Inhalt AUFSÄTZE Jugendstrafrecht Jugendstrafrecht und Jugendstrafvollzug in Chile, Bolivien und Peru – Aktuelle Entwicklungen und Reformtendenzen Von Dr. Alvaro Castro Morales, Chile, Prof. Dr. Frieder Dünkel, Greifswald 1 Europäisches Strafrecht Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Dominik Brodowski, LL.M. (Univ. Pennsylvania), Frankfurt a.M. 11 „In camera“-Verfahren als Gewährung effektiven Rechtsschutzes? Neue Entwicklungen im europäischen Sicherheitsrecht Von Dr. Benjamin Vogel, Freiburg 28 Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge: Appell zur Stärkung des Konfrontationsrechts bei präjudizierender Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren Zugleich Besprechung von EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland) Von Ref. iur. Diana Thörnich, Trier 39 Kompensation der unzulässigen staatlichen Tatprovokation Zu den Auswirkungen der Rechtsprechung des EGMR in Deutschland und Österreich Von Dr. Carolin Schmidt, Frankfurt (Oder) 56 Das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ im Spannungsfeld zwischen Europäisierung und nationalen Sicherheitsinteressen Plädoyer für einen vermittelnden Standpunkt Von Dr. Erik Duesberg, Münster 66 BUCHREZENSIONEN Strafrecht Thomas Kröger, Der Aufbau der Fahrlässigkeitsstraftat, 2016 (Dr. Matthias Wachter, Regensburg) 75 VARIA Tagungsbericht Tagungsbericht: „The European Convention on Human Rights and the Crimes of the Past” – ESIL European Court of Human Rights Conference am 26.2.2016 am EGMR in Straßburg (stud. iur. Natascha Kersting, Köln und Paris) 78 Tagungsbericht „Mapping the challenges in economic and financial criminal law: a comparative analysis of Europe and the US” vom 17.3.2016 an der Universität Luxemburg (Wiss. Mitarbeiter Julian Dust, Wiss. Mitarbeiterin Özlem Kayadibi, Köln) 82 Jugendstrafrecht und Jugendstrafvollzug in Chile, Bolivien und Peru – Aktuelle Entwicklungen und Reformtendenzen Von Dr. Alvaro Castro Morales, Chile,* Prof. Dr. Frieder Dünkel, Greifswald** Das Jugendstrafrecht auf dem südamerikanischen Kontinent hat sich seit der Verabschiedung der Kinderrechtskonvention (KRK) von 1989 wie auf keinem anderen Kontinent dynamisch weiterentwickelt.1 Die bisherigen rechtsvergleichenden Arbeiten in diesem Bereich haben jeweils das Jugendstrafund Jugendstrafverfahrensrecht allgemein in den Vordergrund gestellt. Der vorliegende Beitrag rückt demgegenüber den Jugendstrafvollzug und menschenrechtliche Fragen des Rechtsschutzes von Jugendlichen unter Freiheitsentzug ins Blickfeld.2 Die besonders prekäre menschenrechtliche Lage im Strafvollzug der lateinamerikanischen Länder legt diese Schwerpunktsetzung nahe. Insbesondere die drastische Überbelegung in Gefängnissen hat zu Reaktionen von Menschenrechtsorganisationen, z.B. seitens der Interamerikanischen Kommission (IKM) oder dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (IGM) geführt.3 Die sich langsam entwickelnde Aufmerksamkeit für menschenrechtliche Fragen auch im Bereich des Jugendkriminalrechts in Lateinamerika wird am Beispiel des vorliegenden Beitrags deutlich. Das Thema der Beachtung der Menschenrechte im Jugendstrafvollzug und der Existenz und ggf. Effizienz von Kontrollmechanismen ist vor dem Hintergrund einer bislang nur rudimentären kriminologischen Forschung zu sehen, die angesichts eines fehlenden spezifischen Rechtsschutzes vergleichbar der §§ 92 JGG, 109 ff. StVollzG in Deutschland als völlig unzulänglich anzusehen ist und mit der früheren Rechtsfigur des besonderen Gewaltverhältnisses vergleichbar ist.4 Dies gilt insbesondere für den Jugendstrafvollzug, der * Universidad de Chile – Centro de Estudios de la Justicia. ** Universität Greifswald. 1 Vgl. dazu bereits Tiffer-Sotomayor, Jugendstrafrecht in Lateinamerika unter besonderer Berücksichtigung von Costa Rica, 2000; Gutbroth, Jugendstrafrecht in Kolumbien, 2010; vgl. zum Jugendstrafrecht in Bolivien ferner Zegada, Jugendstrafrecht in Bolivien, 2005; im Überblick Beloff, in: UNICEF (Hrsg.), Revista Justicia y derechos del niño, Bd. 9, 2007, S. 177; Beloff/Langer, in: Zimmering/Langer/ Tanenhaus (Hrsg.), Juvenile justice in Global Perspective, 2015, S. 198. 2 Vgl. Castro Morales, Jugendstrafvollzug und Jugendstrafrecht in Chile, Peru und Bolivien unter besonderer Berücksichtigung von nationalen und internationalen Kontrollmechanismen, 2015. 3 Vgl. hierzu ausführlich Castro Morales (Fn. 2), S. 194 ff. (203 ff.); IKM (Hrsg.), Informe sobre los derechos Humanos de las personas privadas de libertad en las Américas, CIDHOEA, 2011, abrufbar unter: www.cidh.org (15.1.2017); sowie die Entscheidungen des IGM in den Jahren 1995 bis 2014, abrufbar unter: www.oas.org/es/cidh/ppl/decisiones/corteidh.asp (15.1.2017). 4 Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 227. aus verschiedenen Gründen besonders rückständig ist.5 Prüfmaßstab für die rechtliche und tatsächliche Entwicklung des Jugendstrafvollzugs in Chile, Bolivien und Peru sind nicht allein lateinamerikanische Standards, sondern auch die deutsche Entwicklung nach der Föderalismusreform und insbesondere die European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions or Measures (ERJOSSM) des Europarats von 2008. I. Historische Entwicklung des Jugendstrafrechts und Jugendstrafvollzugs in Lateinamerika – Überblick Zunächst wird deutlich, dass wesentliche Elemente des klassischen Inquisitionsprozesses sich bis Ende des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika erhalten haben, was den großen Einfluss der KRK verdeutlicht, die eine grundlegende Umorientierung auf das sog. Justizmodell bewirkte. 6 So war derselbe Jugendrichter im Ermittlungsverfahren zuständig, der später im Hauptverfahren die Entscheidung fällte, ein Zustand, der mit einem aufgeklärten liberalen Strafprozess nicht vereinbar ist. In Zeiten der Diktaturen waren das Recht und insbesondere das Jugendstrafrecht selbst eher autoritär ausgerichtet, so dass ein neuer Geist sich erst mit dem Ende der diktatorischen Regime entwickeln konnte. Das Jugendrecht vor der Reformbewegung Ende der 1980er Jahre war rein wohlfahrtsrechtlich ausgestaltet (sistema tutelar) und von den patriarchalischen Ideen des Jugendrichters als zentrale Figur des Jugendverfahrens geprägt.7 Ähnlich wie in den USA spielten Rechte der Minderjährigen keine Rolle und die Interventionen waren inhaltlich und zeitlich unbestimmt. Die Abkehr vom Wohlfahrtsmodell durch ein justizmodellorientiertes Verfahren wurde nicht nur durch die KRK, sondern durch ein ganzes Bündel von gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozessen ausgelöst. Dazu gehörten die Demokratisierung der politischen Strukturen (Ende von Diktaturen) und damit einhergehend die verstärkte Beachtung von Menschenrechten, das Wirtschaftswachstum und die Modernisierung der Staaten, die zunehmend negative Wahrnehmung des überkommenen Justizsystems, die Beteiligung ausländischer Organisationen und nicht zuletzt die Beteiligung der Wissenschaft. Im Zeitraum von 1994-2004 haben 16 Länder in der Region ihr überkommenes Strafprozessrecht in Richtung eines Anklageverfahrens geändert.8 Die teilweise parallel laufende 5 Zu den Unzulänglichkeiten des gesetzlichen Rechtsschutzes und der Rechtsprechung im Bereich des Erwachsenenvollzugs in Chile vgl. Stippel, Gefängnis und Gesetz, Eine Untersuchung zur Vollzugsgesetzgebung, Rechtspraxis und Rechtsreform in Chile, 2010. 6 Vgl. Tiffer-Sotomayor (Fn. 1), S. 245 ff.; Gutbrodt (Fn. 1), S. 102; Castro Morales (Fn. 2), S. 14 ff. 7 Vgl. Beloff/Langer (Fn. 1), S. 200 ff. 8 Vgl. Beloff (Fn. 1), S. 15 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 1 Alvaro Castro Morales/Frieder Dünkel _____________________________________________________________________________________ Reform des Jugendstrafrechts wurde – wie erwähnt – wesentlich durch die seit 1990 überall ratifizierte KRK beeinflusst. 9 Dabei sind zwei Reformstrategien zu unterscheiden: zum Einen, sog. integrierte Jugendgesetze zu schaffen, die sowohl jugendstraf- wie zivilrechtliche und jugendhilferechtliche Fragen in einem Gesetz regeln. Für diese Lösung haben sich im Zeitraum bis 2007 14 Länder entschieden. 10 Zum anderen Länder, die ein reines Jugendstrafrecht verabschiedeten und die anderen Fragen in getrennten Gesetzen regelten (Chile und Costa Rica, El Salvador und Panama).11 Unterschiedlich geregelt sind auch das Strafmündigkeitsalter und das Höchstmaß der Jugend-/Freiheitsstrafe in den Ländern der Region (vgl. Tab. 1). Das Mindestalter der Strafmündigkeit liegt – ähnlich wie in Europa – zumeist zwischen 12 und 14 Jahren, in der Mehrzahl der Länder (insoweit abweichend von Europa) jedoch bei 12 oder 13 Jahren. Andererseits wird häufiger noch die Tradition des wohlfahrtsrechtlichen (Jugendhilfe-)Modells erkennbar, wenn erst ab 16 bzw. 18 Jahren (jugend-)strafrechtliche Reaktionen möglich sind, bei jüngeren Jugendlichen jedoch allein der jugendhilferechtliche Ansatz dominiert (z.B. Argentinien, Brasilien, Honduras). In einigen Ländern differenziert das Jugendstrafrecht die strafrechtlichen Eingriffe, indem für jüngere (z.B. 12-13- oder 12-15-Jährige) eine mildere Sanktionierung und insbesondere geringere Höchststrafen als für ältere Jugendliche vorgesehen werden (z.B. Bolivien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Kolumbien, Venezuela, vgl. Tab. 1). Zugleich wird erkennbar, dass die Frage einer Einbeziehung von Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht oder von Sonderregelungen (z.B. Strafmilderungen) für Heranwachsende12 in Lateinamerika noch kein Thema sind.13 Lediglich Brasilien und Uruguay sehen entsprechende Sonderregelungen vor. In diesem Kontext sind Hintergrunddaten zur Entwicklung der Gefangenenzahlen bzw. -raten und im Strafvollzug der lateinamerikanischen Länder von Bedeutung. Leider ist ein gesonderter Überblick über den Jugendstrafvollzug nur lückenhaft möglich,14 weshalb hier zunächst ein grober Überblick zur Gesamtentwicklung mit den allgemein zugänglichen Daten des Institute for Criminal Policy Research (an9 Vgl. Beloff/Langer (Fn. 1), S. 203 ff. Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 16 f.; einen umfassenden Überblick über Reformen in 23 Ländern bzw. Bundesstaaten (Mexiko) geben auch Beloff/Langer (Fn. 1), S. 205 ff. 11 Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 17; zur Reformgeschichte in Lateinamerika und insbesondere Costa Rica vgl. bereits Tiffer-Sotomayor (Fn. 1); ferner Gutbroth (Fn. 1). 12 Vgl. zum europäischen Vergleich Pruin, Die Heranwachsendenregelung im deutschen Jugendstrafrecht, 2007; Pruin/Dünkel, Better in Europe?, European responses to young adult offending, 2015. 13 In dem Überblick von Beloff/Langer (Fn. 1) wird diese Frage nicht thematisiert. 14 Vgl. aber – mit interessanten Details auch zur jugendstrafrechtlichen Sanktionspraxis – Beloff/Langer (Fn. 1), S. 216 ff. 10 hand des sog. World Prison Brief) gegeben wird.15 Die Entwicklung mit einer mehr als Verdoppelung der Gefangenenrate in Brasilien (+ 126 %), Ecuador (+ 153 %), Paraguay (+ 163 %), Peru (+ 131 %), Uruguay (+ 116 %) und Venezuela (+ 174%, d.h. nahezu eine Verdreifachung!) und einer nahezu Verdoppelung in Costa Rica, Guatemala und Kolumbien (siehe Tab. 2) im Zeitraum seit 2000 ist geradezu atemberaubend. Die Belegung in Chile betrug am 31.12.2015 105,6 % (n = 43.336; Gefangenenrate: 242). Die Belegung hatte hier im Zeitraum 2000 bis 2010 von 33.050 auf 53.410 (Gefangenenrate: 313) drastisch zugenommen mit der Folge einer erheblichen Überbelegung. Nachdem im Jahr 2010 bei einem Brand im Gefängnis San Miguel in Santiago mehr als 80 Gefangene starben, hat die Regierung das Gesetz für alternative Sanktionen ausgeweitet (Einführung der gemeinnützigen Arbeit als selbständige Sanktion, des Hausarrests und Ausweitung der Strafaussetzung zur Bewährung) und wurde auch die richterliche Praxis der Untersuchungshaft eingeschränkt.16 Dies hat zu dem aktuellen Rückgang der Gefangenenrate beigetragen. Allerdings ist zu befürchten, dass dieser Effekt durch gegenwärtig diskutierte Strafschärfungen konterkariert werden wird. Die Entwicklung in Bolivien ist von einer drastischen und chronischen Überbelegung gekennzeichnet. Nach den Daten des Institute for Criminal Policy Research (2016) kamen in Bolivien am 1.10.2015 13.468 Gefangene auf 5.126 Haftplätze, was einer Belegung von 262,7% entspricht. Die Gefangenenzahlen sind in Bolivien von 8.151 im Jahr 2000 auf 14.587 im Jahr 2014 gestiegen und seither leicht zurückgegangen. Die Gefangenenrate betrug 2015 122 (2000: 95, siehe Tab. 2). Die Folge dieser dramatischen Entwicklung ist eine z.T. drastische Überbelegung (siehe dazu Tab. 3), die zu menschenrechtlich untragbaren Verhältnissen geführt hat, die wiederholt zu Recht kritisiert wurden (siehe dazu unten). Die Überbelegung betrug 2014/15 zwischen 4 % in Argentinien und knapp 6 % in Chile einerseits und nicht weniger als 161 % in Venezuela, 163 % in Bolivien und 191 % in Guatemala. Auch in Nicaragua und Peru kamen auf einen Haftplatz mehr als 2 Gefangene (vgl. Tab. 3). Derartige Zustände würden vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und vom Anti-Folter-Komitee des Europarats zweifellos als Verstoß gegen das Folterverbot gewertet.17 Ein weiterer Problembereich, der eine unzulängliche personelle Ausstattung bzw. Arbeitsweise der Justiz indiziert, wird durch den teilweise außerordentlich hohen Anteil an Untersuchungsgefangenen verdeutlicht (siehe Tab. 3). Wäh15 Siehe Institute for Criminal Policy Research, 2016, abrufbar unter: http://www.prisonstudies.org/ (2.1.2017); zur Entwicklung des Jugendstrafvollzugs in Chile, Bolivien und Peru siehe unten III. 16 Vgl. das Gesetz (Ley) Nr. 20.603 von 2013 zur Neuordnung des Systems der alternativen Sanktionen. 17 Vgl. van Zyl Smit/Snacken, Principles of European Prison Law and Policy, 2009, S. 131 ff. m.w.N. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 2 Jugendstrafrecht und Jugendstrafvollzug in Chile, Bolivien und Peru _____________________________________________________________________________________ rend in Europa die Zahl und der Anteil von Untersuchungsgefangenen eher rückläufig und nur selten noch bestimmend für die Gefangenenraten insgesamt sind,18 ist dies in Lateinamerika anders. So betrug der Anteil in 10 der 16 in Tab. 3 aufgeführten Länder nahezu oder mehr als 50 %, in Panama, Uruguay und Venezuela sogar mehr als 60 %. In Bolivien (86 %) und Paraguay (75 %) besteht die Gesamtpopulation des Strafvollzugs ganz überwiegend aus Untersuchungsgefangenen, was einen Resozialisierungsvollzug weitgehend ausschließt. Der Anteil Jugendlicher im Strafvollzug ist offensichtlich untererfasst, was aber daran liegt, dass Jugendliche häufig in eigenständigen Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht und damit statistisch nicht immer eindeutig erfasst werden. Immerhin überraschend ist der hohe Anteil von 13 % Jugendlichen im bolivianischen Vollzug und von 14% in Mexiko (siehe Tab. 3). Gerne wüsste man natürlich mehr zu den Ursachen der „Explosion“ von Gefangenenraten, die nur in Argentinien, Chile und Honduras in einem relativ moderaten Umfang stattgefunden zu haben scheint (vgl. Tab. 2). Auch sind die regionalen Unterschiede zwischen 122 pro 100.000 der Wohnbevölkerung in Bolivien und 352 in Costa Rica bzw. 392 in Panama erklärungsbedürftig. Offensichtlich gibt es allerdings dazu in Lateinamerika keine nennenswerte Forschung. Dass sich hieraus menschenrechtlich unhaltbare Haftbedingungen ergeben, liegt auf der Hand und wurde vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte auch in verschiedenen Fällen moniert.19 Für Chile führt Castro Morales einige mögliche Ursachen für den immensen Belegungsanstieg an. So wurden die Strafrahmen bei Eigentums-, Drogen und insbesondere Sexualdelikten erhöht und zugleich wurde die Entlassungspraxis bzgl. der vorzeitigen Entlassung auf Bewährung restriktiver gehandhabt. Bezeichnenderweise führte die Reform des Strafprozessgesetzes zu vermehrten Anzeigen und Verurteilungen, weil die Bevölkerung mit der Einführung einer separaten Anklagebehörde und einem unabhängigen Gericht Vertrauen in die Justiz fasste. In diesem Zusammenhang führt er politikwissenschaftliche Aspekte an, wie sie von Lappi-Seppälä für Europa als bedeutsam erarbeitet wurden.20 Chile hat zwar ein starkes Wirtschaftswachstum erlebt, zugleich allerdings eine der ausgeprägtesten Ungleichverteilungen des Wohlstands mit einer der höchsten Armutsquoten, also Bedingungen, die üblicherweise mit hohen Gefangenenraten assoziiert sind. Auch scheint nach Umfragen die chilenische Bevölkerung ausgesprochen rigide Strafvorstellungen zu haben. Das 18 Vgl. Morgenstern, in: Daems/Snacken/van Zyl Smit (Hrsg.), Europan Penology?, 2013, S. 185; Dünkel/Geng, FS 2015, 213. 19 Vgl. hierzu ausführlich Castro Morales (Fn. 2), S. 194 ff. 20 Vgl. Lappi-Seppälä, in: Tonry (Hrsg.), Crime, Punishment, and Politics in Comparative Perspective, Crime and Justice, Bd. 36, 2007, S. 217; ders., in: Dünkel/Lappi-Seppälä/Morgenstern/van Zyl Smit (Hrsg.), Kriminalität, Kriminalpolitik, strafrechtliche Sanktionspraxis und Gefangenenraten im europäischen Vergleich, 2010, S. 963. alles könnte eine plausible Erklärung dafür sein, dass Chile vorübergehend mit 311 pro 100.000 der Wohnbevölkerung die dritthöchste Gefangenenrate in der lateinamerikanischen Region aufwies (vgl. Tab.2). Der Rückgang seit 2010 ist – wie erwähnt – aufgrund der durch eine Brandkatastrophe im Strafvollzug bedingten Richtungsänderung der chilenischen Kriminalpolitik bedingt. Einige interessante weitere Daten, etwa zum Budget der Gefängnisse, das i.d.R. nur marginale Anteile für Resozialisierungsmaßnahmen ausweist, oder zu Todesfällen in Gefängnissen, häufig durch Morde von Gefangenen an Mitgefangenen, insbesondere in Venezuela, verdeutlichen die gravierenden Probleme des Strafvollzugs in Lateinamerika. 21 Folter und Gewalt scheint im Strafvollzug der lateinamerikanischen Länder zum Alltag zu gehören. Als weitere Belastung kommt hinzu, dass es an Beschäftigungsmöglichkeiten mangelt mit der Folge, dass im Durchschnitt nur ca. 50 % der Gefangenen in einem Betrieb arbeiteten (zwischen 8 % in Guatemala und 61 % in Kolumbien).22 Dies dürfte ein Teil der Erklärung für die verbreitete „Kultur der Gewalt“ sein. II. Das Jugendstrafrecht in Chile, Bolivien und Peru Chile verabschiedete 1928 ein am Wohlfahrtsmodell orientiertes Jugendgesetz, während Bolivien (1966) und Peru (1962) erst in den 1960er Jahren entsprechende Kodifikationen schufen. In Bolivien wurde das „modelo tutelar“ allerdings bereits durch eine Verordnung aus dem Jahr 1947 eingeführt. Interessanterweise hat die KRK in den drei lateinamerikanischen Ländern nicht nur wie in Deutschland der Fall Gesetzes-, sondern sogar Verfassungsrang. Dies erklärt, warum diese Länder nach der Ratifizierung bemüht waren, umgehend eine moderne, an Kinderrechten orientierte Jugendstrafgesetzgebung zu verabschieden. 1. Das Jugendstrafrecht in Chile In Chile wurde das Strafmündigkeitsalter in den Gesetzen von 1928 und 1966 bei 16 Jahren festgelegt. Zwischen 16 und 20 Jahren galt ein ggf. gemildertes Strafrecht, sofern das Urteilsvermögen bzw. die Unrechtseinsicht gegeben waren. Dieses Konzept ähnelt dem deutschen § 3 JGG, enthält aber nicht die zweite Komponente des Handlungsvermögens. Im Gesetz von 1966 blieb die Strafmündigkeit bei 16 Jahren erhalten, jedoch wurde die Übergangsphase einer relativen Strafmündigkeit auf die 16- und 17-Jährigen begrenzt. Das aktuelle Gesetz aus dem Jahr 2007 gab das Wohlfahrtsmodell zugunsten eines justizmodellorientierten Ansatzes auf, die Strafmündigkeit liegt jetzt bei 14 Jahren. Ab 18 Jahren beginnt die volle strafrechtliche Verantwortung i.S.d. Erwachsenenstrafrechts. Der Reformprozess begann in Chile erst mit dem Ende der Pinochet-Diktatur im Jahr 1989. In der Folge ratifizierte Chile zahlreiche Menschenrechtsabkommen, bereits 1990 die Kinderrechtskonvention. Eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung des Gesetzes von 2007 spielten dabei Strafrechtswis21 22 Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 33 ff. Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 35 f. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 3 Alvaro Castro Morales/Frieder Dünkel _____________________________________________________________________________________ senschaftler (Cillero Bruñol und Couso).23 Von der Einsetzung einer Reformkommission im Jahr 1990 bis zum Inkrafttreten des Gesetzes vergingen 17 Jahre. Grund dafür waren Prioritätensetzungen zugunsten anderer wichtiger Reformgesetze (hier die Strafprozessreform) und Blockadehaltungen rechtsgerichteter Abgeordneter im Kongress, denen es vor allem um Strafschärfungen ging.24 Erst durch den Druck seitens des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes25 wurde das Gesetz schließlich als Kompromissgesetz verabschiedet, das einerseits die Rechte der Beschuldigten i.S.d. KRK stärkte, andererseits aber durch strafende Elemente und die Betonung von Opferinteressen auch für die seinerzeit konservative Mehrheit im Parlament akzeptabel erschien. Die Grundlagen des neuen Gesetzes und das Sanktionensystem weisen zahlreiche Ähnlichkeiten mit dem deutschen Recht auf, wenngleich mit dem „öffentlichen Strafverteidiger“ eine Art institutionalisierte Pflichtverteidigung geschaffen wurde, die es so in Deutschland nicht gibt. Untersuchungshaft ist bei Bagatell- bzw. minder schweren Straftaten (Strafandrohung bis zu 5 Jahren Freiheitsstrafe) ausgeschlossen, Einschränkungen bzgl. der Haftgründe (vgl. § 72 JGG) gibt es allerdings nicht. Im Bereich des Sanktionensystems wurden der Vorrang der Diversion und die Einschränkung der Freiheitsstrafe als ultima ratio festgeschrieben. Zwar steht der Erziehungszweck im Vordergrund, jedoch darf der Jugendrichter z.B. bei der Ersetzung freiheitsentziehender Maßnahmen durch vorzeitige Entlassung aus einer Anstalt ein „generalpräventives Minimum“ festlegen. Interessant ist auch der detaillierte Katalog von Ersatzsanktionen im Falle der Nichterfüllung von bestimmten Sanktionen.26 Die Sanktionspraxis scheint relativ moderat zu sein, ca. 90 % der richterlichen Sanktionen sind ambulante Maßnahmen. Nach einer Untersuchung von UNICEF wurden 20072010 nur 2 % der Verurteilten in einer geschlossenen Anstalt, weitere 3 % in einer halb geschlossenen Anstalt untergebracht. Allerdings hat sich der Anteil freiheitsentziehender Maßnahmen 2012 auf 11 % erhöht.27 Diese Zahlen sind mit Blick auf die informellen Reaktionen weiter zu relativieren. So gibt es neben der „normalen“ Diversion ohne Auflagen bzw. Weisungen auch die Einstellung nach erfolgter Wiedergutmachung des Schadens (ein Mediationsverfahren i.e.S. existiert dagegen noch nicht) sowie die bedingte Verfahrenseinstellung mit Auflagen. Nach einer aktuellen Statistik für das Jahr 2014 wurden 52 % der Verfahren gegen Jugendliche aus Opportunitätsgründen, 16 % aus anderen, verfahrenshindernden Gründen eingestellt und 32 % wurden angeklagt. 91 % der formellen Sanktionen betrafen ambulante Maßnah- 23 Vgl. insbesondere Cillero Bruñol, in: UNICEF (Hrsg.), Revista Justicia y de Derechos del niño, Bd. 2, 2004, S. 53; Couso/Duce, Juzgamiento Penal de Adolescentes, 2013. 24 Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 50. 25 Vgl. Comité de los Derechos del Nino (Hrsg.), CRC/C/ CHL/CO/3 vom 23.4.2007, 44 Sitzung. 26 Vgl. im Ergebnis Castro Morales (Fn. 2), S. 62. 27 Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 62 f. men, lediglich 9 % die Einweisung in eine Jugendanstalt. 28 Damit wird deutlich, dass Freiheitsentzug tatsächlich die ultima ratio darstellt und in einem der deutschen Praxis vergleichbaren Rahmen liegt. 2. Das Jugendstrafrecht in Bolivien Ein Jugendstrafrecht in Form eines einheitlichen Jugendhilferechts wohlfahrtsstaatlicher Prägung mit eigenständigen Jugendgerichten wurde in Bolivien gesetzlich erst 1966 geschaffen, allerdings wurden spezifische jugendrechtliche Sanktionen bereits 1947 per Verordnung eingeführt. Das zweite Jugendgesetz von 1975 verschärfte vor dem Hintergrund politisch instabiler Verhältnisse die Sanktionen gegenüber Minderjährigen. Auch in Bolivien setzte der Demokratisierungsprozess in den 1980er Jahren Kräfte für eine menschenrechtsorientierte Jugendkriminalpolitik frei und bereits 1992 wurden die Forderungen der KRK in einem „Kindergesetz“ teilweise umgesetzt. Allerdings behielt das Gesetz die Rechtsfolgen des früheren Gesetzes bei und auch die Anknüpfungspunkte für Interventionen (situación peligrosa anstatt situación irregular) blieben relativ vage. Das 1999 in Kraft getretene aktuell geltende Jugendgesetz enthält ebenso wie in Chile familienrechtliche, sozialrechtliche und jugendstrafrechtliche Regelungen. Eine gegen internationale Standards wie die KRK verstoßende und heftig kritisierte Änderung war die Beschränkung des Jugendstrafrechts i.e.S. auf 12- bis 15-Jährige, während 16- und 17-Jährige nach Erwachsenenstrafrecht sanktioniert werden. Auch in Bolivien ist der Rechtsschutz für Minderjährige im Rahmen des (staatlichen) Büros „für Verteidigung von Kindern und Jugendlichen“ formal geschaffen. Ob und wie diese Art Pflichtverteidigung funktioniert, ist aus den vorhandenen Quellen nicht zu erschließen. Eine verfahrensbezogene Besonderheit ist, dass die (restriktiv zu handhabende) Untersuchungshaft maximal 45 Tage dauern darf. Das Sanktionensystem ähnelt dem chilenischen, allerdings gibt es mit dem Hausarrest von bis zu 6 Monaten eine Besonderheit hinsichtlich freiheitsentziehender Maßnahmen. Das Maximum der Jugendstrafe beträgt bei 12und 13-Jährigen drei, bei 14- und 15-Jährigen fünf Jahre (vgl. Tab. 1; auch für die ambulanten Maßnahmen sind Höchstgrenzen vorgesehen). Zur Sanktionspraxis können leider nur wenige Daten mitgeteilt werden, weil es auch hier keine verlässlichen offiziellen Statistiken gibt. Nach dem Bericht einer Nichtregierungsorganisation (DNI) bestehen nicht weniger als 94 % der gerichtlichen Sanktionen in freiheitsentziehenden Maßnahmen. Grund dafür ist, dass es schlichtweg an der Infrastruktur für ambulante Sanktionen fehlt. 29 3. Das Jugendstrafrecht in Peru In Peru geht das geltende Jugendstrafrecht auf die Gesetzgebung von 1924 zurück. Im damaligen Strafgesetzbuch gab es einen Abschnitt mit speziellen Sanktionen für 13- bis unter 18-jährige gefährdete oder straffällige Jugendliche. Das Ge28 Vgl. Ministerio Publico de Chile (Hrsg.), Informe Anual 2015, Kap. 4. 29 Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 74 ff. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 4 Jugendstrafrecht und Jugendstrafvollzug in Chile, Bolivien und Peru _____________________________________________________________________________________ setz von 1962 stand ganz in der Tradition des Wohlfahrtsmodells. Die weitere Entwicklung wurde durch den Kampf gegen den Terrorismus der Gruppe „Leuchtender Pfad“ erschwert. Erst mit der Auflösung dieser Gruppe Anfang der 2000er Jahre wurde dieser Konflikt beendet. Inzwischen war aber bereits 1992 aufgrund der Ratifizierung der KRK ein Jugendgesetz verabschiedet worden, das die Vorgaben der KRK einzulösen versuchte. Es handelt sich dabei ebenso wie in Bolivien um ein einheitliches Gesetz mit familien-, sozialund jugendstrafrechtlichen Normierungen. Das Jugendstrafrecht findet auf 12- bis unter 18-Jährige Anwendung. Im Zuge der Terrorismusbekämpfung wurde 1998 ein Gesetz erlassen, das es ermöglichte 16- und 17-Jährige im Fall der Beteiligung an terroristischen Akten nach Erwachsenenstrafrecht abzuurteilen. Die maximale Freiheitsstrafe für Minderjährige wurde auf 6 Jahre erhöht. Ferner wurden (jugendtypische) Bandendelikte verstärkt kriminalisiert. Der ebenfalls neu eingeführte kommunale Soziale Dienst war außerordentlich militärisch geprägt und dürfte mit einer modernen Erziehungssanktion wenig gemein gehabt haben. Er wurde demgemäß durch die Reform des Jahres 2000 wieder abgeschafft. Das Gesetz von 2000 ist wie sein Vorgänger von 1992 ein integriertes Jugendgesetz mit familien-, sozial- und jugendstrafrechtlichen Normen. Im strafrechtlichen Bereich wurde das sehr weite Konzept der „schädlichen Bande“ beibehalten. Der Anwendungsbereich des Jugendstrafrechts betrifft die 12- bis unter 18-Jährigen. Die maximale Dauer der Freiheitsstrafe beträgt 3 Jahre, im Fall der Mitgliedschaft in einer „schädlichen Bande“ jedoch 6 Jahre. Dieses Konzept der „schädlichen Bande“ unterläuft das ansonsten in Peru hervorgehobene Gesetzlichkeitsprinzip. Auch in Peru gibt es ein interdisziplinäres Team, das inhaltlich dem europäischen „multi-agency approach“ (vgl. Nr. 15 der ERJOSSM) oder der deutschen Jugendgerichtshilfe entsprechen dürfte. Eigenständige Verteidigerbüros für Minderjährige gibt es dagegen im Gegensatz zu Chile und Bolivien nicht. Der Rechtsschutz für jugendliche Straftäter ist zusätzlich noch dadurch erschwert, dass die im Einzelfall ernannten Pflichtverteidiger keinen Kostenersatz erhalten, weshalb das Interesse an einer derartigen Tätigkeit erwartungsgemäß gegen Null tendiert. Das Sanktionensystem ähnelt stark dem bolivianischen System, indem für die einzelnen Erziehungsmaßnahmen jeweils eine maximale Dauer festgelegt wird.30 Die Angaben zur Sanktionspraxis sind auch in Peru spärlich, immerhin deutet sich – ähnlich wie in Bolivien – eine relativ rigide Praxis an, wenn man bedenkt, dass 2007 66 % (2012: 64 %) der gerichtlich verhängten Maßnahmen die Freiheitsstrafe betrafen. Die sog. „eingeschränkte Freiheit“, eine ambulante Betreuung mit täglichen Meldepflichten nimmt mit 2007 33 % bzw. 2012 35 % den größten Anteil nicht-freiheitsentziehender Sanktionen ein, d.h. alle anderen Maßnahmen wie die stärker erzieherisch geprägte „betreute Freiheit“ oder die gemeinnützige Arbeit spielen mit Anteilen von unter 1 % keine Rolle. Die Sanktionspraxis wurde vom Ombudsmann ebenso wie vom UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes stark kritisiert, da Angehörige unterer sozialer 30 Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 86. Schichten systematisch diskriminiert und die Prinzipien der Beijing-Rules der UN missachtet würden.31 Der Vergleich der drei im Einzelnen betrachteten Länder zeigt, dass die relevanten Altersgrenzen des Jugend- und Erwachsenenstrafrechts recht unterschiedlich sind. Die Strafmündigkeit beginnt in Bolivien und Peru mit 12 Jahren, in Chile wie in Deutschland „erst“ mit 14. Heranwachsendenregelungen gibt es in den lateinamerikanischen Ländern insgesamt nur in Brasilien und Uruguay (s.o.), während in Europa auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, Soziologie und neuerdings der Neurowissenschaften deutlich andere Tendenzen vorherrschen, die als Vorbild auch für Lateinamerika gesehen werden. 32 Trotz einiger Ähnlichkeiten unterscheiden sich die Sanktionssysteme der 4 verglichenen Länder z.T. erheblich. So sind Geldstrafen oder entsprechende Auflagen nur in Chile und Deutschland vorgesehen. Bemerkenswert ist, dass es in Chile keine unmittelbare Aussetzung der Jugendstrafe gibt, wenngleich die Rechtsinstitute der betreuten oder speziell betreuten Freiheit – auch wenn es keine Bewährungshilfe im eigentlichen Sinn gibt – funktional einer Bewährungsstrafe i.S.d. anglo-amerikanischen „probation“ oder einer Betreuungsweisung entsprechen dürften. III. Jugendstrafvollzug in Chile, Bolivien und Peru Für den europäischen Leser überraschend ergibt sich ein vielfältiges Bild von „hard“ und „soft law“ bzgl. der allgemeinen menschenrechtlichen Vorgaben für jugendliche Inhaftierte in Amerika. Die Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK) gehört zum rechtlich verbindlichen Normenbestand. Sie wurde nach ihrer Inkraftsetzung im Jahr 1978 von 25 Ländern des amerikanischen Kontinents ratifiziert. Ebenso verbindlich und sogar im Rang der Verfassung übergeordnet oder gleichgestellt ist – wie erwähnt – die KRK. Die Interamerikanische Konvention zur Verhütung von Folter ist das amerikanische Pendant zur Anti-FolterKonvention des Europarats. Sog. „soft law“ stellen die amerikanischen Strafvollzugsgrundsätze dar. Die 5. Säule des Menschenrechtsschutzes für jugendliche Inhaftierte stellen die sog. Havanna-Rules der Vereinten Nationen, die ebenso wie ihr moderneres Europäi- 31 Vgl. Defensoría del Pueblo (Hrsg.), Serie de informes defensoriales, Informe Nr. 157, 2012, S. 42; Castro Morales (Fn. 2), S. 87. 32 Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 89, mit Verweis auf Pruin (Fn. 12); Pruin/Dünkel (Fn. 12) und Dünkel/Geng, in: Boers/Feltes/Kinzig/Sherman/Streng/Trüg (Hrsg.), Kriminologie – Kriminalpolitik – Strafrecht. Festschrift für Hans-Jürgen Kerner zum 70. Geburtstag, 2014, S. 562; vgl. zur Reform in den Niederlanden mit einer Ausweitung des JGG auf Heranwachsende bis 23 Jahre und den entwicklungspsychologischen und neurowissenschaftlichen Begründungen Loeber u.a., in: Loeber/Hoeve/Slot/van der Laan (Hrsg.), Persisters and Desisters in Crime from Adolescence into Adulthood, Explanation, Prevention and Punishment, 2012, S. 335. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 5 Alvaro Castro Morales/Frieder Dünkel _____________________________________________________________________________________ sches Pendant, die ERJOSSM von 2008,33 als Orientierungshilfe für zukünftige Menschenrechtsstandards in Lateinamerika wichtig erscheinen. Bemerkenswert ist die Aufwertung der sog. „Soft-law“-Normierungen durch die Rechtsprechung, hier durch den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte.34 In der Folge werden die rechtlichen Regelungen und rechtstatsächliche Daten zum Jugendstrafvollzug in Chile, Bolivien und Peru dargestellt. 1. Jugendstrafvollzug in Chile Was zunächst Chile anbelangt, so ist die Geschichte der Inhaftierung Jugendlicher seit Ende des 19. Jahrhunderts von Unzulänglichkeiten der Unterbringungspraxis gekennzeichnet. Erst 1994 wurde die Unterbringung Jugendlicher in Erwachsenengefängnissen gesetzlich untersagt. Die aktuelle Rechtslage beinhaltet grundlegende Einzelregelungen für den Jugendvollzug innerhalb des Jugendgesetzes von 2007. Die Detailregelungen finden sich dagegen in Verwaltungsvorschriften (vgl. die sog. JVV). Die Situation ähnelt insoweit derjenigen in Deutschland vor 2008. Immerhin werden aber Beschwerderechte (vgl. dazu einschränkend unten) und das Recht auf einen Rechtsbeistand auch im Vollzug gesetzlich vorgegeben. Die einzelnen Rechte von Jugendgefangenen entsprechen nach Inhalt und Aufbau den internationalen Standards und mit Blick auf die deutschen Jugendstrafvollzugsgesetze bzw. allgemeinen Strafvollzugsgesetze werden deutliche Parallelen erkennbar. So werden u.a. ein individueller Vollzugsplan, Lockerungen und Besuchskontakte (mindestens einmal pro Woche) vorgesehen. Mit Blick auf die in Deutschland intensiv geführte Diskussion auf ein Recht auf Einzelunterbringung während der Ruhezeit findet man in Chile nichts Vergleichbares. Die Unterbringung erfolgt in Mehrbetträumen mit 2 bis 4 Betten. Entsprechende Standards werden angesichts des deutlichen Belegungsrückgangs von 5.346 auf 1.249 im Zeitraum 1990201235 derzeit unproblematisch eingehalten. Disziplinarmaßnahmen werden in der JVV nach der Schwere des Anlasses differenziert, wobei ein Katalog von „schwerwiegenden“ und „weniger schwerwiegenden“ Verstößen enumerativ aufgelistet wird. Eine Isolationssanktion wie den disziplinarischen Arrest in Deutschland gibt es in Chile nicht. Die schwerste Sanktion ist ein Lockerungsverbot (Ausgänge) für bis zu 30 Tage. Nach der JVV gibt es eine isolierende Maßnahme nicht als Disziplinarmaßnahme, sondern nur als Sicherungsmaßnahme (vergleichbar der deutschen Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum), deren Höchstdauer 7 Tage beträgt. Aus deutscher Sicht verfassungsrechtlich bedenklich ist die Untersagung des Besuchs von Ehegatten für bis zu zwei Monate als Disziplinarmaßnahme.36 Als besonders problematisch ist der eingeschränkte Rechtsschutz gegen Disziplinarmaßnahmen anzusehen, die als nicht justiziable verwaltungsinterne Angele33 Vgl. hierzu zusammenfassend Dünkel, ZJJ 2011, 140. Siehe dazu Castro Morales (Fn. 2), S. 203 ff. und unten IV. 35 Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 126. 36 Vgl. dazu kritisch Castro Morales (Fn. 2), S. 121. 34 genheit betrachtet werden.37 Das Jugendgesetz von 2007 bleibt diesbezüglich vage und eröffnet kein dem deutschen Recht vergleichbares Verfahren eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung (vgl. § 92 JGG i.V.m. §§ 109 ff. StVollzG). Lediglich eine Beschwerde an den regionalen Direktor des Vollzugs ist möglich. Der chilenische Jugendstrafvollzug ist verfassungsrechtlich zu problematisieren: Zum einen wegen der nur rudimentären Regelungen im Jugendgesetz von 2007, zum anderen wegen der Regelung wesentlicher Fragen lediglich in Verwaltungsvorschriften, wodurch das auch in der chilenischen Verfassung enthaltene Gesetzlichkeitsprinzip und das Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes verletzt werden. Die rechtstatsächliche Situation des Jugendvollzugs in Chile ist von interessanten Besonderheiten geprägt. Im Gegensatz zum allgemeinen Trend der Entwicklung der Gefangenenzahlen in Chile und Lateinamerika (vgl. Tab. 2) ist die Entwicklung im Jugendvollzug stark rückläufig: Im Zeitraum 1990-2012 sanken die Jugendgefangenenzahlen von mehr als 5.000 auf 1.249 (31.3.2012), d.h. auf etwa ein Fünftel (s.o.). Insgesamt war der Jugendstrafvollzug bei 1.471 Haftplätzen nicht überbelegt, in 5 der 17 Anstalten jedoch durchaus (mit Spitzenwerten von + 68 %.38 Die stichtagsbezogene Deliktsstruktur ist wesentlich durch Eigentumsdelikte ohne (knapp 37 %) und mit Gewalt (Raub, Erpressung; ca. 27 %) geprägt. Der Anteil von Untersuchungsgefangenen liegt insgesamt bei 38 %, steigt allerdings in einzelnen Regionen auf über 50 %, im Extremfall auf 76 % in der Region Aysen.39 Zur Situation der Menschenrechte im Jugendvollzug gibt es Berichte von UNICEF und von der Aufsichtskommission des Justizministeriums. Der UNICEF-Bericht vermittelt Unzulänglichkeiten in nahezu allen denkbaren Bereichen der Unterbringung, Ausbildung, medizinischen Versorgung, Disziplinierung, des Personals bis hin zu mangelhafter Infrastruktur (schlechter Zustand von Wasserleitungen, der Gebäude) etc. Als besonders problematisch werden die Jugendabteilungen innerhalb von Erwachsenenanstalten charakterisiert. Auch die Berichte der Aufsichtskommissionen des Justizministeriums waren durchaus kritisch und vermerkten erhebliche, z.T. auch neue Probleme im Vergleich zu früheren Berichten. Die Befunde der Interamerikanischen Menschenrechtskommission aus dem Jahr 2008 ergaben für den chilenischen Strafvollzug insgesamt und den Jugendvollzug im Besonderen gleichfalls inakzeptable Lebensbedingungen und unzureichende rechtliche Garantien. Als Gründe für die Unterentwicklung des Jugendstrafvollzugs werden die unzureichende 37 Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 122. Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 130; zu einer ähnlichen Entwicklung ansteigender Gefangenenzahlen bei Erwachsenen bei gleichzeitig sinkenden Zahlen Minderjähriger in geschlossenen Jugendeinrichtungen in Brasilien und Kolumbien (2007-2011) vgl. Beloff/Langer (Fn. 1), S. 223 ff. 39 Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 135. 38 _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 6 Jugendstrafrecht und Jugendstrafvollzug in Chile, Bolivien und Peru _____________________________________________________________________________________ gesetzliche Regelung im Jugendgesetz und die mangelnden Kontrollmechanismen genannt. In der seit Ende der 1990er Jahre besonders ausgeprägten allgemeinen Strafschärfungsdebatte blieb kaum Raum für eine differenzierte Menschenrechtsdebatte zugunsten Inhaftierter. Nicht zuletzt die Prioritätensetzung zugunsten notwendiger Reformen im allgemeinen Straf- und Strafprozessrecht führte dazu, dass der Jugendvollzug „auf der Strecke“ blieb. Widerstände kamen nicht zuletzt von Seiten des Justizministeriums und der Strafvollzugsbehörden, die an Veränderungen nicht interessiert waren. Auch mangelte es bislang an interessierten Wissenschaftlern, die empirische Forschungen durchführen und sich am Prozess der Erneuerung des Jugendvollzugs engagiert beteiligen wollten oder konnten. 2. Jugendstrafvollzug in Bolivien In Bolivien stellt sich die Situation des Jugendstrafvollzugs ähnlich bedrückend wie in Chile dar. Der Jugendvollzug ist gesetzlich ebenfalls nur rudimentär geregelt, und zwar in einem Abschnitt des allgemeinen Strafvollzugsgesetzes. Auch im Jugendgesetz von 1999 finden sich einige Regelungen, überwiegend sind aber auch hier Verwaltungsvorschriften maßgebend. Die Bestandsaufnahme des Jugendstrafvollzugs offenbart gleichfalls erhebliche Unzulänglichkeiten. Angesichts einer nur in einem Departement (von insgesamt 9) zur Verfügung stehenden Infrastruktur für alternative Sanktionen stieg die Zahl von Jugendgefangenen von 1994-2010 auf ca. das Dreifache (von 283 auf 876). Besonders problematisch sind die Lebensbedingungen und die Situation der Überbelegung bei 16- und 17-Jährigen, die im Erwachsenenvollzug untergebracht werden. Die Datenlage ist in Bolivien noch schlechter als in Chile. Außer dem Bericht des Ombudsmanns von 2009 gibt es kaum verlässliche Daten zu den Haftbedingungen von jungen Gefangenen. Die Gründe für die Unterentwicklung des Jugendvollzugs liegen auch in Bolivien in der Verschärfung der allgemeinen Kriminalpolitik, der Prioritätensetzung zugunsten anderer Reformen und der fehlenden Teilnahme von Experten.40 3. Jugendstrafvollzug in Peru In Peru ist der Jugendvollzug in einigen Vorschriften des Kinder- und Jugendgesetzbuchs sowie detaillierter in Verwaltungsvorschriften geregelt. Damit ergibt sich auch für Peru ein rechtsstaatlich bedenklicher Rechtszustand. Immerhin enthalten die Verwaltungsvorschriften detaillierte Regelungen zur Wiedereingliederung von Jugendstrafgefangenen in geschlossenen und offenen Einrichtungen einschließlich ergänzender Programme für Gewalttäter etc. und Maßnahmen des Übergangsmanagements. Die rechtstatsächliche Bestandsaufnahme des peruanischen Jugendvollzugs fällt ebenfalls ernüchternd aus: Ebenso wie in Bolivien, aber im Gegensatz zu Chile, hat sich die Belegung 2000-2012 nahezu verdoppelt. Ursache scheint eine Jugendliche mit Defiziten im familiären und sozialen Bereich benachteiligende Sanktionspraxis zu sein. Die Folge sind Probleme der Überbelegung vor allem in den großen Städten. Die Insassenstruktur weist auch in Peru die bekannten Merkmale sozialer Marginalisierung auf. Von den Delikten her gesehen überwiegen Eigentumsdelinquenten, Sexualdelikte mit fast 19 % sind im Vergleich zu anderen Ländern deutlich überrepräsentiert (was erklärungsbedürftig erscheint). Der Untersuchungshaftanteil mit 16 % der inhaftierten Jugendlichen ist ausgesprochen niedrig und steht im Gegensatz zu zahlreichen anderen lateinamerikanischen Ländern. Offensichtlich gibt es auch dazu keine Ursachenforschung. Außerordentlich spannend sind die Berichte des peruanischen Ombudsmanns über die Situation der Menschenrechte in Jugendgefängnissen. Sie „beschreiben eine besorgniserregende Realität von Armut, Gewalt, Überbelegung, Korruption, Krankheit und prekärer Infrastruktur in den Anstalten“. 41 Auch in Peru sind die Gründe für die Unterentwicklung des Jugendstrafvollzugs vielfältig, jedoch vergleichbar mit den Aussagen zu Chile und Bolivien: Die Verschärfungstendenzen in der allgemeinen Kriminalpolitik, Prioritätensetzung zugunsten anderer Reformgesetze und die fehlende Beteiligung von (wissenschaftlichen) Experten. So bleibt der Ombudsmann auch hier eine der wesentlichen Quellen für rechtstatsächliche Daten zum Strafvollzug. Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Jugendvollzug trotz der für Lateinamerika festgestellten Defizite im Vergleich zum Erwachsenenvollzug generell besser ausgestattet ist. Andererseits gibt es in Chile, Bolivien und Peru eine ausgeprägte Kultur der Gewalt, Korruption und eine mangelnde Infrastruktur für ein wiedereingliederungsförderndes Übergangsmanagement. Als ausgesprochen defizitär im Vergleich zu Deutschland ist die fehlende detaillierte gesetzliche Regelung des Jugendstrafvollzugs in den lateinamerikanischen Ländern zu kritisieren, was als Verstoß gegen die internationalen Menschenrechtsstandards zu werten ist. Als positiv ist der wachsende Einfluss internationaler Menschenrechtsstandards anzuerkennen. Andererseits ist die Entwicklung detaillierterer Menschenrechtsstandards bzw. spezifisch amerikanischer Empfehlungen vergleichbar den ERJOSSM in Europa dringend geboten. Ebenso richtig erscheint, auf das Potenzial der Strafvollzugsforschung als wesentlichen Motor der Reform des Jugendstrafvollzugs zu verweisen. In Lateinamerika scheint dies aus verschiedenen Gründen noch nicht umsetzbar zu sein. Möglicherweise ist allerdings jetzt der Zeitpunkt gekommen, kriminalpolitisch neue Akzente zu setzen und die jahrzehntelange legislatorische Vernachlässigung des Jugendvollzugs umzukehren. IV. Kontrollmechanismen im Jugendstrafvollzug in Chile, Bolivien und Peru Die Notwendigkeit eines umfassenden Systems von Kontrollmechanismen im Jugendstrafvollzug ist unbestritten und für Lateinamerika von besonderer Bedeutung. Zu unterschei41 40 Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 151 ff. Vgl. Defensoría del Pueblo (Fn. 31), S. 89; Castro Morales (Fn. 2), S. 173. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 7 Alvaro Castro Morales/Frieder Dünkel _____________________________________________________________________________________ den sind die richterliche Kontrolle von Vollzugsentscheidungen und Ansprüche, Beschwerden und Anfragen gegenüber dem Anstaltsleiter. Der gerichtliche Rechtsschutz ist sowohl in der AMRK wie in der KRK verankert. Aber auch die „Grundsätze für den Schutz der Gefangenen in Amerika“ verpflichten die Mitgliedsstaaten der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) den gerichtlichen Rechtsschutz auszubauen. Neben dem allgemeinen Beschwerderecht werden auch Kontrollmechanismen durch unabhängige Gremien wie z.B. Ombudsleute oder durch von den Strafvollzugsbehörden eingerichtete Aufsichtskommissionen gefordert. Internationale Kontrollinstanzen wie die IKM und die Befunde aus deren Besuchen bzw. Inspektionen in lateinamerikanischen Gefängnissen sowie Entscheidungen des IGM haben einen beachtlichen Fortschritt der menschenrechtlichen Situation in lateinamerikanischen Gefängnissen gebracht. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der IGM zunehmend die Rechtsprechung des EGMR beachtet und sie als Orientierungshilfe verwendet. Der IGM sieht in den Menschenrechtsinstrumenten der AMRK, der KRK, aber auch den Empfehlungen der Vereinten Nationen einen „Corpus Juris der Menschenrechte“ für Minderjährige, an dem sich die Rechtssysteme der Staaten zu orientieren haben. Das klingt auffällig ähnlich der Entscheidung des BVerfG vom 31.5.2006, in der es eine Indizwirkung der Verfassungswidrigkeit für Normen angenommen hat, die diese internationalen Standards unterschreiten. 42 Auch die vom IGM in seiner Rechtsprechung entwickelte besondere Schutzpflicht des Staates gegenüber inhaftierten Jugendlichen aufgrund deren besonderer Verletzlichkeit findet im Urteil des BVerfG und diesem nachfolgend in den gesetzlichen Neuregelungen zum Jugendstrafvollzug in einzelnen Bundesländern Entsprechung. Bemerkenswert ist ferner die Rechtsprechung des IGM hinsichtlich der lebenslangen Freiheitsstrafe, die als unmenschliche und erniedrigende Bestrafung angesehen wird. Weitere herausragende Urteile des IGM zum Jugendstrafvollzug betreffen das Recht auf Ausbildung und Beschäftigung junger Inhaftierter und das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz bei einer vorläufigen Inhaftierung. Der IGM hat in seiner Rechtsprechung verschiedene Formen der Wiedergutmachung entwickelt. So wirksam einzelne Urteile für die Fortentwicklung der Menschenrechtssituation junger Inhaftierter waren, so bedenklich bleibt doch die sehr lange Verfahrensdauer, die bei den geschilderten Fällen zwischen 4 und 14 Jahre betrug, in den meisten Fällen zwischen 7 und 12 Jahre. Die nationalen Kontrollmechanismen in Chile, Bolivien und Peru sind noch sehr defizitär. In Chile gibt es kein gerichtliches Verfahren ähnlich der §§ 109 ff. StVollzG in Deutschland. Der sog. Garantie-Richter hat lediglich die Aufgabe die Anstalten zu inspizieren. Die Individualbeschwerde zu den obersten Gerichten ist zwar wie für jeden Bürger möglich, jedoch zumeist aussichtslos, abgesehen davon, dass die jugendlichen Inhaftierten faktisch keinen Zugang haben (eine Situation vergleichbar mit dem Zustand vor 2006, als in Deutschland nur der komplizierte Rechtsweg 42 Vgl. BVerfG NJW 2006, 2093 (2097). gem. § 23 EGGVG zu den Oberlandesgerichten eröffnet war, was vom BVerfG als verfassungswidrig eingestuft wurde). So bleiben in Chile als wichtigste Kontrollorgane für die Gefangenen die sog. Aufsichtskommission und der Ombudsmann, die tatsächlich großen Einfluss zu haben scheinen. Auch in Bolivien gibt es keinen gerichtlichen Rechtsschutz zu einem Strafvollstreckungsgericht o.