügelung der offensichtlic~ten Unzulänglichkeiten
arigefertigt wor§}en waren •.. :. Nur wenige Tage ·vor "der ,Drucklegung d_$S
Ausschußberichtes · wurden d~e Tabellen. zur Umrechmi4g der aliieff-- Renten durch neue Tabellen · ersetzt, ohne daß ~s mögligh-geV~e-sen wäz-e,
Gutachten über die Auswirkungen zu hören. --·Die dr~i tägig~ zw~i te Lesung, der siÖ-.i1 nach kurzer Wochenendpause ~
eine virzehnstündig~ dritte Lesung anschloß, wurde durch diese Unzulänglichkeiten und Uberhastungen zwangsläufig zu einer parlamen~a­
rischen Auseinandersetzung, wie sie weder der erste noch der zweite
Bundestag je erlebt hat. Die Abänderungsanträge der Fraktionen er-
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r ·e iohten fast di e Zahl fünfhund ert~ . All.ei.n d~i e FDP- Fraktion legte
135 -zum Teil s ehr grundlegende Verbes se i'tungsv orschläge vor. Die
Hauptlast de r Di skussion lag auf den Schultern der wenigen ·sozialexperten, . die allein noch in der Lage waren , die Probleme dieses
außergewöhnlich unübersichtlichen. Gesetzeswerks zu überschauen und
zu beurteilen, das für den Rentner selbst stets ein Buch mit· sieben
Siegeln bleiben muß. Für die FDP-Fraktion standen Dr„ · Wilhelm Jentzsch, Dr . Richard .Hammer und Frau Lotte Friese„Korn .in . '!vorderster .Front", . unterstützt von der Fraktionsgesahäftsführung und dem
Sozialreferat der Bundesparteileitung.
Dr. Jentzsch hielt auch zu Beginn der dritten Beratung die Grund~
satzrede, in der er sich kritisch mit der Problematik der Rentenreform . auseinandersetzte. Den Wortlaut seiner Rede finden unsere -- ·
Freunde im Anhang zu diesem Informationsrundbrief; wir möchten ihn
einer eingehenden Lektüre empfehlen. Die Ablehnung des Gesetzeswerks durch die FDP begründete kurz vor 1U.tternacb.t der :.Fraktionsvorsi tzende Dr. M~ Becke;r:. Seine Erklärung finden Sie ebenfalls
im Wortlaut im.Anhang; sie enthält _in gedrängter Kü.r,ze unsere Vorstellungen v on einer wirklichen Rentenreform und ~ine Zusammenfassung der Kritik an diesem nach d~m Kindergeld- und dem .Ladenschlußgesetz schlechtesten Gesetz des Deutschen Bundestages. -; _
Das Gesetzeswerk stellt ein Zwillingsgesetz dar: Es enthält erstens
· eine Neufassung des 4. Buches der Reichsversicherungsordnung, die
·' ~Je· Rentenversicherung der Arbeiter (früher Invalidenversicherung)
zu:qi l:nhalt ..hat~ .und _zweitens, eine Neufassung _der wesentlichsten Abschnitte · des Angestelltenversicherungsgesetzes. Die Angestellten-.
versicherung bleibt .zwar - organisatorisch-.auoh~in, Zukunft selbstän. dig, · wird jedoch materiell mit der Arbeiterversic4erung - ungeachtet der Regelung in einem besondere~ Gesetz - fast völlig gleich
behandelt. Sie ist also praktisch gleichgeschaltet worden. Die nachstehenden Skizzierungen der wesentlichsten Bestimmungen betreffen
also beide _Versicherungsarten, soweit nichts besonderes angemerkt ist.
Die Versicherungspflicht in d~r Arbeiterrentenversicherung umfaßt
im wesentlichen den .bisherigen .:Personenkreis .der Invalidenvers_icherung ohne Rücksicht auf die Höhe des Einkommens. Die Versicherungspflicht in._der Angestell tenversicheru:rig wird bis zu e~nern ,-, Jah:r-~s~ arbeitsverdienst von 15.000 J)iL(bishe r 9.000 DM) erhöht. Die .Regie"~ ·
rungsvorlage hatte auch hier~eine unbesch~ä~te Versich~rungspflicht
vorgesehen. Anträge der FDP· und der D:P, die Versicherungspflicht.;.
grenze in der Angestelltenversicheruµg auf einen Jahresarbeitsverdienst von 12.000 DM zu beschränken, wurden in namentlicher Abstimmung mit 93 gegen :351 Stimmen abgelehnt. Beiträge werden in _beideri
Versicherungsarten jedoch nur bis zu eine:x.: .Bej,tragsbemessuJ?gsgrenze
$rhoben, die schwankend ist und in diesem J~hre „ etwa ..oei .-- 'l5Q~~~ -,DM ....