ä. Lediglich Beschwerden zum Anstaltsleiter und eine Verfassungsbeschwerde sind – wie in Chile – möglich, wobei die Acción de Libertad gegen willkürliche Festnahmen schützen soll. Die richterliche Aufsicht der Anstalten scheint wenig effektiv zu sein, sodass als einzige einigermaßen erfolgversprechende bzw. effektive Kontrollinstanz der Ombudsmann (Defensor del Pueblo) verbleibt. Ähnlich problematisch sind die Kontrollmechanismen in Peru ausgestaltet. Hier hat die Staatsanwaltschaft (kein Richter) die Aufsichtsfunktion gegenüber den Anstalten durch regelmäßige Besuche auszuüben. Individuelle Beschwerden zum Anstaltsleiter und eine Individualverfassungsbeschwerde sind möglich. Das Verfassungsgericht hat im Rahmen der sog. Habeas-Corpus-Verfahren verschiedentlich menschenrechtliche Fragen angesprochen und eine Verbesserung der Unterbringung und Ernährung, die Verlegungspraxis, die Gewährung von Lockerungen, verbesserte Besuchsregelungen etc. angemahnt. In Peru scheint das Verfassungsgericht eine wirksame Kontrollinstanz zu sein, wenngleich auch hier der faktische Zugang schwer sein dürfte. Der Vergleich mit Deutschland macht die Defizite des gerichtlichen Rechtsschutzes in Chile, Bolivien und Peru deutlich. In diesem Zusammenhang ist auch auf die verbesserten Rechtsschutzmöglichkeiten in Deutschland nach der Reform des § 92 JGG im Jahr 2008 hinzuweisen. Defizite des deutschen Rechts könnte man hinsichtlich des in Lateinamerika bedeutenden und offensichtlich wirksam arbeitenden Ombudsmanns feststellen, nachdem nur Nordrhein-Westfalen die Institution eines Strafvollzugsbeauftragten geschaffen hat. V. Zusammenfassung und Ausblick Zusammenfassend ist nochmals auf die Gründe für die Unterentwicklung der Materie des Jugendstrafvollzugsrechts in Chile, Bolivien und Peru zu verweisen: Fehlende Prioritätensetzung, allgemein ungünstiges kriminalpolitisches Klima, weitgehende Abstinenz der Wissenschaft und unterentwickeltes Bewusstsein für menschenrechtliche Belange. Zugleich ist auf die Notwendigkeit eines Jugendstrafvollzugsgesetzes für die drei untersuchten Länder hinzuweisen. Das zweite besonders wichtige Reformanliegen ist die Schaffung eines gerichtlichen Rechtsschutzverfahrens, dessen Fehlen als Verfassungsverstoß bzw. Verstoß gegen die anerkannten (internationalen und amerikanischen) Menschenrechtsstandards anzusehen ist. Die Notwendigkeit eines Strafverteidigers für jugendliche Gefangene, die Professionalisierung des Personals, die Entwicklung von Arbeitsstandards als Garantie für die Aufrechterhaltung des Rechts, insbesondere um die weit verbreitete Korruption in Anstalten zu bekämpfen, sind weitere Reformaspekte. Nicht zuletzt ist die Notwendigkeit kriminologischer Forschung im Strafvollzug hervorzuheben. Erste Ansätze sind zumindest in Chile erkennbar. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 8 Jugendstrafrecht und Jugendstrafvollzug in Chile, Bolivien und Peru _____________________________________________________________________________________ Tabelle 1: Vergleich der Altersgrenzen strafrechtlicher Verantwortlichkeit und maximale Dauer der Jugendstrafe Land Argentinien Bolivien Brasilien Chile Costa Rica Dominikanische Republik Ecuador El Salvador Guatemala Honduras Kolumbien Nicaragua Panama Paraguay Peru Uruguay Venezuela Strafmündigkeitsalter Alter, ab dem Erwachsenenstrafrecht angewendet werden kann/ muss 16 18 Entwurf 2005: 14 18 12/14 16 12*/18 18/21 14/16 18 12/15 18 13 18 12 18 12/16 18 13/15 18 16 14/16 12 14 14 12 13 18 18 18 18 18 17 18 12/15 18/21 Maximale Dauer der Sanktion Lebenslange Freiheitsstrafe vor der Entscheidung des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 14.05.2013; 14-15: 3 Jahre 16-17: 5 Jahre 12-14 = 3 Jahre 14-16 = 5 Jahre 3 Jahre 14-15 = 5 Jahre 16-17= 10 Jahre 12-15 = 10 Jahre 15-18 = 15 Jahre 13-15 = 3 Jahre 16-18 = 5 Jahre 4 Jahre 12-15 = 5 Jahre 16-18 = 7 Jahre 13-15 = 2 Jahre 15-18 = 6 Jahre 8 Jahre 8 Jahre 6 Jahre 7 Jahre 8 Jahre 3 Jahre 5 Jahre 12-14 = 2 Jahre 15-18 = 5 Jahre * Keine Strafmündigkeit i.e.S., sondern Mindestalter für die Anwendung des Kinderschutzgesetzes (Estatuto del niño y adolescente von 1990); Maßnahmen nach diesem Gesetz können bis zur Vollendung des 21. Lebensjahrs fortdauern. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 9 Alvaro Castro Morales/Frieder Dünkel _____________________________________________________________________________________ Tabelle 2: Die Entwicklung der Gefangenenraten pro 100.000 der Wohnbevölkerung in Lateinamerika 2000 bis 2015/16 Land 2000 2004 2008 2012 2014 2015 Argentinien Bolivien Brasilien Chile Costa Rica Ecuador Guatemala Honduras Kolumbien Mexiko Nicaragua Panama Paraguay Peru Uruguay Venezuela 151* 95 133 215 193 64 62 178 128 156 128 280 60 107 135 58 168 70 184 226 209 84 70 160 159 186 116 342 104 114 207 76 249 75 234 311 214 83 60 149 154 202 120 270 93 151 229 85 k.A. 135 275 294 303 135 100 152 237 206 160 378 117 193 277 150 160 134 301 247 352 162 115 196 231 214 171 386 158 228 279 166 k.A. 122 k.A. 242 k.A. k.A. 121 k.A. 242** 212 k.A. 392 k.A. 247 291 159 Veränderung in % + 6,0 + 28,4 + 126,3 + 12,6 + 82,4 + 153,1 + 95,2 + 10,1 + 89,1 + 35,9 + 33,6 + 40,0 + 163,3 + 130,8 + 115,6 + 174,1 * 2002; ** 31.1.2016. Tabelle 3: Belegung und Belegungskapazitäten (Überbelegung) und Anteile von Untersuchungsgefangenen sowie Jugendstrafgefangenen in Lateinamerika 2015 Land Belegungskapazität 2015 Belegung 2015 Überbelebung in %* Anteil von Untersuchungsgefangenen in % Argentinien Bolivien Brasilien Chile Costa Rica Ecuador Guatemala Honduras 66.239* 5.126 376.669* 41.034 9.791*6 22.635* 6.809* 69.060* 13.468 607.731* 43.336 17.440* 25.902* 19.810 + 4,3 + 162,7 + 61,3 + 5,6 + 78,1 + 14,4 + 190,9 50,9 85,9 38,3 29,7 17,2 48,8* 48,6 8.526* 16.331* + 91,5 51,8 Kolumbien Mexiko Nicaragua Panama Paraguay Peru Uruguay 77.953*5 202.896 4.742*4 13.910 6.637* 32.922 120.736*5 255.138 10.569 15.508 10.949* 77.244 + 54,9 + 25,8 + 122,9 + 11,5 + 65,0 + 134,6 35,9*5 42,1 12,3*3 62,6* 75,1 50,7 9.195 9.996 + 8,7 69,4 19.000* 49.664 + 161,4 63,4 Venezuela Anteil Jugendlicher (< 18 J.) im Strafvollzug in % 0,03 12,9** 0,0 0,4 1,6 3,1*3 4,6 0,0 (356 in JuHiEinr.) 0,0 14,0 0,6*3 0,0 3,1*6 0,0 0,0 (680 in JuHiEinr.) 0,0 (k.A. zu JuHi-Einr.)*8 * 2014; ** unter 21-Jährige 2012; *3 2012; *4 2010; *5 31.1.2016; *6 2013; *7 Die vom International Centre for Prison Studies ausgewiesenen Prozentanteile weichen teilweise infolge anderer Bezugsgrößen geringfügig ab. * 8 JuHi-Einr. = Einrichtungen der Jugendhilfe. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 10 Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick* Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Dominik Brodowski, LL.M. (Univ. Pennsylvania), Frankfurt a.M. Zwei Marksteine der Europäisierung der Strafrechtspflege befinden sich auf der Zielgeraden: Das sogenannte vierte Maßnahmenpaket für Verfahrensrechte für Beschuldigte und Verdächtige ist weitgehend in Kraft; über die Verordnung über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft konnte eine weitreichende konzeptionelle Einigung erzielt werden. Als teils zu derartigen Kodifikationen gegenläufige Entwicklung ist zugleich eine zunehmende Informalisierung und Privatisierung der Rechtshilfe zu verzeichnen, so etwa bei der Zusammenarbeit von Strafverfolgungsbehörden mit Internetdiensteanbietern. Von wesentlicher Bedeutung für die weitere Europäisierung sind ferner aktuelle Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, so zum europäisch-transnationalen ne bis in idem, zum Auslieferungsschutz gegenüber Drittstaaten, zu Verfahrensrechten, zum Europäischen Haftbefehl und verstärkt auch zur Europäischen Vollstreckungsanordnung. Diese und zahlreiche weitere Entwicklungen im Bereich der Europäisierung der Strafrechtspflege von November 2015 bis September 2016 werden hier im Anschluss an ZIS 2016, 106, im Überblick vorgestellt und einer ersten Analyse unterzogen. Two major building blocks of European Criminal Law are nearing completion: Most of the remaining elements of the roadmap for strengthening procedural rights of suspected or accused persons are in force; the Regulation on the European Public Prosecutor's Office is nearing completion. In partial contrast thereto, a trend to informal cooperation is emerging, most noticeable in the interaction between authorities and Internet service providers. Other major aspects for the continuing Europeanization of Criminal Justice are current ECJ preliminary proceedings, e.g. concerning ne bis in idem, the protection against extradition to third countries, procedural rights, the European Arrest Warrant and – increasingly – the European Enforcement Order. These and several further developments in EU Criminal Justice between November 2015 and September 2016 are presented in this overview, which follows up on ZIS 2016, 106. I. Strafrechtsverfassung 1. EU-Sicherheitsunion Am 20.4.2016 legte die EU-Kommission eine Mitteilung zur „Umsetzung der Europäischen Sicherheitsagenda im Hinblick auf die Bekämpfung des Terrorismus und die Weichenstellung für eine echte und wirksame Sicherheitsunion“ vor. 1 In * Fortsetzung von ZIS 2010, 376; ZIS 2010, 749; ZIS 2011, 940; ZIS 2012, 940; ZIS 2013, 455; ZIS 2015, 79; ZIS 2016, 106. Alle in diesem Bericht aufgeführten EU-Rechtsakte und EU-Rechtsetzungsvorgänge sind in der Datenbank http://db.eurocrim.org/ verfügbar. 1 KOM (2016) 230 endg. v. 20.4.2016. Zur Europäischen Sicherheitsagenda siehe zuvor EUCO 22/15, Nr. 10; KOM (2015) 185 endg. v. 28.4.2015, Ratsdok. 15670/14, P8_TAPROV (2015) 0269, sowie Brodowski, ZIS 2016, 106 (109). bedauerlicher Verquickung von Terrorismus einerseits und schwerer und organisierter Kriminalität andererseits betont sie in den allgemeinen, einleitenden Worten die Bedeutung eines umfassenden transnationalen Austauschs von strafverfolgungs- und gefahrenabwehrrelevanten Informationen.2 Neben bereits im Gesetzgebungsverfahren befindlichen oder zwischenzeitlich abgeschlossenen Maßnahmen3 teilt die Kommission mit, noch 2016 Legislativvorschläge zur „Harmonisierung von Straftatbeständen und Sanktionen im Bereich der Geldwäsche“, für eine „Richtlinie zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln“ sowie zur (Überarbeitung der) „gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen zur Sicherstellung und Einziehung von Erträgen aus Straftaten“ vorlegen zu wollen.4 Ergänzend bietet ein Arbeitspapier des Rates Aufschluss über potentielle zukünftige Legislativmaßnahmen und deren politische Priorisierung; darin wird u.a. die Einrichtung eines Europäischen Kriminalaktennachweises (EPRIS) erwogen. 5 2. Beitritt zur EMRK;6 Prüfungsmaßstab des EGMR bei unionsrechtlich determinierten Sachverhalten Nach wie vor sind nur zögerliche Schritte zu vernehmen, wie sich der Beitritt der EU zur EMRK trotz des ablehnenden Gutachtens des EuGH zum Entwurf eines Beitrittsabkommens7 realisieren lässt.8 Mit Spannung wurde insbesondere das Urteil des EGMR (Große Kammer) in der Sache Avotiņš gegen Lettland erwartet, das einen Sachverhalt der gegenseitigen Anerkennung in Zivilsachen betraf. Darin hielt der EGMR die Bosphorus-Vermutung9 im Grundsatz aufrecht:10 Zwar sei Art. 6 Abs. 1 EMRK auch auf die Vollstreckung ausländischer Erkenntnisse anwendbar (Rn. 96), und zwar gebe es – auch bei grundsätzlicher Gewährleistung einer Verfahrensfairness im Urteilsstaat – eine (Rest-)Verpflichtung, dass der Anerkennungsstaat eine gewisse Prüfung der Verfahrensfairness vornehme (Rn. 98 f.: „a court examining a request for recognition and enforcement of a foreign judgment cannot grant the request without first conducting some measure of review of that judgment in the light of the guarantees of a fair hearing; the intensity of that review may vary depending on the nature of the case“). Allerdings gebe es 2 KOM (2016) 230 endg. v. 20.4.2016, S. 3. Siehe insbesondere unten II. 2., III. 3. a), IV. 3., 5., 6., 7. 4 KOM (2016) 230 endg. v. 20.4.2016, S. 15. 5 Ratsdok. 5298/16 REV 1 LIMITE. 6 Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (106 f.). 7 EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014. 8 Zuletzt Ratsdok. 7551/16; zuvor Ratsdok. 12528/15 LIMITE; Ratsdok. 9319/15. 9 Begründet in EGMR (Große Kammer), Urt. v. 30.6.20015 – 45036/98 (Bosphorus v. Irland). 10 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 23.5.2016 – 17502/07 (Avotiņš v. Lettland). Instruktiv hierzu: http://eulawanalysis.blogspot.de/2016/05/eu-law-and-echrbosphorus-presumption.html (5.1.2017). 3 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 11 Dominik Brodowski _____________________________________________________________________________________ nach wie vor eine Vermutung eines äquivalenten Menschenrechtsschutzes in der EU (Rn. 101 ff.), die an zwei Voraussetzungen anknüpfe: fehlender (Umsetzungs-, Gestaltungs-, Handlungs-)Spielraum des EU-Mitgliedstaats einerseits und volle Entfaltung der Sicherungsmechanismen des EU-Rechts zur Gewährleistung dieses Menschenrechtsschutzes (etwa qua Vorabentscheidungsersuchen zum EuGH) andererseits. Doch selbst dann – und dies ist bemerkenswert – müsse der Vollstreckungsstaat sich versichern, dass ein Instrument der gegenseitigen Anerkennung keine Lücke verursache, bei welcher der Schutz europäischer Menschenrechte offensichtlich unzulänglich gewährleistet würde (Rn. 114: „[T]he court in the State addressed must at least be empowered to conduct a review commensurate with the gravity of any serious allegation of a violation of fundamental rights in the State of origin, in order to ensure that the protection of those rights is not manifestly deficient.“) Das schließe eine automatische oder mechanische Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung aus. Im Falle eines schwerwiegenden und substantiierten Vorbringens der Menschenrechtswidrigkeit darf sich der Vollstreckungsstaat nicht dahinter verstecken, dass er nur EU-Recht umsetze oder anwende, sondern müsse seiner (Rest-)Verantwortung zum Menschenrechtsschutz gerecht werden (Rn. 116). Das aber entspricht einem Standard, den der EuGH im Bereich des Europäischen Haftbefehls allenfalls zögerlich zu akzeptieren scheint (siehe unten IV. 1.) und als funktionales Äquivalent zur Identitätskontrolle des BVerfG11 anzusehen sein könnte. 3. Ne bis in idem (Art. 50 GRC, Art. 54 SDÜ)12 Ein im Juni 2016 ergangenes Urteil der Großen Kammer des EuGH zum europäisch-transnationalen Doppelbestrafungsverbot hat nicht die erhoffte Klarstellung gebracht, ob der Vorbehalt Deutschlands zu Art. 54 SDÜ primärrechtswidrig und daher nichtig ist.13 Deutschland hatte nämlich unter Verweis auf Art. 55 Abs. 1 lit. a SDÜ erklärt, dass Art. 54 SDÜ dann nicht greife, „wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurde“. Während Generalanwalt Yves Bot in seinen Schlussanträgen noch darauf verwiesen hatte, dass nunmehr ein Rechtszustand erreicht sei, in dem „der in Art. 55 Abs. 1 Buchst. a SDÜ vorgesehene Vorbehalt den Wesensgehalt des in Art. 50 der Charta genannten Grundsatzes ne bis in idem verletzt und daher für ungültig zu erklären ist“ (Schlussanträge, Rn. 68), beschränkte sich die Große Kammer auf die Beantwortung der zweiten Vorlagefrage und präzisierte dabei das Erfordernis einer rechtskräftigen Abur- teilung im Sinne des Art. 54 SDÜ: Zwar sei durch den Einstellungsbeschluss der polnischen Kreisstaatsanwaltschaft die Strafklage in Polen endgültig verbraucht (Rn. 36 f.), und zwar sei es für den Strafklageverbrauch unerheblich, dass dieser Beschluss von einer Staatsanwaltschaft erlassen wurde und keine Sanktionen vorsieht (Rn. 38 ff.). Allerdings sei für einen transnationalen Strafklageverbrauch auch Voraussetzung, dass eine Prüfung in der Sache erfolgt sei, welche wiederum „eingehende Ermittlungen“ (Rn. 42 ff.) erfordere. Wenn die Staatsanwaltschaft aber bereits die Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen allein deswegen unterlasse, weil diese in einem anderen EU-Mitgliedstaat wohnen, so stelle dies ein Indiz für das Fehlen eingehender Ermittlungen dar. 4. Verstärkter Auslieferungsschutz für eigene Staatsangehörige und unionsrechtliches Diskriminierungsverbot Deutschland aber auch andere europäische Staaten kennen verfassungsrechtliche Regelungen, mit denen die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Drittstaaten erschwert oder gänzlich ausgeschlossen wird (vgl. Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG). In gleich mehreren Vorabentscheidungsersuchen wurde dem EuGH die Frage vorgelegt, ob angesichts des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots von EU-Bürgern (Art. 18 AEUV) dieser erweiterte Schutz auch auf sämtliche EUBürger zu erstrecken ist.14 Vom OLG Frankfurt und sodann vom Bundesverfassungsgericht war dies im Fall Piscotti noch verneint worden, ohne dies dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.15 Nach Auslieferung und Verbüßung der Strafhaft in den USA verklagte Piscotti nunmehr Deutschland gerichtet auf den Ersatz „sämtlichen Schaden[s] [...], der ihm dadurch entstanden ist, dass die Beklagte seine Auslieferung an die Vereinigten Staaten von Amerika nicht verhindert, sondern bewilligt hat“.16 In diesem Amtshaftungsverfahren legte das LG Berlin dem EuGH u.a. die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob „ein Mitgliedstaat in ungerechtfertigter Weise gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 18 Abs. 1 AEUV verstößt, wenn er auf der Grundlage einer verfassungsrechtlichen Norm (hier: Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG) bei Auslieferungsersuchen von Drittstaaten eigene Staatsangehörige und Staatsangehörige anderer EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich behandelt, indem er nur letztere ausliefert“. 17 Dieselbe Frage – indes mit der Abweichung, dass die EU bislang nur mit den USA ein Auslieferungsabkommen geschlossen hat – lag dem EuGH auch in zwei weiteren Verfahren zur Vorabentscheidung vor: Das Bezirksgericht Linz legte den 14 BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, m. Anm. und Bespr. (u.a.) Brodowski, JR 2016, 415; Kühne, StV 2016, 299; Meyer, HRRS 2016, 332; Nettesheim, JZ 2016, 424; Oehmichen, FD-StrafR 2016, 375738; Sachs, JuS 2016, 373; Sauer, NJW 2016, 1134; Schönberger, JZ 2016, 422. 12 Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (108) sowie Zöller, GA 2016, 325. 13 EuGH, Urt. v. 29.6.2016 – C-486/14 (Kossowski) m. Anm. und Bespr. Gaede, NJW 2016, 2942; Wegner, HRRS 2016, 396. 11 Instruktiv hierzu García, De legibus blog v. 20.3.2016, online abrufbar unter: http://blog.delegibus.KOM/2016/03/20/eugh-ueberprueftauslieferungsrechtsprechung-des-bverfg/ (5.1.2017). 15 BVerfG, Beschl. v. 17.2.2014 – 2 BvQ 4/14; siehe hierzu Zehetgruber, StraFo 2015, 133. 16 LG Berlin, Beschl. v. 18.3.2016 – 28 O 111/14, openjur, Rn. 12. 17 LG Berlin, Beschl. v. 18.3.2016 – 28 O 111/14, openjur, Rn. 6; das Verfahren wird vor dem EuGH unter Rs. C-191/16 geführt. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 12 Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick _____________________________________________________________________________________ Fall eines österreichischen Staatsbürgers zur Vorabentscheidung vor, der im Falle einer Reise nach Deutschland befürchten müsste, nach Dubai ausgeliefert zu werden;18 ein estnischer Staatsbürger, der von einer vergleichbaren lettischen Verfassungsbestimmung zum Auslieferungsschutz lettischer Staatsangehöriger nicht unmittelbar erfasst wird, wehrte sich gegen eine Auslieferung nach Russland. In letzterem Verfahren erkannte die Große Kammer des EuGH19 im Anschluss an die Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot zwar an, dass die in nur einem Mitgliedstaat drohende Auslieferung an einen Drittstaat den Betroffenen in seiner Freizügigkeit im Sinne von Art. 21 AEUV beschränke (Rn. 31 ff.), so dass der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet sei. Die Beschränkung der Freizügigkeit sei vor dem europäischen Primärrecht nur zu „rechtfertigen, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht“ (Rn. 34). Die Ungleichbehandlung eigener Staatsangehöriger und EU-Bürger finde jedoch grundsätzlich ihre Legitimation darin, dass gegenüber eigenen Staatsangehörigen unter Verweis auf das aktive Personalitätsprinzip leichter eigene Strafverfolgungsmaßnahmen ergriffen werden können und somit eine Straflosigkeit vermieden werden kann, während ein solch gewichtiger Anknüpfungspunkt des Strafanwendungsrechts bei Staatsangehörigen anderer EU-Staaten fehlen könne (Rn. 35 ff.). Sodann benennt die Große Kammer jedoch eine gewichtige Einschränkung: Eine Strafverfolgung durch einen anderen EU-Mitgliedstaat und insbesondere durch den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, greife weniger stark in die Freizügigkeit ein als die Auslieferung in einen Drittstaat (Rn. 47 ff.). Daher sei zunächst der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, zu informieren, und – wenn jener Staat dann selbst eine Strafverfolgung einleite – dieser Priorität einzuräumen, d.h. der Betroffene an den anderen EU-Mitgliedstaat und nicht an den Drittstaat auszuliefern (Rn. 48 ff.). In dieser Linie dürfte sich daher auch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Piscotti bewegen. Im Fall des österreichischen Staatsbürgers ist allerdings zusätzlich zu berücksichtigen, dass die Ermittlungen wegen desselben Vorwurfs, wegen dem er von Dubai gesucht wird, in Österreich bereits mit beschränkter Rechtskraft eingestellt wurden. Deutschland aber kennt dem Wortlaut des § 9 Nr. 1 IRG zufolge nur ein Auslieferungshindernis bei einer vorangegangenen oder konkurrierenden innerstaatlichen Strafverfolgung. Im Lichte des Unions- und auch des Verfassungsrechts erscheint es jedoch – auch in Fortführung dieses neuen EuGHUrteils – geboten, „einem zuvor in einem anderen Mitgliedstaat der EU oder in einem sonstigen Schengen-Vertragsstaat Abgeurteilten denselben auslieferungsrechtlichen Schutz zu Bezirksgericht Linz, Beschl. v. 24. Juli 2015 – 10 C 66/15g; das Verfahren ist vor dem EuGH unter Rs. C-473/15 (Adelsmayr) anhängig. 19 EuGH, Urt. v. 6.9.2016 – C-182/15 (Petruhhin). 18 gewähren, als ob er zuvor in Deutschland strafverfolgt worden wäre“.20 5. Datenschutz (RL 2016/680)21 Im Schatten der Datenschutz-Grundverordnung22 wurde auch eine überarbeitete Richtlinie zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung23 verabschiedet, die bis zum 6.5.2018 in nationales Recht umzusetzen ist. Im Vergleich zur zuvor referierten Fassung wurde neu aufgenommen eine explizite Verpflichtung der Mitgliedstaaten, für die Löschung personenbezogener Daten angemessene Fristen vorzusehen und deren Einhaltung durch „verfahrensrechtliche Vorkehrungen“ zu sichern (Art. 5 RL 2016/680). Ferner enthält nun auch der operative Teil der Richtlinie eine Maßgabe, dass unterschiedliche Kategorien betroffener Personen (z.B. Verdächtige, Verurteilte, Opfer) gebildet werden sollen (Art. 6 RL 2016/ 680). Die Informationspflichten gegenüber den von einer Datenverarbeitung Betroffenen wurden ergänzt (Art. 13 RL 2016/680). Hervorzuheben ist schließlich, dass der Begriff der Straftat in dieser Richtlinie als ein eigenständiger unionsrechtlicher Begriff durch den EuGH auslegungsfähig und -bedürftig ist (Erwägungsgrund 13 RL 2016/680). Gleichwohl verbleiben umfangreiche Auslegungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten, insbesondere zur Datenschutz-Grundverordnung. 6. „Brexit“, Subsidiaritätsrügen nationaler Parlamente und eine „rote Karte“ Die Kommission hat beschlossen, dass sich das Vereinigte Königreich – auch nach seinem „opt-out“ und jedenfalls bis zum nunmehr drohenden „Brexit“ – unverändert an dem sogenannten Prümer Beschluss24 beteiligen kann.25 Noch 20 Brodowski, StV 2013, 339 (343). Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (108) sowie Schantz, NJW 2016, 1841. 22 Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.4.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung), ABl. EU 2016 Nr. L 119, S. 1. 23 Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.4.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschl. 2008/977/JI des Rates, ABl. EU 2016 Nr. L 119, S. 89. 24 Beschl. 2008/615/JI des Rates v. 23.6.2008 zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität, ABl. EU 2008 Nr. L 210, S. 1, sowie Beschl. 21 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 13 Dominik Brodowski _____________________________________________________________________________________ gänzlich ungeklärt ist indes die Frage, wie die Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU im Bereich der Strafrechtspflege nach dem „Brexit“ ausgestaltet werden sollen. Da das britische Referendum einen Austritt aus der EU befürwortete, hat sich vorerst ein Plan erledigt, die Beteiligung der nationalen Parlamente im EU-Gesetzgebungsverfahren zu stärken. Dieser sah vor, dass sich – außerhalb des europäischen Primärrechts – die im Rat der Europäischen Union vereinigten Regierungen dazu verpflichten, europäische Legislativmaßnahmen abzulehnen, gegen die binnen zwölf Wochen von 55 % aller26 nationalen Parlamente eine Subsidiaritätsrüge erheben.27 Bis auf Weiteres verbleibt es daher bei den Regelungen des Art. 7 Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit: Erheben im Politikbereich des Raums der Freiheit der Sicherheit und des Rechts innerhalb der kurzen Frist von acht Wochen ein Viertel aller Parlamente (in sonstigen Politikbereichen: ein Drittel) derartige Rügen, so hat der Initiator des Gesetzentwurfs diesen im Hinblick auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu überprüfen (sogenannte „gelbe Karte“); bei Rügen der Hälfte aller Parlamente ist ein ausdrücklicher Beschluss der Kommission darüber erforderlich, ob sie an ihrem Gesetzentwurf festhält (sogenannte „orange Karte“). II. Institutionen 1. Europäische Staatsanwaltschaft (EPPO)28 Der Rat der Europäischen Union – Justiz und Inneres – erzielte weitere weitgehende konzeptionelle Einigungen zu inzwischen großen Teilen der geplanten Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft.29 Im Vergleich zur zuletzt referierten Fassung ist auf folgende, wesentliche Veränderungen hinzuweisen: 2008/616/JI des Rates v. 23.6.2008 zur Durchführung des Beschlusses 2008/615/JI zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität, ABl. EU 2008 Nr. L 210, S. 12. 25 Beschl. (EU) 2016/809 der Kommission v. 20.5.2016 über die Mitteilung der Absicht des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland, sich an Rechtsakten der Union im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon angenommen wurden und die nicht Teil des Schengen-Besitzstandes sind, zu beteiligen, ABl. EU 2016 Nr. L 132, S. 105. 26 Auf jeden Mitgliedstaat entfallen zwei Stimmen; in Deutschland auf Bundestag und Bundesrat je eine Stimme. 27 ABl. EU 2016 Nr. C 69 I, S. 1. 28 Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (109 ff.). 29 Zu Art. 17 bis Art. 35 VO-E i.d.F. Ratsdok. 15100/15 wurde eine derartige Einigung auf der 3433. Sitzung am 3. und 4.12.2015 erzielt, zu weiteren Teilen des VO-E i.d.F. Ratsdok. 9799/16 auf der 3473. Sitzung am 9. und 10.6.2016. a) Zuständigkeit; Kompetenz Die sachliche Zuständigkeit von EPPO soll sich ausdrücklich auch auf kriminelle Organisationen erstrecken, deren Schwerpunkt auf der Begehung von Delikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU liegt (Art. 17 Abs. 1a VOE i.d.F. Ratsdok. 10830/16). Die Voraussetzungen für die Wahrnehmung der Zuständigkeit wurden in Art. 20 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16 zusammengefasst: So darf die Europäische Staatsanwaltschaft in Fällen mit einem Schaden unter 10.000 EUR von ihrer Kompetenz nur dann Gebrauch machen, wenn Auswirkungen auf Unionsebene zu verzeichnen sind oder aber wenn ein europäischer Amtsträger beschuldigt wird (Art. 20 Abs. 2 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/ 16). Weiterhin soll sie von ihrer Kompetenz keinen Gebrauch machen, wenn dem Beschuldigten in derselben Sache ein anderes Delikt zur Last gelegt wird, das keinen Bezug zu den finanziellen Interessen der EU aufweist, und welches zudem mit gleicher oder höherer Strafe bedroht ist (Art. 20 Abs. 3 lit. a, lit. aa VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). Schließlich soll sie von ihrer Kompetenz ebenfalls keinen Gebrauch machen, wenn ein Dritter einen größeren finanziellen Schaden zu erleiden hatte als die EU (Art. 20 Abs. 3 lit. b VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). In all diesen Konstellationen obliegt es in Streitfällen den nach nationalem Recht zuständigen nationalen Stellen, einen Kompetenzkonflikt zwischen der Europäischen Staatsanwaltschaft und den nationalen Strafverfolgungsbehörden zu lösen (Art. 20 Abs. 5 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). Bei einer Schadenshöhe kleiner als 100.000 EUR soll die Europäische Staatsanwaltschaft schließlich nur zurückhaltend von ihrer Kompetenz Gebrauch machen (Art. 22a Abs. 7, Art. 28 Abs. 2a VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). Die wechselseitigen Mitteilungspflichten wurden konkretisiert (Art. 19 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) und ein sehr kurzes Zeitfenster von fünf Tagen – einmalig um weitere fünf Tage verlängerbar – festgelegt, innerhalb dessen die Europäische Staatsanwaltschaft von ihrem Evokationsrecht Gebrauch machen kann (Art. 22a Abs. 1 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). All das spricht für eine gegenüber nationalen Strafverfolgungsbehörden vergleichsweise schwache Stellung der Europäischen Staatsanwaltschaft. Die temporale Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft soll sich auf alle Taten erstrecken, die ab zwanzig Tage nach Veröffentlichung der Verordnung im Amtsblatt begangen werden, auch wenn die Europäische Staatsanwaltschaft erst zu einem späteren Zeitpunkt arbeitsfähig ist (Art. 75 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). b) Ermittlungsmaßnahmen Hinsichtlich Ermittlungsmaßnahmen ist nun explizit vorgesehen, dass das nationale Recht die Telekommunikationsüberwachung, aber auch eine Herausgabe- und Entschlüsselungsanordnung auf bestimmte und durch die Verordnung vorgegebene Listendelikte einschränken darf (Art. 25 Abs. 1b, Anlage X VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). Delegierte Europäische Staatsanwälte sollen unter den gleichen Bedingungen wie nationale Staatsanwälte Zugriff auf inländische strafverfolgungsrelevante Datenbanken erhalten (Art. 36a VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) und diese und _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 14 Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick _____________________________________________________________________________________ weitere Informationen in ein elektronisches Fallbearbeitungssystem (Art. 36b ff. VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) einspeisen dürfen. Die Datenschutzbestimmungen richten sich im Wesentlichen nach den Maßstäben der neuen DatenschutzRichtlinie (Art. X VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) – auch hinsichtlich der Datenweitergabe an Drittstaaten (Art. 43a ff. VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) – und enthalten eine relativ eng formulierte Zweckbindung (Art. 37 Abs. 1 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). c) Datenaustausch und Beziehungen mit anderen europäischen Institutionen; Unterstützung von Nebenklägern Bemerkenswert sind die Bestimmungen über die Beziehungen zu anderen europäischen Einrichtungen und Institutionen: So soll die Europäische Staatsanwaltschaft einen indirekten Zugriff (d.h. beschränkt auf die Angabe Treffer/KeinTreffer – „hit/no-hit“) auf das Fallbearbeitungssystem von Eurojust (Art. 57 Abs. 3 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) und von OLAF (Art. 57a Abs. 5 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) erlangen sowie jegliche fallrelevanten Informationen von Eurojust und Europol sowie analytische Unterstützung durch Europol erhalten können (Art. 57 Abs. 2, Art. 58 Abs. 2 VOE i.d.F. Ratsdok. 10830/16). Die Europäische Staatsanwaltschaft soll sich auf OLAF als ermittelnde Behörde stützen können (Art. 57a Abs. 3 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) und Fälle zur „administrativen“ Erledigung an OLAF abgeben (Art. 57a Abs. 4 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16); im Grundsatz sollen Ermittlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft denjenigen von OLAF vorgehen (Art. 57a Abs. 2 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). Wenig überraschend ist die enge Kooperation mit Eurojust in administrativer Hinsicht (Art. 57 Abs. 5 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). Ein Einfallstor für umfangreichen Informationsaustausch bietet schließlich Art. 58a VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16: Sämtliche Institutionen, Einrichtungen, Agenturen und sonstige Geschädigte sollen von der Europäischen Staatsanwaltschaft alle nötige Unterstützung erhalten, damit sich diese als „Nebenkläger“ („civil party in the proceedings“) beteiligen und/oder anderweitig ihre Restitutionsinteressen verfolgen können. Auch für „administrative“ Maßnahmen – man denke an den Ausschluss von Vergabeverfahren (debarment) o.ä. – ist ein umfassender Informationsaustausch vorgesehen. d) Alternative Verfahrensbeendigung („Transaktion“) Für alternative Verfahrensbeendigungen – die unter dem Stichwort „Transaktion“ diskutiert werden – ist nun ein Generalverweis in das jeweils anwendbare nationale Recht vorgesehen (Art. 34 Abs. 1 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16): Auf Vorschlag des Delegierten Europäischen Staatsanwalts soll die Ständige Kammer daher neben Anklageerhebung (Art. 29 ff. VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) oder Verfahrenseinstellung die Möglichkeit erhalten, nach den Maßstäben des jeweiligen nationalen Rechts auch „plea bargaining“ zu betreiben oder – in Deutschland – Einstellungen nach §§ 153 ff. StPO sowie den Erlass eines Strafbefehls beantragen zu können. Bei der Entscheidung, ob von derartigen Opportunitätsvorschriften Gebrauch gemacht wird, soll die Ständige Kammer die Schwere der vorgeworfenen Tat, die Bereit- schaft des Täters, den entstandenen Schaden wieder auszugleichen und die Vereinbarkeit mit den Zielen und Prinzipien der VO-E berücksichtigen (Art. 34 Abs. 2 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). Mit der Durchführung der alternativen Verfahrensbeendigung ist sodann wieder der zuständige Europäische Delegierte Staatsanwalt betraut (Art. 34 Abs. 3 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). e) Finanz- und Personalstruktur Relativ großen Raum nahmen in den Verhandlungen auch die Finanz- und Personalfragen (Art. 48 ff. VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) ein, insbesondere hinsichtlich der Frage, inwieweit die Kosten einzelner Ermittlungsmaßnahmen von der Europäischen Staatsanwaltschaft oder aber von den nationalen Kriminaljustizsystemen zu tragen sind. Der aktuelle Regelungsentwurf orientiert sich dabei am Modell der Europäischen Ermittlungsanordnung, demzufolge nur bei außergewöhnlichen Belastungen die anordnende Stelle die Kosten zu tragen hat (Art. 49 Abs. 5, Abs. 5a VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). Die Arbeitssprache soll vom Plenum der Europäischen Staatsanwaltschaft entschieden werden (Art. 63 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). f) Ausblick Damit verbleiben als zentrale Verhandlungsgegenstände noch die gerichtliche Kontrolle (Art. 36 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16)30 sowie die – in den bisherigen Entwürfen mit der geplanten PIF-Richtlinie31 verknüpfte – Frage nach der sachlichen Zuständigkeit (Art. 4, 17 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/ 16). Zwar wird in den Ratsdokumenten stets der Grundsatz „nothing is agreed until everything is agreed“ betont. Bei entsprechendem politischen Willen erscheint es jedoch nicht unrealistisch, dass sich der Rat kurzfristig auf einen Verordnungstext einigt. Dieser bedarf sodann noch der Zustimmung des Europäischen Parlaments. 2. Europol32 Rat und Europäisches Parlament einigten sich auf einen neuen Rechtsrahmen für Europol,33 der Art. 77 Abs. 2 VO (EU) 2016/794 zufolge im Wesentlichen ab 1.5.2017 gelten wird. Die Regelung orientiert sich weitgehend an der allgemeinen Ausrichtung des Rates;34 größere Modifikationen sind vorrangig in den Datenschutzbestimmungen zu finden. 30 Siehe hierzu ferner Ratsdok. 10818/16. Siehe unten II. 2. 32 Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2015, 79 (85). 33 Verordnung (EU) 2016/794 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.5.2016 über die Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung (Europol) und zur Ersetzung und Aufhebung der Beschl. 2009/371/JI, 2009/934/JI, 2009/935/JI, 2009/ 936/JI und 2009/968/JI des Rates, Abl. EU 2016 Nr. L 135, S. 53. 34 Ratsdok. 10033/14. 31 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 15 Dominik Brodowski _____________________________________________________________________________________ 3. Agentur der Europäischen Union für die Aus- und Fortbildung auf dem Gebiet der Strafverfolgung (EPA)35 Die Agentur der Europäischen Union für die Aus- und Fortbildung auf dem Gebiet der Strafverfolgung tritt an die Stelle der bisherigen Europäischen Polizeiakademie. Ihre Rechtsgrundlage wurde Ende 2015 neu gefasst. 36 III. Materielles Strafrecht 1. Prinzipien der Rechtssetzung im Bereich des materiellen Strafrechts37 Im Rahmen einer informellen Arbeitsgruppe der europäischen Legislativorgane – die „Criminal Law Contact Group“ – scheint nunmehr auf Initiative von Dennis De Jong (MdEP) wenigstens Verhandlungsbereitschaft zu bestehen, die bestehenden drei Rahmendokumente über die bei Strafrechtsetzung zu beachtenden Prinzipien in ein gemeinsames, wenn auch nur unverbindliche Leitlinien enthaltendes Dokument zu überführen.38 Dabei handelt es sich namentlich erstens um die Schlussfolgerungen des Rates über Musterbestimmungen als Orientierungspunkte für die Beratungen des Rates im Bereich des Strafrechts,39 zweitens um die Mitteilung der Kommission „Auf dem Weg zu einer europäischen Strafrechtspolitik: Gewährleistung der wirksamen Durchführung der EU-Politik durch das Strafrecht“40 sowie drittens um die Resolution des Europäischen Parlaments über einen EU-Ansatz für das Strafrecht.41 2. Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union (PIF)42 Als wesentlicher Streitpunkt hinsichtlich des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug verbleibt die Frage, ob auch Umsatzsteuerbetrügereien in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen sollen.43 Erschwert wird eine Lösung dadurch, dass einige Mitgliedstaaten an ihrem nationalen Recht und dort bestehenden verwaltungsrechtlichen Sanktionsmechanismen nichts verändern wollen, 35 Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2015, 79 (85). Verordnung (EU) 2015/2219 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.11.2015 über die Agentur der Europäischen Union für die Aus- und Fortbildung auf dem Gebiet der Strafverfolgung (EPA) und zur Ersetzung sowie Aufhebung des Beschl. 2005/681/JI des Rates, ABl. EU 2015 Nr. L 319, S. 1. 37 Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (112). 38 Ratsdok. 10599/16; Ratsdok. 9284/16. 39 Ratsdok. 16798/09. 40 KOM (2011) 573 endg. v. 20.9.2011. 41 Europäisches Parlament, Initiativbericht 2010/2310(INI). 42 Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (112 f.) sowie ferner Grünewald, JR 2015, 245. 43 Ratsdok. 9804/16; Ratsdok. 9301/16; Ratsdok. 5690/16; Ratsdok. 14281/15; allgemeine Ausrichtung des Rates in Ratsdok. 10729/13; Kommissionsvorschlag in KOM (2012) 363 endg. v. 11.7.2012. 36 insbesondere soweit dieses einen „Spielraum [bietet], so dass zwischen verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Sanktionen gewählt werden kann. Oft [werde] ein Schwellenbetrag – ausgedrückt als geschätzte Höhe des Schadens für den Staatshaushalt – verwendet, um sich für einen Ansatz zu entscheiden“.44 Als Kompromisslinie wurde zuletzt ausgelotet, (nur) schwerste Formen von Umsatzsteuerbetrug in die Richtlinie aufzunehmen, „wie Karussellbetrug und Missing Trader Intra-Community Fraud (MTIC) mit einer Gesamtschadenshöhe von mindestens 1.000.000 EUR“.45 Ein bulgarisches Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Frage, ob ein nationales Beweisverwertungsverbot den europäischen primär- (Art. 325 Abs. 1 AEUV) und sekundärrechtlichen Verpflichtungen zur Betrugsbekämpfung widersprechen könnte. Im konkreten Fall seien Erkenntnisse aus einer Telekommunikationsüberwachung an sich nach bulgarischem Recht unverwertbar, weil diese zeitweise durch ein unzuständiges Gericht angeordnet worden war. Der EuGH soll nun entscheiden, ob diese Verwertungsregelung in dieser Konstellation zu europäischem Recht im Widerspruch steht und daher unanwendbar ist.46 3. Terrorismus;47 Geldwäsche48 a) Richtlinie zur Terrorismusbekämpfung Im Dezember 2015 legte die Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Terrorismusbekämpfung und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI zur Terrorismusbekämpfung vor.49 Zielrichtung dieses Vorschlags ist zum einen, das von der EU gezeichnete Zusatzprotokoll zum Übereinkommen des Europarats zur Verhütung des Terrorismus50 sowie auch die sich „aus den einschlägigen Empfehlungen der FATF zur Terrorismusfinanzierung ergeben[den]“ „Pflichten“ (sic!)51 in europäisches Recht zu übernehmen und dabei den bisherigen Rahmenbeschluss in eine Richtlinie zu transformieren. Zum anderen aber sollen noch weitere Regelungen „zur Erleichterung der Untersuchung und Verfolgung aller einschlägigen Vorgehensweisen von Terroristen“ getroffen werden. 52 Letztere sollen hier schwerpunktmäßig referiert werden: Art. 12 bis Art. 14 RL-E enthalten bemerkenswerte Pönalisierungsverpflichtungen: „Schwerer Diebstahl“, „Erpressung“ und „die Ausstellung gefälschter Verwaltungsdokumente“, die „mit dem Ziel“ begangen werden, eine terroristische Straftat i.S.d. Art. 3 RL-E i.d.F. KOM (2015) 625 zu begehen, müssen „bei Vorliegen von Vor44 Ratsdok. 9301/16, S. 4. Ratsdok. 9301/16, S. 6. 46 Das Verfahren wird unter der Rs. C-310/16 (Dzivev) geführt. 47 Vgl. zuvor Brodowski, ZIS 2015, 79 (88). 48 Vgl. zuvor Brodowski, ZIS 2013, 455 (465 f.). 49 KOM (2015) 625 endg. v. 2.12.2015. 50 Siehe unten VI. 1. 51 KOM (2015) 625 endg. v. 2.12.2015, S. 7. 52 KOM (2015) 625 endg. v. 2.12.2015, S. 7. 45 _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 16 Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick _____________________________________________________________________________________ satz als Straftat“ ahndbar sein. Die Relevanz dieser Bestimmungen ergibt sich erst aus dem systematischen Kontext, namentlich Art. 17 Abs. 1 RL-E i.d.F. KOM (2015) 625 (es muss sich um auslieferungsfähige Delikte handeln), aus Art. 16 Abs. 2 RL-E i.d.F. KOM (2015) 625 (Anstiftung, Beihilfe und Versuch müssen zu einer höheren Strafdrohung führen als „ohne den [...] besonderen Vorsatz, [...] es sei denn, die vorgesehenen Strafen stellen bereits die nach dem nationalem Recht möglichen Höchststrafen dar“) sowie aus den begleitenden Bestimmungen zur Ausdehnung der Jurisdiktion (Art. 21 RL-E i.d.F. KOM [2015] 625). Die Teilnahme- und Versuchsstrafbarkeit soll auf nahezu sämtliche erfasste Delikte ausgedehnt werden, insbesondere auch auf die Beihilfe zum Absolvieren einer Ausbildung für terroristische Zwecke, auf die Anstiftung zu den genannten qualifizierten Diebstahls-, Erpressungs- und Urkundendelikten und auf den Versuch der Terrorismusfinanzierung (Art. 16 RL-E i.d.F. KOM [2015] 625). Beachtenswert ist der Kriterienkatalog in Art. 21 Abs. 2 RL-E i.d.F. KOM (2015) 625, der zur Vermeidung und Beilegung von positiven Kompetenzkonflikten herangezogen werden soll: Angesichts der sehr weitreichenden Maßgaben zur extraterritorialen Erstreckung der Jurisdiktion „arbeiten die betreffenden Mitgliedstaaten zusammen, um darüber zu entscheiden, welcher von ihnen die Straftäter verfolgt, um die Strafverfolgung nach Möglichkeit in einem einzigen Mitgliedstaat zu konzentrieren“. Hierzu soll auch Eurojust involviert werden. Schließlich ist auf besondere Unterstützungsleistungen und Rechte für Opfer terroristischer Straftaten hinzuweisen (Art. 22, Art. 23), die über die RL 2012/29/EU hinausgehen. Bereits auf seiner 3455. Tagung am 10. und 11.3.2016 in Brüssel beschloss der Rat der Europäischen Union – Justiz und Inneres – seine allgemeine Ausrichtung zu diesem Vorschlag.53 Im Vergleich zum Kommissionsvorschlag wurden die Anknüpfungstaten auch auf bestimmte Formen der Computerkriminalität erweitert, der Straftatbestand hinsichtlich von Auslandsreisen jedoch objektiv (auf Reisen in Drittstaaten) und subjektiv (mit Wissen hinsichtlich der Förderung krimineller Taten der terroristischen Organisation) eingeschränkt. Die Strafbarkeit der Terrorismusfinanzierung soll ausdrücklich unabhängig von der Frage sein, ob und zu welcher konkreten Tat die Finanzmittel eingesetzt wurden (Art. 11 Abs. 2 RL-E i.d.F. Ratsdok. 6655/16). Schließlich soll der Opferschutz stärker hervorgehoben werden (Art. 22 ff. RL-E i.d.F. Ratsdok. 6655/16). Damit wird auch einigen Bedenken des Europäischen Parlaments Rechnung getragen, das teils eine noch punitivere Linie verfolgt.54 53 54 Ratsdok. 6655/16. Vgl. Ratsdok. 11169/16. b) Aktionsplan gegen Terrorismusfinanzierung; Geldwäsche Ein von der Kommission vorgelegter Aktionsplan für ein intensiveres Vorgehen gegen Terrorismusfinanzierung55 sieht zum einen terrorismusspezifische Maßnahmen vor, so eine Beschleunigung des Listungsverfahrens, oder auch die Prüfung, ob eine Vermögensabschöpfung auf Grundlage des Art. 75 AEUV eingeführt werden soll. Zum anderen sieht dieser Aktionsplan auch Maßnahmen vor, deren Reichweite weit über die Terrorismusbekämpfung hinausgehen dürfte: So plant die Kommission noch für 2016, eine „Verbesserung der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen zur Sicherstellung und Einziehung von Erträgen aus Straftaten“ zu prüfen56 und „auf der Grundlage des Artikels 83 AEUV eine Richtlinie zu den Straftatbeständen und Sanktionen im Bereich der Geldwäsche vor[zu]schlagen. Auf diese Weise sollen Mindestvorschriften für die Festlegung des Straftatbestands der Geldwäsche (mit Bezug auf terroristische Straftaten und andere schwere Straftaten) eingeführt und die Sanktionen angeglichen werden.“ Eine weitere Ankündigung setzte die Kommission wenige Wochen später um: Eine von ihr vorgelegte Legislativmaßnahme sieht vor, dass alle Mitgliedstaaten zentralisierte Möglichkeiten für einen Kontenabruf (d.h. einen Zugriff auf Kontostammdaten) bereitstellen und auch miteinander vernetzen sollen.57 4. Menschenhandel58 Im Mai 2016 legte die Kommission einen Bericht über die Fortschritte bei der Bekämpfung des Menschenhandels vor. 59 Die „schwerwiegende Grundrechtsverletzung“ des Menschenhandels stelle ein im Untersuchungszeitraum (20132014) quantitativ unverändertes Problem dar, wenn auch der Kinderhandel zugenommen habe und auch im Zuge der Migrationskrise ein „beunruhigend starker Anstieg“ zu befürchten sei. Zumeist erfolge Menschenhandel zu Zwecken der sexuellen Ausbeutung, teils aber auch zu „Zwecken der Arbeitsausbeutung“. Europol zufolge hätten es Menschenhändler „in Ländern, in denen die Prostitution legal und reguliert ist, [...] wesentlich einfacher“.60 Mitgliedstaaten sollten „ihre Anstrengungen zur Erhöhung der Anzahl der Ermittlungen und Verfolgungen ausbauen und die während der Beweiserhebungsverfahren auf den Opfern und ihren Zeugen ruhende Last verringern“ sowie den Opferschutz stärken. 61 Auch 55 KOM (2016) 50 endg. v. 2.2.2016. Siehe hierzu unten V. 7. 57 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie (EU) 2015/849 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung und zur Änderung der Richtlinie 2009/101/EG, KOM (2016) 450 endg. v. 5.7.2016. 58 Richtlinie 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer, ABl. EU Nr. L 101, S. 1. Siehe zuletzt Brodowski, 2011, 940 (944). 59 KOM (2016) 267 endg. v. 19.5.2016. 60 KOM (2016) 267 endg. v. 19.5.2016, S. 6 f. 61 KOM (2016) 267 endg. v. 19.5.2016, S. 13. 