. liegen wird. Ein FDP-Antrag auf Festlegung .'. der Bei tragsgren~e ·Wurde
ebenfalls abgelehnt._ 4.nges.tellte, die nur wegen. der Erhöhung der
V
. ersicheru~spflichtgrenze versich~rungspflicht:lg we;rden, . können
qUf Antrag (.bis zum 31. Dezember 1957) befreit werden, wenn sie
mindestens 50 Jahre alt sind oder für.eine private Lebensversicherung gleiche .Beiträge zahlen, .wie sie für die Angestelltenversicherung zu entrich~en wären. Auf Antrag der FD:P kgnnen ferner Ange- stellte von der Versicherungspflicht befr~it werden, die auf Grund
einer gesetzlichen Verpflichtung Mitglieder einer Versicherungsoder Versorgungsein:richtung ihrer.Berufsgruppe sind (z.B. bayerisc.h er .·.Ärzteversicherung).
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Leistungen· der Versicherung sind
Maßnahmen zur·E~haltu;ng; Bess:e::rung und Wiederherstellung der Er~
werbsfäfiigkei t der . VersichE)rten; - es .handelt ·-sich. um . Kann~Maßriablnen;
Anträge .der.FDP auf Gewährung eines Rechts:anspruches . wurden abge- _
lehnt • .
Re,nten„ we__gen Be:euf~un:fähj.gkei t oder Erw.erbsunfähigkei t.
.
~
Al tersrühege...:l~·
fl".interbliebenenrenten an Witwen (Witwer) und Waisen; -,übereinstimmeµde . Anträge. de:r~FD:P, DP, SPD und des BHE auf Einführung einer
Elternr~nte, die sowohl.der gesetzlichen Unterhaltspflicht des·· bürgerlichen Rechts: wie dem vierten Gebot entsproch~n hätte, ·wurden in namentlicher.Abstimmung mit 219 zu 230 StiJnmen abgelehnt.
Die Rent·e·n we en Berufs~ oder-Erv1erbsunfähigkei t stellen die -Fortbildung _,der _bisherigen_ Invalidenrente _bzw. · in .. der. Angestell tenversiche.;;..;· ' rung) des ·Altersruhegeldes wegen Berufsunf ähigk$_i t dar. Sie unter~
scheiden sieh in der Höhe, wobei die Renten wegen Erwerb§unfähigkeit
sich ähnlich wie das Altersruhegeld e:;rrechnen, wärrrend die Berufsunfähigkei tsrente um e-twa ein Drittel niedriger liegt. Berufsunfähig..;.
kei t . liegt vü'r, wenn die Erwerbsfähigkeit infolge von.Krankheit .oder
Schwäche der körperlichen_ oder geistigen Kräfte auf weniger als d-ie
:S:älfte eines gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung .gesunken
ist. Erwerbsunfähigkeit ist anzunehmen, wenn eine _Erwerbstätigkeit
infolge -von Krankheit oder Schwäche in gewißer Reg~lmäßigkeit nicht
mehr.ausgeübt werden kann.
,
.A1t'ersruh.eg~J-ß wird nach Vollendung des 65. Lebensjahres gewährt.
Weibliche.Jfex•sicherte können künft:tg auf Antrag schon mit . 60 Jahren
Altersruhegeld erhalten, wenn sie in den letzten 20 Jahren überwiegend eine versicherungspfli.chtige Tätigkelt a.usge.ül;lt .haben. Die bisherige Möglichkeit, als Angestellter nach längerer Arbeitslo9igkeit
' schon mit 60 c,Jahren .Alte:rsruhegeld zu erhalten, ist auf die Arbeite'r..,,
versicherung ausgedehnt worden.
Die Wartezeiten. betragen für das Altersruhegeld 15 Jahre, für .die
Rente!L"Wegen_Berufs .... und Erwerbsunfähigkeit 5 Jahre~ Die früheren Anwartschaften sind entfallen.
·
Das System der Ers?tzzeit~~ ist weiter verbessert worden. Es wird ergänzt durch sogena.nnte-Zurechnungszeiten: Bei Frühinvalidität wird
de:r; Versicherte unter gewissen-.Yoraussetzun.gen-so behandelt, als ob
er bis zum 55. Lebensjahre versichert gewesen sei.
Die
bildete den strittigsten Punkt des ganzen Gesetzes.