56 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 17 Dominik Brodowski _____________________________________________________________________________________ sollte, so die Kommission, „die Nutzung der Dienste der Opfer des Menschenhandels als Straftat, wenn sie wissen, dass die betreffende Person Opfer von Menschenhandel ist“, in mehr Mitgliedstaaten als derzeit verfolgbar sein. 62 Unmittelbaren legislativen Handlungsbedarf auf europäischer Ebene benannte die Kommission hingegen nicht. 5. Organisierte Kriminalität63 Im Juli 2016 legte die Kommission eine Evaluation des Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität vor.64 Darin erinnert sie daran, dass sie den Rahmenbeschluss bereits bei seiner Verabschiedung als unzureichend kritisiert hatte, und gelangt zu dem Schluss, dass „die erforderliche Mindestangleichung der Straftatbestände der Anführung einer oder der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung auf der Grundlage eines einheitlichen Begriffs einer solchen Vereinigung“ nicht erreicht worden sei. Gleichwohl ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt von einer neuen Legislativmaßnahme nicht die Rede. 6. Wohnungseinbruchskriminalität In den Arbeitsgruppen des Rates wurde ein französischdeutscher Vorschlag für eine Europäische Initiative der Verhütung und Bekämpfung organisierter Wohnungseinbruchskriminalität diskutiert.65 Über (legislative und nichtlegislative) Aspekte dieser Initiative liegen noch keine Informationen vor. 7. Glücksspiel66 Auf Vorlage des AG Sonthofen urteilte der EuGH zu Fragen des Glücksspielrechts.67 Der Ersten Kammer zufolge darf „ein Mitgliedstaat keine strafrechtlichen Sanktionen wegen einer nicht erfüllten Verwaltungsformalität verhängen [...], wenn er die Erfüllung dieser Formalität unter Verstoß gegen das Unionsrecht abgelehnt oder vereitelt hat“ (Rn. 48). Daher komme es nicht darauf an, dass die Angeklagte selbst keine Erlaubnis für die Veranstaltung oder die Vermittlung von Sportwetten beantragt habe. Entscheidend sei, dass sie in Österreich lizensierte Sportwetten vermittelt habe und dass das deutsche Glücksspielrecht wegen eines fortbestehenden und unzureichend legitimierten staatlichen Monopols unionsrechtswidrig ist (Rn. 65). IV. Strafverfahrensrecht 1. Sog. „Viertes Maßnahmenpaket“ a) Unschuldsvermutung; Recht auf Anwesenheit68 Mit der Richtlinie (EU) 2016/343 wurde ein europäischer Mindeststandard geschaffen, der das Schweigerecht, die Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in strafgerichtlichen Verhandlungen absichern soll. 69 Indes findet diese Richtlinie auf Irland, das Vereinigte Königreich und Dänemark keine Anwendung und ist erst bis zum 1.4.2018 umzusetzen. Die zuletzt noch strittigen Punkte wurden wenig ambitioniert gelöst. So erstreckt sich der Anwendungsbereich der Richtlinie lediglich auf natürliche Personen (Art. 2 S. 1; Erwägungsgründe 13-15 RL 2016/343); so sind – jedenfalls nach Auffassung der Mitgliedstaaten70 – gewisse Einschränkungen des Schweigerechts und damit einer Beweislastumkehr bei geringfügigen Delikten vorstellbar (Art. 7 Abs. 6; Erwägungsgrund 30 RL 2016/343); so setzen Abwesenheitsverfahren nicht zwingend die Beteiligung eines Verteidigers voraus (Art. 8 Abs. 2 lit. a RL 2016/343); und so ist anstelle eines strikten Beweisverwertungsverbots lediglich vorgesehen, dass bei der Beweiswürdigung Verstöße gegen diese Richtlinie im Lichte der Verteidigungsrechte und der Fairness des Verfahrens gebührend zu berücksichtigen sind (Art. 10 Abs. 2 RL 2016/343). Besonders hervorzuheben ist schließlich, dass gesetzlich statuierte Dokumentations-, Aufbewahrungs- und Herausgabepflichten und sich hierauf beziehende Anordnungen der Ermittlungsbehörden keinen Verstoß gegen das Schweigerecht darstellen sollen (Erwägungsgrund 29 RL 2016/343). b) Rechte beschuldigter Kinder und Jugendlicher71 Ebenfalls konnte das europäische Legislativverfahren hinsichtlich einer Richtlinie über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige oder beschuldigte Kinder erfolgreich abgeschlossen werden;72 diese ist bis zum 11.6.2019 in nationales Recht umzusetzen. In Abschwächung des Kommissionsvorschlags ist die Richtlinie nicht zwingend auf solche Angeklagte anzuwenden, die erst nach Tatbegehung volljährig geworden sind (Art. 2 Abs. 3 RL 2016/800). Die Pflichten zur Information der Erziehungsberechtigten bzw. einer Ersatzperson wurden näher spezifiziert (Art. 5 RL 2016/ 68 62 KOM (2016) 267 endg. v. 19.5.2016, S. 15 f. Rahmenbeschl. 2008/841/JI des Rates v. 24.10.2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, ABl. EU 2008 Nr. L 300, S. 42; siehe hierzu Hecker, ZIS 2016, 467 (470 ff.). 64 KOM (2016) 448 endg. v. 7.7.2016. 65 Vgl. Ratsdok. 6876/15 LIMITE; ergänzend Ratsdok. 7441/16. 66 Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2015, 79 (88). 67 EuGH, Urt. v. 4.2.2016 – C-336/14 (Ince) m. Anm. und Bespr. (u.a.) Streinz, JuS 2016, 568; Weidemann, NVwZ 2016, 374. 63 Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (114) sowie Ahlbrecht, StV 2016, 257. 69 Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 9.3.2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren, ABl. EU 2016 Nr. L 65, S. 1. 70 Vgl. die gegenteilige Auffassung der Kommission, Ratsdok. 5561/16. 71 Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (115). 72 Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.5.2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, ABl. EU 2016 Nr. L 132, S. 1. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 18 Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick _____________________________________________________________________________________ 800). Strafverfahren gegen Kinder und Jugendliche sind grundsätzlich Fälle notwendiger Verteidigung (Art. 6 Abs. 2 RL 2016/800; zu „legal aid“ siehe Art. 18 RL 2016/800), insbesondere vor (!) und während jeder polizeilichen Befragung (Art. 6 Abs. 3, Abs. 7 RL 2016/800). Davon kann allerdings abgesehen werden, wenn dies zur Abwehr schwerwiegender Gefahren oder aber zur effektiven Strafverfolgung von schwerer Kriminalität („wenn ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines sich auf eine schwere Straftat beziehenden Strafverfahrens abzuwenden“) unter Berücksichtigung des Kindswohls im Einzelfall erforderlich sei (Art. 6 Abs. 8 RL 2016/800). Zudem dürfen die Mitgliedstaaten generell von einer notwendigen Verteidigung absehen, wenn eine solche „nicht verhältnismäßig“ sei und ein Verzicht auf eine notwendige Verteidigung – auch unter Berücksichtigung des Tatvorwurfs und der drohenden Rechtsfolgen – mit dem Wohl des Jugendlichen im Einklang stehe; auf jeden Fall aber sei die Pflicht zu notwendiger Verteidigung gegeben, soweit Freiheitsentzug verhängt oder vollstreckt wird (Art. 6 Abs. 6 RL 2016/800). Eine audiovisuelle Aufzeichnung von Vernehmungen ist – ebenfalls in Abschwächung des Kommissionsvorschlags – nur nach Maßgabe einer Abwägung vorzunehmen (Art. 9 RL 2016/800). Ebenso ist es ausreichend, wenn Verfahren gegen Jugendliche unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt werden können (Art. 14 Abs. 2 RL 2016/800). c) Prozesskostenhilfe73 Ende Juni 2016 konnte eine politische Einigung über den Richtlinienvorschlag über Prozesskostenhilfe 74 geschlossen werden. Um das – kraft Europarecht garantierte – Recht auf einen Rechtsbeistand auch für diejenigen Beschuldigten wirksam werden zu lassen, die sich einen Rechtsbeistand nicht leisten können, sieht diese Richtlinie vor, dass in bestimmten Fällen Prozesskostenhilfe (oder, als funktionales Äquivalent, notwendige Verteidigung) zu gewähren ist (Art. 4 Abs. 1 RL-E i.d.F. Ratsdok. 10665/16 LIMITE). Dies ist indes begrenzt auf Fälle des Freiheitsentzugs sowie auf Tatrekonstruktionen und Gegenüberstellungen (Art. 2 Abs. 1 RL-E i.d.F. Ratsdok. 10665/16 LIMITE). In Fällen des Europäischen Haftbefehls ist Prozesskostenhilfe grundsätzlich nur im Vollstreckungsstaat zu gewähren; im Ausstellungsstaat nur dann, wenn dies zur effektiven Gewährleistung von Rechtsschutz notwendig ist (Art. 5 Abs. 2 RL-E i.d.F. Ratsdok. 10665/16 LIMITE). Nicht aufgegriffen wurde der Vorschlag des Berichterstatters des Europäischen Parlaments, dass wenigstens in bestimmten Konstellationen einer Europäischen Ermittlungsanordnung (Vernehmungen, Gegenüberstellungen, Tatort-Rekonstruktionen) auch im Vollstreckungsstaat dem Beschuldigten Prozesskostenhilfe zu gewähren sei. 73 Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (115 f.). Siehe zuvor Ratsdok. 6603/15; Kommissionsvorschlag in KOM (2013) 824 endg. v. 27.11.2013. 74 2. Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen (RL 2010/64/EU); Recht auf Belehrung und Unterrichtung (RL 2012/13/EU)75 Mit den Folgewirkungen des EuGH-Urteils in der Rechtssache Covaci76 beschäftigen sich drei neue Vorabentscheidungsersuchen. Der EuGH hatte in jener Sache geurteilt, dass „der Beschuldigte tatsächlich über die volle Frist für einen Einspruch gegen den Strafbefehl verfüg[en]“ können muss (Rn. 64 ff.). Daher sei entscheidend, wann er persönlich und tatsächlich Kenntnis von der ihn belastenden Entscheidung erhalte. Anders indes die Konzeption des deutschen Zustellungsrechts, das insbesondere mit Zustellungsbevollmächtigten (§§ 116a Abs. 3, 132 Nr. 2 StPO) und -fiktionen operiert. Das LG München versucht nunmehr die Rechtskraft und daher die Vollstreckbarkeit (§ 449 StPO) eines Strafbefehls, der an einen Zustellungsbevollmächtigten zugestellt wurde, dadurch abzusichern, dass es den Betroffenen auf die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweist und ihm anstelle der in § 45 Abs. 1 StPO genannte Wochenfrist eine zweiwöchige Frist gewährt.77 Die Frage, ob dieser Lösungsansatz trotz der dem Betroffenen drohenden Rechtsnachteile (so drohende Strafvollstreckungsmaßnahmen) europarechtskonform ist, legte das LG München dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.78 In ähnliche Stoßrichtung tendieren auch zwei weitere Vorabentscheidungsersuchen des AG München (Ermittlungsrichter).79 Die Streitfrage, ob auch Strafbefehle „Urteile“ i.S.d. § 37 Abs. 3 StPO sind80 und daher bei ihrer Übersetzungsbedürftigkeit nur dann als wirksam zugestellt gelten, wenn auch die Übersetzung ebenfalls zugestellt wurde, hat das LG Aachen auf die europäische Arena gehoben.81 Diese Frage wurde dem EuGH unter Verweis auf Art. 3 RL 2010/64/EU vorgelegt. Jene Vorschrift spricht zwar nur von der Verpflichtung, „jegliches Urteil“ zu übersetzen, was aber aus teleologischen Gründen auf sämtliche rechtskraftfähige, aber potentiell mit Rechtsbehelfen angreifbare gerichtliche Entscheidungen zu erstrecken sein dürfte. Ein ungarisches Vorabentscheidungsersuchen zur Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzun- 75 Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (116). EuGH, Urt. v. 15.10.2015 – C-216/14 (Covaci) m. Anm. Böhm, NJW 2016, 306; Brodowski, StV 2016, 210; Kuhlanek, JR 2016, 208. 77 Zu diesem – auf Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot zurückgehenden – Lösungsansatz siehe bereits Brodowski, StV 2016, 210 (211). 78 LG München, Beschl. v. 23.3.2016 – 25 Qs 26/16. Das Verfahren wird vor dem EuGH unter der Rs. C-188/16 (Opria) geführt. 79 Diese Verfahren werden vor dem EuGH unter den Rs. C124/16 (Tranca) sowie Rs. C-213/16 (Reiter) geführt. 80 Bejahend LG Stuttgart StV 2014, 539; LG Gießen StraFo 2015, 243; verneinend LG Ravensburg NStZ-RR 2015, 219. 81 LG Aachen, Beschl. v. 6.5.2016 – 66 Qs-605 Js 1847/1510/16. Das Verfahren wird vor dem EuGH unter der Rs. C278/16 (Sleutjes) geführt. 76 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 19 Dominik Brodowski _____________________________________________________________________________________ gen in Strafverfahren82 betrifft die Frage, ob die Gewährleistungen dieser Richtlinie auch in einem besonderen ungarischen Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren anzuwenden sind. Beachtlich – und bemerkenswert – ist jedoch die Antwort des EuGH auf eine weitere Vorlagefrage: 83 Der Anwendungsbereich dieser Richtlinie sei deren Art. 1 zufolge auf Fälle des Europäischen Haftbefehls und auf Strafverfahren „bis zum Abschluss des Verfahrens“ begrenzt, „worunter“, so der EuGH, „die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob [die beschuldigte Person] die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren“ (Rn. 36). Damit ist aber die Rechtsstellung von Verurteilten im Strafvollstreckungsverfahren (soweit sich dieses nicht Europäischer Haftbefehle bedient) in transnationalen Fällen merklich beeinträchtigt. 3. Digitale Spuren/Verfolgung von Cyberkriminalität Auf seiner 3473. Tagung nahm der Rat der Europäischen Union – Justiz und Inneres – Schlussfolgerungen des Rates der Europäischen Union zur Verbesserung der Strafjustiz im Cyberspace84 sowie Schlussfolgerungen des Rates der Europäischen Union zum Europäischen Justiziellen Netz für Cyberkriminalität85 an. Letzteres dient der Vernetzung spezialisierter Justizbehörden bzw. derer Abteilungen im Rahmen des (allgemeinen) Europäischen Justiziellen Netzes (EJN). Unter Verweis auf die „praktische[n] und rechtliche[n] Hindernisse [...] in Fällen, in denen der Ursprung der Cyberangriffe oder der Standort der elektronischen Beweismittel (noch) nicht bekannt oder flüchtig ist oder einander widersprechende Regelungen die Zusammenarbeit mit den Diensteanbietern behindern“86 fordert der Rat, dass eine „verstärkte“ (informelle) „Zusammenarbeit mit Diensteanbietern [...] in Betracht gezogen werden [soll], die eine rasche Offenlegung von Daten ermöglich[t];“ so „ließen sich die Rechtshilfeersuchen zwischen den zuständigen Behörden mengenmäßig verringern“.87 Hierdurch und durch die Verwendung „vereinheitlichter Formulare“ und Prozeduren in der Kommunikation zwischen Strafverfolgungsbehörden und Diensteanbietern wird daher einer Privatisierung der Rechtshilfe in Strafsachen Vorschub geleistet.88 Auch wurde erwogen, auf förmliche Rechtshilfe in Strafsachen zugunsten einer polizeilichen Zusammenarbeit immer dann zu verzichten, wenn es nicht zur Erlangung von verwertbaren Beweismitteln für die gerichtliche Hauptverhandlung erforderlich sei. 89 Daneben werden die Bedeutung von Aus- und Fortbildung und die Notwendigkeit eines hinreichenden Ressourceneinsatzes für (nationale wie transnationale) Ermittlungen gegen Cyberkriminalität betont.90 Schließlich solle die Kommission „Möglichkeiten für ein gemeinsames Konzept der EU für die Zuständigkeit für Ermittlungsmaßnahmen im Cyberspace [...] sondieren“, was Fallkonstellationen betrifft, „wenn mehrere Informationssysteme in verschiedenen Gerichtsbarkeiten gleichzeitig genutzt werden, [...] wenn sich einschlägige elektronische Beweismittel innerhalb kurzer Zeit zwischen verschiedenen Gerichtsbarkeiten bewegen oder wenn der Standort der elektronischen Beweismittel oder der Ort der kriminellen Handlung mit ausgeklügelten Methoden verschleiert werden, so dass es zu einem ‚Standortverlust‘ kommt“ („loss of location“).91 Dies betrifft ausdrücklich auch die Vornahme von transnationalen Ermittlungen „unabhängig von physischen Grenzen“. Als Anknüpfungspunkte beispielsweise für Herausgabe- oder Auskunftsverlangen gegenüber Diensteanbietern werden diskutiert dessen Sitz und dessen wirtschaftliche Betätigung, aber auch der „gewöhnliche [...] Aufenthaltsort der beschuldigten oder verdächtigen Person und/oder [der] Aufenthaltsort der geschädigten Person“. Erwogen werden sollen „mögliche Analogien zu anderen grenzübergreifenden rechtlichen Regelungen wie z.B. dem Open-Sky-Abkommen und dem Seerechtsübereinkommen [...] und dem Wettbewerbsrecht der EU“. 92 4. Gemeinsame Ermittlungsgruppen/Joint Investigation Teams93 Ein Netzwerk von nationalen Experten zu Gemeinsamen Ermittlungsgruppen (Network of National Experts on Joint Investigation Teams [JITs]) legte im Dezember 2015 einen ersten Evaluierungsbericht vor, der zugleich auch etliche Handlungsempfehlungen für Gemeinsame Ermittlungsgruppen enthält.94 Schwierigkeiten bestünden in operativer Hinsicht bei der Finanzierung von Gemeinsamen Ermittlungsgruppen, der verschlüsselten Kommunikation zwischen den Beteiligten der Ermittlungsgruppe und der Sprachenfrage. Aus rechtlicher Sicht beachtenswert sind erstens Schwierigkeiten beim Austausch von Informationen, die im Wege der Rechtshilfe von Drittstaaten erlangt wurden, zweitens die Vgl. Ratsdok. 7323/16, S. 8: „The general understanding is that police cooperation is aimed at exchanging information that could lead to the opening of criminal proceedings. The purpose of MLA is to obtain evidence for use in criminal proceedings. Participants were of the opinion that when police-to-police cooperation is possible, MLA should not be used.“ 90 Ratsdok. 10007/16, S. 8 f. 91 Ratsdok. 10007/16, S. 10. 92 Ratsdok. 10007/16, S. 10 f.; siehe hierzu ergänzend Ratsdok. 7323/16. 93 Rahmenbeschl. des Rates v. 13.6.2002 über gemeinsame Ermittlungsgruppen, ABl. EG 2002 Nr. L 162, S. 1. 94 Ratsdok. 15179/15. 89 82 Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.10.2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, ABl. EU 2010 Nr. L 280, S. 1. 83 EuGH, Urt. v. 9.6.2016 – C-25/15 (Balogh). Zu einem anderen Aspekt dieses Urteils siehe noch unten V. 6. c). 84 Ratsdok. 10007/16. 85 Ratsdok. 10025/16. 86 Ratsdok. 10007/16, S. 4. 87 Ratsdok. 10007/16, S. 5. 88 Zur vergleichbaren Tendenz bezüglich Drittstaaten siehe ergänzend unten VI. 4. b). _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 20 Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick _____________________________________________________________________________________ Beachtung der nötigen Standards, um die Verwertbarkeit von Beweismitteln sicherzustellen, sowie drittens die Notwendigkeit, Fragen der Jurisdiktion frühestmöglich zu klären. 95 Erhellend zur Praxis und zum Selbstverständnis von Gemeinsamen Ermittlungsgruppen ist zudem ein Leitfaden, welcher von dem genannten Netzwerk in Zusammenarbeit mit europäischen Institutionen verfasst wurde.96 5. Administrativer Ansatz zur Prävention und Bekämpfung der schweren und organisierten Kriminalität Auf seiner 3473. Tagung nahm der Rat der Europäischen Union – Justiz und Inneres – am 9.6.2016 Schlussfolgerungen zum administrativen Ansatz zur Prävention und Bekämpfung der schweren und organisierten Kriminalität an. 97 Ein solcher administrativer Ansatz soll „strafrechtliche [...] Maßnahmen zur Prävention, Bekämpfung, Unterbindung und Verfolgung schwerer und organisierter Kriminalität“ ergänzen und sich insbesondere folgender bemerkenswerter Methoden bedienen: Personen, die an kriminellen Handlungen beteiligt sind, sollen weitestmöglich daran gehindert werden, „legale Verwaltungsinfrastrukturen“, „Genehmigungs- oder Auftragsverfahren“ für kriminelle Zwecke zu nutzen. Hierzu soll eine „präventive Kontrolle und Überwachung natürlicher und juristischer Personen“ sowie der Informationsaustausch zwischen Strafverfolgungsbehörden und Administrativbehörden gestärkt werden. Ferner sollen Gebäude enteignet oder geschlossen werden, „wenn es aufgrund krimineller Handlungen in diesen Gebäuden oder in deren Nähe zur Belästigung der Öffentlichkeit kommt“. 6. Vorratsdatenspeicherung von Fluggastdatensätzen (PNRDaten)98 Nach langwierigen Verhandlungen99 wurde eine europäische Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung von Fluggastdatensätzen beschlossen und im Amtsblatt veröffentlicht. Zwar erfasst diese auf den ersten Blick nur Flüge aus oder in Drittstaaten. Sämtliche Mitgliedstaaten haben jedoch bereits bekundet, von der Öffnungsklausel in Art. 2 RL (EU) 2016/681 Gebrauch zu machen,100 so dass letztlich auch sämtliche innereuropäischen Flüge erfasst werden. Die erhobenen PNR„[N]eed to consider jurisdictional issues at the earliest possible stage since these issues could have an impact on the operational phase [execution of European arrest warrants]“, Ratsdok. 15179/15, S. 7. 96 Ratsdok. 11501/16. 97 Ratsdok. 9935/16. 98 Richtlinie (EU) 2016/681 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.4.2016 über die Verwendung von Fluggastdatensätzen (PNR-Daten) zur Verhütung, Aufdeckung, Ermittlung und Verfolgung von terroristischen Straftaten und schwerer Kriminalität, ABl. EU 2016 Nr. L 119, S. 132. Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (116). 99 Kommissionsvorschlag in KOM (2011) 32 endg. v. 2.2.2011; aufschlussreich zum Ablauf der Verhandlungen ist Ratsdok. 14024/15. 100 Ratsdok. 15271/15. 95 Daten dürfen insbesondere mit Fahndungsdatenbanken abgeglichen werden (Art. 6 Abs. 2 lit. a, Abs. 3 RL [EU] 2016/ 681). Daneben dürfen sie zur einzelfallbezogenen „Beantwortung von auf einer hinreichenden Grundlage gebührend begründeten Anfragen zuständiger Behörden“ genutzt werden, soweit dies dem Zweck „der Verhütung, Aufdeckung, Ermittlung und Verfolgung von terroristischen Straftaten oder schwerer Kriminalität“ dient (Art. 6 Abs. 2 lit. b RL [EU] 2016/681). Eine auf diese Richtlinie beschränkte Definition schwerer Kriminalität findet sich in Art. 3 Nr. 9, Anhang II und erstreckt sich beispielsweise auch auf Wirtschaftsspionage und „Betrugsdelikte, einschließlich Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union“. Nach Ablauf einer ersten Speicherdauer von sechs Monaten sollen die Fluggastdatensätze für weitere 4 1/2 Jahre maskiert gespeichert werden, so dass auf diese nur unter erschwerten prozeduralen Voraussetzungen zugegriffen werden kann. 7. Vorratsdatenspeicherung von TelekommunikationsVerbindungsdaten101 Seit dem EuGH-Urteil, das die europäische Rechtsgrundlage zur Vorratsdatenspeicherung von TelekommunikationsVerbindungsdaten für grundrechtswidrig und nichtig erklärte,102 hat sich die Divergenz zwischen nationalen Regelungen einer solchen Vorratsdatenspeicherung weiter vergrößert. Dies führte zu neuen Diskussionen im Rat der Europäischen Union – Justiz und Inneres – und seinen Arbeitsgruppen:103 Manche Mitgliedstaaten sprachen sich daher für einen neuen Legislativvorschlag durch die Kommission aus. Zunächst jedoch solle eine weitere Entscheidung des EuGH abgewartet werden, namentlich zur Frage, ob und inwieweit eine nationale Regelung zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikations-Verbindungsdaten mit europäischem Datenschutzrecht und europäischen Grundrechten vereinbar ist.104 In seinen Schlussanträgen vom 19.7.2016 bejaht Generalanwalt Henrik Saugmandsgaard Øe dies unter gewissen Kautelen. Die Speicherung und der Zugriff auf Telekommunikations-Verbindungsdaten unterfielen der ePrivacy-Richtlinie 2002/58/EG, so dass der Anwendungsbereich der EUGrundrechtecharta eröffnet sei. Der Eingriff in die Grundrechte aus Art. 7, Art. 8 GRC sei jedoch nur zur „Bekämpfung schwerer Kriminalität“ – nicht aber zur Verfolgung einfacher Kriminalität oder für nicht strafrechtliche VerfahVgl. zuletzt Brodowski, ZIS 2015, 79 (93), sowie – aus spezifisch europäischer Perspektive – Böhm/Andrees, CR 2016, 146; Schiedermair/Mrozek, DÖV 2016, 89; Wollenschläger/Krönke, NJW 2016, 906. 102 EuGH, Urt. v. 8.4.2014 – Rs. C-293/12, C-594/12. 103 Ratsdok. 14246/15, Ratsdok. 14677/15; siehe ergänzend auch Ratsdok. 14369/15, S. 5 f. sowie Schlussfolgerungen des Consultative Forum of Prosecutors General and Directors of Public Prosecutions of the Member States of the European Union, Ratsdok. 5930/16. 104 Dieses Verfahren wird vor dem EuGH unter der Rs. C203/15 (Tele 2 Sverige) geführt; siehe nunmehr auch das ebenfalls anhängige (Eil-)Verfahren Rs. C-698/15 PPU (Watson u.a.). 101 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 21 Dominik Brodowski _____________________________________________________________________________________ ren – und unter Beachtung der im EuGH-Urteil zur europäischen Rechtsgrundlage genannten Bedingungen rechtfertigbar, so Saugmandsgaard Øe. 8. Entschädigung der Opfer von Straftaten (RL 2004/80/EG) Generalanwalt Yves Bot hat in seinen Schlussanträgen vom 12.4.2016 die italienische Rechtslage zur Entschädigung der Opfer von Straftaten als unionsrechtswidrig bezeichnet, da nur die Opfer einiger weniger, besonders qualifizierter (insb. terroristischer) Straftaten eine derartige Entschädigung erhalten können.105 Hingegen sieht Art. 12 Abs. 2 RL 2004/80/ EG vor, dass derartige Entschädigungsleistungen für „in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten vorgesehen [sein müssen], die eine gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer gewährleistet“. Dies interpretiert Bot dahingehend, dass sich eine solche Regelung auf alle vorsätzlich begangenen Gewalttaten erstrecken muss. V. Zusammenarbeit in Strafsachen 1. Europäischer Haftbefehl106 a) Ablehnungsgrund unzureichender Haftbedingungen? In einem Grundsatzurteil unternahm die Große Kammer des EuGH am 5.4.2016 eine Kurskorrektur dahingehend, dass unter „außergewöhnlichen Umständen“ die gegenseitige Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen – hier eines Europäischen Haftbefehls – einzuschränken ist, selbst wenn kein enumerativ genannter Ablehnungsgrund einschlägig ist.107 Unter Verweis auf die besondere Bedeutung des Verbots unmenschlicher und erniedrigender Strafe oder Behandlung bestehe nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht des Vollstreckungsstaats, bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte detailliert zu prüfen, ob dem Gesuchten nach seiner Überstellung eine solche Strafe oder Behandlung konkret drohe. Lasse sich eine derartige Sorge nicht ausräumen – sei es durch Zusicherungen, sei es durch niederschwelligere Mechanismen108 –, so sei die Überstellung aufzuschieben, aber nicht aufzugeben (1. Stufe). (Erst) Wenn der weitere Vollzug der Auslieferungshaft angesichts der eingetretenen Verzögerung unverhältnismäßig geworden ist, sei der Haftbefehl außer Vollzug zu setzen (2. Stufe). Hiermit öffnet der EuGH zugleich die Tür, „auch in anderen Fällen des Europäischen Haftbefehls und insbesondere in Bagatellfällen breit- flächig aus Gründen der Verhältnismäßigkeit auf den Vollzug von Auslieferungshaft zu verzichten, soweit auch anderweitig sichergestellt werden kann, das ‚die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person‘ zum Überstellungszeitpunkt gegeben sind.“109 Erst wenn „binnen längerer Zeit keine Gewähr für die Einhaltung hinreichender Haftbedingungen [...] geschaffen werden kann“,110 müsse, so die Große Kammer, „die vollstreckende Justizbehörde darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist“ (Rn. 104, 3. Stufe). b) Mindeststrafdrohung Die Maßgabe des RbEuHb, dass dieser nur bei Überschreitung eines gewissen Mindesthöchstmaßes der Strafdrohung anwendbar ist,111 bezieht sich allein auf das Recht des Ausstellungsmitgliedsstaates. Dies beschloss bereits am 25.9.2015 die Vierte Kammer des EuGH in Fortführung bisheriger Rechtsprechung nun auch für Fälle, bei denen kein Listendelikt nach Art. 2 Abs. 2 RbEuHb gegeben ist und daher die beiderseitige Strafbarkeit dennoch zu prüfen ist. 112 c) Erfordernis eines nationalen Haftbefehls als Grundlage des Europäischen Haftbefehls Mit Urteil vom 1.6.2016 stellte die Zweite Kammer des EuGH klar, dass jeder Europäische Haftbefehl auf einem nationalen Haftbefehl beruhen muss, der nicht mit dem Europäischen Haftbefehl identisch sein darf. 113 Denn nur dann werde gewährleistet, dass der gesuchten Person mindestens dieselben Verfahrens- und Grundrechte zugutekommen wie in einer rein nationalen Situation (Rn. 56). Darauf aufbauend entschied der EuGH in diesem Verfahren, dass ein formaler Mangel eines Europäischen Haftbefehls – hier fehlte nämlich ein Verweis auf einen nationalen Haftbefehl –, der auch nicht im Rahmen von Konsultationen nach Art. 15 Abs. 2 RbEuHb geheilt wird, dazu führt, dass dieser „nicht gültig“ und daher auch „nicht vollstreckt“ werden darf (Rn. 67). Damit wird eine weitere Lücke im (zu) engen Katalog der Ablehnungsgründe der Art. 4, 4a, 5 RbEuHb geschlossen. d) Vollstreckung von Abwesenheitsentscheidungen Die (Mindest-)Voraussetzungen in Art. 4 Abs. 1 lit. a RbEuHb, die an zu vollstreckende Abwesenheitsentscheidungen gestellt werden, sind europäisch-autonom auszule- 105 Das Verfahren wird vor dem EuGH unter der Rs. C601/14 (Kommission v. Italien) geführt. 106 Rahmenbeschl. des Rates v. 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten i.d.F. CONSLEG 2002F0584 v. 28.3.2009. Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (117) sowie Riegel/ Speicher, StV 2016, 250. 107 EuGH, Urt. v. 5.4.2016 – Rs. C-404/15 (Pál Aranyosi) und C-669/15 PPU (Robert Căldăraru) m. Anm. und Bespr. (u.a.) Böhm, NJW 2016, 1708; Brodowski, JR 2016, 415; Meyer, JZ 2016, 621; Satzger, NStZ 2016, 514. 108 Einschränkend Meyer, JZ 2016, 621 (622 f.): Das völkerrechtliche Instrument von Zusicherungen stehe nicht zur Verfügung. 109 Brodowski, JR 2016, 415 (430). Brodowski, JR 2016, 415 (430 f.); skeptischer Meyer, JZ 2016, 621 (623). 111 Grundsätzlich zwölf Monate (Art. 2 Abs. 1 RbEuHb); bei Wegfall des Erfordernisses der beiderseitigen Strafbarkeit bei Listendelikten 3 Jahre (Art. 2 Abs. 2 RbEuHb). 112 EuGH, Beschl. v. 25.9.2015 – C-463/15 (Openbaar Ministerie v. A.) unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 12.9.2006 – C-303/05 (Advocaten voor de Wereld). 113 EuGH, Urt. v. 1.6.2016 – C-241/15 (Bob-Dogi). Ebenso zuvor Supreme Court of the United Kingdom, Urt. v. 30.5.2015 – (2012) UKSC 22 (Assange), Rn. 79. 110 _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 22 Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick _____________________________________________________________________________________ gen.114 Daraus folge, so der EuGH, dass für die Frage, ob jemand „persönlich vorgeladen wurde“ oder ob er auf „andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde“, nicht mit Fiktionen des nationalen Prozessrechts gearbeitet werden dürfe (hier: die Selbstverpflichtung eines anderen Erwachsenen, der unter der Meldeadresse angetroffen wurde, die Ladung an den Beschuldigten auszuhändigen). Statt dessen müsse der Ausstellungsstaat dem Vollstreckungsstaat – nötigenfalls im Konsultationsverfahren des Art. 15 Abs. 2 RbEuHb – belegen, dass „zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass [die mit dem Europäischen Haftbefehl gesuchte Person] von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte“ (so die Formulierung in Art. 4 Abs. 1 lit. a a.E. RbEuHb). e) Anrechnung eines elektronischen Hausarrests als „verbüßte Haft“? Nach Art. 26 Abs. 1 RbEuHb ist ein im Vollstreckungsstaat infolge eines Europäischen Haftbefehls eingetretener „Freiheitsentzug“ auf die verbleibende Haftdauer anzurechnen. Auf ein polnisches Vorabentscheidungsersuchen hin bekräftigte der EuGH, dass der Begriff des „Freiheitsentzugs“ europäisch-autonom auszulegen ist. Zwar sei dies nicht zwingend mit „Haft“ gleichzusetzen, erfordere aber – unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 5 Abs. 1 EMRK – doch eine vergleichbare Schwere des Grundrechtseingriffs. Dies sei, so der EuGH, bei einer Verpflichtung, sich nachts zu Hause aufzuhalten, und einer entsprechenden elektronischen Überwachung („elektronischer Hausarrest“), hier flankiert durch regelmäßige Erscheinungspflichten bei der örtlichen Polizeibehörde, nicht gegeben.115 f) Fehlende beiderseitige Strafbarkeit und Gesamtstrafe Ein Mitgliedstaat ersuchte Schweden um die Auslieferung eines Verurteilten, der wegen mehrerer Straftaten zu einer (untrennbaren) Gesamtstrafe verurteilt wurde. Eine der Taten ist jedoch in Schweden nicht strafbar und stellt auch kein Listendelikt nach Art. 2 Abs. 2 RbEuHb dar. Das zuständige schwedische Gericht legte nun die Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vor, ob es in dieser Konstellation wegen fehlender beiderseitiger Strafbarkeit insgesamt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern darf.116 g) Auslieferung Minderjähriger Die Frage, ob und inwieweit auch Minderjährige auf Grundlage des RbEuHb zur Strafverfolgung und zur Strafvollstreckung ausgeliefert werden dürfen, steht im Zentrum eines belgischen Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH. So könne die Vorschrift in Art. 3 Nr. 3 RbEuHb nach Auffassung des vorlegenden Gerichts dahingehend ausgelegt werden, dass dieser die Auslieferung Minderjähriger gänzlich verbiete. Sei das nicht der Fall, sei unklar, ob nur eine absEuGH, Urt. v. 24.5.2016 – C-108/16 PPU (Dworzecki). EuGH, Urt. v. 28.7.2016 – C-294/16 PPU (JZ). 116 Das Verfahren wird unter der Rs. C-148/16 (Akarsar) geführt. 114 115 trakte Prüfung (also das Erreichen des Alters der Strafmündigkeit) oder auch eine konkrete Prüfung (so – nach deutschem Verständnis – die Voraussetzungen der Verantwortlichkeit nach § 3 S. 1 JGG) vorgenommen werden dürfe. 117 2. Europäische Vollstreckungsanordnung (RB 2008/909/JI)118 a) Normidentität als Voraussetzung beiderseitiger Strafbarkeit? Jedenfalls soweit kein Listendelikt nach Art. 7 Abs. 1 RB 2008/909/JI gegeben ist, kennt auch die Europäische Vollstreckungsanordnung den Ablehnungsgrund einer fehlenden beiderseitigen Strafbarkeit (Art. 7 Abs. 3, Art. 9 Abs. 1 lit. d RB 2008/909/JI). Ein slowakisches Vorabentscheidungsersuchen betrifft nun die – soweit ersichtlich im europäischen Zusammenarbeitsrecht bislang nicht abschließend geklärte – Frage, ob für eine beiderseitige Strafbarkeit eine Normidentität zwischen beiden Straftatbeständen119 vorauszusetzen ist.120 In seinen Schlussanträgen vom 28.7.2016 zu diesem Verfahren schlägt Generalanwalt Bobek vor, einen „relativ hohen Grad an Abstraktion“ anzulegen und insbesondere keine „exakte Übereinstimmung der Systematik“ zu verlangen (Rn. 76 f.). b) Wechselspiel zwischen Europäischem Haftbefehl und Europäischer Vollstreckungsanordnung Schweden verwies auf eine Fallgestaltung, bei der gegen eine Person wegen desselben Strafurteils sowohl ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung dieses Urteils als auch ein Ersuchen nach der Europäischen Vollstreckungsübernahme vorgelegen habe.121 Daher fragte Schweden bei den anderen Ratsdelegationen an, ob vergleichbare Konstellationen bekannt seien und daher über Art. 4 Abs. 6 RbEuHb hinausgehender Koordinationsbedarf bestehe. c) Zur Stichtagsregelung bei Altfällen Die Rechtsbank Amsterdam legte dem EuGH eine Frage zur Übergangsbestimmung in Art. 28 Abs. 2 RB 2008/909/JI vor: Diese Regelung gestattet es den Mitgliedstaaten, das vor dem 117 Das Verfahren wird unter der Rs. C-367/16 (Piotrowski) geführt. 118 Rahmenbeschl. 2008/909/JI des Rates v. 27.11.2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union, ABl. EU 2008 Nr. L 327, S. 27 i.d.F. CONSLEG 2008F0909 v. 28.3.2009. Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2015, 79 (97). 119 Zur vergleichbaren Streitfrage bei § 3 IRG vgl. einerseits Vogel/Burchard, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 40. Lfg., Stand: Dezember 2016, § 3 IRG Rn. 29; andererseits Kubiciel, in: Ambos/König/Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht in Strafsachen, 2015, § 3 IRG Rn. 26. 120 Das Verfahren wird unter der Rs. C-289/15 (Grundza) geführt. 121 Ratsdok. 14775/15. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 23 Dominik Brodowski _____________________________________________________________________________________ 5.12.2011 geltende Recht auf Altfälle weiter anzuwenden. Dabei ist indes unklar, ob diese Regelung nur auf Urteile anwendbar ist, die zu diesem Stichtag bereits rechtskräftig waren, oder auch auf zum Stichtag zwar erlassene, aber damals noch nicht rechtskräftige Urteile.122 d) Anrechnung von in Haft geleisteter Arbeit Ein bulgarisches Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH thematisiert, ob bei einer Vollstreckungsübernahme die vor der Übernahme der Vollstreckung in Haft geleistete Arbeit nach dem Recht des Ausstellungsstaats oder aber nach dem Recht des Vollstreckungsstaats anzurechnen ist. 123 In seinen Schlussanträgen vom 30.5.2016 weist Generalanwalt Yves Bot darauf hin, dass die Vollstreckungsübernahme durch Bulgarien nicht auf Grundlage der Europäischen Vollstreckungsanordnung erfolgt sei, sondern noch nach dem Europarats-Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen. Gleichwohl entfalte der Rahmenbeschluss angesichts des Ablaufs der Umsetzungsfrist eine Verpflichtung zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung nationalen Rechts. Aus Art. 17 Abs. 1, Abs. 2 RB 2008/909/JI folge wiederum, so Bot, dass allein der Urteilsstaat darüber zu befinden habe, ob und inwieweit Arbeit, die vor der Überstellung in Strafhaft geleistet wurde, anzurechnen ist, auch wenn dies für den Verurteilten ungünstiger sei. Daher habe es das bulgarische Gericht zu unterlassen, die in Dänemark geleistete Arbeit nach bulgarischem (und nicht nach dänischem) Strafvollstreckungsrecht anzurechnen. 3. Befangenheit infolge EuGH-Vorlagebeschluss? In einem weiteren Vorabentscheidungsersuchen in demselben Strafverfahren hat die Große Kammer des EuGH betont, dass eine Vorlageentscheidung eines nationalen Gerichts nach Art. 267 AEUV und die daraus folgende Begründungspflichten – in denen das Gericht ggf. zum Nachweis der Entscheidungserheblichkeit bereits darlegen muss, von welchem Sachverhalt es überzeugt ist – nicht zu einer Befangenheit des nationalen Gerichts führt.124 Ohnehin sei das vorlegende Gericht nicht daran gehindert, so die Große Kammer, nach einer Entscheidung des EuGH erneut in die Beweisaufnahme einzutreten (Rn. 29 f.). 4. Europäische Geldstrafe und Geldbuße (RB 2005/214/JI)125 Die niederländische Ratspräsidentschaft suchte nach Wegen, die Anwendung der gegenseitigen Anerkennung von Geld122 Das Verfahren wird unter der Rs. C-582/15 (van Vemde) geführt. 123 Das Verfahren wird unter der Rs. C-554/14 (Ognyanov) geführt. 124 EuGH, Urt. v. 5.7.2016 – C-614/14 (Ognyanov). 125 Rahmenbeschl. 2005/214/JI des Rates v. 24.2.2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl. EU 2005 Nr. L 76, S. 16 i.d.F. CONSLEG 2005F0214 v. 28.3.2009. Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2015, 79 (98), sowie Johnson, ZIS 2016, 206. strafen und Geldbußen in der Strafrechtspraxis zu verbessern.126 So hob sie hervor, dass bei im Inland uneinbringlichen Geldstrafen zunächst versucht werden solle, diese europaweit zu vollstrecken, anstelle sogleich eine Ersatzfreiheitsstrafe zu verhängen und deren Vollstreckung über einen Europäischen Haftbefehl zu bewirken zu suchen. Außerdem wies sie auf praktische Schwierigkeiten bei der Vollstreckung von Sanktionen hin, die in schriftlichen Verfahren oder von Verwaltungsbehörden (bei Administrativsanktionen) verhängt wurden. 5. Berücksichtigung von in anderen EU-Mitgliedstaaten ergangenen Verurteilungen (RB 2008/675/JI)127 Ein von einem bulgarischen Gericht vorgelegtes Vorabentscheidungsersuchen betrifft vordergründig die Frage, ob die (i.d.R. strafschärfende) Berücksichtigung von einschlägigen Vorstrafen auch von einem Beschuldigten durchgesetzt werden kann.128 Das gegenständliche bulgarische Verfahren scheint zwar eine andere Tat zu betreffen als die vorhergehende Verurteilung, jedoch würde die dort abgeurteilte Straftat die in Bulgarien vorgeworfene Tat in materiell-rechtlicher Hinsicht konsumieren. Daher erhofft sich der Beschuldigte durch eine Berücksichtigung der ersten Verurteilung einen Vorteil – aufgrund Art. 3 Abs. 5 RB 2008/675/JI allerdings wohl ohne größere Aussicht auf Erfolg. 6. Europäisches Strafregisterinformationssystem (ECRIS) 129 a) Evaluation Im Januar 2016 legte die Kommission eine Evaluation des Europäischen Strafregisterinformationssystems (ECRIS) 130 vor. Darin betont die Kommission, wie wichtig es für die Strafzumessung sei, über vorausgehende Verurteilungen Bescheid zu wissen, auch wenn diese im EU-Ausland ergangen sind. Dieses Ziel werde durch ECRIS bezüglich EUBürger in großem Umfang erreicht, da sich 25 EU-Staaten am elektronischen Informationsaustausch beteiligen. Nur betreffend Malta, Portugal und Schweden gebe es noch (vorrangig technische) Schwierigkeiten. Unklarheiten und Divergenzen seien allerdings hinsichtlich der nachfolgenden Übermittlung der bereits vorliegenden Urteile und hinsicht126 Ratsdok. 7222/16. Rahmenbeschl. 2008/675/JI des Rates v. 24.7.2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren, ABl. EU 2008 Nr. L 220, S. 32. Siehe hierzu die Evaluation in KOM (2014) 312 endg. v. 2.6.2014, sowie zuletzt Brodowski, ZIS 2015, 79 (98). 128 Das Verfahren wird unter der Rs. C-171/16 (Beshkov) geführt. 129 Beschl. 2005/876/JI des Rates v. 21.11.2005 über den Austausch von Informationen aus dem Strafregister, ABl. EU 2005 Nr. L 322, S. 33 sowie Beschl. 2009/316/JI des Rates v. 6.4.2009 zur Einrichtung des Europäischen Strafregisterinformationssystems (ECRIS), ABl. EU 2009 Nr. L 93, S. 33; siehe hierzu Sollmann, NStZ 2012, 253. 130 KOM (2016) 6 endg. v. 19.1.2016. 127 _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 24 Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick _____________________________________________________________________________________ lich der Reichweite der Übermittlungs- und Speicherungsverpflichtung zu verzeichnen, namentlich inwieweit auch staatsanwaltschaftliche Abschlussverfügungen mitzuteilen seien. b) Erweiterung auf Drittstaatsangehörige Eine Schwachstelle weist das bestehende System allerdings hinsichtlich Drittstaatsangehörigen auf. Daten über Verurteilungen dieser Personen werden nicht nur durch einen leicht bestimmbaren Mitgliedstaat vorgehalten, sondern potentiell in allen EU-Mitgliedstaaten. Daher unterbreitete die Kommission zugleich einen Vorschlag für eine Erweiterung von ECRIS auf Drittstaatsangehörige.131 Dem Vorschlag zufolge sollen die Mitgliedstaaten mittels eines „hit/no-hit-Verfahrens“ schnell abfragen können, welche andere Mitgliedstaaten Informationen über Drittstaatsangehörige vorhalten. Zur Identifikation der Drittstaatsangehörigen sollen – von Ausnahmefällen abgesehen – u.a. deren Fingerabdrücke und die Namen der Eltern der verurteilten Person gespeichert und (zunächst in pseudonymisierter Form) abgeglichen werden (Art. 4a Abs. 1 lit. e, lit. j, Abs. 2 RL-E). Im Rat und seine Gremien stößt dieser Vorschlag grundsätzlich auf Zustimmung.132 Indes befürchten die Mitgliedstaaten, dass das vorgeschlagene dezentrale System und das transnationale Verfahren zum Identitätsabgleich zu aufwändig seien. Dies soll daher nach den Vorstellungen des Rates durch eine zentralisierte Datenbank ersetzt werden. c) Eintragung ausländischer Verurteilungen im Heimatstaat Betreffend Staatsangehörigen eines EU-Mitgliedstaats sieht das bisherige System des RB 2009/315/JI vor, dass Verurteilungen im Heimatstaat des Verurteilten in die dortigen Strafregister einzutragen sind. Hierfür sah Ungarn bislang ein gesondertes, förmliches Verfahren vor, das u.a. eine Übersetzung des Urteils erforderte und jedenfalls die Kosten hierfür dem Verurteilten auferlegte. Das widerspricht, so die Fünfte Kammer des EuGH, den Regelungen des RB 2009/315/JI und des begleitenden Beschlusses 2009/316.133 Denn der Heimatstaat müsse „Verurteilungen [...] unmittelbar auf der Grundlage der hierzu in Form von Codes von der Zentralbehörde des Urteilsmitgliedstaats über das ECRIS übermittelten Angaben in das Strafregister eintragen“ (Rn. 48). Ein weiteres Vorabentscheidungsersuchen sucht nun dieses gesonderte ungarische Verfahren gänzlich zu kippen.134 131 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung des Rahmenbeschl. 2009/315/JI des Rates im Hinblick auf den Austausch von Informationen über Drittstaatsangehörige und das Europäische Strafregisterinformationssystem (ECRIS) und zur Ersetzung des Beschl. 2009/316/JI des Rates, KOM (2016) 7 endg. v. 19.1.2016. 132 Ratsdok. 9798/16. 133 EuGH, Urt. v. 9.6.2016 – C-25/15 (Balogh). Zu einem anderen Aspekt dieses Urteils siehe bereits oben IV. 2. 134 Das Verfahren wird unter der Rs. C-390/16 (Lada) geführt. 7. Gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen zur Sicherstellung und Einziehung von Erträgen aus Straftaten135 Zur Vorbereitung einer neuen Legislativmaßnahme betreffend die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen zur Sicherstellung und Einziehung von Erträgen aus Straftaten veröffentlichte die Kommission ein Diskussionspapier. 136 Aus diesem lässt sich der Schluss ziehen, dass die Kommission einen weiten Anwendungsbereich beabsichtigt, der sich auch auf sogenannte „non-conviction based confiscation“, auf „civil forfeiture“ sowie auf Einziehung und Verfall bei Dritten erstreckt. Hierzu könne es notwendig sein, so die Kommission, bestimmte Verfahrensgarantien zu gewährleisten – etwa Selbstverständlichkeiten wie ein faires Verfahren und gerichtliche Begründungspflichten. Zudem erwägt die Kommission, auch solche Entscheidungen europaweit „verkehrsfähig“ zu machen, die auf einer Beweislastumkehr und/oder auf einem reduzierten Beweismaß (etwa überwiegende Wahrscheinlichkeit) beruhen. 8. Bereinigung des acquis; Europäische Beweisanordnung137 Durch drei Verordnungen wurden für entbehrlich gehaltene Rechtsakte in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufgehoben, darunter insbesondere die Europäische Beweisanordnung. 138 135 Zum bisherigen Rechtsrahmen siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2015, 79 (88 f.), zur Richtlinie 2014/42/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 3.4.2014 über die Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union, ABl. EU 2014 Nr. L 127, S. 39; korrigiert in ABl. EU 2014 Nr. L 138, S. 114, sowie Brodowski, ZIS 2010, 749 (757), zum Rahmenbeschl. 2006/783/JI des Rates v. 6.10.2006 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Einziehungsentscheidungen, ABl. EU 2006 Nr. L 328, S. 59 i.d.F. CONSLEG 2006F0783 v. 28.3.2009. 136 Verfügbar unter: http://ec.europa.eu/justice/criminal/files/discussion-cr-event20160620_en.pdf (5.1.2017). 137 Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (118). 138 Verordnung (EU) 2016/93 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.1.2016 zur Aufhebung bestimmter Rechtsakte aus dem Schengen-Besitzstand, ABl. EU 2016 Nr. L 26, S. 1; Verordnung (EU) 2016/94 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.1.2016 zur Aufhebung bestimmter Rechtsakte aus dem Schengenbesitzstand im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, ABl. EU 2016 Nr. L 26, S. 6; Verordnung (EU) 2016/95 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.1.2016 zur Aufhebung bestimmter Rechtsakte im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, ABl. EU 2016 Nr. L 26, S. 9. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 25 Dominik Brodowski _____________________________________________________________________________________ VI. Zusammenarbeit mit Drittstaaten und Internationalen Organisationen 1. Europarat a) Terrorismus139 Auf Grundlage eines entsprechenden Beschlusses des Rats der Europäischen Union140 zeichnete die Europäische Union das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung des Terrorismus (SEV-Nr. 196) sowie das Zusatzprotokoll zu jenem Übereinkommen. Hiervon zu unterscheiden ist der (zukünftige) Abschluss durch die EU sowie die sekundärrechtliche Umsetzung.141 b) Sexualstrafrecht Anfang März 2016 legte die Europäische Kommission zwei Legislativvorschläge vor, die darauf abzielen, dass die Europäische Union das (Istanbul-)Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt unterzeichnet und abschließt.142 Als Rechtsgrundlage wird vorrangig Art. 82 Abs. 2, Art. 84 AEUV herangezogen, da das Übereinkommen primär auf die „Verhütung von Gewalt gegen Frauen, einschließlich häuslicher Gewalt, und dem Schutz der Opfer solcher Straftaten“ abziele und die übrigen Bestimmungen – wozu die in Deutschland umstrittenen Pönalisierungsverpflichtungen zählen (Art. 33 ff. Istanbul-Übereinkommen) – lediglich eine „Ergänzung“ darstellen oder aber (teilweise) nicht der Kompetenz der EU unterfallen.143 Der Abschluss des Übereinkommens durch die EU würde daher nur begrenzt unmittelbare Auswirkungen auf die Strafrechtslage in Deutschland haben. In den Arbeitsgruppen des Rates stoßen die Ziele des Istanbul-Übereinkommens zwar auf Zustimmung; die Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten führt jedoch noch zu erheblichem Klärungsbedarf.144 2. WHO-Protokoll zur Unterbindung des unerlaubten Handels mit Tabakerzeugnissen Der Rat der Europäischen Union hat mit Zustimmung des Europäischen Parlaments beschlossen, dass die EU das WHO-Protokoll zur Unterbindung des unerlaubten Handels mit Tabakerzeugnissen abschließt; der Vollzug dieses Beschlusses steht indes noch aus.145 Gezeichnet wurde dieses Protokoll von der EU – wie auch von Deutschland – bereits 139 Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (118); zum Europarats-Übereinkommen und zum Zusatzprotokoll siehe Afsali, Der Beitrag des Europarats zur Terrorbekämpfung und sein Einfluss auf die Europäische Union, 2014, sowie Sieber/ Vogel, Terrorismusfinanzierung, 2015. 140 ABl. EU 2015 Nr. L 280, S. 22, 24. 141 Siehe hierzu oben III. 3. a). 142 KOM (2016) 109 endg. v. 4.3.2016; KOM (2016) 111 endg. v. 4.3.2016 143 Z.B. KOM (2016) 109 endg. v. 4.3.2016, S. 8, 11. 144 Ratsdok. 7551/16, S. 2. 145 Ratsdok. 10063/16 sowie Europäisches Parlament, Entschließung v. 7.6.2016 – P8_TA(2016)0242; zuvor Ratsdok. 5338/16. im Jahr 2013.146 Aus materiell-strafrechtlicher Sicht enthält das Protokoll umfangreiche Sanktionierungsverpflichtungen in Art. 14 Abs. 1: Diese erfassen neben jeglichem Handeltreiben unter Verstoß gegen die im Protokoll vorgegebenen Prozeduren auch weitere Verstöße gegen due diligenceVorschriften des Protokolls, die Geldwäsche erlangter Erträge (Art. 14 Abs. 1 lit. j WHO-Protokoll) sowie auch jegliche „Behinderung eines Amtsträgers oder amtlichen Beauftragten bei der Erfüllung seiner Pflichten im Zusammenhang mit der Verhinderung, Abschreckung, Aufdeckung, Untersuchung oder Unterbindung des unerlaubten Handels mit Tabak, Tabakerzeugnissen oder Herstellungsgeräten“ (Art. 14 Abs. 1 lit. h WHO-Protokoll). Inwieweit jedoch Strafrecht als Sanktionierungsmittel gewählt wird, ist den jeweiligen Vertragspartnern überlassen (Art. 14 Abs. 2 WHO-Protokoll). Aus strafverfahrensrechtlicher Sicht bemerkenswert ist – neben einer Konvergenzvorschrift für „[b]esondere Ermittlungsbefugnisse“ (z.B. „elektronische oder andere Formen der Überwachung und verdeckte Ermittlungen“) in Art. 19 Abs. 1 WHO-Protokoll – vor allem Art. 16 Abs. 2 WHO-Protokoll: Dieser Regelung zufolge soll jede Vertragspartei sicherstellen, „dass eine nach ihrem innerstaatlichen Recht bestehende Ermessensfreiheit hinsichtlich der Strafverfolgung von Personen wegen in Übereinstimmung mit Artikel 14 umschriebener rechtswidriger Handlungen einschließlich Straftaten so ausgeübt wird, dass die Maßnahmen der Strafrechtspflege in Bezug auf diese rechtswidrigen Handlungen einschließlich Straftaten größtmögliche Wirksamkeit erlangen, wobei der Notwendigkeit der Abschreckung von diesen rechtswidrigen Handlungen einschließlich Straftaten gebührend Rechnung zu tragen ist.“ 3. Schweiz und Liechtenstein – Prümer Beschluss Die Europäische Union einerseits, die Schweiz und Liechtenstein andererseits haben Verhandlungen über eine Beteiligung dieser Staaten an bestimmten Aspekten des sog. Prümer Beschlusses147 aufgenommen.148 4. Vereinigte Staaten von Amerika a) Datenschutzabkommen („umbrella agreement“)149 Nachdem der Judicial Redress Act durch den US-Senat und das US-Repräsentatenhaus beschlossen und von USPräsident Obama unterzeichnet wurde, legte die Europäische Kommission erwartungsgemäß ihren Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Unterzeichnung – im Namen der Europäischen Union – des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Europäischen Union über den Schutz personenbezogener Daten bei der Verhütung, Untersuchung, Aufdeckung und Verfolgung von Straf146 ABl. EU 2013 Nr. L 333, S. 73. Siehe oben I. 6. bei und mit Fn. 24. 148 Vgl. Ratsdok. 5760/16 sowie Ratsdok. 9823/1/16; der das Verhandlungsmandat vorbereitende Kommissionsvorschlag KOM (2015) 521 endg. ist nicht öffentlich. 149 Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (119) sowie Smagon, ZD 2016, 55. 147 _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 26 Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick _____________________________________________________________________________________ taten vor.150 Nach positivem Votum im Europäischen Rat – Justiz und Inneres – auf dessen 3465. Sitzung in Brüssel am 20.5.2016 und begleitet durch die Veröffentlichung im Amtsblatt151 wurde das Abkommen Anfang Juni in Amsterdam unterzeichnet. Zu dessen Inkrafttreten („Abschluss“) ist jedoch ein weiterer Ratsbeschluss und zuvor ein Beschluss des Europäischen Parlaments erforderlich.152 Unterdessen sieht sich das Abkommen europaverfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt, die in einem vertraulichen Rechtsgutachten des Juristischen Dienstes des Europäischen Parlaments näher ausgeführt werden:153 So sei ein solches Abkommen – anders als eine herkömmliche Angemessenheitsentscheidung, wie sie der Schrems-Entscheidung des EuGH zugrunde lag154 – nur eingeschränkter Kontrolle durch den EuGH unterworfen. Zudem gewähre dieses Abkommen – wie auch der Judicial Redress Act – nur Rechtsschutz für EU-Bürger, nicht aber für Drittstaatsangehörige, die (etwa als Gebietsansässige) EU-Recht unterworfen sind. Dies führe, so der Juristische Dienst des Europäischen Parlaments, zu einer nicht hinnehmbaren Rechtsschutzlücke. b) Rechtshilfeübereinkommen155 Ein Zwischenbericht zur Evaluation des Abkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Rechtshilfe sieht zwar keinen Änderungsbedarf am Vertragstext, wohl aber Potential zur Effektuierung des Abkommens in der Praxis der Strafrechtspflege.156 Neben organisatorischen Veränderungen (etwa der Einrichtung von „Single Point of Contacts“) und einer vermehrten Nutzung elektronischer Kommunikation zwischen den beteiligten Stellen wird besonderes Augenmerk auf den Zugriff auf elektronische Beweismittel gelegt. Darauf gerichtete Rechtshilfeersuchen seitens EU-Mitgliedstaaten würden, so der Zwischenbericht, zu langsam erledigt und zu häufig unter Verweis auf einen zu geringen Tatverdacht – der nicht die Schwelle eines „probable cause“ erreiche – zurückgewiesen. Allerdings habe sich eine informelle Praxis herausgebildet, demzufolge elektronische Beweismittel (einschließlich Inhaltsdaten) durch US-amerikanische Strafverfolgungsbehörden in Fällen des Terrorismus oder bei einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben sichergestellt und die derart gewonnenen Erkenntnisse sodann mit den europäischen Behörden geteilt werden.157 Dies soll – so die EUMitgliedstaaten – im Benehmen mit den USA noch weiter intensiviert werden, was einer Informalisierung und Privatisierung der Rechtshilfe158 Vorschub leisten wird: Internet- Service-Provider mit Sitz in den USA sollen verstärkt auf Ersuchen europäischer Strafverfolgungsbehörden Bestandsund Verkehrsdaten freiwillig (und im Einklang mit USamerikanischem Datenschutzrecht) aushändigen. Dies hat neben einer schnelleren Erledigung aus Sicht europäischer Strafverfolger auch den Vorteil, dass hierfür ein niedrigerer Verdachtsgrad als im förmlichen Rechtshilfeverfahren ausreichend ist.159 5. Kanada – PNR-Abkommen160 Das Europäische Parlament hat auf Grundlage des Art. 218 Abs. 11 AEUV beantragt, dass der EuGH ein Gutachten über das geplante Abkommen zwischen der Europäischen Union und Kanada über die Übermittlung und Verarbeitung von Fluggastdatensätzen erstattet.161 Der EuGH solle dabei darauf eingehen, ob dieses Abkommen mit dem europäischen, primärrechtlich verankerten Datenschutzrecht vereinbar ist, sowie ob mit Art. 82 Abs. 1 lit. d und Art. 87 Abs. 2 lit. a AEUV die korrekte Rechtsgrundlage gewählt wurde. In seinen Schlussanträgen vom 8.9.2016 erachtet Generalanwalt Mengozzi das Abkommen für nicht vollständig grundrechtskonform, etwa soweit es im Einzelfall die Verwendung von PNR-Daten auch zu anderen Zwecken legitimiert. 150 KOM (2016) 238 endg. v. 29.4.2016. ABl. EU 2016 Nr. L 154, S. 1. 152 Siehe hierzu KOM (2016) 237 endg. v. 29.4.2016. 153 SJ-0784/15; D(2015)57806 v. 14.1.2016. 154 EuGH, Urt. v. 6.10.2015 – C-362/14 (Schrems). 155 Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (120). Das Abkommen ist abgedruckt in ABl. EU 2003 Nr. L 181, S. 34. 156 Vgl. Ratsdok. 7403/16. 157 Ratsdok. 7403/16, S. 20. 158 Zu dieser Entwicklungslinie des Rechtshilferechts siehe Vogel/Burchard (Fn. 119), Vor § 1. 151 159 Ratsdok. 7403/16, S. 20. Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2013, 455 (472). 161 Das Verfahren wird unter der Rs. Gutachten 1/15 geführt. 160 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 27 „In camera“-Verfahren als Gewährung effektiven Rechtsschutzes? Neue Entwicklungen im europäischen Sicherheitsrecht Von Dr. Benjamin Vogel, Freiburg* Zum Schutz staatlicher Geheimhaltungsinteressen erlauben der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Gerichtshof der Europäischen Union eine gerichtliche Verwertung von Beweisen zunehmend auch dann, wenn der Inhalt dieser Beweise der durch sie belasteten Partei nicht vollständig offengelegt wird. Der Beitrag untersucht den möglichen Einfluss dieser Entwicklungen auf das Strafverfahren und bewertet sie im Lichte der Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts kritisch. Die Rechtsprechung der europäischen Gerichte beinhaltet keinen angemessenen Ausgleich von Geheimnisschutz und effektiven Rechtsschutz und stellt letzteren ernstlich infrage. Geboten ist eine effektivere gerichtliche Kontrolle behördlicher Geheimhaltung, nicht eine Verwertbarkeit geheimer Beweise im Hauptsacheverfahren I. Terrorismusprävention und Quellenschutz Terrorismus stellt das Strafverfahrensrecht vor besondere Herausforderungen. Eine präventiv begründete Vorverlagerung der Strafbarkeit auf Vorbereitungshandlungen sowie nicht zuletzt die Ahndung von im Ausland begangenen terroristischen Taten verleiht nachrichtendienstlichen Ermittlungsergebnissen und der Geheimhaltung von Quellen besondere Bedeutung.1 Der Wunsch nach vermehrt grenzüberschreitender Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden schafft zudem ein Bedürfnis, auch im Falle einer gerichtlichen Verwertung der so gewonnen Beweise und Informationen zwischenstaatliche Vertraulichkeitszusagen zu honorieren.2 Dem dadurch bedingten Interesse an der gerichtlichen Verwertung bloß mittelbarer Beweismittel kommt die in der jüngeren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vollzogene Abschwächung des Rechts auf Konfrontation von Belastungszeugen aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK3 entgegen. Die deutsche Rechtsprechung kann * Ass. jur., Licencié en droit, Maître en droit (Paris X), LL.M. (Cambridge). Der Autor ist wissenschaftlicher Referent und Habilitand am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht. Dank für kritische Anmerkungen zu einem Entwurf dieses Beitrags gebührt Herrn Prof. Dr. Stefano Ruggeri (Messina). 1 Bigo/Carrera/Hernanz/Scherrer, National Security and Secret Evidence in Legislation and before the Courts, 2014, S. 7. 2 Bigo/Carrera/Hernanz/Scherrer (Fn. 1), S. 4; Hickman/ Tomkins, in: Lazarus/McCrudden/Bowles (Hrsg.), Reasoning Rights, 2014, S. 143 ff.; van Harten, International Journal of Evidence & Proof 13 (2009), 1 (17). Vgl. beispielhaft die auszugsweise Wiedergabe einer Sperrerklärung des Bundesministeriums des Innern in BVerwG, Beschl. v. 29.4.2015 – 20 F 8/14, Rn. 15. 3 Vgl. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.12.2011 – 26766/05 u. 22228/06 (Al-Khawaja u. Tahery v. Vereinigtes Königreich); EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland); dahingehend sich insofern darin bestätigt sehen, eine Beschränkung des Konfrontationsrechts in der Regel nicht durch ein Verwertungsverbot, sondern durch eine vorsichtige Beweiswürdigung zu kompensieren.4 Allerdings zeichnen sich in der Auseinandersetzung mit terroristischen Bedrohungen in Europa Entwicklungen ab, die im Umgang mit geheimen Beweisquellen deutlich über eine Einschränkung des Konfrontationsrechts hinausgehen und im Hinblick auf die Garantien des rechtlichen Gehörs und eines effektiven Rechtsschutzes erhebliches Konfliktpotential bieten. Deutlich wird dies vor allem an der Einführung von „in camera“-Verfahren vor dem Gericht der Europäischen Union (EuG).5 Unter „in camera“-Verfahren wird hier ein gerichtliches Verfahren verstanden, in dem das Gericht seine Entscheidung zumindest teilweise auf Beweise stützt, deren Inhalt gegenüber der dadurch belasteten Partei sowie ihrem Verfahrensbevollmächtigten nicht offengelegt wird. Dies betrifft zwar gegenwärtig (noch) nicht die Feststellung strafrechtlicher Schuld, teilweise aber Maßnahmen, die angesichts ihrer Anknüpfung an Straftaten und ihrer hohen Eingriffsintensität strafrechtsäquivalent sind. Eine Auseinandersetzung mit der rechtsstaatlichen Zulässigkeit der so entstehenden Verfahren ist in Deutschland einerseits im Hinblick auf die weitere Positionierung der Bundesrepublik im Rat der Europäischen Union geboten. Von Interesse ist die gegenwärtig zu beobachtende Entwicklung aber auch mit Blick auf die Herausbildung gemeinsamer europäischer Verfahrensstandards im Strafrecht,6 vor allem hinsichtlich Maßnahmen im Ermittlungsverfahren. II. Jüngere Entwicklungen zum rechtlichen Gehör auf europäischer Ebene 1. Rechtsprechung des EGMR Angestoßen wurde die Entwicklung hin zur Schaffung von „in camera“-Verfahren durch den EGMR in der Rechtssache bereits auch EGMR, Urt. v. 26.3.1996 – 20524/92 (Doorson v. Niederlande); EGMR, Urt. v. 23.4.1997 – 21363/93 (van Mechelen u.a. v. Niederlande); EGMR, Urt. v. 16.2.2000 – 27052/95 (Jasper v. Vereinigtes Königreich). Eingehend dazu Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913, (923 ff.). 4 Vgl. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 116; BGH NJW 2007, 204 (206); BGH NStZ-RR 2014, 246 (248 f.); Meyer, HRRS 2012, 117 (120); du Bois-Pedain, HRRS 2012, 120 (138). 5 Verfahrensordnung des Gerichts der Europäischen Union vom 4.3.2015, ABl. EU 2015 Nr. L 105, S. 1. 6 Vgl. zuletzt Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.3.2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 28 „In camera“-Verfahren als Gewährung effektiven Rechtsschutzes? _____________________________________________________________________________________ Chahal/Vereinigtes Königreich aus dem Jahr 1996.7 Diese betraf die Frage effektiven Rechtsschutzes gegen eine ausländerrechtliche Freiheitsentziehung in Großbritannien zur Vorbereitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen. Die Feststellung einer Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (d.h. des Rechts auf gerichtliche Überprüfung einer Freiheitsentziehung) beruhte dabei unter anderem darauf, dass jener der Ausweisungsanordnung und der Abschiebungshaft zugrunde liegende Verdacht der Begehung schwerer Straftaten auf geheim gehaltenen Beweisen beruhte. Letztere wurden von den nationalen Behörden weder gegenüber dem Betroffenen noch gegenüber den nationalen Gerichten offengelegt. Zwar erkannte der EGMR die Verwertung von geheimhaltungsbedürftigen Beweisen als mitunter unvermeidlich an, wenn es um Angelegenheiten der nationalen Sicherheit gehe. Die Geltendmachung des Schutzes der nationalen Sicherheit dürfe aber nicht zu einer Freistellung der Behörden von effektiver gerichtlicher Kontrolle durch die nationalen Gerichte führen. Es sei durchaus möglich, legitime Sicherheitsbedürfnisse an der Geheimhaltung der Art und Herkunft von Informationen einerseits sowie die Wahrung substanzieller Verfahrensrechte des Betroffenen anderseits durch bestimmte Techniken der Verfahrensführung zum Ausgleich zu bringen.8 Dabei ließen die Straßburger Richter Sympathie für ein kanadisches Verfahrensmodell erkennen, in dem die geheimhaltungsbedürftigen Beweise durch das Gericht unter Ausschluss des Betroffenen und seines Verfahrensbevollmächtigten untersucht werden, diese lediglich eine Zusammenfassung des Inhalts der fraglichen Beweise erhalten und im Rahmen der gerichtlichen Prüfung jener Beweise die Interessen des Betroffenen von einem vom Gericht bestimmten und sicherheitsgeprüften Anwalt wahrgenommen werden.9 In der Rechtssache A./Vereinigtes Königreich hat sich die Große Kammer des EGMR im Jahre 2009 mit Blick auf Art. 5 Abs. 4 EMRK schließlich ausdrücklich zur Zulässigkeit eines solchen Verfahrensmodells bekannt. Die Entscheidung betraf die mehrjährige Freiheitsentziehung von Ausländern, die in Großbritannien wegen des Verdachts der Beteiligung an terroristischen Straftaten des Landes verwiesen, aus rechtlichen Gründen aber nicht abgeschoben werden konnten. Einem speziellen sicherheitsgeprüften Anwalt könne, auch wenn dieser nach Kenntnisnahme der geheimen Beweise grundsätzlich nicht mehr mit dem Betroffenen kommunizieren darf, eine wichtige Rolle dabei zukommen, das Fehlen einer vollständigen Offenlegung von belastenden Beweisen auszugleichen. Dem Betroffenen müssten jedoch hinreichende Informationen über den gegen ihn bestehenden Verdacht mitgeteilt werden. Diese müssten detailliert genug sein, um EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.11.1996 – 22414/93. Sehr kritisch dazu Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913 (931). 8 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.11.1996 – 22414/93, Rn. 131. 9 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.11.1996 – 22414/93, Rn. 144. Zu den dem EGMR dabei hinsichtlich des kanadischen Rechts unterlaufenen Missverständnissen Jenkins, Columbia Human Rights Law Review 2011, 279 (294 f.). 7 es dem Betroffenen selbst im Falle einer vollständigen oder überwiegenden Geheimhaltung der zugrundeliegenden Beweise zu erlauben, seinem Verfahrensbevollmächtigten sowie dem speziellen Anwalt sachgerechte Anweisungen zu geben. Den Anforderungen von Art. 5 Abs. 4 EMRK werde nicht genügt, wenn das offengelegte Material lediglich aus allgemeinen Behauptungen bestehe und die Freiheitsentziehung allein oder in entscheidendem Maße auf geheimen Beweisen beruhe.10 Werde der Betroffene hingegen über die genaue Art der vorgeworfenen Handlung sowie ihren Ort und Zeitpunkt informiert, so könne dies eine hinreichende Möglichkeit bieten, die erhobenen Anschuldigungen wirksam anzugreifen.11 Noch nicht abschließend geklärt ist, inwieweit die vorgenannten Maßstäbe auch im Rahmen eines Strafverfahrens Geltung beanspruchen können. Der EGMR schließt diese Möglichkeit nicht aus. Vielmehr vertrat die Große Kammer in der dargestellten Entscheidung A./Vereinigtes Königreich ausdrücklich die Auffassung, angesichts der dort gegebenen mehrjährigen, formell allerdings nicht-strafrechtlichen Beschränkung der Freiheit der Beschwerdeführer müsse Art. 5 Abs. 4 EMRK substantiell die gleichen fair-trial-Garantien enthalten wie sie für Art. 6 Abs. 1 EMRK in strafrechtlicher Hinsicht gelten.12 Daraus leitet die Große Kammer allerdings lediglich einen Anspruch des Betroffenen ab, so viele Informationen über den gegen ihn bestehenden Verdacht und die zugrunde liegenden Beweise mitgeteilt zu bekommen, wie dies ohne Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit oder der Sicherheit Dritter möglich ist.13 Ein Verbot der weitreichenden Geheimhaltung von belastenden Beweisen im Strafverfahren ergibt sich für den EGMR aber aus Art. 6 Abs. 1 EMRK also gerade nicht. Jüngst hat nunmehr eine Kammerentscheidung des EGMR die vorstehenden Maßstäbe für die Anordnung und den Vollzug einer (vierzehntägigen) Untersuchungshaft anerkannt und auf dieser Grundlage trotz eines weitestgehend „in camera“ abgehaltenen gerichtlichen Verfahrens eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK verneint. Die Beschwerdeführer waren lediglich über Grundzüge der ihnen vorgeworfenen terroristischen Anschlagspläne informiert worden. Zudem hatte man ihnen und ihren Verteidigern während der Haft Gelegenheit zur Einsichtnahme in das zugrundliegende Beweismaterial verwehrt und sie nur in geringem Umfang über den Inhalt von Beweismaterial in Kenntnis gesetzt.14 Zwar seien nach Art. 5 Abs. 4 EMRK Beweise gegenüber dem EGMR (Große Kammer), Urt. v. 19.2.2009 – 3455/05, Rn. 220; dazu Murphy, King’s Law Journal 24 (2013), 19 (26 f.). 11 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 19.2.2009 – 3455/05, Rn. 222. 12 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 19.2.2009 – 3455/05, Rn. 217; vgl. van Harten, International Journal of Evidence & Proof 13 (2009), 1 (5 f.). 13 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 19.2.2009 – 3455/05, Rn. 218. 14 EGMR, Urt. v. 20.10.2015 – 5201/11 (Sher v. Vereinigtes Königreich), Rn. 48, 62 ff. 10 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 29 Benjamin Vogel _____________________________________________________________________________________ Betroffenen vor Gericht grundsätzlich offenzulegen. Terroristische Straftaten würden jedoch in eine besondere Kategorie fallen. Zum Schutz menschlichen Lebens sei hier oft ein behördliches Handeln dringlich und daher eine Verhaftung von Verdächtigten notwendig, ohne die Quelle des zugrunde liegenden Verdachts oder zu der Quelle führende Informationen offenlegen zu müssen. Der Beschuldigte müsse lediglich genügend Informationen erhalten, die ihm Kenntnis der Art der ihm vorgeworfenen Straftat vermittelten und ihm die Möglichkeit eröffneten, Beweise zu seiner Entlastung vorzubringen.15 2. Rechtsprechung der Unionsgerichte Unter dem Einfluss des EGMR hat zunehmend auch die Rechtsprechung der Unionsgerichte eine Präferenz für ein Verfahren „in camera“ erkennen lassen, um im Bereich des Ausländerrechts und im Bereich von restriktiven Maßnahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik16 staatliche Geheimhaltungsinteressen und das Recht auf ein faires Verfahren zum Ausgleich zu bringen.17 In seiner Rechtsprechung zur Listung von Personen, deren Vermögen wegen des Verdachts der Beteiligung an terroristischen Straftaten beziehungsweise der Verletzung länderspezifischer Embargos eingefroren wurde, nimmt der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) auf die dargestellte Entscheidung des EGMR in Chahal/Vereinigtes Königreich Bezug. Der erforderliche Ausgleich zwischen staatlichen Geheimhaltungsinteresse und individuellen Verfahrensrechten könne hergestellt werden, indem der gelisteten Person und ihrem Verfahrensbevollmächtigten lediglich eine Zusammenfassung des Inhalts der geheimen Informationen oder Beweise offengelegen werde. Die Nichtoffenlegung sei dann bei der Beweiswürdigung dahingehend zu berücksichtigen, dass sie die Beweiskraft der vertraulichen Beweise beeinflussen könne.18 Wie der EuGH dabei anerkennt, können einer Offenlegung bestimmter Umstände nicht nur „zwingende Gründe der Sicherheit“, sondern auch zwingende Gründe „der Gestaltung der internationalen Beziehungen der Gemeinschaft und ihrer EGMR, Urt. v. 20.10.2015 – 5201/11, Rn. 149. Ähnlich schon EGMR (Große Kammer), Urt. v. 30.8.1990 – 12383/86 (Fox, Campbell und Hartley v. Vereinigtes Königreich), Rn. 32. 16 Zur Entwicklung von „in camera“-Verfahren in anderen Bereichen, vgl. im Telekommunikationsrecht EuGH, Urt. v. 13.7.2006 – C-438/04 (Mobistar) = MMR 2006, 803 (804 f.) zu Artikel 4 der Richtlinie 2002/21/EG sowie den gegenwärtigen Richtlinienvorschlag KOM (2013) 813 zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen. 17 EuGH, Urt. v. 3.9.2008 – C-402/05 u. C-415/05 (Kadi u. Al Barakaat), Rn. 344 = NJOZ 2008, 4499 (4543); EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-584/10 (Kadi II), Rn. 125; so auch schon EuG, Urt. v. 12.12.2006 – T-228/02 (OMPI), Rn. 158. 18 EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-584/10 (Kadi II), Rn. 129; vgl. schon EuGH, Urt. v. 3.9.2008 – C-402/05 u. C-415/05 (Kadi u. Al Barakaat), Rn. 344. 15 Mitgliedstaaten“ entgegenstehen.19 Dem Unionsrichter könne aber die Vertraulichkeit von Beweisen und Informationen nicht entgegengehalten werden.20 In einer Entscheidung zur Richtlinie 2004/38/EG21 vertritt der EuGH ein weites Verständnis des Begriffs „Sicherheit eines Staates“. Eine Offenlegung bestimmter Beweise könne die Sicherheit „unmittelbar und besonders beeinträchtigen, als sie insbesondere das Leben, die Gesundheit oder die Freiheit von Personen gefährden könnte oder die von den nationalen Sicherheitsbehörden speziell angewandten Untersuchungsmethoden enthüllen und damit die zukünftige Erfüllung der Aufgaben dieser Behörden ernsthaft behindern oder sogar unmöglich machen könnte“.22 3. Reform der EuG-Verfahrensordnung In den vergangenen Jahren haben EuGH und EuG wiederholt Entscheidungen der Europäischen Union für nichtig erklärt, durch welche das Vermögen der Betroffenen aufgrund des Verdachts der Beteiligung an Terrorismus oder als Sanktion der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eingefroren wurde.23 Begründet wurden diese Urteile wiederholt auch damit, dass das zuständige Unionsorgan dem Gericht keine hinreichenden Beweise zur Substantiierung des Verdachts vorgelegt habe.24 Als Reaktion auf die fehlende Bereitschaft EuGH, Urt. v. 3.9.2008 – C-402/05 u. C-415/05 (Kadi u. Al Barakaat), Rn. 342; EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-584/10 (Kadi II), Rn. 125. 20 EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-584/10 (Kadi II), Rn. 125; so auch EuG, Urt. v. 12.12.2006 – T-228/02 (OMPI), Rn. 154 f.; EuG, Urt. v. 11.7.2007 – T-47/03 (Sison I), Rn. 201 f.; EuG, Urt. v. 4.12.2008 – T-284/08 (PMOI II) = BeckEuRS 2008, 484003, Rn. 74 f.; EuG, Urt. v. 30.9.2010 – T-85/09 (Kadi II) = BeckRS 2010, 54122, Rn. 143 f. 21 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. 22 EuGH, Urt. v. 4.6.2013 – C-300/11 (ZZ), Rn. 66. Ähnlich schon EGMR (Große Kammer), Urt. v. 19.2.2009 – 3455/05, Rn. 205. 23 Zur Verordnung (EG) Nr. 881/2002 (Umsetzung von Terrorismus-Listen des UN-Sicherheitsrats): EuGH, Urt. v. 3.9.2008 – C-415/05 (Kadi I); EuGH, Urt. v. 3.12.2009 – C399/06 (Hassan); EuG, Urt. v. 29.9.2010 – T-135/06 (AlFaqih); EuG, Urt. v. 30.9.2010 – T-85/09 (Kadi II); EuG, Urt. v. 14.1.2015 – T-127/09 (Abdulrahim II). Zur Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 (autonome EU-Terrorismus-Listen): EuG, Urt. v. 4.12.2008 – T-284/08 (PMOI II); EuG, Urt. v. 16.10.2014 – T-208/11 (LTTE). Zu anderen Sanktionen im Rahmen der GASP vgl. nur EuG, Urt. v. 29.1.2013 – T496/10 (Bank Mellat); EuG, Urt. v. 6.10.2015 – T-275/12 (Dynamo Minsk). 24 EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-584/10 (Kadi II), Rn. 159 ff.; EuG, Urt. v. 4.12.2008 – T-284/08 (PMOI II), Rn. 76; EuG, Urt. v. 14.1.2015 – T-127/09 (Abdulrahim II), Rn. 83 ff.; EuG, Urt. v. 29.1.2013 – T-496/10 (Bank Mellat), Rn. 118; 19 _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 30 „In camera“-Verfahren als Gewährung effektiven Rechtsschutzes? _____________________________________________________________________________________ der Mitgliedstaaten, den Unionsgerichten entsprechende Beweise vorzulegen,25 erweiterte das EuG mit Wirkung vom 1.7.2015 im Einvernehmen mit dem EuGH und nach Genehmigung des Rates sein Verfahrensrecht. 26 Art. 105 Abs. 8 der Verfahrensordnung erlaubt es dem EuG in Zukunft,27 vom Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens abzuweichen. Das Gericht kann demnach seine Entscheidung auf Auskünfte oder Unterlagen stützen, die von einer Hauptpartei vorgelegt und aufgrund ihres vertraulichen Charakters der anderen Hauptpartei nicht bekannt gegeben wurden, soweit es diese für die Entscheidung des Rechtsstreits für unerlässlich hält. Die Vertraulichkeit der Auskünfte oder Unterlagen muss sich gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung insofern aus zwingenden Gründen ergeben, als ihre Bekanntgabe die Sicherheit der Union oder eines oder mehrerer ihrer Mitgliedstaaten oder die Gestaltung ihrer internationalen Beziehungen verletzen würde. Dem Recht der anderen Hauptpartei auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz ist mittelst solcher durch das Gericht im Einzelfall zu bezeichnender Modalitäten Rechnung zu tragen. Dies kann gemäß Art. 105 Abs. 6 der Verfahrensordnung insbesondere durch die Vorlage einer nichtvertraulichen Fassung oder einer nichtvertraulichen Zusammenfassung der fraglichen Auskünfte oder Unterlagen erfolgen, die den wesentlichen Inhalt wiedergibt und es der anderen Hauptpartei ermöglicht, so weitgehend wie möglich Stellung zu nehmen. III. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum rechtlichen Gehör 1. Weitgehende Ablehnung von „in camera“-Verfahren Im Verwaltungsprozess ist ein „in camera“-Verfahren dem deutschen Recht vor allem ausweislich § 99 Abs. 2 VwGO nicht fremd. Diese Einschränkung des rechtlichen Gehörs ist allerdings grundsätzlich28 nur mit Blick auf die gerichtliche EuG, Urt. v. 18.9.2015 – T-5/13 (Iran Liquefied Natural Gas), Rn. 55 ff. 25 Insofern bedeutsam ist Art. 346 Abs. 1 lit. a AEUV: „Ein Mitgliedstaat ist nicht verpflichtet, Auskünfte zu erteilen, deren Preisgabe seines Erachtens seinen wesentlichen Sicherheitsinteressen widerspricht.“ 26 Dahingehende Impulse finden sich bereits in EuGH, Urt. v. 3.9.2008 – C-402/05 u. C-415/05 (Kadi u. Al Barakaat), Rn. 343 f.; EuG, Urt. v. 12.12.2006 – T-228/02 (OMPI), Rn. 156, 158. 27 Gemäß Art. 227 Abs. 3 der Verfahrensordnung tritt die Regelung erst nach Veröffentlichung eines Beschlusses des Gerichts gemäß Art. 105 Abs. 11 in Kraft, mit dem die Sicherheitsvorschriften zum Schutz der vertraulichen Daten festgelegt werden. 28 Vgl. zudem § 138 Abs. 2 des Telekommunikationsgesetzes; dazu BVerwG NVwZ 2014, 790; Schmidt-Aßmann, in: Baumeister/Roth/Ruthig (Hrsg.), Staat, Verwaltung und Rechtsschutz, Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke zum 70. Geburtstag, 2011, S. 1151; zu Verfahren im Informationsfreiheitsrecht BVerwG NJW 2007, 789, 792; dazu Schoch, in: Heckmann/Schenke/Sydow (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit Prüfung der Rechtmäßigkeit der behördlichen Verweigerung der Aktenvorlage beziehungsweise der Erteilung von Auskünften zulässig, nicht jedoch mit Blick auf die Hauptsacheentscheidung.29 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts sind „in camera“-Verfahren insofern zulässig, weil „im verwaltungsgerichtlichen Verfahren gerade ein Absehen von einem ‚in camera‘-Verfahren zu einer Minderung des Individualrechtsschutzes“ führe, demgegenüber eine Einschränkung des rechtlichen Gehörs weniger schwer wiege. Weil der Grundsatz in dubio pro reo hier nicht gelte, wirke sich die Geheimhaltung entscheidungserheblicher Tatsachen regelmäßig nachteilig für den Rechtsschutzsuchenden aus. Im Ergebnis würde dann das ungeschmälerte rechtliche Gehör zu einer Herabsetzung der Effektivität des Rechtsschutzes führen, nicht zu dessen Stärkung. Die Einschränkung des rechtlichen Gehörs bedeute hier deshalb ausnahmsweise eine Verbesserung des Rechtsschutzes.30 In einer späteren Entscheidung meint das Bundesverfassungsgericht dann allerdings, eine Verbesserung des Rechtsschutzes könne kein abschließendes Kriterium für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von „in camera“-Verfahren sein. Denn im Verwaltungsprozess wirke sich die Besserstellung eines Klägers regelmäßig zugleich nachteilig auf andere Rechteinhaber aus, deren Anspruch auf rechtliches Gehör ebenfalls zu berücksichtigen sei.31 Die Schaffung von „in camera“-Hauptsacheverfahren ist demnach grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar, um den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz und Rechte Dritter zum Ausgleich zu bringen.32 Im Strafverfahren ist es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aber jedenfalls unzulässig, geheim zuhaltende Tatsachen nur gegenüber dem Gericht, nicht aber gegenüber dem Beschuldigten offenzulegen. Eine vollumfängliche Sachprüfung könne hier wegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht dadurch ermöglicht werden, geheime Unterlagen lediglich dem Strafgericht zu offenbaren. Dieser Grundsatz ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „unverzichtbar und gehört zum Kern einer rechtsstaatlichen Verfah- im Wandel, Festschrift für Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag, 2013, S. 905. 29 Dagegen aber im Ergebnis OVG Münster NVwZ 2001, 820. 30 BVerfGE 101, 106 (130) = NJW 2000, 1175 (1178); überzeugend insoweit auch van Harten, International Journal of Evidence & Proof 13 (2009), 1 (2). 31 Dazu Schmidt-Aßmann (Fn. 28), S. 1156 f.; McGuire, GRUR 2015, 424 (431). 32 Vgl. BVerfG NVwZ 2006, 1041 (1044); für eine Ausweitung des „in camera“-Verfahrens auf das Hauptsacheverfahren die abweichende Meinung des Richters Gaier, NVwZ 2006, 1047. In diesem Sinne im Ergebnis zu § 138 Telekommunikationsgesetz BVerwG NVwZ 2014, 790. Ähnlich bereits zu § 99 VwGO auch OVG Münster NVwZ 2001, 820; Mayen, NVwZ 2003, 537 (542); Schoch (Fn. 28), S. 908; zurückhaltender Schmidt-Aßmann (Fn. 28), S. 1162. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 31 Benjamin Vogel _____________________________________________________________________________________ rensgestaltung“.33 Geheimhaltungsinteressen der Exekutive wirkten im Strafverfahren „in dubio pro reo“.34 Das Verbot von „in camera“-Verfahren im Strafrecht gilt nicht erst mit Blick auf den Schuldspruch. Bereits die Beschwerdeentscheidung über die Anordnung von Untersuchungshaft darf nur auf Tatsachen und Beweise gestützt werden, „die dem Beschuldigten durch Akteneinsicht der Verteidigung bekannt sind“.35 Die jüngere verfassungsrechtliche Judikatur erkennt einen umfassenden Anspruch auf rechtliches Gehör nunmehr zudem bereits für das strafrechtliche Beschwerdeverfahren über die Anordnung des dinglichen Arrests an. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts fügt der dingliche Arrest, auch soweit er lediglich zur Sicherung des Verfalls erfolgt, dem Betroffenen einen erheblichen Nachteil zu. Der Arrest bedeute eine gravierende Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit. „Mittelbare Beeinträchtigungen, etwa im Beruf oder bei der Kreditwürdigkeit“ seien auch im Falle einer möglichen Aufhebung der Maßnahme und einer staatlichen Entschädigung „irreparabel“. Daher müsse dem Betroffenen bereits im Arrestverfahren und nicht erst bei der endgültigen Entscheidung über den Verfall rechtliches Gehör gewährt werden. Wegen der Unvereinbarkeit eines „in camera“-Verfahrens mit Art. 103 Abs. 1 GG bedeute dies im Strafverfahren, dass „eine dem Betroffenen nachteilige Gerichtsentscheidung jedenfalls in der Beschwerdeinstanz nur auf der Grundlage solcher Tatsachen und Beweismittel getroffen werden kann, über die dieser zuvor sachgemäß unterrichtet wurde und zu denen er sich äußern konnte.“ 36 Akteneinsicht müsse dem Beschuldigten Gelegenheit bieten, „zu überprüfen, ob die bezeichneten Beweismittel vollständig und richtig verwendet und beschrieben wurden und ob ihre vom befassten Gericht dargelegte Bewertung und Einordnung in den sachlichen und rechtlichen Zusammenhang überzeugt oder andere Deutungen näher liegen.“37 Hierzu müssen, so das Bundesverfassungsgericht, „dem Beschuldigten die Beweismittel auf die gleiche Art und Weise zugänglich und anschaulich sein wie dem Richter.“ Die Übermittlung polizeilicher Ermittlungsberichte und eine Bezeichnung oder Beschreibung von Beweisstücken bietet dem Beschuldigten mithin noch kein hinreichendes rechtliches Gehör.38 Jedenfalls im Beschwerdeverfahren dürfe der „intensive Eigentumseingriff der Arrestanordnung nicht mehr auf einen In- formationsvorsprung der Ermittlungsbehörden gestützt werden“.39 2. Divergenzen Hinsichtlich des Anspruchs auf rechtliches Gehör divergieren die eben beschriebene verfassungsrechtliche Rechtsprechung und die jüngere Rechtsprechung von EGMR und EuGH im Bereich des Terrorismus erheblich. Dies gilt zunächst für die angesprochene Entscheidung des EGMR40, wonach im Bereich terroristischer Straftaten Untersuchungshaft auch auf der Grundlage von geheimen, gegenüber dem Beschuldigten und seinem Verteidiger nicht offengelegten Beweismaterial angeordnet werden darf. Dem Beschuldigten ist es dann gerade nicht möglich, sich zu den der Anordnung von Untersuchungshaft zugrunde liegenden Beweismitteln zu äußern. 41 Offensichtliche Diskrepanz zum deutschen Verfassungsrecht besteht aber auch insofern, als die europäischen Gerichte zur Begründung weiterer massiv in die Freiheit des Einzelnen eingreifender Maßnahmen, wie mehrjährigen Freiheitsentzug (EGMR) oder dem Einfrieren von Vermögen (EuGH), eine Berücksichtigung geheimer Beweise für zulässig halten. Zwar handelt es sich hierbei formell nicht um strafrechtliche Maßnahmen; eine direkte Übertragbarkeit auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Untersuchungshaft und zum dinglichen Arrest im Strafverfahren scheidet mithin aus. Die erhebliche Eingriffsintensität der genannten Präventivmaßnahmen lässt jedoch vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips die Bedeutung ihres formell nichtstrafrechtlichen Charakters zurücktreten. Auch das Bundesverfassungsgericht stellt, soweit es den Anspruch auf rechtliches Gehör bei vorläufigen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen im Strafverfahren konkretisiert, maßgeblich auf deren Eingriffsintensität ab.42 Zudem hält der EGMR mit Blick auf die strafrechtlichen fair-trial-Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK ein teilweise „in camera“ geführtes Verfahren grundsätzlich für zulässig.43 Schließlich handelt es sich bei den vor dem EuGH im Vordergrund stehenden Maßnahmen – dem Einfrieren des Vermögens von Terrorismusverdächtigten – trotz ihres formell rein präventiven Charakters oft um funktionale Äquivalente zu vermögenssichernden strafprozessualen Maßnahmen.44 Eine „Normalisierung“45 von „in camera“39 33 BVerfGE 57, 250 (288) = NJW 1981, 1719; bestätigend BVerfG NJW 2006, 1048 (1049); NStZ-RR 2008, 16 (17); NStZ-RR 2013, 379. 34 BVerfG NJW 2004, 2443 (2444); NJW 2006, 1048 (1049); NStZ-RR 2008, 16 (17). 35 Vgl. BVerfG NJW 1994, 3219 (3220 f.); NJW 2004, 2443 (2444); NJW 2006, 1048 (1049); NStZ-RR 2008, 16 (17). 36 BVerfG NJW 2004, 2443 (2444); NJW 2006, 1048. 37 BVerfG NJW 2006, 1048 (1049); so auch für die strafprozessuale Telekommunikationsüberwachung BVerfG NStZRR 2008, 16 (17). 38 BVerfG NJW 2006, 1048 (1049). BVerfG NJW 2006, 1048 (1049); so auch für die strafprozessuale Durchsuchung BVerfG NStZ-RR 2013, 379. 40 EGMR, Urt. v. 20.10.2015 – 5201/11. 41 Vgl. BVerfG NJW 1994, 3219 (3220). 42 BVerfG NJW 1994, 3219 (3220); NJW 2004, 2443 (2444); NJW 2006, 1048. 43 Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913 (926); Vgl. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 19.2.2009 – 3455/05, Rn. 217. 44 Denn das Einfrieren des Vermögens von Terrorismusverdächtigten durch den Rat der Europäischen Union setzt zumindest voraus, das eine zuständige nationale Behörde gegen den Verdächtigten Ermittlungen anstellt; vgl. Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP des Rates vom 27.12.2001. Für das fortgesetzte Einfrieren von Vermögen des Verdächtigten durch die Europäische Union ist dann _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 32 „In camera“-Verfahren als Gewährung effektiven Rechtsschutzes? _____________________________________________________________________________________ Verfahren auf der Ebene der Europäischen Union kann deshalb auch für das sich entwickelnde europäische Strafverfahrensrecht Maßstäbe setzen.46 Es stellt sich dann die Frage, ob diese Entwicklung auch in Deutschland aufgegriffen oder ihr vielmehr rechtspolitisch sowie im Rahmen des Dialogs zwischen supranationalen und nationalen Gerichten47 entgegengetreten werden sollte. IV. Effektiver Rechtsschutz im Spannungsfeld von rechtlichem Gehör und Geheimnisschutz 1. Beschränkung der Sachverhaltsaufklärung infolge rechtlichen Gehörs Für die Schaffung von „in camera“-Hauptsacheverfahren streitet dabei die These, effektiver Rechtsschutz lasse sich durch eine möglichst umfassende, wenn auch teilweise im Geheimen erfolgende gerichtliche Verwertung von vertraulichen Beweismaterial besser herstellen als durch die öffentliche Verwertung bloß mittelbarer oder anonymisierter Beweismittel.48 Es kann tatsächlich so scheinen, also ob „in camera“-Verfahren mitunter einen effektiveren Rechtsschutz gewährleisteten. Auch die deutschen49 Strafgerichte stützen mit Billigung von Bundesverfassungsgericht und EGMR sogar den Schuldspruch mitunter in erheblichem Maße auf die durch Zeugen von Hörensagen („Quellenführer“) in die Verhandlung eingeführten Bekundungen anonymer polizeilicher oder nachrichtendienstlicher Gewährsleute.50 Soweit unmittelbare Beweise zurückgehalten oder anonymisiert und mittelbar zulasten des Beschuldigten verwertet werden, wird diesem jedoch der Zugang zu potentiell entlastenden Beweismaterial verbaut. Entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts wirken sich insofern Geheimhaltungsinteressen der Exekutive im Strafverfahren faktisch nicht ledig- der Fort- und Ausgang des nationalen Ermittlungsverfahrens maßgeblich; vgl. EuG, Urt. v. 12.12.2006 – T-228/02 (OMPI), Rn. 117. 45 Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913 (930); ähnlich Murphy, King’s Law Journal 24 (2013), 19 (28 f.). 46 Vgl. etwa den Verweis auf die Wahrung der Verteidigungsrechte bei Ausschluss des Beschuldigten aus der Verhandlung in Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.3.2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren. 47 Vgl. insoweit nur jüngst BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, Rn. 43. 48 Dahingehend im Ergebnis BVerwG NVwZ 2014, 790 (793); OVG Münster NVwZ 2001, 820 (821); NVwZ 2009, 475 (476 f.); Gaier, NVwZ 2006, 1041 (1047 f.); Schoch, NJW 2009, 2987 (2993). 49 Rechtsvergleichend dazu Bigo/Carrera/Hernanz/Scherrer (Fn. 1), S. 9 ff. 50 So etwa im Fall Haas: BGH NStZ 2000, 265; BVerfG NJW 2001, 2245; EGMR, Urt. v. 17.11.2005 – 73047/01. Vgl. auch BGH NJW 2004, 1259 (El Motassadeq). lich „in dubio pro reo“ zugunsten des Beschuldigten aus. 51 Eine „in camera“ erfolgende richterliche Befragung einer Vertrauensperson verspricht möglicherweise größere Zuverlässigkeit als die Befragung des anonymen Zeugen oder des bloßen Vernehmungsbeamten. Sollen nach dem Willen des Bundesverfassungsgerichts im Strafverfahren „dem Beschuldigten die Beweismittel auf die gleiche Art und Weise zugänglich und anschaulich sein wie dem Richter“,52 so bedeutet dies vor dem Hintergrund des staatlichen Interessen an der Geheimhaltung von Informanten und Ermittlungsmethoden eine erhebliche Einschränkung des richterlichen Erkenntnishorizonts.53 Zumindest mit Blick auf dem Schuldspruch vorgelagerte, rein präventive Maßnahmen mag daher auf dem ersten Blick die Schaffung von „in camera“-Elementen durchaus als angemessener Ausgleich zwischen effektivem Rechtsschutz und Geheimhaltungsinteressen erscheinen.54 2. Defizite der Entwicklung auf Unionsebene Die dargestellten Entwicklungen auf Unionsebene sind allerdings einseitig durch Geheimhaltungsinteressen der Mitgliedsaaten motiviert55 und zeugen von unzureichender Sorge um die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes. So bemüht sich der EuGH trotz seines weiten Verständnisses des Begriffs „Sicherheit eines Staates“56 gerade im Bereich des Terrorismus bisher kaum um eine Konkretisierung der materiellen Anforderungen an die Geheimhaltung von Beweisen.57 Zurückhaltung der Unionsgerichte gegenüber exekutiven Vgl. BVerwG, Beschl. v. 29.4.2015 – 20 F 8/14, Rn. 8. BVerfG NJW 2006, 1048 (1049). 53 Vgl. Gaier, in: Göcken/Remmers/Vorwerk (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scharf zum 70. Geburtstag, 2008, S. 204. 54 Nicht eingegangen werden kann hier auf mögliche „in camera“-Verfahren jenseits des Strafverfahrens bzw. strafverfahrensäquivalenter Maßnahmen. So wurde unter anderem im Hinblick auf eine Beteiligung der eigenen Behörden an menschenrechtswidrigen Praktiken ausländischer Geheimdienste 2013 in Großbritannien die Möglichkeit geschaffen, im Streit über zivilrechtliche Ansprüche „in camera“-Verhandlungen im Hauptsacheverfahren durchzuführen; vgl. Part 2 des Justice and Security Act 2013 und zur Vorgeschichte R (Binyam Mohamed) v Secretary of State for Foreign and Commonwealth Affairs (No 1) [2008] EWHC 2048 (Admin.). Zu teilweise ähnlich gelagerten Fragen in Deutschland vgl. BVerwG NVwZ 2010, 321 (CIA-Flüge). 55 Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913 (930). 56 Vgl. EuGH, Urt. v. 4.6.2013 (ZZ?) – C-300/11, Rn. 66. 57 Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913 (935 ff.), konstatiert bereits für die EGMR-Rechtsprechung insofern eine „Asymmetrie“, als der Gerichtshof der Bestimmung öffentlicher Interessen wie der „nationalen Sicherheit“ sowie der Frage ihre tatsächlichen Beeinträchtigung nur wenig Aufmerksamkeit widme und damit den Gehalt von Verfahrensrechten im Ergebnis relativiere. Diese Einseitigkeit lasse „in-camera“-Verfahren erst recht bedenklich erscheinen. 51 52 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 33 Benjamin Vogel _____________________________________________________________________________________ Geheimhaltungswünschen bringt dies nicht zum Ausdruck. 58 Der EuGH zeigt insoweit wenig Sensibilität für die dem „in camera“-Verfahren innewohnende Gefahr der Marginalisierung rechtlichen Gehörs. Vor allem bei der Geltendmachung von Geheimhaltungsbedürftigkeit durch einen Nachrichtendienst ist das Gericht nämlich mangels einschlägiger Erfahrung argumentativ regelmäßig unterlegen und somit tendenziell dem behördlichen Vorbringen zugeneigt.59 Nicht ersichtlich ist zudem, ob ein europäisches „in camera“-Verfahren tatsächlich zu einer besseren Sachverhaltsaufklärung beiträgt als dies im Falle von für das rechtliche Gehör weniger einschneidenden Formen der Beweiserhebung zu erwarten wäre.60 Zwar betont der EuGH, die Geheimhaltung von Beweisen dürfe den Gerichten nicht entgegengehalten werden.61 Allerdings führt er nicht weiter aus, in welchem Umfang die Gerichte solche Beweise einer Überprüfung unterziehen, etwa nachrichtendienstliche oder polizeiliche Gewährsleute persönlich vernehmen sollen. Die Schaffung von „in camera“-Verfahren führt demnach also nicht notwendigerweise zu einem weniger häufigen Rückgriff des Gerichts auf Zeugen vom Hörensagen oder Vernehmungsprotokolle, und dies ist offenbar auch nicht bezweckt.62 Darüber hinaus lässt der EuGH auch hinsichtlich der für das „in camera“-Verfahren geltenden Offenlegungspflichten einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Anspruch auf rechtliches Gehör und den staatlichen Geheimhaltungsinteressen vermissen. Zwar verlangt er wie schon der EGMR bei freiheitsbeschränkenden Maßnahme eine Offenlegung zumindest des wesentlichen Inhalts des gegen den Betroffenen erhobenen Verdachts.63 Nach der Rechtsprechung des EuGH zum langjährigen Einfrieren des gesamten Vermögens von Terrorismusverdächtigten müssen die Verdacht begründenden Taten allerdings nicht zwingend nach Ort und Zeit genau bestimmt werden. Genügen kann vielmehr schon die Offenlegung der inhaltlichen Grundzüge der vorgeworfenen Tat und des nach einem Jahr bestimmten ungefähren Zeitraums ihrer Begehung.64 Für den Betroffenen wird damit die Mög- Dahingehend auch die Einschätzung zur Praxis der „in camera“-Verfahren im Vereinigten Königreich Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913 (919). 59 Eingehend zu dieser Dynamik van Harten, International Journal of Evidence & Proof 13 (2009), 1 (20 ff.). 60 Mayen, NVwZ 2003, 537 (543) fordert insofern die „Ausschöpfung milderer Mittel“. 61 EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-584/10 (Kadi II), Rn. 125; EuGH, Urt. v. 18.2.2016 – C-176/13 P (Bank Mellat), Rn. 109 f. 62 Vgl. Bigo/Carrera/Hernanz/Scherrer (Fn. 1), S. 23; van Harten, International Journal of Evidence & Proof 13 (2009), 1 (13). 63 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 19.2.2009 – 3455/05 (A./Vereinigtes Königreich), Rn. 220; EuGH, Urt. v. 4.6.2013 (ZZ) – C-300/11, Rn. 66. 64 EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-584/10 (Kadi II), Rn. 142 ff. Anspruchsvoller und enger an den vom EGMR in A. v. Vereinigtes Königreich aufgestellten Anforderungen orientiert 58 lichkeit der sachdienlichen Stellungnahme zu den erhobenen Vorwürfen massiv beschränkt.65 Unzureichende Sensibilität der Unionsgerichte gegenüber der Bedeutung rechtlichen Gehörs wird auch insofern deutlich, als die Schaffung von „in camera“-Verfahren auf Unionsebene im Wege einer bloßen Änderung der EuGVerfahrensordnung erfolgte. Angesichts der grundsätzlichen Bedeutung des rechtlichen Gehörs für die Rechtsstaatlichkeit des gerichtlichen Verfahrens hätte es nahe gelegen, eine solch tiefgreifende Änderung nicht durch eine Änderung der Verfahrensordnung,66 sondern durch eine Änderung der Satzung des Gerichtshofs gemäß Art. 281 AEUV unter Mitwirkung des Europäischen Parlaments vorzunehmen. Die Schaffung von „in camera“-Verfahren ohne vorausgehenden parlamentarischen Diskurs ist der rechtsstaatlichen Bedeutung des Themas schwerlich angemessen67 und weckt Zweifel an ihrer Zulässigkeit. Dies gilt umso mehr deshalb, weil Art. 105 der neuen EuG-Verfahrensordnung den Anwendungsbereich von „in camera“-Verfahren nicht auf bestimmte Verfahrensgegenstände begrenzt.68 Dahingehend war die Änderung der Verfahrensordnung bereits vor ihrer Verabschiedung durch mehrere Anwaltskammern kritisiert worden. Das Gericht habe zur Vorbereitung der Reform zwar den Rat, die Kommission, Mitgliedstaaten und sogar einige Drittsaaten konsultiert, von einer öffentlichen Konsultation etwa der anwaltlichen Berufsverbände jedoch abgesehen.69 Bezeichnenderweise schreibt die neue Verfahrensordnung schließlich nicht einmal die Mitwirkung eines speziellen (d.h. sicherheitsgeprüften) Anwalts vor, der in „in camera“Verfahren die Interessen des Betroffenen vertreten könnte.70 Zwar ist die Effektivität solcher Anwälte begrenzt, da sie den noch die Vorinstanz: EuG, Urt. v. 30.9.2010 – T-85/09 (Kadi II), Rn. 176 f. 65 Vgl. Barak-Erez/Waxman, Columbia Journal of Transnational Law 2009, 3 (24). 