Die lohnbezogene, sogenannte ndynamischeu Rente der Regierungsvorlage
ist beibehalten worden. Wir haben unseren Freunden dgs dieser Rentenformel zugrunde liegende System, wie die schwerwiegende~ so~ia~
len; finanziellen und währungspolitischen Bedenken im Informationsrundbrief Nr. 85 -vom 23. November 1956 eingehend geschildert und
möchten un$ daher heute nicht wiederholen. Dj_e Regierungskoalition
hat jedoch offenbar selbst Bedenken gegen die p:raktj_sche Durchführbarkeit ihrer Vorschläge gehabt und daher den Gesetzgeber, also
den Bundestag, in -~iner neu eingefügten Vorschrift .verpflichtet,
sofort einzugreifen, wenn die Versicherungsträger durch diese Rentenformel notleidend werden. Diese "Notbremsen bedeutet praktisch
eine klare Bankrotterklärung der dynamischen Rentenformel. Die klaren, einfachen und übersichtlichen Gegenvorschläge der FDP (vergleiche IRB 85), die den Rentnern gleich hohe Renten gebracht, un-
Rentenformel
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serer Volkswirtschaft aber Gefahren .erspart hätten, wur den abgelehnt-.
Die automatische Anpassung ist von der Regierungskoalition angesichts, der heftigen und wohlbegründeten Kritik fallen gelassen
worden. Den Vorschlägen der FDP folgend soll nunmehr die Bundesregierung dem Bundestag im Rabmen eines Berichtes über den Stand
der Rentenversicherung Vorschläge, und zwar jährlich, über eine
Anpassung der laufenden Renten vorlegen, wobei der Entwicklung der
Produktivität, der wirtschaftlichen ...Leistungsfähigkeit und den ·
Veränderungen des Volkseinkommens je Erwerbstätigen Rechnung getragen werden muß.
Für die Altrentner, die bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits
Rente beziehen, gilt, die neue Rentenforme·l nicht. Ihre Renten
werden vielmebx nach besonderen Tabellen umgestellt, wobei der
sich aus dem Rentenbescheid ergebende Steigerungsbetrag mit Multiplikatoren vervielfältigt wird, die sich wiederum nach dem Gehu:rtsjahr und dem Jahr des Rentenbeginns richten. Da rund 1 ~2 Millionen Rentner, das ist rund ein Viertel aller Rentner, naoh diesem
Gesetz keine höheren Renten bekommen würden, hat die Regierungskoalition eine Hindeste~höhung um 21.-- DM für den Versiqherten und
von 14 .-- DM für Hinterbliebene vorgesehen. Der FDP-Vorschlag, eine
Zusatzrente in den Fällen zu gewähren, in denen die Rente zusammen
mit dem . sonstigen Einkommen nicht 180.-- DM bei einem Ehepaar und
130.-- DJtt bei einem Alleinstehenden erreicht, wurde abgelehnt (vergleiche .IRB 85).
Ein weiterer FDP-Antrag, einem Anliegen des Zentralverbandes des
Deutschen Handwerks folgend, das .Gesetz über die Altersversorgung
für das deutsche Handwerk von 1938 aufzuheben und a_en schon der
Angestelltenversicherung angehörenden Handwerksmeistern das Recht
zur Weiterversicherung zu gewähren, wurde abgelehnt. Stattdessen
wurde ein Antrag der CDU angenommen, der die Entscheidung über die
Handwerkerversicherung bis zum 31. März 1958 vor sich herschiebt.
Ein FDP-Antrag auf Erhaltung des sozialen Besitzstandes bei der
Einführung der Rentengesetzgebung an der Saar, von Dr. Heinrich
Schneicler begründet und vertreten, wurde in namentlicher Abstimmung mit 190 Stimmen der Opposition gegen 253 Stimmen der -. Regierungsparteien abgelehnt. Ein ähnlicher FDP-Ant:rag war schon bei
der Beratung des Saareingliederungsgesetz(3-s_verworfen worden.
Die Beiträ~e zur Sozialversicherung wurden auf 14 fo (gegenüber
jetzt 11 % heraufgesetzt. Mit einer weiteren Erhöhung in den
nächsten Jahren muß angesichts der aus dem Gesetz entstehenden
Lasten gerechnt vrnrden. Das Beitragsaufkommen wird ergänzt durch
Bundeszuschüsse, die für das Jahr 1957 in der Arbeiterversicherung auf 2728 Millionen DM, in.der Angestelltenversicherung auf
682 Millionen DM festgesetzt wurden. Sie sind nur für die Leistungen der Rentenversicherung bestirnmt, , die nicht der Alterssicherung dienen.
Mit freundlichen Grüßen
•
gez. Fritz Niebel