66 Dahingehende Kritik auch von Anwaltskammern und Menschenrechtsorganisationen des Vereinigten Königreichs und Irlands in ihrem Brief an den Präsidenten des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 22.7.2013, einzusehen auf http://europeansanctions.com/2013/07/ (15.12.2016). 67 Murphy, King’s Law Journal 24 (2013), 19 (29); ders., in: Davis/de Londras (Hrsg.), Critical Debates on Counter Terrorism Judicial Review, 2014, S. 298; ähnlich im Hinblick auf die Einführung von „in camera”-Verfahren außerhalb des Strafrechts im Vereinigten Königreich auch das dortige Oberste Gericht in der Rechtssache Al Rawi [2011] UKSC 34. 68 Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913 (930). 69 Vgl. insbesondere die Briefe mehrere Anwaltskammern und Menschenrechtsorganisationen des Vereinigten Königreichs und Irlands an den Präsidenten des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 21.5.2013 und vom 22.7.2013, einzusehen auf http://europeansanctions.com/2013/07/ (15.12.2016). 70 Kritisch dazu auch Bigo/Carrera/Hernanz/Scherrer (Fn. 1), S. 57 f.; Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913 (930). _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 34 „In camera“-Verfahren als Gewährung effektiven Rechtsschutzes? _____________________________________________________________________________________ Betroffenen grundsätzlich nicht über den Inhalt der geheimen Beweise unterrichten dürfen. 71 Den Betroffenen ist es somit nicht möglich, auf die in geheimem Beweismaterial enthaltenen Informationen zu reagieren. Soweit dem speziellen Anwalt ein umfassendes Beweisantragsrecht eingeräumt und er auch nach Einsichtnahme in das geheime Beweismaterial mit dem Betroffenen sprechen darf,72 könnte durch spezielle Anwälte jedoch ein zumindest im Ansatz adversatorisches Verfahren gewährleistet werden.73 3. Grundsätzliche Bedenken gegenüber „in camera“Hauptsacheverfahren Grundsätzliche Zweifel an „in camera“-Hauptsacheverfahren beruhen aber vor allem auf der aus ihnen resultierenden fundamentalen Strukturveränderung74 des gerichtlichen Verfahrens. Denn damit verbunden ist eine Abkehr von dem Grundsatz, dass die Freiheit des Bürgers staatlicherseits durch ein gerichtliches Urteil nur eingeschränkt werden darf, wenn er sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt sachdienlich äußern konnte.75 Dafür muss dieser Sachverhalt für den Betroffenen einsehbar sein, in der Regel sogar noch vor einer erstmaligen gerichtlichen Entscheidung.76 Andernfalls büßte jener seine Subjektstellung77 und mithin seine Würde78 im Verfahren weitgehend ein. Darf das Gericht bei seiner Überzeugungsbildung auf überlegenes Wissen zurückgreifen, so wird diese Legitimationsgrundlage der Justiz aufgegeben. Darüber hinaus führt eine Beschränkung des rechtlichen Gehörs kaum zu sachrichtigeren Entscheidungen. Selbst wenn die Offenlegung des wesentlichen Inhalts eines Verdachts in einem über den EuGH hinausgehenden Maße verlangt und damit dem Betroffenen Gelegenheit zu einer substantiierten Erwiderung geboten würde, so blieben dem Betroffenen doch jedenfalls ihn belastende Beweise vorenthalten. Der Verdächtigte ist zu seiner Verteidigung in der Regel auf die Infragestellung der Zuverlässigkeit der Belastungs- beweise angewiesen. Dieser Weg ist ihm infolge der Geheimhaltung der Beweise jedoch zumindest teilweise verstellt. Durch „in camera“-Hauptsacheverfahren wird dem Gericht die Kompetenz zugesprochen, über die Relevanz von Beweismaterial und zugleich über dessen Zuverlässigkeit ohne Mitwirkung des Betroffenen zu entscheiden.79 Doch wird es für das Gericht ohne das diesbezügliche Tatsachenwissen des Verdächtigten regelmäßig nicht möglich sein, Anhaltspunkte für die Unzuverlässigkeit eines Beweises zu erkennen. Die Einschätzung des Gerichts stützt sich dann also insoweit einseitig80 auf die Sachverhaltsdarstellung der Behörden und ist damit in besonderem Maß anfällig für Fehler und Missbrauch.81 Die Verwertbarkeit von geheimem Beweismaterial im Hauptsacheverfahren hat mithin nicht zur Folge, dem Gericht eine zuverlässigere Beurteilung des Beweismaterials zu ermöglichen. Die damit einhergehende Einschränkung des rechtlichen Gehörs bedeutet vielmehr grundsätzlich zugleich eine Einschränkung der Effektivität des Rechtsschutzes. Der Gesetzgeber begrenzt also nicht rechtliches Gehör zugunsten effektiven Rechtsschutzes, sondern begrenzt effektiven Rechtsschutz zugunsten des Schutzes von Geheimhaltungsinteressen.82 Eine Effektivierung des gerichtlichen Rechtsschutzes durch „in camera“-Verfahren könnte höchstens durch einen damit einhergehenden Ausschluss oder zumindest eine weitgehende Beschränkung der Verwertbarkeit der Aussagen anonymer Zeugen, Zeugen vom Hörensagen und von Vernehmungsprotokollen erreicht werden. Andernfalls bedeuten „in camera“-Verfahren eine einseitige Schlechterstellung des Betroffenen. Nicht zuletzt im Falle der Verwertung von Beweismitteln, die von ausländischen Sicherheitsdiensten vertraulich erlangt wurden, scheidet eine solche Beschränkung der Verwendung mittelbarer Beweismittel allerdings in der Regel praktisch aus. 83 Rechtsvergleichende Erfahrungen mit „in camera“-Verfahren lassen zudem den Schluss zu, dass Beweiswürdigungsstandards dabei sogar hinter den Maßstäben offener Verfahren zurückbleiben.84 71 Barak-Erez/Waxman, Columbia Journal of Transnational Law 2009, 3 (29 f.). 72 Vgl. Jenkins, Columbia Human Rights Law Review 2011, 279 (320 f.). 73 Sehr kritisch dazu Murphy, King’s Law Journal 24 (2013), 19 (30 f.). 74 Ähnlich insoweit für den Zivilprozess McGuire, GRUR 2015, 424 (433). 75 BVerfGE 19, 32 (36); 49, 325 (328); 89, 381 (392); vgl. Gray, International Journal of Evidence & Proof 18 (2014), 230 (240); Murphy, King’s Law Journal 24 (2013), 19. 76 Zu durch den Zweck des Verfahrens bedingten Ausnahmen insoweit BVerfGE 9, 89 (95); 18, 399 (404); 49, 329 (342); 70, 180 (188 f.). 77 Vgl. BVerfGE 107, 395 (409). BVerfG, Beschl. v. 2.3.2011 – 2 BvR 43/10, 2 BvR 86/10, 2 BvR 140/10; Beschl. v. 21.3.2011 – 2 BvR 301/11; Beschl. v. 24.7.2014 – 2 BvR 1489/14. 78 Dazu BVerfGE 7, 275 (279); 9, 89 (95); Barak-Erez/ Waxman, Columbia Journal of Transnational Law 2009, 3 (35 f.). 79 Kritisch dazu das kanadische Oberste Gericht in Charakaoui [2007] 1 SCR 350, Rn. 63 sowie das Oberste Gericht des Vereinigten Königreichs in Al Rawi [2011] UKSC 34, Rn. 36. 80 Dahingehend ausführlich die empirische Untersuchung zur Praxis der administrativen Präventivhaft in Israel bei Krebs, in: Lazarus/McCrudden/Bowles (Hrsg.), Reasoning Rights, 2014, S. 198. 81 van Harten, International Journal of Evidence & Proof 13 (2009), 1 (15 ff.) mit Beispielen zu Missbrauch in Kanada und den Vereinigten Staaten. Eingehend zur Missbrauchsanfälligkeit von Anonymität Mazzone/Fischer, in: Cole/ Fabbrini/Vedaschi (Hrsg.), Secrecy, National Security and the Vindication of Constitutional Law, 2013, S. 205 f. 82 Vgl. Gaier (Fn. 53), S. 208; Schmidt-Aßmann (Fn. 28), S. 1156. 83 Vgl. van Harten, International Journal of Evidence & Proof 13 (2009), 1 (18). 84 Vgl. Krebs (Fn. 80), S. 198. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 35 Benjamin Vogel _____________________________________________________________________________________ Eine mit „in camera“-Verfahren verbundene Hoffnung auf eine bessere Sachverhaltsaufklärung und damit auf effektiveren Rechtsschutz ist also eher realitätsfremd.85 Dazu mögen „in camera“-Verfahren zwar im Einzelfall beitragen können, insbesondere wenn mittelbare Beweismittel Glaubwürdigkeitsdefizite ihrer vertraulichen Quelle verschweigen. Die Frage, ob sich diese Hoffnung im konkreten Fall bewahrheitet, ist aber mangels Offenlegung der die Entscheidung tragenden Beweise einem öffentlichen Diskurs unzugänglich. Damit entziehen sich „in camera“-Verfahren letztlich auch politischer und wissenschaftlicher Kritik86 ebenso wie den Einwänden von nicht zum „in camera“-Verfahren zugelassenen Zeugen87. Abträglich ist dies auch dem öffentlichen Vertrauen in die Gerichte.88 Die irrtümliche Annahme, solche Verfahren böten eine umfassende gerichtliche Kontrolle, kann schließlich zu einer übermäßigen behördlichen Geltendmachung von Geheimhaltungsinteressen verleiten und damit die gegenüber dem Betroffenen bestehenden Offenlegungspflichten sukzessive noch weiter verringern.89 4. Trennung von Hauptsacheverfahren und „in camera“Zwischenverfahren Angesichts der damit verbundenen Schwächung des gerichtlichen Rechtsschutzes sollte – auch soweit rein präventive freiheitsbeschränkende Maßnahmen dem Schutz von Dritten vor massiver (vor allem terroristischer) Gewalt dienen – eine Verwertung von gegenüber dem Betroffenen nicht offengelegten Beweisen im gerichtlichen Hauptsacheverfahren ausscheiden. Eine Verwertung mittelbarer Beweise oder der Aussage anonymer Zeugen,90 insbesondere von Zeugen vom Hörensagen, ist zwar in den Bereichen organisierte Kriminalität und Terrorismus für die Urteilsfindung mitunter unvermeidlich.91 Dies ist allerdings gegenüber „in camera“- 85 Cole/Vladeck, in: Lazarus/McCrudden/Bowles (Fn. 80), S. 170. 86 Goss, in: Lazarus/McCrudden/Bowles (Fn. 80), S. 133 f.; Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913 (931). 87 van Harten, International Journal of Evidence & Proof 13 (2009), 1 (14 f.). 88 Vgl. BVerfGE 133, 168; dazu Walther, NStZ 2015, 383 (384). 89 Barak-Erez/Waxman, Columbia Journal of Transnational Law 2009, 3 (31 ff.). 90 Zur unter Umständen bestehenden Pflicht, eine umfassende behördliche Sperrung des Zeugen im Wege seiner anonymisierten Vernehmung (gegebenenfalls unter optischer und akustischer Abschirmung) zu vermeiden: BGH NJW 2003, 74 (76); NStZ 2005, 43; NStZ 2006, 648 (649); NJW 2007, 1475. 91 Zur gegenseitigen Abhängigkeit von Menschenrechtsschutz und Staatsschutz differenzierend Di Fabio, NKW 2008, 421 (422); Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913 (915 f.). Zur US-amerikanischen Praxis des Verwertung mittelbarer Beweismittel, etwa der Substituierung einer Zeugenbefragung durch ein schriftliches Verfahren unter dem Classified Information Procedures Act: Chandran, Duke Law Hauptsacheverfahren vorzugswürdig. Zur Wahrung der Verteidigungsrechte des Betroffenen muss die Sperrung von Beweismitteln dabei aber einer richterlichen Kontrolle unterworfen sein. Andernfalls könnten Behörden die die Effektivität gerichtlichen Rechtsschutzes willkürlich, das heißt ohne Berücksichtigung der konkret auf dem Spiel stehenden Interessen,92 behindern.93 Diese Kontrolle hat aber – wie in Deutschland durch § 99 Abs. 2 i.V.m. § 189 VwGO gewährleistet94 – außerhalb des Hauptsacheverfahrens durch einen gesonderten Spruchkörper zu erfolgen. Ein überlegenes Wissen des Gerichts der Hauptsache gegenüber dem Rechtsschutzsuchenden mit Blick auf den Verfahrensgegenstand wird dadurch ausgeschlossen. Die gesonderte Überprüfung der Geheimhaltung im Zwischenverfahren erfolgt zwar ihrerseits zwangsläufig in einem „in camera“-Verfahren. Die darin liegende Beschränkung des Rechtsschutzes ist jedoch verglichen mit einem „in camera“Hauptsacheverfahren vergleichsweise gering.95 Zum einen gewährt auch Art. 103 Abs. 1 GG kein Recht auf eine bestimmte Art von Beweismitteln.96 Zudem ist bei fehlender Möglichkeit zur Konfrontation eines unmittelbaren Zeugen mit der deutschen Rechtsprechung ohnehin eine vorsichtige, die übrigen Ergebnisse der Beweisaufnahme berücksichtigende Würdigung der Aussage eines Zeugen vom Hörensagen zu verlangen.97 Auf eine solche Aussage kann eine Verurteilung „regelmäßig nur dann gestützt werden“, wenn sie „durch andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt“ wird“.98 Eine besonders kritische Überprüfung wird von den deutschen Gerichten hinsichtlich der Bekundungen einer anonym gebliebenen Gewährsperson gefordert, wenn deren Vernehmung nur wegen der Weigerung der zuständigen Behörde ausscheidet, die Identität preiszugeben oder Aussagegenehmigung zu erteilen.99 Effektiver Rechtsschutz gegen auf geheim gehaltene Informationsquellen gestützte Maßnahmen lässt sich letztlich bestenfalls durch eine klare Beschränkung der gerichtlichen Verwertbarkeit mittelbarer Beweise erreichen, nicht hingegen durch Geheimverfahren. Grundrechtsfreundlicher als die Journal 2015, 1411 (1425 f.); Radsan, Cardozo Law Review 2010, 437 (450). 92 Zum öffentlichen Interesse an der Wahrheitsfindung als Abwägungskriterium im Rahmen des durch § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO eingeräumten Ermessens: BVerwG NVwZ 2010, 905 (909). 93 Vgl. BGHSt 29, 109 (112). 94 Schmidt-Aßmann (Fn. 28), S. 1150; Schoch (Fn. 28), S. 899. 95 Insoweit ähnlich Mayen, NVwZ 2003, 537 (543). 96 BVerfG NJW 1981, 1719 (1722); NJW 1994, 2347. 97 BVerfG NJW 2010, 925 (926); BGH NJW 2007, 237 (239); BGH NStZ-RR 2014, 246 (249). 98 BVerfG NJW 2010, 925 (926). 99 BVerfG NJW 1981, 1719 (1725); NJW 2010, 925 (926); BGH NJW 2004, 1259 (1261) und bereits BGHSt 17, 382 (386) = NJW 1962, 1876 (1877); BGHSt 34, 15 (18) = NJW 1986, 1766. Dahingehend auch zur Begründung eines dringenden Tatverdachts OLG Frankfurt NJW 1968, 1000. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 36 „In camera“-Verfahren als Gewährung effektiven Rechtsschutzes? _____________________________________________________________________________________ Schaffung von „in camera“-Hauptsacheverfahren sind daher vor allem auf den konkreten Sachverhalt100 bezogene strenge Maßstäbe hinsichtlich der von den deutschen Gerichten geforderten und dabei auf den Schutz verfassungsrechtlich geschützter Belange abstellenden „Unumgänglichkeit“101 einer Geheimhaltung. Das Vorenthalten von belastenden unmittelbaren Beweismitteln und deren Substituierung durch mittelbare Beweise bedeutet eine Beeinträchtigung der Effektivität des Rechtsschutzes und ist auf das unbedingt erforderliche Maß zu begrenzen.102 Denn dadurch wird dem Betroffenen unter Umständen die Möglichkeit zur Heranziehung von ihn entlastenden Beweisen genommen.103 Zur Wahrung der Verfahrensfairness haben die Behörden daher vernünftige Anstrengungen zu unternehmen, um die Anwesenheit von Zeugen im Verfahren zu gewährleisten.104 Dem Rückgriff auf mittelbare Beweise werden dadurch Grenzen gesetzt. Insbesondere mit Blick auf die Nichtvernehmung eines Zeugen aus Sorge um dessen Sicherheit fordert daher konsequenterweise auch die Große Kammer des EGMR, die Strafgerichte dürften sich nicht mit der bloßen abstrakten Möglichkeit einer Verletzung des Zeugen abfinden, sondern hätten die insoweit bestehende Befürchtung anhand von Beweisen zu substantiieren.105 Effektiver Rechtsschutz gegen eine Geheimhaltung von Belastungsbeweisen erfordert in prozessualer Hinsicht zudem Dazu bereist EGMR (Große Kammer), Urt. v. 16.2.2000 – 28901/95 (Rowe u. Davis v. Vereinigtes Königreich), Rn. 61; vgl. auch BVerwG NVwZ 2010, 905 (906), wonach insoweit zur Begründung einer Sperrerklärung die „konkret befürchteten Nachteile“ darzulegen sind. Dafür genüge „die bloße Möglichkeit eines Nachteils nicht“. „Nachteil in diesem Sinne ist u.a. dann gegeben, wenn und soweit die Bekanntgabe des Akteninhalts die künftige Erfüllung der Aufgaben der Sicherheitsbehörden einschließlich deren Zusammenarbeit mit anderen Behörden erschweren oder Leben, Gesundheit oder Freiheit von Personen gefährden würde.“ Die „Prognose, ob eine Offenbarung bestimmter Dokumente eine Beeinträchtigung der auswärtigen Beziehungen erwarten lässt, [ist] verwaltungsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar“. Ähnlich BVerwG, Beschl. v. 2.7.2009 – 20 F 4/09, Rn. 8; BVerwG NVwZ 2010, 321. 101 BVerfG NJW 1981, 1719 (1723); BGHSt 29, 109 (112) = BGH NJW 1980, 464 (465); BVerwG NJW 1987, 202 (203). 102 BGH NJW 2003, 7476; zur Pflicht der Exekutive, bei ihrer Entscheidung das Interesse an der Wahrheitsfindung und das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Beschuldigten zu berücksichtigen: BVerfGE 57, 250 (284) = NJW 1981, 1719 (1724); BGH NJW 2007, 3010 (3012). 103 Vgl. BVerwG, Beschl. v. 2.7.2009 – 20 F 4/09, Rn. 5; Beschl. v. 29.4.2015 – 20 F 8/14, Rn. 8. 104 Vgl. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 27.2.2014 – 5699/11 (Lucic/Kroatien), Rn. 79; EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 122. 105 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.12.2011 – 26766/05 u. 22228/06 (Al-Khawaja u. Tahery v. Vereinigtes Königreich), Rn. 124. 100 Sorgfalt der Gerichte im Verfahren nach § 99 Abs. 2 VwGO, einem übertriebenen106 Bedürfnis nach Geheimhaltung nicht zur Geltung zu verhelfen. In diesem Zwischenverfahren kann es zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes für das Gericht auch erforderlich sein, über die zunächst von der Behörde vorgelegten Akten hinaus weitere Beweismittel anzufordern,107 etwa Sachverständige oder Behördenmitarbeiter als Zeugen zu vernehmen, um die Tatsachengrundlage des zur Begründung der Sperrerklärung angegebenen Nachteils zu prüfen.108 Nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer strafrechtlichen Relevanz nachrichtendienstlicher Erkenntnisse darf sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Zwischenverfahren nicht mit der Behauptung eines (angeblich) besseren Sachverständnisses der Sicherheitsbehörden abfinden und deren Vorbringen auf die bloße Nachvollziehbarkeit oder ein „Mindestmaß an Plausibilität der Begründung“109 prüfen. Andernfalls droht die Effektivität der gerichtlichen Kontrolle von Sperrerklärungen infolge einer zunehmend engeren internationalen Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden insbesondere unter Berufung auf zwischenstaatlich vereinbarte Verwendungsbeschränkungen unterlaufen zu werden. Große Bedeutung für die Bejahung eines schutzwürdigen Geheimhaltungsinteresses zukommen sollte zudem der oft nur im Zwischenverfahren effektiv überprüfbaren Fragen, ob bei der Erlangung des gesperrten Beweismittels einschlägige rechtliche Vorgaben eingehalten wurden und ob geheim gehaltene Umstände Zweifel an der Zuverlässigkeit eines gesperrten Zeugen begründen. Eine Beeinflussung der Überzeugungsbildung des Hauptsachegerichts durch die tatsächlichen Feststellungen im Zwischenverfahren muss dabei ausgeschlossen werden, andernfalls mittelbar letztlich doch ein „in camera“Hauptsacheverfahren geschaffen würde. Deshalb darf die Begründung des Zwischenurteils keine Feststellungen zur Glaubwürdigkeit der geheimen Beweisquelle enthalten. 106 Dies als Kernproblem der Praxis herausstellend: BarakErez/Waxman, Columbia Journal of Transnational Law 2009, 3 (32); Chandran, Duke Law Journal 2015, 1411 (1429); Cole/Vladeck (Fn. 85), S. 175; van Harten, International Journal of Evidence & Proof 13 (2009), 1 (20 ff.). Dahingehend wohl auch die Einschätzung des stellvertretenden Vorsitzenden der G 10-Kommission des Deutschen Bundestages mit Blick auf das zwischen Deutschland und den USA geschlossenen Geheimschutzabkommens; Huber, NVwZ 2015, 1354 (1357): Dessen Behandlung als „Verschlusssache“ sei „wenn man seinen Inhalt zur Kenntnis genommen hat, nicht nachvollziehbar“. Es werde „getrickst“. 107 Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, 29. Lfg., Stand: Oktober 2015, § 99, Rn. 35. 108 Eine gesonderte Beweisaufnahme sieht § 99 Abs. 2 VwGO gegenwärtig nicht ausdrücklich vor; vgl. BVerwG NVwZ 2002, 1249 (1250); BVerwG, Beschl. v. 2.7.2009 – 20 F 4/09, Rn. 10; Neumann, DVBl. 2016, 473 (481); Schmidt-Aßmann (Fn. 28), S. 1150; Schoch (Fn. 28), S. 899. 109 So aber BVerwG, Beschl. v. 29.4.2015 – 20 F 8/14, Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 2.7.2009 – 20 F 4/09, Rn. 9. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 37 Benjamin Vogel _____________________________________________________________________________________ Zur Herstellung praktischer Konkordanz 110 zwischen Geheimhaltungsinteressen und effektiven Rechtsschutz kann es schließlich de lege ferenda auch geboten sein, im Rahmen des Zwischenverfahrens nach § 99 Abs. 2 VwGO – aber eben nur hier – einen sicherheitsgeprüften, gegenüber dem Betroffenen mit Blick auf geheime Beweise zur Verschwiegenheit verpflichteten Verfahrensbevollmächtigten zuzulassen. Dessen Aufgabe sollte darin bestehen, durch die Herstellung eines kontradiktorischen Elements die Effektivität des Zwischenverfahrens zu verbessern und sich darin gegenüber dem Gericht für eine möglichst weitreichende Offenlegung relevanter Beweismittel einzusetzen.111 Eine solche Weiterentwicklung der gerichtlichen Kontrolle erscheint vor allem mit Blick auf jene Extremfälle geboten, in denen ein Konflikt zwischen der Gefährdung überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter und einer (vor allem aus präventiven Gründen) unerlässlich gebotenen Durchführung des Strafverfahrens zu einer schwerwiegenden Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten führt.112 In solchen Fällen wird mitunter auch eine besonders vorsichtige Beweiswürdigung im Hauptsacheverfahren keine hinreichende Kompensation für das Vorenthalten der den mittelbaren Beweisen zugrunde liegenden vertraulichen Quellen bilden,113 sondern bedarf es darüber hinaus einer in tatsächlicher Hinsicht vertieften Kontrolle der behördlichen Geheimhaltungsentscheidung. 110 Vgl. Cole/Vladeck (Fn. 85), S. 170. Dazu Barak-Erez/Waxman, Columbia Journal of Transnational Law 2009, 3 (28 f., 45); Cole/Vladeck (Fn. 85), S. 173. 112 Vgl. BGH NJW 2007, 3010 (3013). 113 Anders aber im Ergebnis im Fall Motassadeq BGHSt 49, 112 (123) = NJW 2004, 1259 (1263). 111 _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 38 Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge: Appell zur Stärkung des Konfrontationsrechts bei präjudizierender Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren Zugleich Besprechung von EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland) Von Ref. iur. Diana Thörnich, Trier* Urteile der Großen Kammer des EGMR sind die Ausnahme1 und verdienen besondere Beachtung – vor allem, wenn sie einen Verstoß Deutschlands gegen die Europäische Menschenrechtskonvention feststellen. Aufmerksamkeit gebührt daher auch dem Urteil vom 15.12.2015 in der Sache Schatschaschwili v. Deutschland: Mit einer knappen Mehrheit von 9 zu 8 Stimmen bejahte die Große Kammer 2 des EGMR eine Verletzung des Konfrontationsrechts aus Art. 6 Abs. 1, 3 lit. d EMRK3 durch die Bundesrepublik. In der konkreten Sache enthält das Urteil einen begrüßenswerten Appell gerichtet auf eine vorsorgliche Gewährung dieses Rechts auf Verfahrensteilhabe im Falle einer faktischen Vorverlagerung der Beweisgewinnung aus der Hauptverhandlung ins Ermittlungsverfahren. Losgelöst vom konkreten Sachverhalt präzisiert der Straßburger Gerichtshof darüber hinaus auch seine dreistufige Prüfung, welche auch als „Al-Khawaja Test“4 bekannt ist und der Beurteilung einer Konfrontationsrechtsverletzung dient, in bislang noch ungeklärten Punkten. Somit ist die gesamte Entscheidung ein beachtenswerter Schritt in der seit Jahren bewegten Entwicklung zur Reichweite dieses Verteidigungsrechts und gibt Anlass, sich nach der Schilderung von Verfahrensgeschichte und Sachverhalt (I.) und einem Blick auf die rechtliche Problematik (II.) der Präzisierung des Konfrontationsrechts zuzuwenden (III.). Sodann gilt es, die Anwendung der präzisierten Stufenprüfung auf den konkreten Fall zu beleuchten (IV.). I. Verfahrensgeschichte und Sachverhalt Der Beschwerdeführer B war vom LG Göttingen 5 wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes in Tateinheit mit schwerer räuberischer Erpressung in zwei Fällen verurteilt worden.6 Die Feststellungen des LG beruhten vor allem auf den Aussagen der beiden Tatopfer O und P. Bei diesen handelte es sich um sich zur Tatzeit legal 7 in Deutschland aufhaltende Prostituierte lettischer Staatsangehörigkeit. Die Inhalte ihrer Zeugenaussagen wurden allerdings nicht im Rahmen einer unmittelbaren Vernehmung in der Hauptverhandlung gewonnen, sondern durch die Verlesung der Protokolle ihrer polizeilichen und ermittlungsrichterlichen Vernehmungen nach § 251 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 StPO eingeführt. Die Vernehmung durch einen Ermittlungsrichter war – unter Ausschluss von B gem. § 168c Abs. 3 S. 2 StPO und ohne vorige Bestellung eines anwesenheitsberechtigten Verteidigers – aufgrund der Ankündigung von O und P, baldmöglichst nach Lettland zurückkehren zu wollen, erfolgt. 8 Der Protokollverlesung in der Hauptverhandlung vorausgegangen waren intensive,9 aber aufgrund der Rückkehr der Zeuginnen nach Lettland vergebliche Versuche des LG, eine persönliche Vernehmung in der Hauptverhandlung zu erreichen. Einer entsprechenden Ladung Folge zu leisten, hatten O und P unter Verweis auf ärztliche Bescheinigungen über ihr instabiles posttraumatisches Befinden abgelehnt. Die im RechtshilLG Göttingen, Urt. v. 25.4.2008 – 63 Js 1244/07. Von den an unterschiedlichen Tagen, einmal in Kassel, einmal in Göttingen, verübten angeklagten Taten sollen hier nur die Geschehnisse in Göttingen und das damit zusammenhängende weitere Verfahren dargestellt werden. Die Darstellungen basieren auf den Feststellungen aus der Kammerentscheidung (EGMR, Urt. v. 17.4.2014 – 9154/10 [Schatschaschwili v. Deutschland]) unter I. A. „Facts established by the Göttingen Regional Court“, sowie den Feststellungen der Großen Kammer (EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 [Schatschaschwili v. Deutschland]), Rn. 14 ff.; siehe auch EGMR JR 2015, 95 (96 f.). 7 Siehe EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 19. Die Kammer (Rn. 11 des Kammerurteils) ging noch davon aus, dass sich die beiden Opfer ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in Deutschland aufhielten. 8 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 20. 9 Der Vertreter der deutschen Regierung trug in seiner Stellungnahme in der mündlichen Verhandlung vor der Großen Kammer am 4.3.2015 vor, dass allein die Korrespondenz mit dem Ausland schon eine Akte mit ca. 36 Briefen bzw. Schreiben zwischen dem deutschen und dem lettischen Richter sowie dem EJN beinhalte. 5 6 * Die Verf. ist Rechtsreferendarin im OLG-Bezirk Koblenz und wiss. Hilfskraft am Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht sowie Wirtschaftsstrafrecht von Prof. Dr. Mark A. Zöller an der Universität Trier. 1 Siehe die Liste beachtenswerter Entscheidungen der Großen Kammer gegen Deutschland: http://www.echr.coe.int/Documents/CP_Germany_ENG.pdf (1.1.2017). 2 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland). Siehe auch das Kammerurteil v. 17.4.2014 – 9154/10 = JR 2015, 95 m. Anm. Lohse, JR 2015, 60. 3 Da die Garantien aus Art. 6 Abs. 3 EMRK spezielle Ausprägungen des Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK sind, prüft der EGMR beide Vorschriften zusammen. Siehe nur EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 100. 4 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 109 ff. Der Name folgt aus der Modifikation der früheren Stufenprüfung durch die Große KammerEntscheidung in der Sache Al-Khawaja und Tahery v. das Vereinigte Königreich, EGMR, Urt. v. 15.12.2011 – 26766/05, 22228/06. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 39 Diana Thörnich _____________________________________________________________________________________ feweg mit Hilfe des Europäischen Justiziellen Netzes (EJN) organisierte audiovisuelle Vernehmung war vom lettischen Gericht aus demselben Grund kurzfristig abgesagt worden. Der darauffolgende Vorschlag des LG, die Zeuginnen entweder von einem Amtsarzt untersuchen zu lassen oder zu einer Aussage zu zwingen, war unbeantwortet geblieben. Auch unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen war das Tatgericht daher zu dem Ergebnis gelangt, dass eine unmittelbare Zeugeneinvernahme von O und P nicht möglich war. Als Zeugen vernommen wurden jedoch eine Freundin und eine Nachbarin, denen O und P von den Geschehnissen noch am Tattag bzw. am darauffolgenden Tag erzählt hatten; außerdem die Polizeibeamten und der Ermittlungsrichter, die O und P im Ermittlungsverfahren vernommen hatten. Weiterhin gab es Parallelen zu einem früheren Überfall durch B auf Prostituierte in Kassel. Infolge einer Mobiltelefon- und GPSÜberwachung stand außerdem fest, dass sich B zum Zeitpunkt der Tat am Tatort aufgehalten hatte. B hatte jede Beteiligung an dem Überfall abgestritten, aber zugegeben, zum Tatzeitpunkt am Tatort gewesen zu sein, um die Dienste der Frauen in Anspruch zu nehmen. In seinem Urteil führte das LG aus, dass es sich bei der Beweiswürdigung des eingeschränkten Beweiswerts der Zeugenaussagen bewusst gewesen sei und das Fehlen von Konfrontationsmöglichkeiten gegenüber den einzigen unmittelbaren Zeugen berücksichtigt habe. Die Aussagen der Opferzeuginnen ebenso wie die der Zeugen vom Hörensagen würdigte das LG kritisch und vorsichtig.10 Es betonte darüber hinaus, dass während des Ermittlungsverfahrens keine Anhaltspunkte dafür vorhanden gewesen seien, dass die Zeugen ihre Aussagen im Hauptverfahren nicht wiederholen würden.11 Aus diesem Grund sei kein Verteidiger zur ermittlungsrichterlichen Vernehmung bestellt worden. Die von der Verteidigung wegen Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK eingelegte Revision zum BGH wurde als offensichtlich unbegründet verworfen; die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.12 In seiner Individualbeschwerde rügte B u.a., das Gericht habe nicht alles Mögliche unternommen, um die Zeuginnen für die Hauptverhandlung herbeizubringen. Ihnen hätte etwa eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis erteilt oder sie hätten in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden können. Außerdem hätten die nationalen Behörden auf politischer Ebene mit Lettland in bilaterale Verhandlungen treten müssen. Darüber hinaus sei absehbar gewesen, dass die Zeuginnen für eine weitere Vernehmung in Deutschland nicht mehr zur Verfügung stehen würden. Vor der zu Beweissicherungszwecken vorgenommenen ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung hätte daher gem. §§ 141 Abs. 3, 140 StPO ein EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 32 ff. 11 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 29; im Kammerurteil unter Rn. 23. 12 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 48 ff.; im Kammerurteil unter Rn. 33 ff. 10 Verteidiger bestellt werden müssen, welcher gem. § 168c Abs. 2 StPO bei der Zeugenvernehmung hätte anwesend sein dürfen. Insgesamt seien die aus der fehlenden Konfrontationsmöglichkeit resultierenden Einschränkungen der Verteidigungsrechte nicht ausreichend kompensiert worden. 13 Die Kammer entschied am 17.4.2014 mit 5 zu 2 Stimmen gegen die Verletzung von Art. 6 Abs. 1, 3 lit. d EMRK.14 Am 8.9.2014 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer angenommen. II. Problematik Bei diesem Sachverhalt kommen Erschwernisse der Wahrheitsfindung zum Tragen, wie sie bei Auslandszeugen15 infolge der Grenzen deutscher Hoheitsgewalt typisch sind. Im Hauptverfahren sind häufig zeitaufwändige und kostspielige staatliche Bemühungen zur Herbeischaffung des Zeugen anzustrengen. Dies erfordert nicht nur der Unmittelbarkeitsgrundsatz, sondern auch die Rechtsprechung des EGMR, nach der die Beweisgewinnung grundsätzlich in öffentlicher Verhandlung in Gegenwart des Angeklagten mit dem Ziel einer kontradiktorischen („adversarial“) Erörterung stattfinden soll.16 Sie scheitern – wie hier – allerdings nicht selten an der Weigerung des Zeugen, persönlich nach Deutschland zu reisen oder für eine audiovisuelle Vernehmung in der Hauptverhandlung zur Verfügung zu stehen. Bei Fruchtlosigkeit der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sind dem Gericht insbesondere mangels Zeugnispflicht bzw. Zeugniszwang 17 die Hände gebunden. In der Hauptverhandlung bleibt somit EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 75, 77 ff.; im Kammerurteil unter Rn. 53 f. 14 Siehe die Kammerentscheidung in EGMR, Urt. v. 17.4.2014 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 67 ff., mit der beachtlichen dissenting opinion von Richterin Power-Forde; zusammengefasst in der Entscheidung der Großen Kammer unter Rn. 69 ff. 15 In Anlehnung an § 244 Abs. 5 S. 2 StPO sind das Zeugen, deren Ladung im Ausland zu bewirken ist. 16 Vgl. EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 103; EGMR, Urt. v. 15.12.2011 – 26766/05, 22228/06 (Al-Khawaja u. Tahery v. das Vereinigte Königreich), Rn. 118; EGMR, Urt. v. 19.7.2012 – 26171/07 (Hümmer v. Deutschland), Rn. 38 = NJW 2013, 3225 (3226); EGMR, Urt. v. 18.12.2014 – 14212/10 (Scholer v. Deutschland), Rn. 45; vgl. Krausbeck, Konfrontative Zeugenbefragung, 2010, S. 90 ff.; siehe auch Maffei, The Right to Confrontation in Europe, 2012, S. 35 ff., zu den 6 Bestandteilen des „confrontational paradigm“, welche auch in der Rechtsprechung des EGMR zum Ausdruck kommen und grundsätzlich vorausgesetzt werden: Publicity, Live Presence of the Accused, Live Presence of the Factfinder, Legal Commitment to Sincerity, Disclosure of Personal Identity, Adverse-questioning. 17 Siehe nur Norouzi, Die audiovisuelle Vernehmung von Auslandszeugen, 2010, S. 68 ff., der bei „Zeugnispflicht“ von der Erscheinenspflicht, bei „Zeugniszwang“ von ihrer Durchsetzbarkeit spricht. 13 _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 40 Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge _____________________________________________________________________________________ nur der Rückgriff auf frühere Zeugenaussagen. Kommt es dadurch zu einem Ausfall des Konfrontationsrechts, werden nicht nur bedeutende Verteidigungsrechte beschnitten; vielmehr wird die Wahrheitsfindung insgesamt gefährdet. Denn das Konfrontationsrecht dient, wenn es auch vorrangig als individuelles Verteidigungsrecht zum Zwecke der Gewährung einer wirksamen Einflussnahme auf die Entscheidungsgrundlage ausgestaltet ist, zumindest mittelbar auch einer umfassenden Aufklärung und gerechten Wahrheitsfindung.18 In der vorliegenden Fallkonstellation, in der die (zukünftigen Auslands-)Zeugen im Ermittlungsverfahren noch in Deutschland verfügbar sind und zugleich ihr Ausfall in der Hauptverhandlung droht, muss zur Sicherung des Fragerechts daher bereits im Ermittlungsverfahren Vorsorge geleistet werden. Wird mit der Zeugenvernehmung ein (wesentlicher) Teil der Hauptverhandlung vorweggenommen und damit ein kaum veränderliches Präjudiz geschaffen, sind grundsätzlich die in der Hauptverhandlung geltenden Verteidigungsrechte bereits im Ermittlungsverfahren einzuräumen. 19 Das Erfordernis einer konventionskonformen Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO in einem solchen Fall ist nach zu begrüßender Rechtsprechung des BGH bereits seit dem grundlegenden Urteil des 1. Strafsenats vom 25.7.200020 anerkannt. Demnach muss vor einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung eines zentralen Belastungszeugen zum Zwecke der Beweissicherung ein Verteidiger bestellt werden, wenn der Beschuldigte von der Anwesenheit gem. § 168c Abs. 3 StPO ausgeschlossen und abzusehen ist, dass die Mitwirkung eines Verteidigers im gerichtlichen Verfahren notwendig sein wird. 21 Trechsel, AJP 2000, 1366 (1367); Demko, „Menschenrecht auf Verteidigung“ und Fairness des Strafverfahrens auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene, 2014, Rn. 553 f.; Renzikowski, in: Dölling (Hrsg.), Jus humanum, Grundlagen des Rechts und Strafrecht, Festschrift für ErnstJoachim Lampe zum 70. Geburtstag, 2003, S. 791 (802); Frister, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, GVG und EMRK, Bd. 4, 5. Aufl. 2015, § 240 Rn. 3 m.w.N.; ablehnend demgegenüber aber Krausbeck (Fn. 16), S. 28 f., 47. 19 Vgl. Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 2006, S. 253; v. Stetten, in: Fahl/Müller/Satzger/Swoboda (Hrsg.), Ein menschengerechtes Strafrecht als Lebensaufgabe, Festschrift für Werner Beulke zum 70. Geburtstag, 2015, S. 1053 (1059 f.); Schlothauer, StV 2001, 127 (128 f.). 20 BGHSt 46, 93 (97 ff.) = NJW 2000, 3505 (3508 ff.) = NStZ 2001, 212 m. Anm. Kunert, NStZ 2001, 217 = JZ 2001, 359 m. Anm. Fezer, JZ 2001, 363, siehe auch die Besprechung von Eisele, JA 2001, 100 sowie Martin, JuS 2001, 194 f.; an diese Entscheidung wurde für die Vernehmung des Beschuldigten angeknüpft in BGHSt 47, 172 (176 ff.). Die Bestellung eines Verteidigers vor einer beweissichernden ermittlungsrichterlichen Vernehmung eines wesentlichen Belastungszeugen in Abwesenheit des Beschuldigten hat auch der 5. Strafsenat begrüßt, siehe BGHSt 47, 233 (236). 21 BGHSt 46, 93 (97, 99 f.). Insoweit reduziert sich das richterliche Ermessen nach § 141 Abs. 3 S. 1 StPO und verengt 18 Doch was, wenn dieser Sicherungshebel nicht gekippt und somit keine aktive Befragungsmöglichkeit gewährt wurde? Bislang hat der BGH als Folge einer unterlassenen Verteidigerbestellung unter ausdrücklicher Ablehnung eines Beweisverwertungsverbots lediglich eine Beweiswürdigungslösung vertreten und gefordert, dass die Zeugenbekundungen durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden.22 Ob aber eine sorgfältige Beweiswürdigung und die Zeugenaussagen bestätigende Indizienbeweise das Defizit der Verteidigung heilen und ein insgesamt faires Verfahren gewährleisten können, ist zu bezweifeln. III. Die präzisierte Ausgestaltung des Konfrontationsrechts 1. Schutzbereich: Idealfall und Grundsatzregel Bereits bei der Rekapitulation des Gewährleistungsinhalts des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK unterstreicht die Große Kammer die Bedeutung des Ermittlungsverfahrens, da die dort erlangten Beweise den Rahmen der in der Hauptverhandlung untersuchten Beweise absteckten.23 Aus dem primären Zweck des Art. 6 EMRK, ein faires Verfahren vor einem „Gericht“ zuzusichern, folge nicht, dass dieser Artikel keine Anwendung im Vorverfahren finde. Vielmehr könne insbesondere Absatz 3 des Art. 6 EMRK bereits vor dem Hauptverfahren relevant werden, soweit die Verfahrensfairness voraussichtlich erheblich durch einen anfänglichen Verfahrensfehler vorherbestimmt werde.24 Diese Feststellung stärkt die Verteidigungsrechte bei einer Verlagerung wesentlicher Entscheidungen in das Vorverfahren in erfreulicher Weise. Bedeutend ist sie nicht nur für die hier skizzierte Verfahrenssituation. Sie trägt insbesondere auch dem Phänomen Rechnung, dass sich der Verfahrensschwerpunkt in einigen Strafverfahrensrechtsordnungen ins Ermittlungsstadium verschoben hat und infolgedessen u.U. von einer erneuten Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung abgesehen wird.25 Die Akzentuierung des Vorverfahrens sich der entsprechende Beurteilungsspielraum der Staatsanwaltschaft aus § 141 Abs. 3 S. 2 StPO. 22 BGHSt 46, 93 (103 ff.); ablehnend etwa Fezer, JZ 2001, 363, der den Verstoß als Verstoß gegen das grundlegende, weiterreichende Recht auf Verteidigung einordnet und ein Beweisverwertungsverbot fordert; ebenso Eisele, JR 2004, 12 (17); Kunert, NStZ 2001, 217; Schlothauer, StV 2001, 127 (129 ff.); Sowada, NStZ 2005, 1 (6) m.w.N.; v. Stetten (Fn. 19,) S. 1059. 23 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 104. 24 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 104. 25 Zur tatsächlichen Bedeutung des Ermittlungsverfahrens auch mit statistischen Belegen und zum Recht auf den Verteidiger in diesem Verfahrensstadium siehe Zöller, in: Livonius/Graf/Wolter/Zöller (Hrsg.), Strafverteidigung im Wirtschaftsleben, Festgabe für Hanns W. Feigen, 2014, S. 399. Ein nur beschränktes Unmittelbarkeitsprinzip kennt etwa die schweizerische Strafprozessordnung, vgl. Art. 343, 350 Abs. 2 schwStPO. Näher zur Rechtslage in der Schweiz _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 41 Diana Thörnich _____________________________________________________________________________________ bringt zugleich zum Ausdruck, dass der Straßburger Gerichtshof eine solche Verfahrensweise nicht als mit der EMRK unvereinbar erachtet, sofern die prozessualen Absicherungen der Konvention eingehalten werden. 26 Dies ergibt sich auch aus der in der Rechtsprechung beständig betonten Grundsatzregel („as a rule“), dass dem Beschuldigten oder seinem Verteidiger zumindest einmal im Verlaufe des Verfahrens, entweder zum Zeitpunkt der Zeugenaussage oder zu einem späteren Verfahrenszeitpunkt, angemessene und ausreichende Gelegenheit geboten werden muss, den Belastungszeugen zu befragen, um seine Glaubwürdigkeit zu prüfen und seine Verlässlichkeit in Zweifel zu ziehen. 27 Ungeachtet dessen bleibt es aber bei dem Idealfall der Verwirklichung des Konfrontationsrechts im Rahmen der Beweisaufnahme in der öffentlichen (Haupt-)Verhandlung. Handelt es sich bei der Zeugenkonfrontation außerhalb der Hauptverhandlung zwar auch um eine den Wesensgehalt des Examinierungsrechts wahrende Verfahrensweise, so stellt sie doch eine rechtfertigungsbedürftige Einschränkung des Idealfalls, quasi die Ausnahme von der Regel dar. 28 Diese EinRiklin, ZStW 126 (2014), 173 (176 ff.); Wohlers, ZStrR 2014, 424 (429 ff.). Eine Verlagerung des Schwerpunkts der Strafverfahren ins Ermittlungsstadium wird auch in Verfahrensordnungen festgestellt, in denen grundsätzlich eine öffentliche, mündliche und kontradiktorische Hauptverhandlung vorgesehen ist. Siehe zu Frankreich Leblois-Happe, ZStW 126 (2014), 185, (187 ff., 193); für Spanien Bachmeier Winter, ZStW 126 (2014), 194 (196); für die Niederlande Groenhuijsen/Selçuk, ZStW 126 (2014), 248, (258, 261); vgl. Weigend, in: Müller/Sander/Válková (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, 2009, S. 657 (664), zu verschiedenen Faktoren, die die Barriere der Unmittelbarkeit zwischen Ermittlungs- und Hauptverfahren löchrig und brüchig machen. 26 Hierzu ausdrücklich EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), joint concurring opinion of judges Spielmann, Karakaş, Sajó, and Keller, Rn. 13; vgl. EGMR, Urt. v. 19.7.2012 – 26171/07 (Hümmer v. Deutschland), Rn. 42 = NJW 2013, 3225 (3226). 27 Siehe nur EGMR, Urt. v. 18.12.2014 – 14212/10 (Scholer v. Deutschland), Rn. 45; EGMR, Urt. v. 20.11.1989 – 11454/85 (Kostovski v. Niederlande), Rn. 41 = StV 1990, 481 (482); EGMR, Urt. v. 14.12.1999 – 37019/97 (A.M. v. Italien), Rn. 25; EGMR, Urt. v. 27.2.2001 – 33354/96 (Lucà v. Italien), Rn. 39; EGMR, Urt. v. 15.12.2011 – 26766/05, 22228/06 (Al-Khawaja u. Tahery v. das Vereinigte Königreich), Rn. 118, 127. 28 Vgl. EGMR, Urt. v. 13.3.2012 – 5605/04 (Karpenko v. Russland), Rn. 68, 70: „The Court, however, considers that a close look at its case-law does not allow it to conclude that the very fact of an accused’s participation in confrontation interviews with witnesses at the pre-trial stage can, in itself, strip him or her of the right to have those witnesses examined in court. The Court has consistently held that the evidence must be produced ‘live’ before the body called upon to assess the case and determine the facts. This relates in the first place to the trial, which is the central aspect of criminal proceed- schränkung des Idealfalls muss den Anforderungen des sog. „Al-Khawaja Test“ genügen. 2. Rechtfertigung einer Einschränkung des Konfrontationsrechts Die Große Kammer bestätigt die in „Al-Khawaja u. Tahery“29 herausgearbeitete und seither30 gefestigte Stufenprüfung als das maßgebliche Prüfungsmuster.31 a) Die Prüfungsstufen seit „Al-Khawaja u. Tahery“ Der „Al-Khawaja Test“ enthält drei Prüfungsschritte:32 Für die Nichtanwesenheit des Zeugen in der Hauptverhandlung und damit verbunden auch die Zulässigkeit des nicht hinterfragten (mittelbaren) Beweises muss (auf der ersten Stufe) ein sachlicher bzw. legitimer Grund („good reason“/„motif sérieux“) vorliegen. Als ein solcher ist die hier relevante (rechtliche oder tatsächliche) Unerreichbarkeit 33 des Zeugen ings and applies to witness evidence, which the defence must be able to question in open court.“ (Rn. 68). Siehe auch Esser, JR 2005, 248 (249); Demko, ZStrR 122 (2004), 416 (424) m.w.N.; Gless, in: Zöller/Hilger/Küper (Hrsg.), Gesamte Strafrechtswissenschaft in internationaler Dimension, Festschrift für Jürgen Wolter zum 70. Geburtstag am 7. September 2013, 2013, S. 1355 (1357); Beulke, in: Hanack/ Hilger/Mehle/Widmaier (Hrsg.), Festschrift für Peter Rieß zum 70. Geburtstag am 4. Juni 2002, 2002, S. 3 (17). 29 EGMR, Urt. v. 15.12.2011 – 26766/05, 22228/06 (AlKhawaja u. Tahery v. das Vereinigte Königreich), Rn. 120 ff. 30 Siehe etwa EGMR, Urt. v. 16.12.2014 – 4184/10 (Horncastle u.a. v. das Vereinigte Königreich), Rn. 132, 139; EGMR, Urt. v. 18.12.2014 – 14212/10 (Scholer v. Deutschland), Rn. 49; EGMR, Urt. v. 13.3.2012 – 5605/04 (Karpenko v. Russland), Rn. 61. Eine detailliertere, klare Zusammenfassung der nach dem EGMR anzuwendenden Prinzipien für den Fall, dass ein Zeuge nicht an der Hauptverhandlung teilnimmt, listen etwa die Fälle EGMR, Urt. v. 25.10.2012 – 18027/05 (Štefančič v. Slowenien), Rn. 37, und EGMR, Urt. v. 27.2.2014 – 5699/11 (Lučić v. Kroatien), Rn. 73, in 8 Schritten auf. 31 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 107. 32 Zwar ist in EGMR, Urt. v. 15.12.2011 – 26766/05, 22228/06 (Al-Khawaja u. Tahery v. das Vereinigte Königreich), Rn. 119, nur von zwei Voraussetzungen die Rede. Faktisch bleibt es aber bei drei Stufen. So ausdrücklich EGMR, Urt. v. 18.12.2014 – 14212/10 (Scholer v. Deutschland), Rn. 46; EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 107. 33 Vgl. nur EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 119 f.; EGMR, Urt. v. 17.11.2005 – 73047/01 (Haas v. Deutschland) = NStZ 2007, 103 (105), hinsichtl. des Zeugen Said S.); EGMR, Urt. v. 10.4.2012 – 8088/05 (Gabrielyan v. Armenien), Rn. 81; EGMR, Urt. v. 13.3.2012 – 5605/04 (Karpenko v. Russland), Rn. 73 ff.; m.w.N. auch Gless (Fn. 28), S. 1358; Paeffgen, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozess- _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 42 Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge _____________________________________________________________________________________ trotz angemessener staatlicher Bemühungen oder infolge der Verweigerung der beantragten Rechtshilfe durch den Aufenthaltsstaat anerkannt. Falls sich (im nächsten Schritt) herausstellt, dass die nichtkonfrontierte Zeugenaussage der einzige oder entscheidende Beweis ist, müssen (auf der letzten Prüfungsstufe) kompensatorische Maßnahmen einschließlich strenger prozessualer Absicherungen („sufficient counterbalancing factors, including the existence of strong procedural safeguards“) greifen, um die aus der Beweiszulassung resultierenden Verteidigungsdefizite auszugleichen und sicherzustellen, dass das Verfahren als Ganzes fair war.34 Als Reaktion auf die erhebliche Kritik seitens des Supreme Courts des Vereinigten Königreichs vor allem in der Sache „R v. Horncastle and others“35, verzichtet dieses Prüfungsschema auf eine absolute „sole or decisive rule“, wie sie insbesondere noch in Lucà v. Italien gefestigt worden war. 36 Seine primäre Aufgabe sieht der EGMR demnach – wie auch in „Schatschaschwili“ betont wird – darin, die Fairness des Verfahrens in seiner Gesamtheit zu prüfen. Er betrachte das gesamte Verfahrensgeschehen unter Berücksichtigung sowohl der Verteidigungsrechte als auch der Interessen der Allgemeinheit sowie des Opfers an einer wirksamen Strafverfolgung und, sofern erforderlich, auch die der Zeugen. 37 ordnung, GVG und EMRK, Bd. 10, 4. Aufl. 2010, Art. 6 EMRK Rn. 156; Renzikowski, in: Hiebl/Kassebohm/Lilie (Hrsg.), Festschrift für Volkmar Mehle zum 65. Geburtstag am 1.1.2009, 2009, S. 529 (540); Demko (Fn. 18), Rn. 710. 34 Die Prüfung der zweiten und dritten Stufe aus der Zeit vor Al-Khawaja u. Tahery erfolgt somit in umgekehrter Reihenfolge. Hierzu auch Esser, in: Sieber/Satzger/v. HeintschelHeinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2014, § 56 Rn. 47; du Bois-Pedain, HRRS 2012, 120 (132 f.). 35 R. v. Horncastle [2009] UKSC 14 (Rn. 55 ff., 79 ff.), [2010] 2 WLR 47 (Rn. 67 ff., 74), siehe speziell Lord Phillips of Worth Matravers PSC unter [2009] UKSC 14 (Rn. 91 ff.), [2010] 2 WLR 47 (Rn. 119 ff.). Nun auch entschieden vom EGMR, Urt. v. 16.12.2014 – 4184/10 (Horncastle u.a. v. das Vereinigte Königreich). 36 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 126 ff., 147; kritisch etwa Esser/Gaede/ Tsambikakis, NStZ 2012, 619 (621); Meyer, HRRS 2012, 117 (119 f.); Alcácer Guirao, in: Zöller/Hilger/Küper (Fn. 28), S. 833 (841 ff.); vgl. noch EGMR, Urt. v. 27.2.2001 – 33354/96 (Lucà v. Italien), Rn. 40; daher auch als „LucàTest“ bezeichnet, siehe Jung, GA 2009, 235 (238 ff.); du Bois-Pedain, HRRS 2012, 120 (126 ff.). 37 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 101; bereits EGMR, Urt. v. 15.12.2011 – 26766/05, 22228/06 (Al-Khawaja u. Tahery v. das Vereinigte Königreich), Rn. 118, 146; EGMR, Urt. v. 19.7.2012 – 26171/07 (Hümmer v. Deutschland), Rn. 37 = NJW 2013, 3225 (3226); EGMR, Urt. v. 19.7.2012 – 29881/07 (Sievert v. Deutschland), Rn. 58 = JR 2013, 170 (174), m. krit. Anm. Schroeder; EGMR, Urt. v. 18.12.2014 – 14212/10 (Scholer v. Deutschland), Rn. 44. b) Präzisierung der Stufenprüfung durch die Große Kammer Auch auf Aufforderung der tschechischen Regierung 38 sah sich die Große Kammer veranlasst, den „Al-Khawaja Test“ insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses der Prüfungsstufen zueinander zu präzisieren. Da sowohl die deutsche als auch die tschechische Regierung vorgetragen hatten, dass die in „Al-Khawaja u. Tahery“ im Kontext eines Common Law Rechtssystems entwickelten Grundsätze nur bedingt auch für kontinental-europäische Rechtssysteme Anwendung finden könnten, 39 stellt der Gerichtshof klar, dass er ganz unabhängig von der jeweiligen Rechtsordnung denselben Standard zur Überprüfung des Art. 6 Abs. 1, 3 lit. d EMRK anwendet. Dabei betont er, dass er die Unterschiede in den Rechtssystemen und Verfahrensweisen der Vertragsstaaten beachten werde.40 Die Prüfungsreihenfolge solle grundsätzlich („as a rule“) beibehalten werden.41 aa) Verletzung bereits bei Fehlen eines sachlichen Grundes? Die Anwendung der Stufenprüfung hatte insbesondere zu der Frage geführt, ob allein das Fehlen eines legitimen Grundes für die Nichtverfügbarkeit des Zeugen in der Hauptverhandlung zu einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1, 3 lit. d EMRK führt, selbst wenn die Zeugenaussage nicht die einzige oder entscheidende ist. Auf Basis der Rechtsprechung in „AlKhawaja u. Tahery“42 hat der EGMR dies in mehreren Ent- EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 96 ff. Siehe Art. 36 Abs. 2 EMRK. 39 Siehe EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 84 (dt. Regierung), Rn. 96 (tschech. Regierung). Die deutsche Regierung folgerte aus den Unterschieden zwischen der deutschen Strafprozessordnung und dem Common Law-System, dass der Beurteilungsspielraum für Ausnahmen in kontinental-europäischen Systemen größer sein müsse. Das deutsche Strafprozesssystem basiere anders als der Common Law-Prozess mit Juryentscheidung in einem viel größeren Umfang auf der professionellen Erfahrung von Richtern. Vor allem sei die Beweiswürdigung auch transparenter als im Common Law System, da der Richter im Urteil detailliert ausführen müsse, auf welchen Beweisen die Verurteilung beruht und wie sie bewertet wurden. Hierzu auch Weigend, in: Zöller/ Hilger/Küper (Fn. 28), S. 1145 (1147 f.). 40 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 108 f. 41 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 117 f. Gegebenenfalls könne es im Hinblick auf die Betrachtung der Fairness des Verfahrens in seiner Gesamtheit aber zweckmäßig sein, die Prüfungsschritte in einer anderen Reihenfolge vorzunehmen. Zustimmend die Richter Hirvelä, Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris in ihrer joint dissenting opinion, Rn. 7. 42 Siehe EGMR, Urt. v. 15.12.2011 – 26766/05, 22228/06 (Al-Khawaja u. Tahery v. das Vereinigte Königreich), Rn. 120. 38 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 43 Diana Thörnich _____________________________________________________________________________________ scheidungen bejaht.43 Begründet wurde dies damit, dass Zeugen grundsätzlich während des Gerichtsverfahrens vernommen werden müssten und alle verhältnismäßigen Anstrengungen zu unternehmen seien, um ihre Anwesenheit sicherzustellen.44 In anderen Verfahren wurde dagegen festgestellt, dass es sich um offensichtlich nicht entscheidende Beweise handelte, mit der Folge, dass das Fehlen eines sachlichen Grundes nicht weiter geprüft werden musste.45 Mit Blick auf die Maßgabe, die Fairness des Verfahrens in seiner Gesamtheit zu betrachten, entschied sich die Mehrheit der Richter nunmehr für eine flexiblere Handhabung. Denn es würde eine neue ausnahmslose Regel kreiert, wenn das Verfahren bereits allein wegen des Fehlens eines sachlichen Grundes auf erster Stufe als unfair anzusehen sei, obwohl der nicht konfrontierte Beweis weder der einzige noch der entscheidende oder für das Verfahrensergebnis sogar irrelevant war.46 Das Scheitern einer Rechtfertigung auf der EGMR, Urt. v. 11.7.2013 – 2775/07 (Rudnichenko v. die Ukraine), Rn. 104 ff.; ebenso in EGMR, Urt. v. 6.10.2015 – 30582/04, 32152/04 (Karpyuk u.a. v. die Urkaine), Rn. 108, 123. Teilweise stand bereits fest, dass die betroffene Zeugenaussage entscheidend war (siehe etwa EGMR, Urt. v. 13.3.2012 – 5605/04 [Karpenko v. Russland], Rn. 70 ff.); in anderen Fällen wurde dies in der weiteren Stufenprüfung ergänzend geprüft (so bei EGMR, Urt. v. 3.7.2014 – 63117/09 [Nikolitsas v. Griechenland], Rn. 35 ff.). Zum Teil wurde eine Verletzung bei Fehlen eines sachlichen Grundes auch bei Zeugenaussagen angenommen, die „inter alia“ dem Nachweis der Schuld dienten, ohne dass näher untersucht wurde, ob sie „decisive“ waren (siehe EGMR, Urt. v. 10.4.2012 – 8088/05 [Gabrielyan v. Armenien], Rn. 80 ff.). 44 EGMR, Urt. v. 11.7.2013 – 2775/07 (Rudnichenko v. die Ukraine), Rn. 104 45 Hierzu EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 113 m.w.N., u.a. EGMR, Urt. v. 16.10.2014 – 20077/04 (Suldin v. Russland), Rn. 56: „They fell rather into the category of corroborative evidence, as the guilty verdict on the theft charges was reached on the basis of testimony taken during the trial and of other evidence […]. The Court therefore concludes that the evidence of these absent witnesses cannot be considered relevant for the conviction of the applicant. It is accordingly not required to establish whether there were good reasons for their non-attendance.” (Hervorhebungen durch Verf.); enger dagegen EGMR, Urt, v. 23.9.2014 – 17362/03 (Cevat Soysal v. die Türkei), § 7: „[…] if the prosecution decides that a particular person is a relevant source of information and relies on his or her testimony at the trial and if the testimony of that witness is used by the court to support a guilty verdict, it must be presumed that the personal appearance and questioning of that witness are necessary, unless his or her testimony is manifestly irrelevant or redundant.“ (Hervorhebungen durch Verf.). 46 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 112. Dem folgten die Richter Hirvelä, Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris in ihrer joint dissenting opinion, Rn. 5. 43 ersten Prüfungsstufe stelle daher (nur) einen sehr gewichtigen Gesichtspunkt i.R.d. Würdigung der Fairness des Verfahrens in seiner Gesamtheit dar, der den Ausschlag für eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1, 3 lit. d EMRK geben könnte. 47 Diese Präzisierung hat weitreichende Bedeutung für die Anforderungen an den Beweistransfer in die Hauptverhandlung. Mit der Lockerung der ersten Prüfungsstufe entfernt sich der EGMR von der strengen Forderung nach einer idealen Konfrontation eines jeden Zeugen in öffentlicher (Haupt-) Verhandlung. Dies trägt den nationalen Unterschieden in der Ausgestaltung der Beweisgewinnung Rechnung und steht in Einklang mit der Tendenz, vor allem auch aus Gründen der Verfahrensökonomie auf die erneute unmittelbare Zeugenvernehmung verzichten zu können, wenn eine solche zur Wahrheitsfindung nicht für erforderlich erachtet wird. 48 Ob damit aber mehr Klarheit in der Stufenprüfung erreicht wird, ist mit der „joint concurring opinion“ 49 der Richter Spielmann, Karakaş, Sajó, und Keller zu bezweifeln. Nach Ansicht dieser Richter soll – nicht nur aus logischen Gründen, sondern auch im Hinblick auf eine effiziente und prozessökonomische Arbeit des Gerichtshofs – beim Fehlen eines sachlichen Grundes für die Abwesenheit des Zeugen in der Hauptverhandlung eine Verletzung auch dann anzunehmen sein, wenn dessen Aussage von irgendeiner, d.h. auch nur untergeordneter Bedeutung für das Verfahren ist.50 Die Verlagerung der Entscheidung auf die letzte Ebene einer Gesamtbetrachtung schmälert die Vorhersehbarkeit des Ergebnisses und führt zu einer Verwässerung der Prüfung. Damit nimmt der EGMR dem Stufentest die einzig feste Hürde auf der ersten Stufe. Sie schränkt die Durchsetzungskraft des Teilhaberechts vor allem gegenüber solchen Zeugen EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 113. 48 Vgl. AE-Beweisaufnahme, GA 2014, 1, (3 ff., 11, 50); hierzu auch Jahn, StV 2015, 778 (779 ff.); kritisch hierzu etwa Ignor, in: Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Hrsg.), Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, 2015, Anlagenband I – Gutachten, S. 426, 428 ff.; Effizienzerwägungen sind ein zentraler Grund dafür, dass in einigen ausländischen Rechtsordnungen in verstärktem Maße auf eine doppelte Beweiserhebung verzichtet wird, siehe zur Rechtslage in der Schweiz Wohlers, ZStrR 2014, 424 (429 ff., 435 ff.); ders., ZStrR 2013, 318 (324); Riklin, ZStW 126 (2014), 173 (176 ff.); für die Niederlande Groenhuijsen/ Selcuk, ZStW 126 (2014), 248 (258 ff., 276). 49 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), joint concurring opinion of judges Spielmann, Karakaş, Sajó, and Keller, Rn. 17 ff. 50 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), joint concurring opinion of judges Spielmann, Karakaş, Sajó, and Keller, Rn. 6 f. Kritisch auch Richter Kjølbro (dissenting opinion von Richter Kjølbro, Rn. 5 ff.) Im Ergebnis stimmt er der Mehrheit allerdings darin zu, dass das Fehlen eines guten Grundes nicht zwangsläufig und automatisch die Unfairness des Verfahrens begründet. 47 _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 44 Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge _____________________________________________________________________________________ ein, deren Aussagen nicht als entscheidend angesehen werden. Denn nur bei einer Einstufung als einziger oder entscheidender Beweis kommt es nach dem „Al-Khawaja Test“ überhaupt zu einer Forderung nach Ausgleichsmaßnahmen. Das Fehlen eines sachlichen Grundes hat damit bei Zeugen, die den „sole or decisive“-Test nicht bestehen, keine Auswirkungen. Dies scheint angesichts der Tatsache, dass Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK das Konfrontationsrecht gegenüber jedem Belastungszeugen gewährt,51 unhaltbar. Was ein Zeuge aussagen und ob er seine Angaben in der Hauptverhandlung ändern wird, kann nicht sicher vorhergesagt werden. Außerdem wird jede in die Hauptverhandlung eingeführte Zeugenaussage als möglicherweise bedeutend für die Entscheidung befunden, vgl. § 244 Abs. 2 StPO. Der Beschuldigte muss auch eine auf den ersten Blick nur nebensächliche Zeugenaussage in Zweifel ziehen und damit das gesamte Beweisgebäude zum Einsturz bringen können. Mit diesen Erwägungen ist aber noch nicht die letztlich auch mit der Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes verbundene Entscheidung getroffen, dass jeder Zeuge für eine konfrontative Befragung persönlich in der Hauptverhandlung erscheinen muss. Hierfür sprechen die bekannten Gefahren des Beweistransfers, insbesondere bei einem Rückgriff auf das fehleranfällige Vernehmungsprotokoll, sowie die weiteren Vorzüge einer konfrontativen Vernehmung vor den Augen des zur Entscheidung berufenen Gerichts mit dem Ziel einer zuverlässigen Beweiswürdigung. 52 Allerdings ist die Entscheidung über die Ausgestaltung des Beweisverfahrens eine nationale, rechtspolitische Entscheidung. Gegen einen strengen Unmittelbarkeitsgrundsatz werden nicht unberechtigte Einwände geltend gemacht.53 Und sofern dem Beschuldigten eine effektive Befragungsmöglichkeit des Belastungszeugen im Verlauf des Strafverfahrens gewährt wird, ist das Konfrontationsrecht in seinem Kern gewahrt. Die Annahme, dass nicht automatisch eine Verletzung vorliegt, wenn es bereits an einem sachlichen Grund für die Abwesenheit des Zeugen in der Hauptverhandlung mangelt, trägt damit den rechtspolitischen Entscheidungsspielräumen der Konventionsstaaten in flexibler Weise Rechnung. In Anbetracht der unterschiedlichen Anforderungen an einen Beweistransfer in den Strafprozessordnungen der Konventionsstaaten erscheint die Präzisierung des EGMR somit bei solchen Zeugen, die nicht als „sole or decisive“ eingestuft werden, als eine akzeptable Ausgestaltung der Konventionsgarantie durch den EGMR. Bei dem einzigen oder entscheidenden Zeugen darf das Fehlen eines sachlichen Grundes für seine Abwesenheit in der Hauptverhandlung dagegen nicht erst im Rahmen einer abschließenden Würdigung der Verfahrensfairness Beach51 Vgl. Esser, JR 2005, 248 (252). Vgl. zu Funktionen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes BVerfGE 57, 250 (276, 278); Velten, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, GVG und EMRK, Bd. 5, 5. Aufl. 2016, Vor §§ 250 ff. Rn. 7 ff.; Weigend (Fn. 25), S. 660. 53 Siehe etwa Wohlers, ZStrR 2014, 424 (438 ff.); Weigend (Fn. 25), S. 663; AE-Beweisaufnahme, GA 2014, 1, (3). 52 tung finden. Gerade bei für wichtig erachteten Zeugen muss das Fehlen eines die Abwesenheit rechtfertigenden Grundes zu einer direkten Verletzung der Verfahrensfairness bereits auf erster Stufe führen. Kann die Abwesenheit nicht, etwa durch den Nachweis ausreichender Bemühungen zur Beibringung des Zeugen, begründet werden, darf ein Beweistransfer nicht erlaubt sein, es sei denn, der Angeklagte hat wirksam hierauf verzichtet. Dies muss selbst dann gelten, wenn zuvor bereits Gelegenheit zur Befragung des Zeugen durch den Beschuldigten oder den Verteidiger gewährt wurde. Dieser Umstand kann erst auf einer späteren Stufe zur Rechtfertigung der Einschränkung des Idealfalls führen. Mit einer solch strengen Forderung würde der EGMR zwar – wie bisher auch – eine unmittelbare Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht fordern und das nationale Beweisrecht damit in einem wesentlichen Punkt prägen. Für einen solchen menschenrechtlichen Mindeststandard sprechen aber die Vorzüge einer idealen konfrontativen Vernehmung vor den Augen des zur Entscheidung berufenen Gerichts mit dem Ziel einer zuverlässigen Beweiswürdigung sowie die Gefahren des Beweistransfers. Ob es sich bei der Lockerung der ersten Prüfungsstufe um eine merkliche Schwächung des Konfrontationsrechts handelt, wird die weitere Rechtsprechungsentwicklung zeigen. 54 Um einer Aushöhlung des Konfrontationsrechts bei nicht als entscheidend eingestuften Zeugen vorzubeugen, bedarf es vor allem auf nationaler Ebene einer starken Ausgestaltung der Verteidigungsrechte. Daher ist es weiterhin geboten, eine bestmögliche Gewährleistung der Konfrontationsmöglichkeit gegenüber jedem Zeugen anzustreben, dessen Aussage Teil der Entscheidungsgrundlage ist.55 bb) Fortgeltung des Grundsatzes „impossibilium nulla est obligatio“? Aus den Feststellungen der Großen Kammer wird zudem deutlich, dass der Grundsatz „impossibilum nulla es obligatio“ seine Geltung beibehält. Im Zuge der Anwendung des „AlKhawaja Tests“ auf den konkreten Fall stellt die Große Kammer nämlich fest, dass den deutschen Behörden die Abwesenheit der Zeuginnen in der Hauptverhandlung in Einklang mit diesem Prinzip nicht vorgeworfen werden kann. 56 Das LG habe im Rahmen des rechtlich Möglichen alle ver54 Dieser Rechtsprechung ist der EGMR etwa gefolgt in EGMR, Urt. v. 24.11.2016 – 35688/11 (Manucharyan v. Armenien), Rn. 52, wo die Tatsache allein, dass nicht die nötigen Ermittlungen unternommen worden waren, um die Abwesenheit der einzigen Augenzeugin sicherzustellen bzw. die Behauptung, sie halte sich im Ausland auf, aufzuklären, als ein sehr wichtiger Faktor i.R.d. Bewertung der Fairness des Verfahrens in seiner Gesamtheit angesehen wurde. Da die Zeugenaussage als entscheidend einzustufen war und es an ausreichenden ausgleichenden Faktoren fehlte, stellte der EGMR aber eine Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK fest. 55 Vgl. Demko (Fn. 18), Rn. 762 f. m.w.N. 56 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 139. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 45 Diana Thörnich _____________________________________________________________________________________ nünftigen Anstrengungen unternommen, um die Anwesenheit der Zeuginnen sicherzustellen.57 Damit kommt der EGMR zumindest implizit der Bitte der tschechischen Regierung nach, zur Fortgeltung des Grundsatzes Stellung zu beziehen.58 Diese hatte zutreffend darauf hingewiesen, dass das Festhalten an „impossibilium nulla est obligatio“ infolge der grundsätzlich fehlenden Zwangsmöglichkeiten im Ausland gerade bei Verfahren mit Auslandszeugen wichtig sei. Der Grundsatz begrenzt die prinzipiell hohen Anforderungen an die – auch nachzuweisenden – Bemühungen des Gerichts und der nationalen Strafverfolgungsbehörden, die Anwesenheit des Zeugen in der Hauptverhandlung sicherzustellen. Diese Anforderungen, die zugleich Voraussetzung dafür sind, dass der sachliche Grund der Unerreichbarkeit eines (Auslands-) Zeugen auf erster Stufe bejaht werden kann, fasst der EGMR in Schatschaschwili anschaulich zusammen. 59 cc) Erfordernis ausgleichender Faktoren nur bei dem einzigen oder entscheidenden Zeugen? Zu begrüßen ist die Klarstellung des EGMR, dass er das Vorliegen genügender ausgleichender Faktoren auch dann prüft – und somit auch dann fordert –, wenn aus der Einstufung des Beweiswerts durch das nationale Gericht unklar bleibt, ob der Beweis der einzige oder entscheidende war, sofern der Gerichtshof überzeugt ist, dass der Beweis von signifikantem Gewicht („significant weight“) war und seine Zulässigkeit die Verteidigungsrechte beschränkt haben könnte.60 Eine starke inhaltliche Erweiterung der „sole or decisive rule“ in Form einer neuen, erweiterten Kategorie geht mit dieser Klarstellung aber nicht einher.61 Diese betrifft vielmehr die Befugnis des Gerichtshofs zur Überprüfung der nationalen Beweiswertbestimmung. Die Mehrheitsentscheidung enthält daher auch eine Erläuterung zur Herangehensweise des EGMR bei der Prüfung der zweiten Stufe. Ausgangspunkt für die Frage, ob die Aussage des abwesenden Zeugen der einzige oder entscheidende Beweis ist, sei die diesbezügliche Einschätzung der nationalen Gerichte. Diese müsse der Gerichtshof dahingehend überprüfen, ob die Bewertung inakzeptabel oder willkürlich erfolgt sei. Eine eigene Beweiswürdigung müsse er außerdem vornehmen, wenn die EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 136 ff. 58 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 97. 59 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 120 ff.; siehe auch Krausbeck (Fn. 16), S. 244 ff. 60 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 116; zustimmend die Richter Hirvelä, Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris in ihrer joint dissenting opinion, Rn. 6. 61 Dies folgt auch aus dem Sondervotum von Richter Kjølbro (dissenting opinion, Rn. 12 f.), in dem er klarstellt, dass die Bezeichnung „significant weight“ nicht als Loslösung von der „sole or decisive rule“ zu verstehen sei. 57 Position der nationalen Gerichte unklar bleibe. 62 Durch diese Präzisierung seiner Überprüfungsdichte auf zweiter Stufe ist der EGMR um einen Ausgleich zwischen der Achtung nationaler Beurteilungsspielräume und der notwendigen menschenrechtlichen Überprüfung bemüht. Eine Überprüfung der Beweiseinschätzung der nationalen Gerichte ist auch deshalb wichtig, weil die nationalen Gerichte und Regierungen, wie auch im Fall „Schatschaschwili“, entscheidende Beweise nicht notwendig als solche bezeichnen. 63 Mit der Präzisierung des EGMR kann daher eine Stärkung der Verteidigungsrechte verbunden sein, sofern zwischen Verteidigung und Gericht Uneinigkeit darin besteht, ob der Beweis für die Verurteilung entscheidend ist.64 Zugleich wird deutlich, dass der Gerichtshof trotz seiner beständig betonten Zurückhaltung in eine Beweisprüfung und Kontrolle der richterlichen Beweiswürdigung und damit in nichts anderes als eine eigene Beweiswürdigung eintreten muss.65 Zur Präzisierung der dritten Prüfungsstufe enthält das Urteil eine Zusammenstellung wichtiger Faktoren, die dem Ausgleich des Verteidigungsdefizits dienen und eine faire und verlässliche Beurteilung des Beweiswerts gestatten müssen.66 Je bedeutender die Zeugenaussage, desto gewichtiger müssen die ausgleichenden Faktoren sein. 67 Als wichtige Schutzmechanismen zu nennen sind insbesondere die Möglichkeit, auch außerhalb der Hauptverhandlung zumindest indirekt, etwa schriftlich Fragen an den Zeugen zu stellen, die Vorführung einer Videoaufzeichnung der früheren Zeugenvernehmung, das Vorliegen weiterer, die Zeugenaussage bestätigender Beweise, aber auch eine vorsichtige und sorg- EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 124. 63 Vgl. EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 49, 88. Der Generalbundesanwalt und ihm folgend auch der BGH hatten vertreten, dass die Beweise weder die einzigen noch die entscheidenden gewesen seien. Die Regierung hat darauf hingewiesen, dass sie maßgeblich waren, aber durch gewichtige weitere Beweise erhärtet wurden. Dass die nationalen Richter vermeiden wollen, den Beweis als „sole or decisive“ zu charakterisieren, bemerken auch die Richter Spielmann, Karakaş, Sajó, und Keller in ihrer „joint concurring opinion“, Rn. 8. 64 Kritisch aber gegenüber dieser Zurücknahme der Bedeutung des zweiten Prüfungsschritts und für eine stärkere Überprüfungsmöglichkeit der nationalen Beweiswürdigung die Richter Spielmann, Karakaş, Sajó, und Keller in ihrer „joint concurring opinion“, Rn. 8. Daher weisen sie auf die Notwendigkeit hin, dass der Gerichtshof über die nationalen Formulierungen hinaus schaut. 65 Vgl. Esser/Gaede/Tsambikakis, NStZ 2012, 619 (622 f.); Renzikowski (Fn. 33), S. 543; Jackson/Summers, The Internationalisation of Criminal Evidence, 2012, S. 339, 365; Gaede, Fairness als Teilhabe, 2007, S. 844 f. 66 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 125 ff. 67 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 116. 62 _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 46 Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge _____________________________________________________________________________________ fältige sowie ausführlich begründete Beweiswürdigung. 68 Schließlich stellt der EGMR die Anforderung auf, dem Angeklagten müsse Gelegenheit gegeben werden, seine eigene Version der Geschehnisse zu präsentieren und die Aussagen der abwesenden Zeugen durch Hinweise auf Ungereimtheiten in Zweifel zu ziehen. Bei Kenntnis der Identität des Zeugen sei der Angeklagte in der Lage, etwaige Motive für eine Lüge zu identifizieren, und deshalb auch die Glaubhaftigkeit zu bestreiten.69 Vor allem dieser letzte Gesichtspunkt belegt die Gefahr, dass das individuelle Teilhaberecht als ein Mittel zur zuverlässigen Beweiswürdigung herabgestuft und dementsprechend ausgestaltet wird.70 Das nachträgliche Infragestellen der Zeugenaussage wirkt nur reaktiv, gewährt also gerade keine aktive Befragungsmöglichkeit und steht einem Angeklagten schon unabhängig vom Konfrontationsrecht zu. Gleiches gilt für die sorgfältige Beweiswürdigung. 71 Diese Faktoren als wichtige Kompensationsmaßnahmen anzusehen, kann grundsätzlich nur in solchen Fällen überzeugen, in denen der Angeklagte auch durch aktive Einwirkungsmöglichkeiten in der Beweiserhebungsphase, insbesondere auch durch die Erhebung der von ihm beantragten Entlastungsbeweise auf die Bewertung der Glaubhaftigkeit der Aussage Einfluss nehmen konnte.72 Umso wichtiger ist, dass der EGMR die jedenfalls indirekte Fragemöglichkeit, etwa durch Einreichung eines Fragekatalogs oder über eine Audioverbindung73 mit der Vernehmungsperson, sowie das Vorliegen weiterer (Indizien-)Beweise als Ausgleichsmaßnahmen beachtet. c) Fazit Nicht nur im Schrifttum74 wurde die Modifikation aus „AlKhawaja u. Tahery“ überwiegend als Schwächung des KonEGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 126 ff. 69 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 131 m.w.N. 70 Treffend Meyer, HRRS 2012, 117 (120): „Aus einem ehemals zwingenden subjektiven Recht wird de facto eine bloße Beweismethode, die im Prozess der Wahrheitsfindung nicht alternativlos ist.“ (Hervorhebungen im Original). Siehe auch Weigend (Fn. 39), S. 1163 f. zu verschiedenen Denkansätzen. 71 Siehe Dehne-Niemann, HRRS 2010, 189 (201 f.) m.w.N. 72 Vgl. Demko (Fn. 18) Rn. 730: „Anzulegen ist mithin ein materieller Bewertungsmassstab […], anhand dessen in dem konkreten Einzelfall zu prüfen ist, ob dem Angeklagten […] dennoch in der Sache eine materiell wirksame antithetische Einflussnahme auf den Wahrheitsermittlungsprozess des belastenden Zeugenbeweises eingeräumt ist.“ (Hervorhebungen im Original). Siehe zum Zusammenhang zwischen der versagten Konfrontation des Belastungszeugen und der Notwendigkeit der Erhebung beantragter Entlastungsbeweise zutreffend bereits Esser, JR 2005, 248 (255 f.). 73 Vgl. EGMR, Urt. v. 6.12.2012 – 25088/07 (Pesukic v. die Schweiz), Rn. 8, 12 f., 46, 50 ff. 74 Kritisch äußern sich etwa Meyer, HRRS 2012, 117 (119 f.); Alcácer Guirao (Fn. 36), S. 841 ff.; Esser/Gaede/Tsambikakis, NStZ 2012, 619 (622 f.); aus Sicht von du Bois-Pedain, 68 frontationsrechts betrachtet. Auch unter den Richtern des EGMR war sie umstritten. So ließen die Richter Sajó und Karakaş verlauten: „Today the last line of protection of the right to defence is being abandoned in the name of an overall examination of fairness.“75 Die Forderung des Gerichtshofs nach starken prozessualen Absicherungen kommentierten sie mit der – inhaltlich auch im deutschen Schrifttum gegen die Beweiswürdigungslösung vorgetragenen – Bemerkung: „While the Court calls for ‚extreme‘ care in the treatment of untested evidence, the reality is that either evidence is used or it is not.“76 Auch in „Schatschaschwili“ geben u.a. die Richter Sajó und Karakaş die Besorgnis kund, dass eine zu flexible, auf eine Gesamtbetrachtung der Verfahrensfairness gerichtete Herangehensweise den nationalen Behörden zu viel Freiraum lasse.77 Gerade bei der internationalen Beweisrechtshilfe muss die EMRK zum Schutz des Beschuldigten als starkes „Verbindungsstück“78 zwischen den unterschiedlichen Rechtsordnungen und übergeordnetes „Referenzsystem“ 79 mit klaren Vorgaben dienen. Überzeugen kann die im Grunde berechtigte, auch schon vor „Al-Khawaja u. Tahery“ geäußerte80 Sorge vor einer Aufweichung und Verwässerung der Einzelgarantie gleichwohl nicht. Durch die Betrachtung der Fairness des Verfahrens in seiner Gesamtheit übt der Gerichtshof bewusst Zurückhaltung („judicial self restraint“) aus und trägt den Unterschieden der nationalen Rechtsordnungen Rechnung. 81 Die flexiblere Handhabung durch den EGMR beachtet die Notwendigkeit von Einzelfallgerechtigkeit und sorgt durch die Einräumung eines größeren nationalen Beurteilungsspielraums hinsichtlich der Umsetzung der menschenrechtlichen HRRS 2012, 120 (138), war die „Modifikation des LucàTests“ dagegen „die bessere Lösung“. 75 Hierzu die „joint partly dissenting and partly concurring opinion“ der Richter Sajó und Karakaş auf S. 61, 62 f. des Urteils der Großen Kammer (EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 [Schatschaschwili v. Deutschland]). 76 Richter Sajó und Karakaş in ihrer „joint partly dissenting and partly concurring opinion“, auf S. 64 des Urteils der Großen Kammer (EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 [Schatschaschwili v. Deutschland]). 77 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), joint concurring opinion of judges Spielmann, Karakaş, Sajó, and Keller, Rn. 17. Dies sei kein Schritt in Richtung einer Stärkung des Konfrontationsrechts (Rn. 19). 78 Anschaulich Gless (Fn. 28), S. 1369. 79 Gless, Beweisrechtsgrundsätze einer grenzüberschreitenden Strafverfolgung, 2006, S. 182 ff., 415 f.; Schuster, StV 2008, 396 (398); vgl. Schomburg/Lagodny, NJW 2012, 348 (353). 80 Kritisch gegenüber der Gesamtbetrachtung etwa bereits Rzepka, Zur Fairneß im deutschen Strafverfahren, 2000, S. 102 ff.; siehe auch Dehne-Niemann, HRRS 2010, 189 (193). 81 Hierzu Krausbeck (Fn. 16), S. 54; Renzikowski, in: Hellmann/Schröder (Hrsg.), Festschrift für Hans Achenbach, 2011, S. 373 (378); Dehne-Niemann, HRRS 2010, 189 (192 f.); Gaede, JR 2006, 292 (293). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 47 Diana Thörnich _____________________________________________________________________________________ Vorgaben auch für größere Akzeptanz in den Konventionsstaaten.82 Gerade „Al-Khawaja u. Tahery“ und der Vortrag der deutschen Regierung in „Schatschaschwili“ zeigen, dass die Achtung der „national margin of appreciation“ von den Vertragsstaaten der Konvention eingefordert wird. Schließlich ist es nicht Aufgabe des EGMR, als eine Art „Superrevisisonsinstanz“ die Details des nationalen Beweisrechts zu überprüfen, sondern einen effektiven Menschenrechtsschutz zu gewährleisten und die Konventionskonformität der nationalen Verfahrensweise zu überprüfen. 83 Dem kann er in geeigneter Weise durch eine globale Perspektive der Fairness des Verfahrens in seiner Gesamtheit nachkommen. Erforderlich ist dabei nichtsdestotrotz, dass sich aus seinem Prüfungsmaßstab konkrete inhaltliche Anforderungen an eine effektive Rechtsgewährung ableiten lassen. Zwar erfordert die Stufenprüfung, vor allem auf der letzten Stufe, eine Abwägung der Einzelfallumstände, deren Ergebnis häufig kaum eindeutig berechenbar ist. Kritikwürdig ist auch die Qualifizierung einer vorsichtigen Beweiswürdigung oder der Berücksichtigung der sonstigen „reaktiven“ Einwirkungsmöglichkeiten als Ausgleichsfaktoren. Wie u.a. Esser, Gaede und Dehne-Niemann schon überzeugend dargelegt haben, können diese ein Defizit bei der aktiven Befragung auf der früheren Beweiserhebungsphase nicht ausgleichen.84 Der auf eine ergebnisorientierte Einzelfallentscheidung zielende „Al-Khawaja Test“ ermöglicht aber letztlich den nötigen Ausgleich zwischen der Gewährung rechtsstaatlich erforderlicher, effektiver Verteidigungsrechte, dem Erfordernis einer „funktionstüchtigen“ Strafverfolgung mit dem Ziel der Wahrheitsfindung und schutzwürdigen Zeugeninteressen. Insgesamt qualifiziert sich die Ausformung des Konfrontationsrechts durch den EGMR als ausreichend individualschützend. Gerade die von der Mehrheit getragenen Klarstellungen in „Schatschaschwili“ führen durchaus zu einer Präzisierung des „Al-Khawaja Tests“. Wenn hiermit auch keine grundsätzliche Stärkung des Konfrontationsrechts einhergeht, ermöglicht dieser doch jedenfalls eine gerechte, im Einzelfall auch strenge Beurteilung der Konventionskonformität der nationalen Verfahrensweise und weist dem Konfrontationsrecht einen festen Kerngehalt zu. Diesen weiter auszubauen, ist vor allem auch Aufgabe der nationalen Rechtsordnung, der es frei steht, über den menschenrechtlichen Mindeststandard hinauszugehen. Sowohl den nationalen 82 Renzikowski (Fn. 81), S. 378. Hierzu Krausbeck (Fn. 16), S. 53 f.; Zöller, ZJS 2010, 442 (443 f.); siehe auch Gless, ZStW 125 (2013), 573 (586 f.): „Mindeststandards an sich schaffen kein zwischenstaatlich harmonisiertes Beweisrecht.“ 84 Eingehend Dehne-Niemann, HRRS 2010, 189 (195 f., 199 ff.) m.w.N.; Esser, NStZ 2007, 106; Gaede (Fn. 65), S. 733, 843 ff.; Demko (Fn. 18), Rn. 741 ff., 768 ff; Gerdemann, Die Verwertbarkeit belastender Zeugenaussagen bei Beeinträchtigungen des Fragerechts des Beschuldigten, 2010, S. 394 f.; Sommer, in: Krekeler/Löffelmann/Sommer (Hrsg.), Anwaltkommentar Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2010, Art. 6 EMRK Rn. 108, 110; speziell zu gesperrten Zeugen Wohlers, StV 2014, 563 (564 f., 566). 83 Gerichten als auch dem EGMR obliegt es zukünftig, einen strengen Maßstab anzulegen und den Kerngehalt des Konfrontationsrechts als Recht auf aktive Teilhabe an der Festschreibung der Urteilsgrundlage zu stärken. Die Entscheidung der Großen Kammer ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. IV. Zur Entscheidung des EGMR im konkreten Fall 1. Die Anwendung des „Al-Khawaja Tests“ auf den konkreten Fall Der EGMR befand auch in den Sondervoten die vom LG Göttingen unternommenen Anstrengungen bis hin zur Annahme des sachlichen Grundes der Unerreichbarkeit der Zeuginnen für ausreichend.85 Weitere verhältnismäßige Mittel hätten innerhalb der Hoheitsgewalt auf deutschem Territorium nicht zur Verfügung gestanden. Es habe insbesondere nichts dafür gesprochen, dass bilaterale Verhandlungen mit Lettland auf politischer Ebene innerhalb einer vernünftigen Zeit zu einer Zeugenvernehmung geführt hätten.86 Auf der zweiten Prüfungsstufe wendet die Große Kammer ihr nunmehr präzisiertes Schema an und kommt zu dem Ergebnis, dass die Aussagen der Zeuginnen für die Verurteilung entscheidend waren.87 Im Rahmen der darauffolgenden Prüfung auf dritter Stufe hebt sie die vorsichtige Beweiswürdigung durch das LG hervor. Dabei bemerkt sie auch, dass das LG keine Videoaufzeichnung in Augenschein nehmen konnte, da die Zeugenvernehmungen nicht derart konserviert worden waren. Berücksichtigung findet überdies, dass weitere belastende Beweise vom Hörensagen und Indizienbeweise in die Entscheidungsfindung einbezogen wurden. Wesentliche Defizite werden im Gegensatz zur Kammerentscheidung aber bei den prozessualen Kompensationsmaßnahmen festgestellt. Zwar habe der Beschwerdeführer die Möglichkeit gehabt, seine Version des Geschehens vorzutragen und die Glaubwürdigkeit der ihm bekannten Zeuginnen auch bei der Konfrontation der Zeugen vom Hörensagen in Frage zu stellen. 88 Es seien aber weder die Möglichkeit, schriftlich Fragen an die Zeu- EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 133 ff.; siehe auch in der joint concurring opinion der Richter Spielmann, Karakaş, Sajó, und Keller, Rn. 11; die joint dissenting opinion der Richter Hirvelä, Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris, Rn. 9; die dissenting opinion von Richter Kjølbro, Rn. 17, sowie die Kammerentscheidung, Rn. 67 ff. 86 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 139. Die Kammerentscheidung (Rn. 71) hatte darüber hinaus angenommen, dass angesichts der bereits länger andauernden Untersuchungshaft des Angeklagten auch die Erwägungen des Gerichts zum Beschleunigungsgebot nicht unerheblich gewesen seien. 87 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 141 ff. 88 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 152. 85 _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 48 Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge _____________________________________________________________________________________ ginnen zu stellen, noch die Gelegenheit, sie im Ermittlungsverfahren zu befragen, gewährt worden. 89 Zwar sieht der EGMR unter Hinweis auf seine Gesamtbetrachtungsperspektive davon ab, die nationale Entscheidung, keinen Verteidiger zu bestellen, zu überprüfen. Er bemerkt aber, dass die Strafverfolgungsbehörden nach den Vorschriften der StPO, namentlich §§ 141 Abs. 3, 140 Abs. 1 StPO, und deren Interpretation durch den BGH einen Verteidiger hätten bestellen können, dem dann ein Anwesenheitsrecht nach § 168c Abs. 2, 5 StPO zugestanden hätte. 90 Die Befragungsweise von Belastungszeugen im Ermittlungsverfahren sei von großer Bedeutung und prägend für die Fairness des Gerichtsverfahrens, wenn zentrale Belastungszeugen in der Hauptverhandlung nicht gehört werden könnten und dafür Beweise aus dem Ermittlungsverfahren eingeführt würden. 91 Unter solchen Umständen sei die Fairness des Verfahrens in seiner Gesamtheit entscheidend davon abhängig, ob die Strafverfolgungsbehörden zum Zeitpunkt der Zeugenbefragung im Ermittlungsverfahren in der Annahme handelten, dass der Zeuge in der Gerichtsverhandlung nicht mehr gehört werden könne. In einem solchen Fall, sei es zur Sicherung der Verteidigungsrechte essentiell, dann bereits die Möglichkeit zu erhalten, Fragen an den Zeugen zu stellen. 92 Die Mehrheit der Großen Kammer ist davon überzeugt, dass die Befragung durch den Richter zur Beweissicherung und daher gerade in der Annahme stattfand, dass die Zeuginnen möglicherweise nicht in der Verhandlung in Deutschland erscheinen würden und das Protokoll einer richterlichen Vernehmung gem. § 251 Abs. 2 StPO leichter als das der nichtrichterlichen Vernehmung als Beweissurrogat eingeführt werden könnte. Diese Überzeugung stützt sie auch auf den Umstand, dass die Zeuginnen Angst vor Racheakten der Täter sowie Problemen mit der Polizei hatten und sie die Tat deshalb auch nicht direkt selbst zur Anzeige gebracht hatten. 93 Die Strafverfolgungsbehörden hätten das sich später auch realisierte Risiko in Kauf genommen, dass weder dem Angeklagten noch dem Verteidiger zu irgendeinem Zeitpunkt eine Konfrontationsmöglichkeit gewährt werden würde.94 Im Rahmen der Betrachtung der Fairness des Verfahrens in seiner Gesamtheit kommt die Mehrheit zu dem Schluss, dass kaum prozessuale Schutzmechanismen ergriffen wurden, um das Verteidigungsdefizit aus dem Ermittlungsverfahren in der Hauptverhandlung zu kompensieren. Das Fehlen einer Möglichkeit, die Zeuginnen zu irgendeinem Zeitpunkt im Verlaufe des Verfahrens zu befragen, mache das Verfahren – trotz 89 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 Deutschland), Rn. 153. 90 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 Deutschland), Rn. 155. 91 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 Deutschland), Rn. 156. 92 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 Deutschland), Rn. 157, 162. 93 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 Deutschland), Rn. 158 f. 94 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 Deutschland), Rn. 160. – 9154/10 (Schatschaschwili v. – 9154/10 (Schatschaschwili v. – 9154/10 (Schatschaschwili v. – 9154/10 (Schatschaschwili v. – 9154/10 (Schatschaschwili v. – 9154/10 (Schatschaschwili v. zusätzlicher belastender Beweise und einer sorgfältigen, begründeten Beweiswürdigung – insgesamt unfair.95 Die Sondervoten, wie auch die Kammerentscheidung, 96 messen den Ausgleichsmaßnahmen dagegen größeres Gewicht bei und billigen die Verfahrensweise im Ermittlungsverfahren, sodass sie eine ausreichende Kompensation des Verteidigungsdefizits annehmen.97 Insbesondere gehen die abweichenden Stimmen davon aus, dass die Strafverfolgungsbehörde im Ermittlungsverfahren nicht in der Annahme verfahren ist, die Zeuginnen würden in der Hauptverhandlung nicht mehr gehört werden können. Zwar sei die richterliche Vernehmung aufgrund der vorherzusehenden Rückreise der Zeuginnen nach Lettland zur Beweissicherung vorgenommen worden. Die Tatsache, dass die Rückkehr ins Ausland vorhersehbar gewesen sei, könne aber nicht mit der Annahme gleichgestellt werden, dass es unmöglich sein würde, diese etwa audiovisuell in der Hauptverhandlung vernehmen zu können.98 Lettland sei an internationale Verträge gebunden, um Rechtshilfe in Strafsachen, etwa bei der audiovisuellen Vernehmung von Zeugen, zu leisten. 99 Richter Kjølbro ist daher der Meinung, dass die Mehrheit der Großen Kammer die Bedeutung des Ermittlungsverfahrens und die Entscheidung, keinen Verteidiger zu bestellen und diesen sowie den Beschuldigten nicht zu unterrichten, überbewertet. Die Mehrheit beachte den Sinn und Zweck der Kompensationsmaßnahmen zu wenig, der darin liege, eine faire und verlässliche Würdigung der Zuverlässigkeit der Beweise zu ermög- EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 162 ff. 96 Siehe das Urteil der Kammer in EGMR, 17.4.2014 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 75, 77 f.; vgl. Lohse, JR 2015, 60 (62). 97 Siehe die joint dissenting opinion der Richter Hirvelä, Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris, in: EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 10 ff., die dissenting opinion von Richter Kjølbro, in: EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 21 ff. sowie die Kammerentscheidung EGMR, Urt. v. 17.4.2014 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 75 ff. 98 Joint dissenting opinion der Richter Hirvelä, Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris, in: EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 14 f.; dissenting opinion von Richter Kjølbro, in: EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 28. 99 Joint dissenting opinion der Richter Hirvelä, Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris, in: EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 15. Zur Untermauerung ihrer Argumentation verweisen sie auf den Vortrag des Beschwerdeführers, dass er eine erneute Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren nicht beantragt habe, weil er davon ausging, die Zeuginnen in der Hauptverhandlung befragen zu können. 95 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 49 Diana Thörnich _____________________________________________________________________________________ lichen.100 Dies sei aufgrund des gesamten Beweisspektrums im Rahmen der detaillierten und begründeten Beweiswürdigung geschehen. Die Mehrheitsentscheidung sei ein Beispiel für eine eher formale Herangehensweise an die Bedeutung prozessualer Garantien, bei der das Versagen bestimmter prozessualer Garantien im Vorverfahren den gewonnenen Beweis illegal werden ließe, obwohl die Verwendung dieses Beweises das Verfahren als Ganzes bei einer Gesamtbetrachtung nicht unfair werden lasse.101 2. Bewertung der Entscheidung Dass die Kammer und die Große Kammer unter Anwendung desselben Prüfungsschemas in dem zentralen Streitpunkt um eine ausreichende Kompensation zu unterschiedlichen Ergebnissen mit jeweils abweichenden Meinungen gelangen, belegt, wie schwierig die Entscheidung in dieser Sache fällt. Das Votum von Richter Kjølbro ist bezeichnend für die globale Perspektive des EGMR. Durch seine Zurückhaltung bei der Beurteilung der Verfahrensfairness unter Achtung nationaler Beurteilungsspielräume bei beweisrechtlichen Entscheidungen bestätigte das Kammerurteil aus dem Jahr 2014 diesen Standpunkt. Das Urteil der Großen Kammer übermittelt dagegen die eindringliche Botschaft, dass eine sorgfältige Beweiswürdigung sowie Indizienbeweise allein als Kompensationsmaßnahmen nicht genügen können, wenn theoretisch vorhandene Schutzmechanismen praktisch nicht effektiv genutzt wurden. Es appelliert an eine Stärkung des Konfrontationsrechts im Ermittlungsverfahren, wenn dort die Gefahr gesehen wird, dass der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht mehr für eine konfrontative Befragung zur Verfügung stehen wird. Damit konstituiert die Entscheidung ein Handlungsgebot für die Strafverfolgungsbehörden und Ermittlungsrichter, dessen Missachtung bei unzureichenden Ausgleichsfaktoren eine Konfrontationsrechtsverletzung begründet. Konsequent wird hiermit auch die strenge Linie des EGMR aus der Sache Hümmer v. Deutschland102 fortgeführt. Bereits in diesem Urteil aus dem Jahr 2012 hat der EGMR ein erhebliches Defizit in dem Umstand gesehen, dass dem Beschuldigten entgegen der von der deutschen Rechtsprechung geforderten konventionskonformen Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO kein Verteidiger in den ermittlungsrichterlichen Vernehmungen zentraler zeugnisverweigerungsberechtigter Zeugen bestellt worden war. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Bereits im Ermittlungsverfahren werden bekanntlich die entscheidenden Wei- 100 Dissenting opinion von Richter Kjølbro, in: EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 29 f. 101 Dissenting opinion von Richter Kjølbro, in: EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 34. 102 EGMR, Urt. v. 19.7.2012 – 26171/07 (Hümmer v. Deutschland), Rn. 43, 47 f., 52 f. = NJW 2013, 3225 (3227 f.) m. Anm. Pauly, StV 2014, 456. chen für den weiteren Verfahrensverlauf gestellt. 103 Eine zentrale Bedeutung nehmen Ermittlungshandlungen des Vorverfahrens erst Recht ein, wenn auf die dort erhobenen Beweise in der Hauptverhandlung zurückgegriffen wird und sie in die Urteilsgrundlage einfließen. Ein Verfahrensfehler im Ermittlungsverfahren schlägt sich dann in nicht wiedergutzumachender Weise im späteren Hauptverfahren nieder. Bereits dann eine Befragungsmöglichkeit für den Beschuldigten oder den Verteidiger einzuräumen, wenn vermutet wird, der Zeuge werde in der Hauptverhandlung nicht mehr für eine konfrontative Befragung zur Verfügung stehen, ist zwingende Voraussetzung zur Gewährleistung eines fairen, auf Waffengleichheit zielenden Verfahrens. 104 Es gilt zu verhindern, dass im Ermittlungsverfahren unter Verletzung des Anspruchs des Beschuldigten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG ein für den Schuldnachweis möglicherweise entscheidendes Beweisergebnis herbeigeführt wird, ohne dass der Beschuldigte und/oder sein Verteidiger Gelegenheit hatten, hierauf Einfluss zu nehmen.105 Wird die entscheidungsrelevante Beweisaufnahme vorverlagert, müssen im Grunde die auch in der Hauptverhandlung geltenden Verteidigungsrechte eingeräumt werden. 106 Es ist somit nicht nur das Konfrontationsrecht, sondern eine umfassende wirksame Verteidigung sicherzustellen.107 a) Zu den Anforderungen an die Prognose der Unmöglichkeit der Zeugenkonfrontation in der Hauptverhandlung Näherer Betrachtung bedarf allerdings, ob die Mehrheit der Richter hier zu Recht davon ausgeht, dass im Ermittlungsverfahren in der Annahme verfahren wurde, die zukünftigen Auslandszeuginnen würden für eine spätere konfrontative Befragung in der Hauptverhandlung nicht mehr verfügbar sein. Immerhin stand nicht sicher fest, dass sie ihre weitere Mitwirkung verweigern würden. Nach ständiger Rechtsprechung – sowohl der nationalen Gerichte als auch des EGMR – begründet allein der Auslandsaufenthalt noch nicht die Unerreichbarkeit des Zeugen.108 Vielmehr müssen alle möglichen und vernünftigen 103 Vgl. nur Zöller (Fn. 25), S. 400; Krüger, Unmittelbarkeit und materielles Recht, 2014, S. 58 m.w.N.; Krausbeck (Fn. 16), S. 98; Esser, in: Esser/Jäger/Günther/Mylonopoulos/Öztürk (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heiner Kühne zum 70. Geburtstag, 2013, S. 539 (543). 104 Vgl. Wohlers/Albrecht, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, GVG und EMRK, Bd. 3, 5. Aufl. 2016, § 168c Rn. 18, 29, 30. 105 Vgl. BVerfG NJW 2006, 672 (673); BGHSt 26, 332 (335); Zöller, in: Gercke/Julius/Temming/Zöller (Hrsg.), Heidelberger Kommentar zur Strafprozessordnung, 5. Aufl., 2012, § 168c Rn. 1. 106 v. Stetten (Fn. 19), S. 1060. 107 Siehe Fezer, JZ 2001, 363 (364); Schlothauer, StV 2001, 127 (128 f.); Endriss, in: Hanack/Hilger/Mehle/Widmaier (Fn. 28), S. 65 (74 f.); Mehle (Fn. 19), S. 286 m.w.N.; v. Stetten (Fn. 19), S. 1059 f. 108 EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 120 f. m.w.N.; siehe auch EGMR, Urt. v. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 50 Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge _____________________________________________________________________________________ Bemühungen („all reasonable efforts“) angestrengt worden sein, um die Anwesenheit des Zeugen sicherzustellen. Bei Zeugen im Ausland ist hierzu insbesondere erforderlich, dass die verfügbare internationale Rechtshilfe in Anspruch genommen wurde.109 Insoweit verweisen die Sondervoten zutreffend auf bestehende völkerrechtliche Rechtshilfeverpflichtungen. Besonders im EU-Rechtsraum hat sich die traditionelle Beweisrechtshilfe durch verschiedene Rechtsinstrumente mit dem Ziel der Effektivierung der grenzüberschreitenden Beweissammlung hin zu einer justiziellen Zusammenarbeit auf Basis des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen, vgl. Art. 82 Abs. 1 AEUV, weiterentwickelt. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zeichnet sich in vielen Bereichen durch Akzeptanz ausländischer (Justiz-)Entscheidungen, wie Europäischen Ermittlungsanordnungen110, und Toleranz gegenüber fremden Rechtsgebieten aus.111 Es würde dem auf 10.4.2012 – 8088/05 (Gabrielyan v. Armenien), Rn. 81 ff.; EGMR, Urt. v. 17.11.2005 – 73047/01 (Haas v. Deutschland) = NStZ 2007, 103 (104 f.); EGMR, Urt. v. 14.12.1999 – 37019/97 (A.M. v. Italien), Rn. 27; BGH NJW 1953, 1522; BGH NJW 2000, 443 (447); Rose, Der Auslandszeuge im Beweisrecht des deutschen Strafprozesses, 1999, S. 162 ff., 294 ff., 448 ff. mit umfangreichen Nachweisen zu Rechtsprechung und Literatur; Sander/Cirener, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 6/1, 26. Aufl., 2010, § 251 Rn. 30, 65; Velten (Fn. 52), § 251 Rn. 20, 35; Jäger, in: Erb u.a. (a.a.O), § 223 Rn. 11; Schuster, Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweise im deutschen Strafprozess, 2006, S. 164 ff. 109 Siehe die vorigen Nachweise sowie EGMR, Urt. v. 3.3.2011 – 31240/03 (Kzukovskiy v. die Ukraine), Rn. 45; siehe auch Vogler, in: Ruggeri (Hrsg.), Transnational Inquiries and the Protection of Fundamental Rights in Criminal Proceedings, 2013, S. 27, 32, 38; Klip, Buitenlandse getuigen in strafzaken, 1994, S. 354, 367 f. 110 Siehe die Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3.4.2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, Abl. EU 2014 Nr. L 130 v. 1.5.2014, S. 1 ff. (RL EEA). 111 Vgl. hierzu Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl., 2015, Kap. 2 Rn. 64 ff.; Gleß/Schomburg, in: Schomburg/ Lagodny/Gleß/Hackner (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. 2012, Kap. III B 1 Rn. 9 ff.; Hackner/Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 2. Aufl., 2012, Rn. 17. Letzteres wird insbesondere durch die Etablierung des Grundsatzes „forum regit actum“ in Regelungen des EU-RhÜbk (Übereinkommen vom 29.5.2000 – gemäß Art. 34 des Vertrags über die Europäische Union vom Rat erstellt – über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Abl. EG 2000 Nr. C 197 v. 12.7.2000, S. 3 ff.) sowie der RL EEA belegt. Vgl. Art. 4 Abs. 1 EU-RhÜbk, Art. 9 Abs. 2 RL-EEA; speziell für die audiovisuelle Vernehmung Art. 10 Abs. 5 lit. c EU-RhÜbk, Art. 24 Abs. 5 lit. c RL. Ganz ähnliche Vorschriften gelten sogar auf Ebene des Europarats, vgl. Art. 9 2. ZP-EuRhÜbk (Zweites Zusatzprotokoll vom 8.11.2001 gegenseitigem Vertrauen aufbauenden Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung widersprechen, ohne weitere Anhaltspunkte bereits im Ermittlungsverfahren anzunehmen, dass der später im Ausland verweilende Zeuge für eine konfrontative Befragung in der Hauptverhandlung nicht mehr verfügbar sein wird, und darüber hinaus eine generelle Skepsis gegenüber der Verlässlichkeit der grenzüberschreitenden Beweisrechtshilfe zum Ausdruck bringen. Paradox erschiene dies gerade auch deshalb, weil die auf EU-Ebene angenommene Basis gegenseitigen Vertrauens vor allem auf der Idee gründet, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Werte teilen und sich zur effektiven Gewährung von Grund- und Menschenrechten verpflichtet haben, vgl. Art. 6 EUV. Zu Recht wird daher angenommen, dass eine Pflicht zur Ermöglichung einer konfrontativen Befragung (erst) dann besteht, wenn konkrete Anhaltspunkte für den späteren Ausfall in der Hauptverhandlung sprechen. 112 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass die erforderliche Prognoseentscheidung der StPO nicht fremd ist. Die Besorgnis, dass der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden kann, ist Voraussetzung des § 58a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO, nach dem die Vernehmung eines Zeugen – bei Hinzutreten der Erforderlichkeit zur Erforschung der Wahrheit – aufgezeichnet werden und als richterliche erfolgen soll. Auch diese Besorgnis muss anhand objektiver Anhaltspunkte oder nach kriminalistischer Erfahrung vorhersehbar sein. 113 Eine ähnliche Voraussage hat die Staatsanwaltschaft überdies zu treffen, um ihrer Verpflichtung zur Beweissicherung aus § 160 Abs. 2 StPO nachzukommen – nach Möglichkeit durch die Veranlassung einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung.114 Als typischer Anwendungsfall, in dem zu besorgen ist, dass der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden kann, und der eine Beweissicherung erfordert, ist gerade ein bevorstehender (längerer) Auslandsaufenthalt, welcher für ein Erscheinen in der Hauptverhandlung nicht unterbrochen werden kann oder es zweifelhaft erscheinen lässt, ob der Zeuge für die Hauptverhandlung verfügbar sein wird, anerkannt.115 Konkret wäre die Prognose der Unverfügbarkeit des zum Europäischen Übereinkommen vom 20.4.1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen) für die audiovisuelle Vernehmung, Art. 8 2. ZP-EuRhÜbk für die Einhaltung der ausdrücklich vom ersuchenden Staat angegebenen Formvorschriften und Verfahren. 112 Krausbeck (Fn. 16), S. 249; Esser, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 11, 26. Aufl., 2012, Art. 6 EMRK Rn. 795; siehe auch den AE-Beweisaufnahme, GA 2014, 1 (12, 64). 113 Siehe Senge, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Aufl., 2013, § 58a Rn. 7; Huber, in: Graf (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, Strafprozeßordnung, Stand: 1.10.2016, § 58a Rn. 9. 114 Zöller (Fn. 1055), § 160 Rn. 9. 115 Vgl. BT-Drs. 13/7165, S. 6: „Auch bei Zeugen, deren Rückkehr ins Ausland bevorsteht, bei denen zweifelhaft erscheint, ob sie den Hauptverhandlungstermin wahrnehmen können, deren Aussage jedoch von erheblicher Bedeutung ist, _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 51 Diana Thörnich _____________________________________________________________________________________ Zeugen in der Hauptverhandlung etwa zu bejahen, wenn der Zeuge vor einer Abschiebung steht und er seine weitere Kooperation ausdrücklich verweigert oder er sich, etwa als Tatbeteiligter, einer erneuten Aussage durch eine Flucht ins Ausland entziehen will.116 Gerade wenn sich die Ausreise des Zeugen ankündigt und dieser in die Tat verwickelt ist, sich vor Repressalien fürchtet oder ihm ein Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrecht zusteht, bedarf es einer beweissichernden Vernehmung unter Einräumung einer Befragungsmöglichkeit.117 Im Fall „Schatschaschwili“ sprachen zwar keine zwingenden Belege für die spätere Unverfügbarkeit von O und P. Aus dem Verfahrensgeschehen und der konkreten Situation der Zeuginnen ergaben sich aber hinreichende Anhaltspunkte, die die spätere Unerreichbarkeit in der Hauptverhandlung befürchten ließen. 118 Die Mehrheitsentscheidung stützt ihre Annahme daher richtigerweise nicht nur auf die Ankündigung der Zeuginnen, baldmöglichst nach Lettland zurückzukehren, sondern berücksichtigt darüber hinaus ihre besondere Situation, insbesondere die späte Anzeigeerstattung aus Angst vor Problemen mit der Polizei und Racheakten der Beschuldigten.119 O und P wollten ihren – aus ihrer Sicht wohl illegalen – Aufenthalt und ihre Tätigkeit nicht öffentlich machen.120 Gerade bei Opfern von Gewalttaten ist schließlich nicht untypisch, dass sie das Erlebte nicht oder nur ungern noch einmal nachvollziehen wollen. Die Sondervoten schenken diesen besonderen Fallumständen zu geringe Beachtung, indem sie lediglich auf die vorhersehbare Rückkehr der Zeuginnen nach Lettland abstellen.121 Bei der gegebenen Sachlage können theoretische Rechtsverpflichtungen nicht ausreichen, um auf eine vorsorgliche Gewährung des Konfrontationsrechts verzichten zu dürfen. Beachtenswert ist insoweit auch, dass der EGMR vornehmlich die Vorhersehbarkeit einer künftigen Befragung des Zeugen in einer Verhandlung vor Gericht in Deutschland, also den Idealfall einer Konfrontation, in den Blick nimmt. 122 Eine mögliche (kommissarische, konsularische oder sonstige) Vernehmung im Ausland in Anwesenheit des Angeklagten bzw. des Verteidigers oder die Gelegenheit, schriftlich Fragen an den Auslandszeugen zu stellen, würde das Prognoseergebnis folglich nicht ändern, wenngleich eine solche zweifellos als wichtiger Ausgleichsfaktor zum Tragen kommen würde. 123 Siehe EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 159. 120 Vgl. EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 11, 25, und Rn. 2 der dissenting opinion von judge Power-Forde. Hier wird noch ein illegaler Aufenthalt angenommen. 121 Siehe die joint dissenting opinion der Richter Hirvelä, Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris, in: EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 15. 122 Siehe EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 157 („In such circumstances, it is vital for the determination of the fairness of the trial as a whole to ascertain whether the authorities, at the time of the witness hearing at the investigation stage, proceeded on the assumption that the witness would not be heard at the trial. Where the investigating authorities took the reasonable view that the witness concerned would not be examined at the hearing of the trial court […]“ (Hervorhebungen durch Verf.). In Rn. 160 stellt der EGMR dagegen auf das Risiko des Ausfalls der Konfrontations-möglichkeit während des gesamten Verfahrens ab („By proceeding in that manner, they took the foreseeable risk, which subsequently materialised, that neither the accused nor his counsel would be able to question O. and P. at any stage of the proceedings […].“ [Hervorhebungen durch Verf.]). 123 Hierfür spricht, dass die Zeugenkonfrontation idealerweise in öffentlicher Verhandlung auch vor den Augen des zur Entscheidung berufenen Gerichts stattfinden sollte (siehe EGMR, Urt. v. 13.3.2012 – 5605/04 [Karpenko v. Russland], Rn. 70, zitiert bereits in Fn. 28). Eine spätere Vernehmung im Ausland mag außerdem trotz der gebotenen Einhaltung inländischer Verfahrensregeln nicht immer eine gleich effektive Konfrontationsmöglichkeit eröffnen. Die Ermittlungsbehörden im Inland sind mit den Einzelheiten des Verfahrens in der Regel vertrauter und noch näher am Tatgeschehen, sodass 119 wird es sich in der Regel als zweckmäßig erweisen von der Vernehmung eine Bild-Ton-Aufzeichnung herzustellen.“; Gercke, in: Gercke/Julius/Temming/Zöller (Fn. 106), § 58a Rn. 9; Vogel, Erfahrungen mit dem Zeugenschutzgesetz, 2003, S. 30; Senge (Fn. 113), § 58a Rn. 3; Wohlers/Albrecht (Fn. 104), § 160 Rn. 26. 116 Vgl. Krausbeck (Fn. 16), S. 250 m.w.N. 117 Siehe Esser (Fn. 112), Art. 6 EMRK Rn. 795; zum auskunftsverweigerungsberechtigten Mitbeschuldigten siehe ders., JR 2005, 248 (252 f.); demgegenüber eine stärkere Vorhersehbarkeit der Aussageverweigerung fordernd Krausbeck (Fn. 16), S. 249 Fn. 53; siehe auch BVerfG NJW 2007, 204 (205 ff.), einen Verstoß gegen das Konfrontationsrecht bei Unmöglichkeit der Befragung des in der Hauptverhandlung die Auskunft verweigernden, lediglich im Ermittlungsverfahren polizeilich vernommenen Mitbeschuldigten ablehnend; siehe auch BGH NStZ 2009, 581. 118 Da auch die Erforderlichkeit der Aufzeichnung zur Erforschung der Wahrheit i.S.d. § 58a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO zu bejahen gewesen wäre, ist ein Verfahrensfehler auch in der unterbliebenen Videoaufzeichnung zu sehen. Eine solche dient als wichtiger Kompensationsfaktor. Ob sie zu einem anderen Gesamturteil der Großen Kammer geführt hätte, muss aber bezweifelt werden. In den überwiegenden Fällen hat der EGMR bisher – zu Recht – auch bei Vorliegen einer Videoaufzeichnung eine aktive Befragungsmöglichkeit verlangt. Siehe etwa EGMR, Urt. v. 28.9.2010 – 40156/07 (A.S. v. Finnland), Rn. 62 ff. = NJOZ 2011, 1739, 1741; EGMR, Urt. v. 19.12.2013 – 26540/08 (Rosin v. Estland), Rn. 62. Anders dagegen EGMR, Urt. v. 2.4.2013 – 25307/10 (D.T. v. die Niederlande), Rn. 17 ff., 47 ff, wo die Gefahr einer Schädigung des Kindeswohls die Verteidigungsinteressen überwog. Die Glaubhaftigkeit der Aussage des Kindes war außerdem von vier Sachverständigen untersucht worden, die selbst konfrontativ befragt wurden. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 52 Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge _____________________________________________________________________________________ Möchte der Zeuge im Ausland bleiben, kann lediglich die audiovisuelle Vernehmung gem. § 247a StPO als eine Vernehmung in der Hauptverhandlung qualifiziert werden. 124 Allerdings ist auch im heutigen Medienzeitalter kaum sicher vorhersehbar, ob eine solche tatsächlich und in guter Qualität stattfinden wird.125 Dass die Staatsanwaltschaft selbst von dem späteren Beweisverlust ausgegangen ist, wird schließlich durch die Veranlassung einer beweissichernden, ermittlungsrichterlichen Vernehmung dokumentiert, vgl. §§ 160 Abs. 2, 162 StPO, Nr. 10 RiStBV. Insoweit kann die Argumentation der Mehrheitsentscheidung überzeugen. Zu befürworten ist daher auch die Forderung, in jedem Fall einer (ermittlungsrichterlichen) Zeugenvernehmung zur Beweissicherung einen Verteidiger zu bestellen.126 Schärfen die Ermittlungsbehörden aufgrund der Besorgnis eines Beweisverlusts ihre Waffen in Form einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung, bedarf es zur Sicherung der Waffengleichheit zugleich zwingend einer Stärkung des Verteidigungsrechts. eine intensivere Überprüfung der Zeugenaussage möglich sein mag. Der bei der ausländischen Vernehmung mit anwesende deutsche Staatsanwalt, Richter und Verteidiger kann zudem möglicherweise nicht so intensiv wie gewünscht auf Verfahrensablauf und -inhalt sowie die Protokollierung einwirken (vgl. Schuster [Fn. 108], S. 197). Eine persönliche Befragung des Zeugen im Ermittlungsverfahren ist zudem effektiver als die Formulierung und Übersendung eines starren Fragenkatalogs. 124 Vgl. die joint dissenting opinion der Richter Hirvelä, Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris, in: EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 15, die vor allem auf die rechtshilferechtliche Verpflichtung bei der Vernehmung per Videokonferenz hinweisen. 125 Die Auffassungen zur videokonferenztechnischen Infrastruktur der gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Praxis sowie zum technischen Funktionieren divergieren. Während teilweise darauf verwiesen wird, dass die Ausrüstung im Inund Ausland flächendeckend einwandfrei ist (Kretschmer, JR 2006, 453 [456]; zu den Erfahrungen mit der Videotechnik im Ausland siehe auch Swoboda, Videotechnik im Strafverfahren, 2002, S. 90 ff.), wird an anderer Stelle die meist noch fehlende technische Ausstattung als Grund für den geringen Einsatz in der gerichtlichen Praxis angeführt (vgl. den Gesetzentwurf des Bundesrates zum Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren vom 24.3.2010, BTDrs. 17/1224, S. 1, 10, 12; Groenhuijsen/Selçuk, ZStW 126 [2014], 248 [262]). Angaben zu Standorten von Videokonferenzanlagen, Ansprechpartnern sowie zu den technischen Gegebenheiten im EU-Rechtsraum finden sich unter: https://e-justice.europa.eu/content_videoconferencing-69de.do (1.1.2017). 126 So auch Mehle (Fn. 19), S. 253 f., 286 (jedenfalls bei gleichzeitiger Annahme einer notwendigen Verteidigung). b) Reichweite der vorsorglichen Gewährung des Konfrontationsrechts Wenn es sich im vorliegenden Fall auch um die – auch in BGHSt 46, 93 einschlägige – Konstellation einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung zentraler Belastungszeugen in einem Fall notwendiger Verteidigung handelt, beschränkt sich die Pflicht zur Gewährleistung des Verteidigungsrechts allerdings nicht auf diese. Das Konfrontationsrecht gilt bei jedem Tatvorwurf gegenüber jedem Zeugen, unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 141, 140 StPO, von dem prognostizierten Gewicht des Belastungsbeweises und auch von der die Vernehmung durchführenden Person (Polizeibeamter, Staatsanwalt oder Richter).127 Um eine umfassende vorsorgliche Konfrontation auch unabhängig von der Notwendigkeit der Verteidigung zu ermöglichen, scheint ein gangbarer Weg zunächst eine konventionskonforme Auslegung des § 141 Abs. 3 S. 1 StPO.128 Beachtlich ist allerdings, dass der Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens nach vom BGH 129 bestätigter Rechtsprechung ein Antragsmonopol130 zukommt. Der für die Bestellung gem. § 141 Abs. 4 StPO zuständige Richter darf demnach erst auf Antrag der Staatsanwaltschaft tätig werden, welcher gem. § 141 Abs. 3 S. 2 StPO wiederum an die Voraussetzungen des § 140 StPO anknüpft. Denkbar wäre daher allenfalls, bei der Vernehmung eines zukünftig voraussichtlich unerreichbaren Zeugen in Abwesenheit des Beschuldigten, die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage oder das Unvermögen des Beschuldigten, sich selbst zu ver127 Krausbeck (Fn. 16), S. 251, 253, 255 ff., 270; Esser, JR 2005, 248 (252); Gerdemann (Fn. 84), S. 154 ff., 368; Erb, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 5, 26. Aufl. 2008, § 168c Rn. 9a; a.A. wohl Mehle (Fn. 19), S. 289. Mehle begründet dies damit, dass dem Verteidiger lediglich im Rahmen einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung eines Zeugen ein Anwesenheitsrecht zusteht. Die Justiz sei insofern nicht verpflichtet, eine Verfahrenslage auszugleichen. Es sei lediglich Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK verletzt, ohne dass eine Verteidigerbestellung nach der Rechtsprechung des Senats erforderlich wäre. Damit verkennt er aber die Bedeutung gerade des Konfrontationsrechts, welches in jedem Fall eines Ausgleichs bedarf. 128 Krausbeck (Fn. 16), S. 256 f. 129 BGH NJW 2015, 3383 (3384), m. abl. Anm. MüllerJacobsen, NJW 2015, 3385. 130 Siehe Zöller (Fn. 25), S. 399 (410 ff.), auch zu der v.a. mit Blick auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK überzeugenden Annahme, dem Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren das Recht einzuräumen, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu beantragen. Für ein solches Antragsrecht mit der Folge einer gerichtlichen Entscheidung hierüber auch der Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, 2015, S. 43 ff. Zu Kritikpunkten der derzeitigen Ausgestaltung des § 141 Abs. 3, insbesondere Satz 2 StPO siehe auch Esser (Fn. 103), S. 545 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 53 Diana Thörnich _____________________________________________________________________________________ teidigen, i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO anzunehmen. 131 Auch um die Vorgaben aus Straßburg erkennbar umzusetzen, erscheint daher eine Regelung in § 141 StPO zur erforderlichen Verteidigerbestellung bereits im Ermittlungsverfahren zur Sicherung des Verteidigungsrechts auch unabhängig von den Voraussetzungen des § 140 StPO wünschenswert.132 Der EGMR wird angesichts des auf den „sole or decisive“-Beweis beschränkten Überprüfungsmaßstabs zwar nur die vorsorgliche Gewährleistung gegenüber wichtigen Zeugen überwachen. Um das gegenüber jedem Belastungszeugen bestehende Konfrontationsrecht stark auszugestalten, verbietet sich eine solche Beschränkung aber auf nationaler Ebene. Häufig offenbart erst eine kritische Durchleuchtung durch den Beschuldigten bzw. seinen Verteidiger, wie glaubhaft die belastende Aussage tatsächlich ist. Kommt es bei der begründeten Annahme eines künftigen Beweisverlusts auch regelmäßig zur Vernehmung durch einen Ermittlungsrichter, dürfen außerdem auch die nichtrichterlichen Vernehmungen nicht ausgeschlossen werden. Schließlich können auch die Ergebnisse einer „nur“ polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Vernehmung ins Hauptverfahren transferiert werden. Beachtlich ist insoweit auch, dass der bei Auslandszeugen meist einschlägige § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO aufgrund der häufig nur eingeschränkten Möglichkeiten zur Beibringung des Zeugen im Ausland letztlich kaum größere Voraussetzungen aufstellt als § 251 Abs. 2 Nr. 1 StPO.133 c) Beachtliches Verschuldensmaß und Folge der Rechtsverletzung im nationalen Strafverfahren Deutlich wird, dass der EGMR die staatliche Verantwortlichkeit in die Prüfung der Rechtsverletzung einfließen lässt, auch wenn er im Ausgangspunkt nicht die Forderung nach Ausgleichsmechanismen hiervon abhängig macht. 134 Be131 Siehe Esser, JR 2005, 248 (251 Fn. 45), der bereits darauf hinweist, dass Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK § 140 Abs. 2 StPO konkretisiert. 132 Wie bereits BGHSt 46, 93 (99), feststellte, sollte auch der Ermittlungsrichter nicht von der Verantwortung entbunden sein, für ein konventionsgerechtes Verfahren mit Sorge zu tragen. Überzeugen kann daher die Forderung von Erb (Fn. 127), § 168c Rn. 9a, auch dem Ermittlungsrichter die Befugnis zuzubilligen, von sich aus einen Verteidiger zu bestellen. Befürwortend auch Gerdemann (Fn. 84), S. 159. Zu begrüßen ist daher § 141 Abs. 3 S. 4 StPO-E des Regierungsentwurfs eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens, wonach das Gericht, bei dem eine richterliche Vernehmung durchzuführen ist, dem Beschuldigten auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder wenn die Mitwirkung eines Verteidigers aufgrund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint, einen Verteidiger bestellt. 133 Siehe Schuster (Fn. 108), S. 170 f.; Sander/Cirener (Fn. 108), § 251 Rn. 30, 65. 134 Siehe Warnking, Strafprozessuale Beweisverbote in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Auswirkungen auf das deutsche Recht, 2009, S. 54 ff. zur Berücksichtigung der Rechtmäßigkeit der kanntlich berücksichtigt auch der BGH i.R.d. Gesamtbetrachtung der Verfahrensfairness das Verschulden von Polizei und Justiz an der unterbliebenen Zeugenkonfrontation; ein Verwertungsverbot hat er selbst bei Rechtsverstößen mit der vorhersehbaren Folge eines Konfrontationsrechtsausfalls bisher allerdings nicht angenommen.135 Diskussionswürdig bleibt damit die – hier nicht näher zu vertiefende – Frage, bei welchem Maß an staatlicher Verantwortlichkeit für die Konfrontationsrechtsbeschränkung bzw. Nichtgewährung im deutschen Strafverfahren ein Beweisverwertungsverbot geboten ist und ob das staatliche Verschulden überhaupt ein überzeugender Faktor bei dieser Entscheidung sein darf. In der Literatur reichen die Maßstäbe für die Begründung eines Verwertungsverbots von der Irrelevanz staatlichen Verschuldens für die Rechtseinschränkung136 über die Verantwortlichkeit staatlicher Organe insbesondere bei Vorhersehbarkeit137 der späteren Unmöglichkeit sowie der Forderung nach einem erheblichen Verstoß gegen das Optimierungsverbot138 bis hin zu einer der Justiz oder den Ermittlungsbehörden zuzurechnenden „(aktive[n]) ‚Befragungsblockade‘, die (un)wertmäßig einer ‚Aufklärungsblockade‘ durch die Exekutive entspricht“.139 Jedenfalls für die hier vorliegende Konstellation, in der aufgrund konkreter Anhaltspunkte die Gefahr angenommen worden war, dass die Zeuginnen nicht mehr zur Verfügung stehen würden, und tatsächlich keine spätere Befragungsmöglichkeit bestand, überzeugt die Annahme der Unverwertbarkeit der Zeugenaussagen. Trotz des Bewusstseins der Gefahr des Beweisverlusts haben es die Behörden pflichtwidrig unterlassen, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um eine Konfrontationsmöglichkeit zu sichern. Beweiserlangung durch den EGMR für die Konventionsmäßigkeit der Beweisverwertung. 135 Vgl. BGHSt 51, 150 (155); BGHSt 46, 93 (103); BGH NStZ 2009, 581; BGH NStZ 2005, 224 (225) m.w.N. aus der Rspr., siehe auch BVerfG NJW 2010, 925 (926). Dies ist auch deshalb interessant, weil das BVerfG bei einem Verstoß gegen die Pflicht zur Benachrichtigung des Verteidigers aus § 168c Abs. 5 StPO von der Vernehmung gerade kein bestimmtes Verschuldensmaß fordert, siehe BVerfG NJW 2006, 672 (674). 136 Siehe Dehne-Niemann, HRRS 2010, 189 (195 ff., 197 f.); wohl auch Gerdemann (Fn. 844), S. 397; gegen die Berücksichtigung staatlichen Verschuldens argumentiert auch Weigend (Fn. 39), S. 1159 ff., 1163, zugleich aber gegen ein Beweisverwertungsverbot. 137 Esser, JR 2005, 248 (251 ff.), vgl. ders. (Fn. 1177), Art. 6 EMRK Rn. 795 f., bei der „Verantwortlichkeit staatlicher Stellen für ein insgesamt nicht oder nicht (mehr) effektive Gewährleistung des Konfrontationsrechts“ (Hervorhebungen im Original). 138 Krausbeck (Fn. 16), S. 227 ff., 236. Ein solcher liege – wie hier – dann vor, wenn die Justiz keinerlei Ausgleichsmaßnahmen ergriffen hat, obwohl ihr dies möglich gewesen wäre. 139 Widmaier, in: Griesbaum/Schnarr/Hannich (Hrsg.), Strafrecht und Justizgewährung, Festschrift für Kay Nehm zum 65. Geburtstag, 2006, S. 357 (370). _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 54 Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge _____________________________________________________________________________________ Da sie – wie der EGMR treffend feststellt – das Risiko der unzureichenden Verteidigungsmöglichkeit in Kauf genommen haben, tragen sie konsequenterweise auch das Risiko der Unverwertbarkeit der Zeugenaussagen.140 Die Annahme eines Verwertungsverbots als Steigerung zur Beweiswürdigungslösung ist unter diesen Umständen eine konsequente und gerechte Folge.141 als mustergültig angesehen werden kann, 145 konsequent zu einem Beweisverwertungsverbot greifen, sofern theoretisch existierende Sicherungsmechanismen praktisch nicht zur Anwendung kamen und dem Beschuldigten nicht zumindest einmal im Verlaufe des Verfahrens die Gelegenheit gewährt wurde, die Zeugenaussage effektiv in Zweifel zu ziehen. V. Fazit Das Urteil der Großen Kammer in „Schatschaschwili“ gibt Anlass, sich in Praxis und Lehre mit Reichweite und Ausgestaltung des Konfrontationsrechts bei (voraussichtlich) unerreichbaren Zeugen auseinander zu setzen. Jedenfalls für diese Fallkonstellation führt das Urteil wieder einen Schritt weg von „einem gelockerten Umgang mit Verstößen gegen das Konfrontationsrecht“142 und hin zu klareren Strukturen bei der Betrachtung der Fairness des Verfahrens in seiner Gesamtheit. Während der EGMR betont, dass er den nationalen Beurteilungsspielraum besonders im Beweisrecht achtet, zeigt er zugleich, dass essentielle Teilhaberechte der Verteidigung nicht im Interesse der Strafverfolgung ausgehöhlt werden dürfen. Die Rüge des EGMR wirft letztlich ein Licht auf die schon mehrfach aufgekommene Forderung nach einer weitergehenden Stärkung der Verteidigung im Ermittlungsverfahren.143 Diese ist jedenfalls erforderlich, wenn, wie teilweise vorgeschlagen, ein erweiterter Transfer von Beweisergebnissen aus dem Ermittlungsverfahren in die Hauptverhandlung erlaubt sein soll. Bereits ohne eine solche Entwicklung wird sich der Appell aus Straßburg aber auf die zukünftige Ausgestaltung der Vernehmung von (voraussichtlichen Auslands-)Zeugen insbesondere durch den Ermittlungsrichter zur Beweissicherung auswirken. Der Entscheidung der Großen Kammer kann entnommen werden, dass an die Rechtfertigung eines fehlenden bzw. nur eingeschränkten Konfrontationsrechts bei vorausgegangener Annahme der späteren Unerreichbarkeit des Zeugen für eine konfrontative Vernehmung in der Hauptverhandlung jedenfalls sehr strenge Anforderungen gestellt werden. Infolgedessen muss die deutsche Rechtsprechung,144 die im Hinblick auf die menschenrechtlichen Mindestanforderungen des „Al-Khawaja Tests“ grundsätzlich 140 Esser, JR 2005, 248 (252). Vgl. AG Hamburg StV 2004, 11; Esser, JR 2005, 248 (251 f.); Krausbeck (Fn. 16), S. 184 f.; Gerdemann (Fn. 84), S. 162 ff., 366 ff.; Mehle (Fn. 19), S. 324 ff. (hier verstärkt auf die Verletzung der Benachrichtigungspflicht nach § 168c Abs. 5 StPO abstellend), 338 ff.; Wohlers/Albrecht (Fn. 1044), § 168c Rn. 41 ff.; Paeffgen (Fn. 33), Art. 6 EMRK Rn. 139; Erb (Fn. 1277), § 168c Rn. 54, 56c, 59 f.; Zöller (Fn. 1055), § 168c Rn. 10; Endriss (Fn. 1077), S. 74 f.; Fezer, JZ 2001, 363 (364); Kunert, NStZ 2001, 217; Sowada, NStZ 2005, 1 (6); v. Stetten (Fn. 19), S. 1059 f., 1062 f. 142 Die Frage danach aufwerfend Lohse, JR 2015, 60 (63). 143 Vgl. zur Diskussion Endriss (Fn. 107), S. 65 (66 ff.); eingehend Krausbeck (Fn. 16), S. 98 ff.; Beulke (Fn. 28), S. 18. 144 Siehe nur BVerfG NJW 2010, 925 (926); BGHSt 51, 150 (154 ff.); BGHSt 46, 93 (106); BGH NStZ-RR 2009, 212 f. 141 145 Vgl. Meyer, HRRS 2012, 117 (120), der feststellt, dass der Stufentheorie der deutschen Rechtsprechung „durch die Große Kammer indirekt Absolution erteilt“ wird. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 55 Kompensation der unzulässigen staatlichen Tatprovokation Zu den Auswirkungen der Rechtsprechung des EGMR in Deutschland und Österreich Von Dr. Carolin Schmidt, Frankfurt (Oder) Im viel beachteten1 Urteil Furcht gegen Deutschland2 entschied der EGMR erstmals ausdrücklich, dass ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK bei unzulässiger staatlicher Tatprovokation durch die Gewährung einer bloßen Strafmilderung nicht hinreichend kompensiert wird. Er erteilte hiermit der bis dahin vertretenen Strafmilderungslösung eine deutliche Absage. In Reaktion auf die Verurteilung Deutschlands erkennt der zweite Senat des BGH in einer aktuellen Entscheidung nunmehr für einen Fall unzulässiger Tatprovokation ein Verfahrenshindernis (von Verfassungs wegen) an.3 Diese Entwicklung wird im Schrifttum allgemein begrüßt;4 teilweise wird – angesichts der Empfehlungen im Bericht der StPOExpertenkommission5 – eine entsprechende Kodifizierung angeregt.6 Eine Neuorientierung ist auch für Österreich zu erwarten;7 auch dort wurde bei unzulässiger Tatprovokation bislang lediglich eine Strafmilderung gewährt. Eine eindeutige Positionierung des OGH steht noch aus.8 Zur Herstellung einer konventionskonformen Rechtslage sollte nach dem Entwurf eines Strafprozessrechtsänderungsgesetzes 2015 ein Beweisverwertungsverbot für Erkenntnisse eingeführt werden, welche aufgrund unzulässiger Tatprovokation gewonnen wurden.9 Dieser Vorschlag stieß in den Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf vielfach auf Kritik.10 Vereinzelt wurde alternativ für die Anerkennung eines materiellen Strafausschließungsgrundes plädiert.11 Vor diesem Hintergrund wurde im Gesetzgebungsverfahren von der Kompensationsmethode eines Beweisverwertungsverbots abgerückt. Die Regierungsvorlage sieht nunmehr die Einführung eines (einfachgesetzlichen) Verfahrenshindernisses als Folge einer unzulässigen Tatprovokation vor.12 Der vorliegende Beitrag fasst zunächst die aus der EMRK abzuleitenden Anforderungen an die Rechtsfolgen von unzulässiger staatlicher Tatprovokation (I.) sowie die Argumentationslinien für die in Deutschland und Österreich vorgeschlagenen Kompensationsmethoden (Verfahrenshindernis, Beweisverwertungsverbot oder materieller Strafausschlie- 1 Vgl. die zahlreichen Anmerkungen: Hauer, NJ 2015, 203; Meyer/Wohlers, JZ 2015, 761; Pauly, StV 2014, 411; Petzsche, JR 2015, 88; Satzger, Jura 2015, 660; Sinn/Maly, NStZ 2015, 379; Sommer, StraFo 2014, 508. 2 EGMR, Urt. v. 23.10.2014 – 54648/09 (Furcht v. Deutschland) = NJW 2015, 3631. 3 BGH, Urt. v. 10.06.2015 − 2 StR 97/14 = NStZ 2016, 52. 4 Jahn/Kudlich, JR 2016, 60; Lochmann, StraFo 2015, 500; Mitsch, NStZ 2016, 57; vgl. auch Eisenberg, NJW 2015, 98, der die Frage nach der konkreten Kompensationsmethode zwar explizit ausklammert, das Urteil aber als „einer gewissen Transparenz und damit Rechtssicherheit förderlich“ bewertet. 5 Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, S. 85 (abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF/Absc hlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__blob=public ationFile&v=2 [5.1.2017]): „Die Expertenkommission empfiehlt, die rechtsstaatswidrige Tatprovokation gesetzlich zu verbieten. Hierfür sollte auf einer ersten Stufe definiert werden, wann eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation vorliegt. Auf einer zweiten Stufe sollten die Konsequenzen einer verbotenen rechtsstaatswidrigen Tatprovokation geregelt werden.“ 6 Lochmann, StraFo 2015, 500; vgl. auch Jahn/Kudlich, JR 2016, 64. 7 Vgl. Machac/Mohnl, JSt 2015, 442. 8 Zunächst schien der OGH auch nach dem Furcht-Urteil an der Strafmilderungslösung festzuhalten: „Mit dem […] Vorwurf unterbliebener Konstatierungen zum Vorliegen allfälliger Tatprovokation erstattet der Beschwerdeführer bloß ein Berufungsvorbringen ([st. Rspr.]; vgl allerdings zuletzt EGMR, Urt. v. 23.10.2014 – 54648/09 [Furcht v. Deutsch- land])“; OGH, Beschl. v. 9.4.2015 – 12 Os 39/15z. In der Folge ließ er die Behandlung der unzulässigen Tatprovokation allerdings explizit offen: „Einer Auseinandersetzung mit der Frage allfälliger Rechtsfolgen unzulässiger Tatprovokation bedurfte es daher nicht (vgl. dazu […] EGMR, Urt. v. 23.10.2014 – 54648/09 [Furcht v. Deutschland]).“; OGH, Urt. v. 7.10.2015 – 15 Os 89/15z. 9 Nach Art. 1 Z. 26 des Ministerialentwurfs 171/ME (XXV. GP) eines Bundesgesetzes, mit dem die Strafprozessordnung 1975, das Strafvollzugsgesetz und das Verbandsverantwortlichkeitsgesetz geändert werden (Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2015), sollte in § 133 öStPO folgender Absatz 5 eingefügt werden: „(5) Aufgrund eines Verstoßes gegen § 5 Abs. 3 gewonnene Erkenntnisse dürfen bei sonstiger Nichtigkeit nicht als Beweismittel verwendet werden.“ Vgl. auch Erläuterungen zum Ministerialentwurf 171/ME (XXV. GP), S. 15. 10 Vgl. z.B. Cernusca, Stellungnahme 45/SN-171/ME, S. 2 f.; Flora, Stellungnahme 30/SN-171/ME, S. 3; Venier, Stellungnahme 41/SN-171/ME, S. 3. 11 Cernusca, Stellungnahme 45/SN-171/ME, S. 3. 12 Nach Art. 1 Z. 30 der Regierungsvorlage (1058 BlgNR, XXV. GP) für ein Bundesgesetz, mit dem die Strafprozessordnung 1975, das Strafvollzugsgesetz und das Verbandsverantwortlichkeitsgesetz geändert werden (Strafprozessrechtsänderungsgesetz I 2016), soll in § 133 öStPO folgender Absatz 5 eingefügt werden: „(5) Von der Verfolgung eines Beschuldigten wegen der strafbaren Handlung, zu deren Begehung er nach § 5 Abs. 3 verleitet wurde, hat die Staatsanwaltschaft abzusehen […]“.Das Strafprozessrechtsänderungsgesetz I 2016 wurde am 20.5.2016 im österreichischen Bundesgesetzblatt I Nr. 26/2016 veröffentlicht; § 133 Abs. 5 öStPO n.F. trat am 1.6.2016 in Kraft. Zum Wortlaut von § 5 Abs. 3 öStPO siehe Fn. 49. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 56 Kompensation der unzulässigen staatlichen Tatprovokation _____________________________________________________________________________________ ßungsgrund) zusammen (II.). Auf dieser Grundlage soll die vom BGH favorisierte Lösung eines Verfahrenshindernisses von Verfassungs wegen auf ihre Systemkompatibilität und EMRK-Konformität überprüft werden. Gegebenenfalls sind Alternativen aufzuzeigen (III.). I. Aus der EMRK abzuleitende Vorgaben 1. Zusammenfassung der EGMR-Rechtsprechung Nach der Rechtsprechung des EGMR liegt eine unzulässige Tatprovokation vor, wenn sich die Strafverfolgungsbehörden nicht darauf beschränken, kriminelle Aktivitäten in einer im Wesentlichen passiven Art und Weise aufzuklären, sondern die Zielperson zur Begehung einer Straftat provozieren, die andernfalls nicht begangen worden wäre. 13 Insbesondere sind hierbei Anlass und Intensität der Einflussnahme maßgeblich.14 Die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 EMRK hängt zudem von einem prozeduralen Aspekt ab: Der EGMR beurteilt insoweit die Art und Weise der Auseinandersetzung des nationalen Gerichts mit einer möglichen unzulässigen Tatprovokation. Er fordert ein umfassendes Verfahren, das Anlass und Ausmaß der staatlichen Tatbeteiligung vollständig aufklärt. Die plausible Behauptung einer unzulässigen staatlichen Tatprovokation muss einen Straffreistellungsgrund („substantive defence“) begründen, zum Beweisausschluss („exclusion of evidence“) oder ähnlichen Konsequenzen („similar consequences“) führen.15 „Substantive defences“ sind Gründe, die eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters für eine Tat trotz Erfüllens der objektiven (actus reus) und subjektiven Tatseite (mens rea) ausschließen.16 Sie beziehen sich auf spezifische Aspekte des fraglichen Verhaltens, die das konkrete tatbestandsmäßige Handeln im Einzelfall als erlaubt oder nicht schuldhaft qualifizieren, beispielsweise im Fall von Notwehr oder bei Vorliegen einer Geisteskrankheit.17 Die Anerkennung eines solchen Straffreistellungsgrunds im Fall unzulässiger Tatprovokation führt dazu, dass der Täter für die provozierte Tat EGMR, Urt. v. 9.6.1998 – 25829/94 (Teixeira de Castro v. Portugal), Rn. 39 = NStZ 1999, 47. 14 Vgl. hierzu und zum Folgenden EGMR, Urt. v. 4.11.2010 – 18757/06 (Bannikova v. Russland), Rn. 38, 57; siehe bereits EGMR (Große Kammer), Urt. v. 5.2.2008 – 74420/01 (Ramanauskas v. Litauen), Rn. 67, 71 = NJW 2009, 3565. 15 EGMR, Urt. v. 4.11.10 – 18757/06 (Bannikova v. Russland), Rn. 54; siehe auch Esser/Gaede/Tsambikakis, NStZ 2012, 620. 16 Weißer, Täterschaft in Europa, 2011, S. 178 Fn. 169; vgl. auch Simester/Spencer/Sullivan/Virgo, Criminal Law, 5. Aufl. 2014, § 17.1. Im Gegensatz zu „substantive defences“ betreffen „procedural defences“ die Gerichtsbarkeit und die Befugnis eines Gerichts zur Strafverfolgung. Hierzu zählen u.a. das Gesetzlichkeitsprinzip „nullum crimen sine lege“, der Grundsatz „ne bis in idem“, Immunitäten, das Verjährungsregime, Amnestien, Verhandlungsunfähigkeit oder ein Verfahrensmissbrauch; siehe Ambos, Treatise on International Criminal Law, Vol. 1, 2013, S. 302 f. 17 Ambos (Fn. 16), S. 302. 13 nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Die Möglichkeit ähnlicher Konsequenzen lässt darauf schließen, dass der EGMR eine ähnliche Wirkungsweise von „substantive defence“ und „exclusion of evidence“ zugrunde legt. „Exclusion of evidence“ bedeutet demnach, dass ein Beweis (und damit der Schuldnachweis) für die provozierte Tat nicht geführt werden darf.18 Die Verfahrensfairness erfordert, dass alle Beweise ausgeschlossen werden, die durch unzulässige polizeiliche Tatprovokation gewonnen wurden. 19 Der EGMR lehnt eine Verwendung also stets ab, ohne – wie in Fällen des heimlichen Aushorchens von Beschuldigten – zur Bewertung eines Verstoßes gegen den Fairnessgrundsatz auch auf die jeweilige Beweiskraft (insb. auf Zweifel an der Verlässlichkeit oder Genauigkeit eines Beweises) abzustellen.20 Umgekehrt dürfte die Rechtsprechung des EGMR (in Anlehnung an die Wirkungen von Straffreistellungsgründen) einer Beweisverwertung grundsätzlich nicht entgegenstehen, wenn im Wege unzulässiger Tatprovokation auch Beweise für andere Straftaten (Zufallsfunde) erlangt werden. In der Zusammenschau sind ähnliche Konsequenzen also solche, die zum Ausschluss einer Nutzung der durch unzulässige Provokation erlangten Erkenntnisse im Strafverfahren wegen der provozierten Tat21 zur Begründung des Schuldspruchs führen; zu denken ist insbesondere an ein Verfahrenshindernis. 18 Ebenso Meyer/Wohlers, JZ 2015, 765, die angesichts des Erfordernisses einer Ähnlichkeit zum „substantive defence“ ein umfassendes Beweisverwertungsverbot ableiten: „Auch der Hinweis auf einen alternativ möglichen Straffreistellungsgrund zeigt unzweideutig an, dass nach Auffassung des EGMR am Ende einer durch unzulässige Provokation ausgelösten Strafverfolgung keine Bestrafung stehen darf.“ Vgl. auch Fischer, NStZ 1992, 13: „Aus der Unzulässigkeit der polizeilichen Tatprovokation folgt ein umfassendes Beweisverwertungsverbot […].“ 19 EGMR, Urt. v. 23.10.2014 – 54648/09 (Furcht v. Deutschland), Rn. 64: „For the trial to be fair within the meaning of Article 6 § 1 of the Convention, all evidence obtained as a result of police incitement must be excluded […]“ (Hervorhebungen der Verf.); vgl. auch EGMR, Urt. v. 24.4.2014 – 6228/09 u.a. (Lagutin u.a. v. Russland), Rn. 116; EGMR, Urt. v. 4.11.2010 – 18757/06 (Bannikova v. Russland), Rn. 56; EGMR (Große Kammer), Urt. v. 5.2.2008 – 74420/01 (Ramanauskas v. Litauen), Rn. 60. 20 EGMR, Urt. v. 10.3.2009 – 4378/02 (Bykov v. Russland), Rn. 90 = NJW 2010, 213; EGMR, Urt. v. 5.11.2002 – 48539/99 (Allan v. Vereinigtes Königreich), Rn. 43; EGMR, Urt. v. 12.5.2000 – 35394/97 (Khan v. Vereinigtes Königreich), Rn. 35, 37. Vgl. auch Meyer/Wohlers, JZ 2015, 765. 21 Vgl. EGMR, Urt. v. 9.6.1998 – 25829/94 (Teixeira de Castro v. Portugal), Rn. 39= NStZ 1999, 47: „That intervention and its use in the impugned criminal proceedings meant that, right from the outset, the applicant was definitively deprived of a fair trial.“ (Hervorhebungen der Verf.). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 57 Carolin Schmidt _____________________________________________________________________________________ 2. Berücksichtigung des aus der EMRK abzuleitenden Verfolgungszwangs Bislang wurde kaum beachtet, dass sich diese Vorgaben auf staatlicherseits provozierte Straftaten ohne individuellen Opferbezug (z.B. Drogen- oder Korruptionsdelikte)22 beschränken dürften. Sie beziehen sich dagegen nicht auf Delikte, die gegen hochrangige Individualrechtsgüter gerichtet sind.23 Der EGMR hat wiederholt bestätigt, dass der Charakter der Konvention als Schutzinstrument eine Auslegung und Anwendung voraussetzt, die ihre Gewährleistungen zweckmäßig und wirksam werden lässt. Die Konventionsgarantien müssen als Teil eines Ganzen verstanden und in einer Weise interpretiert werden, die innere Konsistenz gewährleistet. 24 Im Zusammenhang mit der generellen Verpflichtung der Konventionsstaaten, jedermann innerhalb ihrer Jurisdiktion die in der EMRK niedergelegten Rechte und Freiheiten zu sichern (Art. 1 EMRK), setzen einzelne Konventionsgarantien, wie Art. 2, 3 und 8 EMRK, implizit auch eine effektive Strafverfolgung von Rechtsgutsverletzungen voraus. Andernfalls würde der Schutzzweck der EMRK reduziert und ihr Gewährleistungsgehalt illusorisch.25 Der EGMR hat entschieden, dass durch die Verpflichtung zu einer wirksamen Strafverfolgung andere Konventionsga22 In einigen Urteilen betreffend unzulässiger Tatprovokation bezieht sich der EGMR explizit auf diesen Bereich; vgl. EGMR, Urt. v. 4.11.2010 – 18757/06 (Bannikova v. Russland), Rn. 34: „In the specific context of investigative techniques used to combat drug trafficking and corruption, the Court’s longstanding view has been that the public interest cannot justify the use of evidence obtained as a result of police incitement.“ (Hervorhebungen der Verf.). 23 Aus der Praxis sind entsprechende Fälle bisher nicht bekannt geworden; auch erscheint die praktische Relevanz von Provokationen zu Gewalttaten, etwa Tötungsdelikten, gering, da wegen des individuellen Opferbezugs der Anlasstat regelmäßig andere Beweismittel verfügbar sind und kein Bedarf an einer weiteren (mit geringem Aufwand aufzuklärenden) Tat besteht. Es dürfte sich hierbei aber nicht um ein bloßes Gedankenspiel handeln; ein solches Vorgehen käme beispielsweise gegenüber einem (mutmaßlichen) Ring von Auftragsmördern in Betracht: Sofern lediglich der unmittelbare Täter einer Anlasstat überführt, nicht aber die etwaige Beteiligung eines Hintermanns nachgewiesen werden kann, erscheint die Kontaktaufnahme gegenüber ersterem durch einen staatlichen Provokateur erfolgversprechend, um auch die Ergreifung des Hintermanns zu ermöglichen. 24 Vgl. z.B. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.3.2012 – 39692/09 u.a. (Austin u.a. v. Vereinigtes Königreich), Rn. 54 = NVwZ-RR 2013, 785; EGMR (Große Kammer), Urt. v. 27.5.2014 – 4455/10 (Marguš v. Kroatien), Rn. 128. 25 Vgl. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 27.5.2014 – 4455/10 (Marguš v. Kroatien), Rn. 125 ff. Vgl. zum aus Art. 8 EMRK abzuleitenden Verfolgungszwang bei (schweren) Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung EGMR (Große Kammer), Urt. v. 12.11.2013 – 5786/08 (Söderman v. Schweden), Rn. 80, 82 f. = NJW 2014, 607; EGMR, Urt. v. 4.12.2003 – 39272/98 (M.C. v. Bulgarien), Rn. 152 f. rantien in ihrer Anwendbarkeit verdrängt werden können. 26 Art. 2, 3 und 8 EMRK verkörpern fundamentale Werte; zur Abschreckung potenzieller Täter27 muss der Eindruck unbedingt vermieden werden, Verhalten, das den Schutzgehalt dieser Garantien berührt, bliebe ungesühnt. 28 Zu berücksichtigen ist, dass es sich hier nicht um eine nur zweiseitige Konstellation (Verhältnis zwischen Staat und Provoziertem) handelt. Vielmehr muss auch spezifischen Opferinteressen Rechnung getragen werden. Der Staat kann sich – schon wegen des staatlichen Gewaltmonopols29 – nicht zulasten des Opfers seines Strafanspruchs begeben. Andernfalls wäre ein effektiver Individualrechtsgüterschutz, wie ihn die EMRK verlangt, nicht mehr gewährleistet. Wenn der Staat Straftaten veranlasst, die das Recht auf Leben oder auf sexuelle Selbstbestimmung bzw. das Folterverbot beeinträchtigen, kommt ein Ausschluss der Verwendung von durch staatliche Tatprovokation gewonnenen Beweisen also nicht in Betracht. Diese Ausprägung des Fairnessgrundsatzes findet insoweit keine (oder nur eingeschränkte30) Anwendung.31 Da die Verfolgungspflicht im Sinne wirksamer Prävention grundsätzlich bereits im Fall des bloßen Versuchs greift, 32 muss dies auch 26 So erklärte der EGMR das Doppelverfolgungsverbot nach Art. 4 Abs. 1 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK bei erneuter Strafverfolgung von Kriegsverbrechen nach einer staatlicherseits gewährten Amnestie für nicht anwendbar; EGMR (Große Kammer), Urt. v. 27.5.2014 – 4455/10 (Marguš v. Kroatien), Rn. 140 f. 27 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 28.10.1998 – 23452/94 (Osman v. Vereinigtes Königreich), Rn. 115. 28 EGMR, Urt. v. 21.12.2000 – 30873/96 (Egmez v. Zypern), Rn. 71: „Under no circumstances should [the domestic authorities] give the impression that they are prepared to allow such treatment to go unpunished.“; vgl. auch EGMR, Urt. v. 10.3.2009 – 44256/06 (Turan Cakir v. Belgien), Rn. 69. 29 Korioth, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, 75. Lfg., Stand: September 2015, Art. 30 Rn. 12. 30 Die Berücksichtigung der unzulässigen Tatprovokation könnte im Rahmen einer Auslegung, die allen Konventionsgarantien zu möglichst weitreichender praktischer Wirksamkeit verhilft, auf Strafzumessungsebene erfolgen. Vgl. zum Ganzen Schmidt, Grenzen des Lockspitzeleinsatzes, 2016, insb. Teil IV, A. III. und D. III. 31 Andere Teilgarantien von Art. 6 EMRK, wie das Recht auf ein unabhängiges Gericht, bleiben selbstverständlich anwendbar. 32 Esser, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 11, 26. Aufl. 2012, Art. 2 EMRK u. Art. 6 IPBRR Rn. 33; vgl. auch EGMR, Urt. v. 2.9.1998 – 22495/93 (Yaşa v. Türkei), Rn. 100. Zur „Vorwirkung“ der genannten Konventionsgarantien bei Gefährdungslagen für das jeweils geschützte Rechtsgut siehe auch EGMR (Große Kammer), Urt. v. 20.12.2004 – 50385/99 (Makaratzis v. Griechenland), Rn. 55 = NJW 2005, 3405; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 20 Rn. 3, § 22 Rn. 1. Anderes könnte für den untauglichen Versuch gelten, da es hier bereits an einer tatsächlichen Gefährdung mangelt. Al- _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 58 Kompensation der unzulässigen staatlichen Tatprovokation _____________________________________________________________________________________ für provozierte Taten gelten, die im Versuchsstadium stecken bleiben. II. Überblick über die vorgeschlagenen Kompensationsmethoden 1. Stand der deutschen Rechtsprechung: Wende zum Verfahrenshindernis Eine erste Auseinandersetzung mit dem „Furcht“-Urteil des EGMR vom 23.10.2014 erfolgte im Rahmen eines Beschlusses des BVerfG vom 18.12.2014, mit dem die Verfassungsbeschwerden von drei Beschwerdeführern, die sich gegen ihre Verurteilung zu mehrjährigen Haftstrafen wegen (staatlicherseits provozierten) Betäubungsmitteldelikten wandten, nicht zur Entscheidung angenommen wurden.33 Die Frage, ob die Strafmilderungslösung den Anforderungen des EGMR in jedem Einzelfall gerecht wird, ließ das BVerfG ausdrücklich offen.34 Es verwies insbesondere darauf, dass die Fachgerichte die Rechtsprechung des EGMR durch „möglichst schonend[e]“ Einpassung in das überkommene und ausdifferenzierte nationale Rechtssystem hinreichend berücksichtigt hätten, sodass die Strafmilderungslösung „jedenfalls in ihrer Anwendung […] auf den vorliegenden Fall“ auch vor dem Hintergrund der Anforderungen von Art. 6 EMRK nicht gegen das verfassungsrechtlich verankerte Recht auf ein faires Verfahren verstoße.35 Eine Verfahrenseinstellung könne nur in einem – hier nicht vorliegenden – extremen Ausnahmefall aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet werden, da dieses auch das Interesse an einer der materiellen Gerechtigkeit dienenden Strafverfolgung schützt.36 Als Prozessentscheidung entfaltete der genannte Nichtannahmebeschluss keine Bindungswirkung.37 Mit einem im schriftlichen Verfahren nach § 349 Abs. 2 StPO gefassten Beschluss vom 19.5.2015 bekräftigte der lerdings kann bei Tatprovokation trotz polizeilicher Überwachung wohl kaum von einem von vornherein untauglichen Versuch gesprochen werden. 33 BVerfG, Beschl. v. 18.12.2014 – 2 BvR 209/14, 2 BvR 240/14, 2 BvR 262/14 = NJW 2015, 1083 m. Anm. Jäger, JA 2015, 473. Die Ausgangsentscheidung des BGH (Urt. v. 11.12.2013 − 5 StR 240/13) ist abgedruckt in NStZ 2014, 277. 34 BVerfG, Beschl. v 18.12.2014 – 2 BvR 209/14, 2 BvR 240/14, 2 BvR 262/14 = NJW 2015, 1083 (1085). 35 BVerfG, Beschl. v 18.12.2014 – 2 BvR 209/14, 2 BvR 240/14, 2 BvR 262/14 = NJW 2015, 1083 (1086). 36 BVerfG, Beschl. v 18.12.2014 – 2 BvR 209/14, 2 BvR 240/14, 2 BvR 262/14 = NJW 2015, 1083 (1084 f.). Weiterhin wäre zukünftig zu erwägen, „in vergleichbaren Fällen ausdrücklich ein Verwertungsverbot bezüglich der unmittelbar durch die rechtsstaatswidrige Tatprovokation gewonnenen Beweise, also insbesondere bezüglich der unmittelbar in die rechtsstaatswidrige Tatprovokation verstrickten Tatzeugen, auszusprechen“; vgl. BVerfG, NJW 2015, 1083 (1086). 37 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, 47. Lfg., Stand: August 2015, § 31 Rn. 83. 1. Strafsenat des BGH diese Leitlinien des BVerfG: Allenfalls in einem Extremfall, etwa bei tatprovozierendem Verhalten von Ermittlungsbehörden gegen einen (bis dahin) gänzlich Unverdächtigen, der lediglich „als Objekt der staatlichen Ermittlungsbehörden einen vorgefertigten Tatplan ohne eigenen Antrieb ausgeführt hätte“, käme ein aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitetes Verfahrenshindernis in Betracht.38 In casu fehle es bereits an einer unzulässigen staatlichen Tatprovokation, da die Beschuldigten zu sämtlichen Betäubungsmittelstraftaten bereits vor der polizeilichen Intervention entschlossen waren.39 Am 10.6.2015 wies der 2. Strafsenat des BGH, dem der genannte Beschluss des 1. Senats im Zeitpunkt der Urteilsverkündung unbekannt war,40 die Strafmilderungslösung als mit der Rechtsprechung des EGMR in der Rechtssache Furcht unvereinbar zurück. Im Rahmen der demnach gebotenen Neubewertung der staatlichen Tatprovokation sprach sich der 2. Strafsenat erstmals ausdrücklich für die Annahme eines Verfahrenshindernisses (von Verfassungs wegen) aus und kehrte überdies das in der BVerfG-Rechtsprechung angelegte Regel-Ausnahme-Verhältnis um: Die unzulässige Provokation einer Straftat durch Angehörige von Strafverfolgungsbehörden oder von ihnen gelenkte Dritte habe regelmäßig (nicht nur in Extremfällen) ein Verfahrenshindernis zur Folge.41 Ein Verfahrenshindernis passe sich – im Gegensatz zur Anerkennung eines Beweisverwertungsverbots oder eines materiellen Strafausschließungsgrunds – „schonend“ in das vorhandene nationale Rechtssystem ein: Obwohl die Rechtsfigur des Verfahrenshindernisses in der Strafprozessordnung nicht allgemein definiert werde, handle es sich – anders als etwa die Annahme eines gesetzlich nicht geregelten Strafausschließungsgrunds – um eine anerkannte dogmatische Kategorie.42 Zudem knüpfe ein Verfahrenshindernis an die provozierte Tat selbst an, während ein Beweisverwertungsverbot nur einzelne Ermittlungshandlungen erfassen könnte. Gegen eine Lösung auf Beweisebene spreche vor allem, dass eine Beweiserhebung im Strafverfahren regelmäßig geboten sei, um die tatsächlichen Umstände einer behaupteten Tatprovo- BGH, Beschl. v. 19.5.2015 − 1 StR 128/15 = NStZ 2015, 541 (542 f.). 39 BGH, Beschl. v. 19.5.2015 − 1 StR 128/15 = NStZ 2015, 541 (543). 40 Zur Notwendigkeit einer Divergenzvorlage nach § 132 Abs. 2 GVG siehe Eisenberg, NJW 2016, 98; Jahn/Kudlich, JR 2016, 62. 41 BGH, Urt. v. 10.6.2015 − 2 StR 97/14 = NStZ 2016, 52 (amtl. Ls.). 42 BGH, Urt. v. 10.6.2015 − 2 StR 97/14, Rn. 48, 55; die in NStZ 2016, 52 nicht abgedruckten Entscheidungsgründe können über: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr72875&pos=0&anz= 1 (5.1.2017) abgerufen werden. 38 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 59 Carolin Schmidt _____________________________________________________________________________________ kation aufklären zu können.43 Auch liefe die umfassende Nichtverwendung der durch Tatprovokation erlangten Beweismittel – wie sie die Rechtsprechung des EGMR verlangt – faktisch gerade auf ein Verfahrenshindernis hinaus. 44 Demgegenüber griffen die Bedenken gegen die Annahme eines Verfahrenshindernisses nicht durch: Insbesondere stehe nicht entgegen, dass im Fall behaupteter unzulässiger Tatprovokation regelmäßig eine umfangreiche Beweisaufnahme und -würdigung notwendig ist, sodass – für Verfahrenshindernisse atypisch – eine Einstellung erst im Rahmen der Hauptverhandlung erfolgen kann. Denn diese Notwendigkeit könne sich auch bei der Prüfung anderer Verfahrenshindernisse ergeben, beispielsweise in Fällen des Strafklageverbrauchs. 45 Obgleich Verfahrenshindernisse typischerweise aus bestimmten Tatsachen folgen, könnten sie auch auf Werturteilen beruhen, wie dies etwa bei einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung der Fall ist.46 Zudem müsse der „Gesichtspunkt, dass Verfahrenshindernisse […] in der Regel nicht Ergebnis wertender Abwägungen sind“, zurücktreten, „wenn feststeht, dass für eine solche Abwägung aufgrund des Gewichts des Verstoßes kein Raum bleibt, wie sich aus den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt“.47 2. Die Reformdiskussion in Österreich Der österreichische Ministerialentwurf sprach sich für die Einführung eines Beweisverwertungsverbots in Bezug auf Erkenntnisse aus, „welche aufgrund unzulässiger Tatprovokation gewonnen wurden.“ Hierunter würden insbesondere die Vernehmung des Lockspitzels, eine Ton- und/oder Bildaufnahme von seinem Kontakt mit dem Betroffenen und die Verlesung der Bezug habenden Teile der jeweiligen Polizeiberichte fallen.48 Zur Begründung wurde zunächst auf die wirksame Vorbeugung von Verstößen gegen das in § 5 Abs. 3 öStPO49 verankerte Lockspitzelverbot verwiesen, da der Anreiz hierzu bei Anerkennung eines Beweisverwertungsverbots weitgehend entfiele. Ein wesentlicher Vorteil gegenüber einem „prozessualen Verfolgungshindernis“ (wie es der 2. Strafsenat des BGH befürwortet) liegt nach den BGH, Urt. v. 10.6.2015 − 2 StR 97/14, Rn. 52 = NStZ 2016, 52; vgl. bereits BGH, Urt. v. 18.11.1999 – 1 StR 221/99 = BGHSt 45, 321 (355). 44 BGH, Urt. v. 10.6.2015 − 2 StR 97/14 Rn. 53 = NStZ 2016, 52. 45 Vgl. BGH, Urt. v. 10.6.2015 − 2 StR 97/14, Rn. 55; vgl. auch BGH, Beschl. v. 30.3.2001 – StB 4, 5/01 = NJW 2001, 1734. 46 Vgl. BGH, Urt. v. 10.6.2015 − 2 StR 97/14, Rn. 55; vgl. auch Hillenkamp, NJW 1989, 2846; Waßmer, ZStW 115 (2006), 187. 47 Vgl. BGH, Urt. v. 10.6.2015 − 2 StR 97/14, Rn. 55. 48 Erläuterungen zum Ministerialentwurf 171/ME (XXV. GP), S. 15. 49 § 5 Abs. 3 öStPO lautet: „Beschuldigte oder andere Personen zur Unternehmung, Fortsetzung oder Vollendung einer Straftat zu verleiten oder durch heimlich bestellte Personen zu einem Geständnis zu verlocken, ist unzulässig.“ 43 Erläuterungen zum Ministerialentwurf darin, dass auf diese Weise auch ein Schuldspruch möglich bliebe, „sofern abgesehen von Beweismitteln, welche als Ergebnis polizeilicher Provokation gewonnen wurden, weitere gewichtige Beweisergebnisse vorliegen.“50 In den Stellungnahmen zum Ministerialentwurf wurde insbesondere diese fortbestehende Möglichkeit eines Schuldspruchs als mit der Rechtsprechung des EGMR unvereinbar gerügt.51 Teilweise wurde die Lösung auf Beweisebene insgesamt als systematisch verfehlt angegriffen: Zwar dürfte auf Grundlage der durch unzulässige Tatprovokation gewonnenen Beweismittel keine Verurteilung mehr erfolgen; systemkonform könnte umgekehrt aber auch ein Freispruch nicht auf die unzulässig gewonnenen Beweismittel gestützt werden. Eine Tat, die (bspw. durch Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen) zweifelsfrei nachgewiesen werden kann und die der Beschuldigte gegebenenfalls sogar eingesteht, müsse demnach trotz Provokation zur Verurteilung führen, da die gewünschte entlastende Wirkung gerade wegen des Beweisverwertungsverbots nicht eingreife. Stattdessen wurde die Anerkennung eines materiellen Strafausschließungsgrunds befürwortet, die durch Ergänzung von § 5 Abs. 3 öStPO umgesetzt werden könnte. Denn die unzulässige Tatprovokation bewirke, dass die konkrete Tat per se nicht mehr strafwürdig ist, während ein prozessuales Verfahrenshindernis nicht den rechtlichen Gehalt der Tat, sondern nur den staatlichen Verfolgungsanspruch adressiere.52 Die in den Stellungnahmen kritisierte problematische Abgrenzung, „welche Ergebnisse dem ursprünglich vorgeschlagenen Beweisverwertungsverbot unterliegen würden und welche nicht“, bildete nach den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage ein wesentliches Argument für den Wechsel zu einem Verfahrenshindernis als Folge unzulässiger Tatprovokation. Die Bemerkungen verweisen zudem auf die Entwicklung der Rechtsprechung in Deutschland. 53 III. Kritische Würdigung der vorgeschlagenen Kompensationsmethoden 1. Systemkompatibilität der prozessualen Lösungswege: Beweisverwertungsverbot und Verfahrenshindernis a) Pattsituation der herkömmlich ausgetauschten Argumente Die wiedergegebenen Argumente gegen eine Lösung auf Beweisebene54 können die Vorzugswürdigkeit eines Verfahrenshindernisses bei unzulässiger Tatprovokation nicht letzt- 50 Erläuterungen zum Ministerialentwurf 171/ME (XXV. GP), S. 15. 51 Vgl. Flora, Stellungnahme zum Entwurf eines Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2015, 30/SN-171/ME, S. 2 f.; Venier, Stellungnahme zum Entwurf eines Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2015, 41/SN-171/ME, S. 3. 52 Cernusca, Stellungnahme 45/SN-171/ME, S. 2 f. 53 Vgl. EB RV, 1058 BlgNR, XXV. GP, S. 7. 54 Vgl. oben bei Fn. 43 f. und 51. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 60 Kompensation der unzulässigen staatlichen Tatprovokation _____________________________________________________________________________________ gültig belegen:55 Ein Beweisverwertungsverbot bezieht sich zugegebenermaßen nicht auf die Beweisaufnahme insgesamt. Denn Beweisgegenstand ist nicht die Tat als solche, sondern all jenes, was ihre Durchführung beweisen kann, z.B. Aussagen der Beteiligten, eventuelle Schriftstücke über den Verlauf des Lockspitzeleinsatzes oder eine Dokumentation mittels Foto- bzw. Videoaufnahmen sowie etwaig sichergestellte Drogen.56 Im Fall unzulässiger Tatprovokation muss (grundsätzlich57) hinsichtlich sämtlicher hieraus herrührender Beweise für die jeweilige Straftat ein Beweisverwertungsverbot greifen.58 Ein solches „zusammengesetztes“ Beweisverwertungsverbot schließt eine Verurteilung wegen der provozierten Tat – entsprechend der Rechtsprechung des EGMR – im Ergebnis aus.59 Umfassende Beweisverwertungsverbote, die alle auf unzulässigem Vorgehen beruhenden Beweise einbeziehen, sind der Strafprozessordnung nicht gänzlich fremd. Beispielsweise erfasst die beweisgegenständliche Schutzwirkung von § 136a Abs. 3 StPO alle Aussageinhalte, die auf verbotenen Vernehmungsmethoden beruhen: 60 Das Beweis- Für eine intensivere Auseinandersetzung mit dem „Verhältnis von Verwertungsverbot und Verfahrenshindernis“ plädiert Jäger, JA 2016, 311. 56 Hierzu zählt gerade auch die Aufzeichnung einer provozierten Tat im Rahmen der Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen. In Bezug auf ein Geständnis des Provozierten, das „bedingt durch die erlangten Ermittlungsergebnisse“ abgelegt wurde (vgl. BGH, Urt. v. 10.6.2015 − 2 StR 97/14, Rn. 52 = NStZ 2016, 52), kommt ein Beweisverwertungsverbot in Betracht, wenn der Beschuldigte nicht zuvor auf die Unverwertbarkeit der Beweise für die provozierte Tat hingewiesen worden ist (sog. qualifizierte Belehrung). Vgl. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 1.6.2010 – 22978/05 (Gäfgen v. Deutschland), Rn. 181 ff. = NJW 2010, 3145: Es kann gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstoßen, ein Geständnis zu verwerten, das nur angesichts erdrückender Beweise abgegeben wurde, die ihrerseits durch Verletzung von Konventionsgarantien (in casu: Art. 3 EMRK) gewonnen worden waren. 57 Vgl. unter I. 2. 58 Andere Beweise sind kaum denkbar (so auch Tyszkiewicz, Tatprovokation als Ermittlungsmaßnahme, 2014, S. 223; Esser [Fn. 32], Art. 6 EMRK u. Art. 14 IPBRR Rn. 264. Vgl. auch Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter, Bundesvertretung Richter und Staatsanwälte in der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst [Hrsg.], Stellungnahme zum Entwurf eines Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2015, 29/SN-171/ME, S. 4), zumal die Straftat ohne staatliche Veranlassung nicht begangen worden wäre. Verwertbar bleiben nur zufällig miterlangte Beweise für andere Taten; vgl. oben bei Fn. 2020. 59 Tyszkiewicz (Fn. 58), S. 223. 60 Jäger, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Handkommentar, Gesamtes Strafrecht, 3. Aufl. 2013, § 136a StPO Rn. 42 m.w.N. (vgl. auch a.a.O.: „das Gesetz selbst [schreibt] in § 136 a Abs. 3 ein umfassendes Beweisverwertungsverbot für die durch verbotene Vernehmungsmethoden erlangten Aus55 verwertungsverbot erstreckt sich auch auf drittbelastende Aussagen61 oder den Klang der Stimme. 62 Während das „Produkt“ der verbotenen Vernehmungsmethode eine Aussage ist, die in all ihren Einzelaspekten nicht verwertbar ist, bildet „Produkt“ der unzulässigen Tatprovokation gerade die Tat als solche, für die keinerlei Beweis geführt werden darf. 63 Jeweils sind alle „bemakelten“ Beweise auszuschließen. Die Wirkung eines derart umfassend verstandenen Beweisverwertungsverbots entspricht zwar – wie der 2. Strafsenat des BGH zutreffend feststellt64 – derjenigen eines Verfahrenshindernisses.65 Dieser „Gleichklang“ kann aber nicht als Argument in die eine oder andere Richtung herangezogen werden, sondern ist logische Konsequenz des vom EGMR formulierten Ähnlichkeits-Erfordernisses. Auch der vom 2. Senat angeführte Umstand, dass eine spätere Beweiserhebung im Strafverfahren zur Klärung der tatsächlichen Umstände einer behaupteten Tatprovokation geboten (und gerade nicht als rechtswidrig) erscheine, 66 spricht nicht zwingend gegen die Annahme eines Beweisverwertungsverbots. Erstens stellen Beweiserhebungsverbote und die Unverwertbarkeit von Beweismitteln verschiedene prozessuale Phänomene dar und sind als solche gedanklich voneinander zu trennen.67 Weder folgt aus einem Verstoß gegen ein Beweiserhebungsverbot zwangsläufig die Unverwertbarkeit der erlangten Beweise, noch muss umgekehrt der Grund für die Unverwertbarkeit eines Beweismittels stets in einer rechtswidrigen Beweiserhebung liegen.68 Zweitens treten ähnliche Schwierigkeiten auch bei Annahme eines Verfahrenshindernisses auf:69 Denn typischerweise knüpfen sagen vor […]“; ein umfassendes Beweisverwertungsverbot bejaht auch Heinrich, ZStW 112 [2000], 419 m.w.N.). 61 Für Differenzierungen nach dem „Rechtskreis“ (zur Rechtskreistheorie: Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 28. Aufl. 2014, § 24 Rn. 24 m.w.N.) verbleibt kein Raum; vgl. BGH, Urt. v. 14.10.1970 – 2 StR 239/70 = JurionRS 1970, 12172, Rn. 6. 62 Jäger (Fn. 60), § 136a Rn. 44. 63 Vgl. auch Jäger, JA 2016, 310: „Damit zeigt sich aber doch, dass es Verwertungsverbote gibt, die den gesamten Tatvorgang erfassen […] können.“ 64 Vgl. oben bei Fn. 44. 65 Da beide prozessualen Lösungen im Ergebnis einer Verurteilung wegen der provozierten Tat grundsätzlich (siehe aber zu Differenzierungsmöglichkeiten bei Anerkennung eines Beweisverwertungsverbots unter III. 3.) entgegenstehen, während eine Strafverfolgung von anderen Taten möglich bleibt, besteht der in den Erläuterungen zum österreichischen Ministerialentwurf behauptete Vorteil, dass ein Beweisverwertungsverbot – anders als ein Verfahrenshindernis – in bestimmten Fällen auch einen Schuldspruch ermögliche (vgl. oben bei Fn. 50), regelmäßig nicht (siehe aber unter IV.). 66 Vgl. oben bei Fn. 43. 67 Beulke, Strafprozessrecht, 13. Aufl. 2016, Rn. 455. 68 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 9. Aufl. 2015, Rn. 362. 69 So die Argumentation in Österreich; vgl. OGH, Urt. v. 11.1.2005 – 11 Os 126/04 = JBl 2005, 531: „Die Bestimmung [Art. 6 EMRK] verbietet demnach nicht das Hören der _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 61 Carolin Schmidt _____________________________________________________________________________________ Verfahrenshindernisse an unproblematisch festzustellende Tatsachen, wie den Tod des Beschuldigten, seine Verhandlungsunfähigkeit oder die Verjährung der zu verfolgenden Straftat,70 an und bewirken daher regelmäßig bereits vor Durchführung einer Hauptverhandlung die Einstellung des Verfahrens. Das Vorliegen unzulässiger staatlicher Tatprovokation kann dagegen wohl erst im Rahmen einer Hauptverhandlung aufgeklärt werden.71 Beiden prozessualen Lösungswegen kommt zudem die in den Erläuterungen zum Ministerialentwurf geforderte Disziplinierungswirkung72 zu. Die Aussicht, im Rahmen einer unzulässigen Provokation neben den nicht verwertbaren Beweisen für die provozierte Tat zufällig auch verwertbare Beweise für andere Taten zu gewinnen, nimmt den Strafverfolgungsbehörden weitgehend den Anreiz zu einem systematischen Einsatz unzulässiger Praktiken. Ebenso werden die Strafverfolgungsbehörden von unzulässiger Tatprovokation absehen, wenn ihr Zweck, die Überführung des Täters in einem Strafverfahren, wegen des Eingreifens eines Verfahrenshindernisses vereitelt wird.73 Insgesamt erweisen sich die jeweils angeführten Argumente damit als austauschbar und demnach unergiebig; sie sprechen zwingend weder für die Annahme eines Beweisverwertungsverbots noch für die Anerkennung eines Verfahrenshindernisses. sätzlich sind der Strafprozessordnung – wie der 2. Strafsenat des BGH zu Recht betont74 – unmittelbar aus der Verfassung abgeleitete Verfahrenshindernisse nicht fremd. 75 Ein Rückgriff hierauf muss möglich sein, wenn eine Fortsetzung des Verfahrens entgegen dem Rechtstaatsprinzip allein zu einer Vertiefung von Grundrechtsverstößen führen würde 76 und das Strafverfahrensrecht in solchen extrem gelagerten Fällen keine Möglichkeit zur Verfahrensbeendigung zur Verfügung stellt.77 Aus dem „ultima ratio“-Gedanken folgt auch, dass ein solches Verfahrenshindernis nur bei irreparablen Rechtsverletzungen eingreifen kann.78 Vorrangig sind die Einsatzmöglichkeiten einfachrechtlicher Institute zu prüfen. 79 Das bedeutet, dass die Herleitung eines Verfahrenshindernisses von Verfassungs wegen scheitert, wenn das Strafverfahrensrecht wirksame Mechanismen bereithält, die einen Rechtsverstoß kompensieren. Zu berücksichtigen ist, dass der Strafprozessordnung zahlreiche nicht explizit normierte Beweisverwertungsverbote zu entnehmen sind. 80 Positivierte Beweisverwertungsverbote sind dagegen die Ausnahme. 81 Die „ultima ratio“ eines Verfahrenshindernisses von Verfassungs wegen käme demnach nur in Betracht, wenn der Anerkennung eines Beweisverwertungsverbots bei unzulässiger staatlicher Tatprovokation zwingende Hindernisse entgegenstünden. Ein umfassendes Beweisverwertungsverbot wird 74 b) Grenzen der Herleitung von Verfahrenshindernissen von Verfassungs wegen Zur Beantwortung der Frage, ob sich die prozessuale Lösung eines Verfahrenshindernisses (von Verfassungs wegen) schonend in das bestehende deutsche System einpasst, ist also ein weiterer, bislang kaum berücksichtigter Aspekt einzubeziehen: Er betrifft systemimmanente Grenzen der Herleitung von Verfahrenshindernissen von Verfassungs wegen. GrundSache, verlangt vielmehr umgekehrt, dass die Sache gehört, mithin eine Verhandlung über die der Anklage zugrunde liegende Straftat abgeführt wird. Da aber ein Verfolgungshindernis just dies verhindern würde, erscheint es als Ausgleich für eine in der Bestimmung eines Straftäters durch verdeckte Ermittler gelegene, dem Staat zurechenbare Unfairness nicht sachgerecht.“ 70 Vgl. Roxin/Schünemann (Fn. 61), § 21 Rn. 9 ff. 71 Vgl. Senge, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Aufl. 2013, Vorb. zu §§ 48 ff. Rn. 80. Zuzugeben ist allerdings, dass sich ein Verfahrenshindernis von Verfassungs wegen bereits seiner Natur nach von den einfachrechtlichen Verfahrenshindernissen unterscheidet, sodass die Forderung nach formaler Gleichheit aller Verfahrenshindernisse ohne Rücksicht auf ihre Herkunft nicht überzeugen kann; Hillenkamp, NJW 1989, 2846; vgl. auch Waßmer, ZStW 115 (2006), 187. 72 Vgl. oben bei Fn. 49. 73 So ausdrücklich auch EB RV, 1058 BlgNR, XXV. GP, S. 7: „Es kann davon ausgegangen werden, dass ein solches Verfolgungshindernis Verstößen gegen § 5 Abs. 3 StPO vorbeugt, weil der Anreiz [Überführung des Verleiteten] weitgehend entfallen würde.“ Vgl. oben bei Fn. 42. Z.B. bei überlanger Verfahrensdauer; vgl. BVerfG, Beschl. v. 29.9.2000 – 2 BvL 6/00 = NStZ 2001, 261; BVerfG, Beschl. v. 5.2.2003 – 2 BvR 327/02 u.a. = NJW 2003, 2228; BGH, Urt. v. 25.10.2000 – 2 StR 232/00 = NJW 2001, 1146. 76 BVerfG, Beschl. v. 24.11.1983 – 2 BvR 121/83 = NStZ 1984, 128: „[…] in [bestimmten] Fällen [kann] eine so erhebliche Verletzung des Rechtsstaatsgebots im Strafverfahren festzustellen sein, daß […] eine Fortsetzung des Verfahrens rechtsstaatlich nicht mehr hinnehmbar ist“; BGH, Urt. v. 25.10.2000 – 2 StR 232/00 = NJW 2001, 1146 (1148); vgl. auch Hillenkamp, NJW 1989, 2841 (2846). 77 BVerfG, Beschl. v. 24.11.1983 – 2 BvR 121/83 = NStZ 1984, 128; Hillenkamp, NJW 1989, 2841 (2847), spricht von einer „Subsidiarität gegenüber in ihren sachlichen Voraussetzungen gegebenen und verfassungsrechtlich ausreichenden einfachrechtlichen Reaktionsformen geringeren Wirkungsgrades“. 78 Hillenkamp, NJW 1989, 2841 (2847); Scheffler, JZ 1992, 137; Waßmer, ZStW 115 (2006), 188. 79 Beispielsweise kann auf eine Ausspähung der Verteidigung mit einer Befangenheitsablehnung gegen die Richter und der Auswechslung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft reagiert werden; durch eine großzügige Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ könnte Beweismanipulationen wirksam begegnet werden; die Anwendung von unzulässigen Vernehmungsmethoden zieht ein Beweisverwertungsverbot (§ 136a Abs. 3 StPO) nach sich; vgl. LG Berlin, Urt. v. 28.1.1991 – (518) 2 P KLs 8/75 (35/89) = StV 1991, 371 (391 ff.); vgl. auch Scheffler, JZ 1992, 137. 80 Vgl. Beulke (Fn. 67), Rn. 457; vgl. auch Roxin/ Schünemann (Fn. 61), § 24 Rn. 22. 81 Vgl. z.B. § 136a Abs. 3 StPO. 75 _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 62 Kompensation der unzulässigen staatlichen Tatprovokation _____________________________________________________________________________________ jedoch erstens den Vorgaben des EGMR gerecht. Zweitens greifen die hiergegen eingewandten Bedenken (wie dargestellt)82 im Ergebnis nicht durch. Es spricht damit vieles dafür, dass die Rückgriffsmöglichkeit auf ein Verfahrenshindernis von Verfassungs wegen aus rechtssystematischer Sicht versperrt ist.83 Jedenfalls de lege lata dürfte für Deutschland von den vorgeschlagenen prozessualen Kompensationsmethoden nur der Lösungsweg über ein Beweisverwertungsverbot gangbar sein. 2. Systemkompatibilität des materiellen Lösungswegs: Anerkennung eines Strafausschließungsgrunds Alternativ erscheint auf Ebene des materiellen Rechts die Annahme eines Strafausschließungsgrunds bei unzulässiger staatlicher Tatprovokation denkbar, die in Deutschland – im Gegensatz zu Österreich84 – allerdings kaum noch diskutiert wird.85 Der 2. Strafsenat des BGH verwirft sie mit der knappen Bemerkung, dass die Annahme eines gesetzlich nicht geregelten Strafausschließungsgrunds keine anerkannte dogmatische Kategorie darstelle.86 Allerdings dürfte sich eine solche Konstruktion im Grundsatz nicht weiter vom Gesetzestext entfernen als die Annahme eines nicht positivierten Verfahrenshindernisses bzw. eines ungeschriebenen Beweisverwertungsverbots. Der „nullum crimen“-Grundsatz zwingt nur dazu, die Voraussetzungen der Strafbarkeit gesetzlich niederzulegen; er lässt ungeschriebene Ausschlussgründe zu, die einer Strafbarkeit entgegenstehen. Eine abschließende Regelung im Strafgesetz, unter welchen Voraussetzungen ein Täter straffrei bleibt, erscheint demnach nicht unbedingt notwendig.87 Auch in Bezug auf materielle Strafausschließungsgründe sind die rechtstheoretischen Grundlagen noch weitgehend 82 Vgl. oben unter III. 1. a). Vgl. auch Scheffler, JZ 1992, 137 (138), der allerdings ausdrücklich ein Beweisverwertungsverbot mit Fernwirkung fordert, dass auch die Verwertung von Zufallsfunden ausschließen würde: „Sofern man ein Beweisverwertungsverbot mit Fernwirkung beim unzulässigen Lockspitzeleinsatz anerkennt, wäre […] kaum noch Raum für die Annahme eines Prozeßhindernisses.“ 84 Vgl. Cernusca, Stellungnahme 45/SN-171/ME, S. 2 f.; El-Ghazi/Zerbes, HRRS 2014, 215; vgl. auch Wiederin, in: Fuchs/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zur Strafprozessordnung, 205. Lfg., Stand: 2014, § 5 Rn. 134 m.w.N. 85 Zuletzt v. Danwitz, Staatliche Straftatbeteiligung, 2005, S. 222 ff.; I. Roxin, Die Rechtsfolgen schwerwiegender Rechtsstaatsverstöße, 4. Aufl. 2004, S. 223. 86 Vgl. oben bei Fn. 42. 87 Dementsprechend sind ungeschriebene Rechtfertigungs(z.B. die rechtfertigende Pflichtenkollision) und Entschuldigungsgründe (z.B. der übergesetzliche entschuldigende Notstand) anerkannt; vgl. Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, Vorb. zu §§ 32 ff. Rn. 2 und 31. Im materiellen Strafrecht wird zudem eine verfassungskonforme teleologische Reduktion akzeptiert; vgl. BVerfG, Urt. v. 30.3.2004 – 2 BvR 1520/01 und 2 BvR 1521/01 = NJW 2004, 1305. 83 ungeklärt. Die positivierten Strafausschließungsgründe tragen teilweise besonderen Konfliktlagen Rechnung (so bei §§ 139 Abs. 3, 173 Abs. 3, 258 Abs. 5, 6 StGB; sog. entschuldigungsnahe Strafausschließungsgründe).88 In diesem Sinne wird zur Begründung eines materiellen Strafausschließungsgrunds bei unzulässiger Tatprovokation in der Literatur vereinzelt auf das Fehlen eines realen Entscheidungsfreiraums verwiesen:89 Da staatlicher Verführer und der Verlockte als Privatperson in ihrem Status abweichen, sei letzterer „nicht Subjekt einer strafbaren Handlung, sondern Figur in einem wegen der Initiierung des staatlichen Provokateurs künstlichen Kontakt“.90 Tatsächlich dürfte eine strukturelle Unterlegenheit des Provozierten zum einen aus der Zugehörigkeit des Provokateurs zur staatlichen Sphäre wie auch aus dessen überlegenem Wissen folgen. Diese Instrumentalisierung bedeutet allerdings noch keine Unfreiheit; es besteht lediglich ein faktisches Machtgefälle, jedoch kein Autonomieverlust auf Seiten des Provozierten,91 da der bestehende staatliche Auftrag gerade verheimlicht wird: Der Provokateur tritt wie ein gleichrangiger „Partner“ auf, sodass sich der Provozierte nicht „durch die Autorität“ des Provokateurs zur Tatbegehung „veranlaßt sehen kann“.92 Eine besondere Konfliktlage dürfte demnach nicht vorliegen. Neben die entschuldigungsnahen Strafausschließungsgründe treten solche, die aus einem außerstrafrechtlichen Aspekt heraus straffrei stellen; hierzu zählt beispielsweise die in Art. 46 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verankerte Indemnität.93 Auf dieser Linie liegen Begründungsansätze, die auf das Fehlen der für eine Verurteilung erforderlichen Distanz beim an der Straftatbegehung beteiligten Staat abheben:94 Eine unzulässige staatliche Tatprovokation bewirke a priori einen Verstoß gegen den Grundsatz auf ein faires Verfahren.95 Da im Anschluss keine Möglichkeit mehr bestehe, das Verfahren fair zu gestalten, seien gerade nicht prozessuale, sondern materiell-rechtliche Aspekte betroffen; es fehle be- 88 Paeffgen in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 4. Aufl. 2013, Vorb. zu §§ 32 ff. Rn. 299; vgl. auch Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2015, Kap. 21 Rn. 11 ff. 89 v. Danwitz (Fn. 85), S. 225. 90 v. Danwitz (Fn. 85), S. 223. 91 So auch Sinn/Maly, NStZ 2015, 382. Vgl. auch Dann, Staatliche Tatprovokation, 2006, S. 285: „Tatprovokation macht die Zielperson nicht unfrei, sich für oder gegen das Recht zu entscheiden.“ 92 Vgl. BGH, Beschl. v. 13.5.1996 – GSSt 1/96 = NJW 1996, 2941. 93 Zur Wahrung der Unabhängigkeit des Parlaments und seiner Abgeordneten ist es grundsätzlich unmöglich, Abgeordnete wegen ihres parlamentarischen Verhaltens mit einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zu überziehen (§ 36 StGB); vgl. Frister (Fn. 88), Kap. 21 Rn. 2. 94 So ausdrücklich El-Ghazi/Zerbes, HRRS 2014, 215. 95 EGMR, Urt. v. 9.6.1998 – 25829/94 (Teixeira de Castro v. Portugal), Rn. 39: „[…] right from the outset, the applicant was definitively deprived of a fair trial“. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 63 Carolin Schmidt _____________________________________________________________________________________ reits an einem Bestrafungsrecht des Staates. 96 Dem kann zunächst entgegengehalten werden, dass der EGMR selbst auf die Möglichkeit prozessualer Kompensationsmethoden (z.B. „exclusion of evidence“) hinweist. Seine Rechtsprechung zwingt nicht zu einer Lösung auf Ebene des materiellen Rechts; sie schließt eine solche allerdings auch nicht aus. Gegen die Anerkennung eines materiellen Strafausschließungsgrunds wird zudem angeführt, dass der staatliche Strafanspruch nicht durch Nachlässigkeiten einzelner dem Staat zurechenbarer Akteure verwirkbar sei. Insgesamt fuße die Argumentation auf dem durch die zivilistische Begrifflichkeit geprägten Missverständnis, beim Strafanspruch handele es sich überhaupt um ein disponibles Recht. 97 Ob diese eher auf formaler Ebene angesiedelten Einwände letztlich restlos überzeugen können, erscheint fraglich, zumal der Verwirkungsgedanke als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben einer Korrektur im Hinblick auf übergeordnete Wertungsgesichtspunkte zugänglich sein dürfte.98 Jedenfalls zeigt die Existenz von materiellen Strafausschließungsgründen, dass in bestimmten Konstellationen – trotz rechtswidriger und schuldhafter Begehung einer Straftat – auf Bestrafung verzichtet werden kann. Im Ergebnis kann mit systematischen Erwägungen die Lösung eines materiellen Strafausschließungsgrunds bei unzulässiger Tatprovokation also wohl nicht zwingend abgelehnt werden. 3. Hinreichende Berücksichtigung des aus der EMRK abzuleitenden Verfolgungszwangs Gegen die Anerkennung eines materiellen Strafausschließungsgrunds (und im Übrigen auch eines Verfahrenshindernisses, unabhängig davon, ob es einfachgesetzlich geregelt oder unmittelbar aus der Verfassung hergeleitet würde) spricht aber Folgendes: Angesichts des aus der EMRK abzuleitenden Verfolgungszwangs99 ist im Fall provozierter Gewalttaten eine gewisse Flexibilität der Reaktionsform erforderlich. Dem genügt die starre Rechtsfolge eines Strafausschließungsgrunds oder eines Verfahrenshindernisses nicht:100 Bei Vorliegen einer unzulässigen staatlichen Tatprovokation müsste ein materieller Strafausschließungsgrund ungeachtet des Umstands eingreifen, dass die in Aussicht genommene Straftat gegen hochrangige Individualrechtsgüter gerichtet ist, da sich Strafausschließungsgründe durch einen 96 Fuchs, ÖJZ 2001, 497. Auch I. Roxin (Fn. 85), S. 223, ist der Ansicht, dass in den Fällen unzulässiger Tatprovokation ein staatlicher Strafanspruch niemals entstanden sei. 97 Vgl. BGH, Urt. v. 23.5.1984 – 1 StR 148/84 = NJW 1984, 2300 (2301); Foth, NJW 1984, 221. 98 Beispielsweise ist anerkannt, dass die bereicherungsrechtliche Saldotheorie „aus übergeordneten Gesichtspunkten der Billigkeit“ nicht zulasten eines Minderjährigen Anwendung finden darf. Insoweit scheitert die Berufung auf Treu und Glauben am „Vorrang des Schutzes von Minderjährigen“, vgl. OLG München BeckRS 2007, 00778; vgl. auch AG Jena, NJW-RR 2001, 1469 (betr. Schwarzfahrt eines Minderjährigen). 99 Vgl. oben unter I. 2. 100 So auch Kinzig, StV 1999, 292. „apodiktischen“ Gehalt auszeichnen. 101 Auch ein Verfahrenshindernis beendet den Prozess „ohne Wenn und Aber“. Die Notwendigkeit einer Abwägung unterschiedlicher Gesichtspunkte ist den Verfahrenshindernissen wesensfremd. 102 Insoweit verfängt auch das Argument des 2. Strafsenats des BGH nicht, dass die Abwägungsfeindlichkeit von Verfahrenshindernissen mangels Spielraums zurückstehen müsse. 103 Denn im Hinblick auf Gewaltdelikte belässt die EMRK nicht nur Raum für eine Abwägung zwischen dem Gewicht des Verstoßes und der Schwere des Delikts; zumindest bei schweren Gefährdungen oder sogar Beeinträchtigungen des Rechts auf Leben, der körperlichen Unversehrtheit und der sexuellen Selbstbestimmung zwingt die EMRK sogar zu einer angemessenen Strafverfolgung. Dagegen kann die Verfolgungspflicht, wie sie der Konvention in Bezug auf Straftaten gegen die hochrangigen Individualrechtsgüter der Art. 2, 3 und 8 EMRK immanent ist, mit Annahme eines Beweisverwertungsverbots im Rahmen der Abwägungslehre104 konsequent nachvollzogen werden. Insoweit ist gerade auch die Schwere des Tatvorwurfs zu berücksichtigen. Bei schwerwiegenden Delikten besteht ein Vorrang der Strafverfolgungsinteressen gegenüber den durch die Beweisführung beeinträchtigten Interessen des Beschuldigten. In einer solchen Konstellation muss ein Beweisverwertungsverbot im Hinblick auf Beweismittel für die unzulässigerweise provozierte Straftat abgelehnt werden, um den völkerrechtlichen Verpflichtungen zu genügen. IV. Fazit Mithilfe des flexiblen Instruments eines Beweisverwertungsverbots kann die Rechtsprechung des EGMR konsistent und schonend in das nationale System integriert werden. Dies gilt umso mehr, wenn entsprechend den Empfehlungen des Berichts der Expertenkommission105 das Verbot rechtsstaatswidriger Tatprovokation in Deutschland erstmals gesetzlich verankert werden sollte.106 Denn im Fall einer rechtswidrigen Beweiserhebung wird grundsätzlich in erster Linie ein (unselbständiges) Beweisverwertungsverbot angedacht.107 Dementsprechend erscheint auch der Ansatz des österreichischen 101 Paeffgen (Fn. 88), Vorb. zu §§ 32 ff. Rn. 299b. A.A. wohl Fuchs, ÖJZ 2001, 497, der im Fall der Provokation von Straftaten gegen „zentrale Rechtsgüter des Einzelnen“ keinen materiellen Strafausschließungsgrund anerkennen will, freilich ohne die Grundlagen eines solchen „Strafausschließungsgrund[s] eigener Art“ näher zu erläutern. 102 Volk/Engländer, Grundkurs StPO, 8. Aufl. 2013, § 14 Rn. 25; Volk, StV 1986, 36. 103 Vgl. oben bei Fn. 47. 104 Vgl. zur Abwägungslösung BVerfG, Beschl. v. 14.9.1989 – 2 BvR 1062/87 = NJW 1990, 563 (564); Roxin/ Schünemann (Fn. 61), § 24 Rn. 30; vgl. für Österreich Roeder, ÖJZ 1974, 345; Schmoller, in: Fuchs/Ratz (Fn. 84), § 3 Rn. 58. 105 Fn. 5. 106 Zu ersten Vorschlägen siehe Tyszkiewicz (Fn. 58), S. 210 und Schmidt (Fn. 30), Teil 3, D. 107 Vgl. Roxin/Schünemann (Fn. 61), § 24 Rn. 21. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 64 Kompensation der unzulässigen staatlichen Tatprovokation _____________________________________________________________________________________ Ministerialentwurfs gegenüber demjenigen der Regierungsvorlage als vorzugswürdig – allerdings mit der Maßgabe, dass (da die Rechtsprechung des EGMR im Grundsatz ein umfassendes Beweisverwertungsverbot verlangt) als „sonstige gewichtige Beweisergebnisse“, die einen Schuldspruch auch bei unzulässiger Tatprovokation ermöglichen, nur solche in Betracht kommen, die eine gegen hochrangige Individualrechtsgüter gerichtete Straftat betreffen (bzw. Zufallsfunde für andere Straftaten darstellen). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 65 Das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ im Spannungsfeld zwischen Europäisierung und nationalen Sicherheitsinteressen Plädoyer für einen vermittelnden Standpunkt Von Dr. Erik Duesberg, Münster I. Einleitung Im September 2014 wurde Zoran Spasic durch das AG Regensburg wegen Betrugs und versuchten Betrugs zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt, nachdem das Tribunale ordinario di Milano bereits zwei Jahre zuvor wegen derselben Tat eine bis heute nicht vollstreckte einjährige Freiheitsstrafe ausgesprochen hatte. Im August 2009 verurteilte das LG München1 den damals 90jährigen Josef Scheungraber wegen im zweiten Weltkrieg verübter rachsüchtiger Tötungen unschuldiger Zivilisten zu lebenslanger Freiheitsstrafe, obwohl wegen derselben Tat bereits ein – wiederum nie vollstrecktes – Urteil eines Militärgerichts im italienischen La Spezia ergangen war. Kurze Zeit später sah sich auch das LG Aachen2 trotz einer vorangegangenen rechtskräftigen aber nie vollstreckten ausländischen Verurteilung durch den Sondergerichtshof zu Amsterdam nicht daran gehindert, den Naziverbrecher Heinrich Boere wegen niederträchtiger Vergeltungsmorde zu lebenslanger Freiheitsstrafe zu verurteilen. Doppelverurteilungen wie diese wirken in einem auf gegenseitigem Vertrauen in die nationalen Strafrechtspflegesysteme samt wechselseitiger Anerkennung nationaler justizieller Entscheidungen aufbauenden europäischen Freiheitsraum äußerst deplatziert. Die Entscheidungen der deutschen Gerichte mögen insofern als von antiquiertem Souveränitätsstreben geleitete nationale Alleingänge zu Lasten bereits verurteilter Straftäter erscheinen. Unter Sicherheitsgesichtspunkten mag man die Gerichtsentscheidungen hingegen – zumindest ihrer grundlegenden Zielsetzung nach – begrüßen. Denn die nochmaligen Verurteilungen Spasics, Scheungrabers und Boeres wurzelten in dem Bestreben, verurteilte Straftäter im Interesse einer funktionsfähigen, abschreckenden und von den Normadressaten akzeptierten Strafrechtspflege einer Strafvollstreckung zuzuführen, die im Ersturteilsstaat unterblieben war.3 Dieser Konflikt zwischen Freiheits- und Sicherheitsbedürfnissen bildet den Anlass, die Zulässigkeit europäischer LG München I, Urt. v. 11.8.2009 – 1 Ks 115 Js 10394/07. LG Aachen, Urt. v. 23.3.2010 – 52 Ks 45 Js 18/83 – 10/09 = StraFo 2010, 190. 3 Im Fall Spasic hielt das AG Regensburg eine nochmalige Verurteilung mit anschließender Strafvollstreckung für erforderlich, weil sich die italienische Justiz aufgrund eines haftbedingten Aufenthalts Spasics in Österreich nicht weiter um eine Vollstreckung der zuvor verhängten Strafe bemüht hatte. Mit den Verurteilungen Boeres und Scheungrabers wollten die deutschen Landgerichte einen Vollstreckungstitel schaffen, um vor ausländischer Strafvollstreckung geflohene Naziverbrecher endlich einer gerechten Bestrafung zuführen zu können. 1 2 Doppelbestrafungen, wie sie in den Rechtssachen Spasic, Scheungraber und Boere ergingen, zu untersuchen. II. Normative Ausgangslage In der deutschen Rechtsordnung findet sich ein Doppelbestrafungsverbot in Art. 103 Abs. 3 GG. Die Norm bindet – ebenso wie nationale ne bis in idem-Vorschriften anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union – allein die nationale Strafjustiz.4 Für ausländische Strafverfolgungsbehörden und Gerichte vermag sie insofern keine Bindungswirkung zu entfalten, als das völkerrechtlich anerkannte Prinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten verbietet, einem anderen Staat eigenmächtig die Durchsetzung seines souveränitätsgetragenen Strafanspruchs zu untersagen.5 Völkerrechtlich zulässig wäre hingegen eine Selbstbeschränkung der nationalen Jurisdiktion, indem ausländische Aburteilungen im Inland als Verfolgungshindernis anerkannt werden. In Deutschland entschied man sich gegen ein solches Erledigungsprinzip. Seither normierte zunächst § 7 RStGB, dass bereits im Ausland verurteilte Straftäter grundsätzlich nochmals im Inland abgeurteilt werden dürfen. Heute wird dieses Ergebnis aus einem Gegenschluss zu § 51 Abs. 3 StGB hergeleitet. Im Falle einer Verurteilung ist die ausländische Strafe allerdings grundsätzlich auf die in Deutschland verhängte Sanktion anzurechnen.6 Der Verfassungsgeber legte diese gesetzgeberische Entscheidung bei Erlass des offen formulierten Art. 103 Abs. 3 GG zugrunde.7 Art. 25 GG, der allgemeinen Regeln des Völkerrechts Vorrang vor den einfachen Gesetzen zuschreibt,8 steht dieser Regelung schon insofern nicht entgegen, als ein zwischenstaatliches Erledigungsprinzip man4 BVerfGE 12, 62 (66); 75, 1 (18); BVerfG NJW 2012, 1202 (1203); Ambos, Internationales Strafrecht, 4. Aufl. 2014, § 4 Rn. 5; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 7. Aufl. 2015, § 10 Rn. 65; Weißer, in: Schulze/Zuleeg/ Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 3. Aufl. 2015, § 42 Rn. 125; dies., ZJS 2014, 589. 5 Vgl. nur Weißer, ZJS 2014, 589. 6 Siehe auch § 153c Abs. 2 StPO sowie § 450a StPO. Das Anrechnungsprinzip trägt dem Übermaßverbot Rechnung, vgl. BVerfGE 29, 312 (316); 71, 1 (16); Eckstein, ZStW 124 (2012), 490 (497). 7 Vgl. Parlamentarischer Rat, Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, 1948/1949, Drs. 850 und 854, S. 49; siehe auch BVerfG HRRS 2008, Nr. 378, Rn. 18 f.; Merkel/Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (207). 8 Näher zum Anwendungsvorrang allgemeiner Regeln des Völkerrechts gem. Art. 25 GG, BVerfGE 23, 288 (316 f.); 36, 342 (365); Jarass/Pieroth, Kommentar, Grundgesetz, 14. Aufl. 2016, Art. 25 Rn. 14; Stein/v. Buttlar/Kotzur, Völkerrecht, 14. Aufl. 2017, Rn. 202. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 66 Das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ _____________________________________________________________________________________ gels entsprechenden Konsenses der Staatengemeinschaft keine allgemeine Regel des Völkerrechts darstellt.9 Im Gegensatz zur rein innerstaatlichen Ausrichtung der deutschen ne bis in idem-Regelung finden sich auf europäischer Ebene mit Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) gleich zwei zwischenstaatliche Doppelbestrafungsverbote. Art. 54 SDÜ geht auf eine Einigung zwischen Belgien, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Luxemburg aus dem Jahre 1990 zurück. Die Vertragsstaaten vereinbarten einen wechselseitigen Verzicht auf die Ausübung souveränitätsgetragener Strafgewalt zum Zwecke einer Vermeidung freiheitsbeschränkender Doppelbestrafungen.10 In einem Vertragsstaat bereits rechtskräftig abgeurteilte Personen sollten sich grundsätzlich darauf verlassen können, nicht nochmals wegen derselben Sache in einem anderen Vertragsstaat verfolgt und ggf. bestraft zu werden. Zudem sollte einer Ressourcenverschwendung durch mehrfache Verfolgungen ein und derselben Tat vorgebeugt werden. Im Jahre 1999 wurde Art. 54 SDÜ im Zuge des Amsterdamer Vertrages in den Rechtsbesitzstand der Europäischen Union überführt.11 Die Norm galt fortan in den Mitgliedstaaten der Union12 im Rang von EU-Sekundärrecht. Art. 50 GRC normiert seit 2009 ein zwischenstaatliches europäisches Doppelbestrafungsverbot als Justizgrundrecht im Rang von Unionsprimärrecht, vgl. Art. 6 Abs. 1 EUV. 13 Die Norm trägt der fortgeschrittenen Europäisierung vor allem im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen Rechnung. In einem auf Kooperation und gegenseitigem Vertrauen aufbauenden einheitlichen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts i.S.d. Art. 3 Abs. 2 EUV sollten Doppelbestrafungen fortan grundsätzlich ausgeschlossen sein. Sowohl Art. 50 GRC als auch Art. 54 SDÜ normieren – unter Verwendung unterschiedlicher Terminologien – als Voraussetzung eines europäischen Strafklageverbrauchs eine rechtskräftige Aburteilung derselben Tat.14 Darüber hinaus verlangt allein Art. 54 SDÜ, dass im Falle einer vorangegangenen Verurteilung die verhängte Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann. In den Rechtssachen Spasic, Boere und Scheungraber kam es entscheidend darauf an, ob dieses Vollstreckungselement mit Inkrafttreten des ohne eine solche Voraussetzung formulierten Art. 50 GRC im Jahre 2009 entfallen ist oder aber als 9 13 BVerfGE 75, 1 (18); BVerfG NJW 2012, 1202; BGHSt 34, 334 (340); 46, 93 (106); 51, 150 (155 f.). 10 Vgl. EuGH, Urt. v. 11.2.2003 – Rs. C 187/01 und C385/01 (Gözütok und Brügge) = Slg. 2003, I-1345, Rn. 33; Böse, GA 2003, 744 (752 f., 760). 11 Siehe das Protokoll zur Einbeziehung des SchengenBesitzstands in den Rahmen der Europäischen Union v. 2.10.1997, ABl. EG 1997 Nr. C 340, S. 93. 12 Im Vereinigten Königreich und Irland gilt das SDÜ nur eingeschränkt. An Art. 54-58 SDÜ sind beide Staaten allerdings derzeit – zumindest bis zur Vollziehung des votierten EU-Austritts – grundsätzlich gebunden, vgl. hinsichtlich des Vereinigten Königreichs Art. 1 lit. a, lit. i des Beschlusses 2000/365/EG des Rates v. 29.5.2000 zum Antrag des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, einzelne Bestimmungen des Schengen-Besitzstands auf sie anzuwenden, ABl. EG 2000 Nr. L 131, S. 44 i.d.F. des Beschlusses 2014/857/EU des Rates v. 1.12.2014, ABl. EU 2014 Nr. L 345, S. 3; Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses 2004/926/EG des Rates v. 22.12.2004 über das Inkraftsetzen von Teilen des Schengen-Besitzstands durch das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, ABl. EU 2004 Nr. L 395, S. 70; hinsichtlich Irland Art. 1 lit. a, lit i Beschluss 2002/192/EG des Rates v. 28.2.2002 zum Antrag Irlands auf Anwendung einzelner Bestimmungen des SchengenBesitzstands auf Irland, ABl. EG 2002 Nr. L 64, S. 21. Zu Besonderheiten in Dänemark, Bulgarien, Rumänien, Kroatien und Zypern vgl. Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2016, § 4 Rn. 17; Röben, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 57. Lfg., Stand: August 2015, Art. 67 AEUV Rn. 151; Weißer (Fn. 4 – Europarecht), § 42 Fn. 32. Neben den EUStaaten sind auch Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz am SDÜ beteiligt. Art. 50 GRC bindet die Mitgliedstaaten der Union gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC, wenn sie „Unionsrecht durchführen“. Berufen sich nationale Strafverfolgungsbehörden oder Gerichte aufgrund einer vorangegangenen Aburteilung in einem EU-Mitgliedstaat auf das Prinzip ne bis in idem, praktizieren sie das Prinzip gegenseitiger Anerkennung i.S.d. Art. 82 Abs. 1 AEUV, vgl. Satzger (Fn. 4), § 10 Rn. 70; Weißer (Fn. 4 – Europarecht), § 42 Rn. 126, ebenso wie das – im Falle mehrfacher Strafverfolgungen innerhalb der EU beschränkte – Freizügigkeitsrecht i.S.d. Art. 21 AEUV, vgl. Böse, in: Esser/Günther/Jäger/Mylonopoulos/Öztürk (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heiner Kühne zum 70. Geburtstag, 2013, S. 519 (525); ders., GA 2011, 504 (505); Weißer (Fn. 4 – Europarecht), § 42 Rn. 126; siehe auch BGH NJW 2014, 1025 (1027). Eine Durchführung von Unionsrecht i.S.d. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC liegt dann vor. Zur innerstaatlichen sowie supranationalen Dimension des Art. 50 GRC vgl. Eser, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 50 GRC Rn. 5 ff.; Stalberg, Zum Anwendungsbereich des Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2013, S. 41 ff., 213 ff., 295 ff. 14 Vgl. im Einzelnen zum Tatbegriff EuGH, Urt. v. 9.3.2006 – Rs. C-436/04 (van Esbroeck) = Slg. 2006, I-2333, Rn. 42; Urt. v. 28.9.2006 – Rs. C-150/05 (van Straaten) = Slg. 2006, I-9327, Rn. 53; Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-288/05 (Kretzinger) = Slg. 2007, I-6441, Rn. 37; Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-367/05 (Kraaijenbrink) = Slg. 2007, I-6619, Rn. 36; Duesberg, Der Tatbegriff in §§ 3 und 9 Abs. 1 StGB, 2016. Zum Merkmal der „rechtskräftigen Aburteilung“ vgl. EuGH, Urt. v. 11.2.2003 – Rs. C 187/01 und C-385/01 (Gözütok und Brügge) = Slg. 2003, I-1345; Urt. v. 5.6.2014 – Rs. C-398/12 (M.); Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. 2015, § 13 Rn. 23 ff.; Mansdörfer, Das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht, 2004, S. 171 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 67 Erik Duesberg _____________________________________________________________________________________ Voraussetzung europäischen zwischenstaatlichen Strafklageverbrauchs fortgilt. III. Pauschale Fortgeltung des Vollstreckungselements Die Landgerichte Aachen15 und München16 stellten sich in den Rechtssachen Boere und Scheungraber auf den Standpunkt, das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ gelte nach Inkrafttreten des Art. 50 GRC fort. Mangels Vollstreckung der – nach italienischem bzw. niederländischem Recht vollstreckbaren – Urteile des italienischen Militärgerichts bzw. des niederländischen Sondergerichtshofs sahen sie die Voraussetzungen des europäischen Doppelbestrafungsverbots als nicht erfüllt an. Der BGH17 bestätigte die Entscheidungen der Landgerichte, ohne dem EuGH die Frage nach der Fortgeltung des Vollstreckungselements zur Vorabentscheidung vorzulegen. Zu einem Vorabentscheidungsverfahren kam es erst in der Rechtssache Spasic, nachdem das mit einer Haftbeschwerde befasste OLG Nürnberg18 an der Fortgeltung des Vollstreckungselements zweifelte. Der EuGH 19 sprach sich für eine Fortgeltung des Vollstreckungselements aus und bekräftigte damit die allein den Aspekt der Sicherheit hervorhebende Vorgehensweise der nationalen Gerichte, verurteilte Straftäter im Wege der Doppelbestrafung einer Strafvollstreckung zuzuführen. Teile des Schrifttums 20 teilen diese Auffassung. Methodisch wird die Fortgeltung des Vollstreckungselements vor allem mit der Erwägung begründet, Art. 54 SDÜ statuiere eine legitime Beschränkung des Justizgrundrechts aus Art. 50 GRC i.S.d. Art. 52 Abs. 1 GRC. Demnach sind Einschränkungen der Charta-Grundrechte zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt des Grundrechts achten und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen.21 Das in Art. 54 SDÜ vorgesehene VollstreckungseleLG Aachen, Urt. v. 23.3.2010 – 52 Ks 45 Js 18/83 – 10/09 = StraFo 2010, 190. 16 LG München I, Urt. v. 11.8.2009 – 1 Ks 115 Js 10394/07. 17 BGHSt 56, 11 (14 f.) bzw. BGH, Beschl. v. 1.12.2010 – 2 StR 420/10. 18 OLG Nürnberg, Beschl. v. 19.3.2014 – 2 Ws 98/14. 19 EuGH (Große Kammer), Urt. v. 27.5.2014 – Rs. C-129/14 (Spasic), Rn. 74. 20 Ambos (Fn. 4), § 10 Rn. 132; Burchard/Brodowski, StraFo 2010, 179 (183); Eckstein, ZStW 124 (2012), 490 (523); Esser (Fn. 12), § 7 Rn. 44; Hackner, NStZ 2011, 425 (429); Hecker, JuS 2014, 845 (846 f.); Pauckstadt-Maihold, in: Bockemühl/Gierhake/Müller/Walter/Knauer (Hrsg.), Festschrift für Bernd von Heintschel-Heinegg zum 70. Geburtstag, 2015, S. 359 (362); Radtke, in: Böse (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 9: Europäisches Strafrecht, 2013, § 12 Rn. 58; Rosbaud, StV 2013, 289 (294); Satzger (Fn. 4), § 10 Rn. 70; ders., in: Heinrich/Jäger/Achenbach/Amelung/Bottke/ Haffke/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, 2011, S. 1515 (1523 ff.). 21 EuGH (Große Kammer), Urt. v. 27.5.2014 – Rs. C-129/14 (Spasic), Rn. 58; BGHSt 56, 11 (14 f.); Ambos (Fn. 4), § 10 Rn. 119; Eckstein, ZStW 124 (2012), 490 (523); ders., JR 15 ment verfolge mit der Erwägung, Straftäter einer im Ersturteilsstaat unterbliebenen Strafvollstreckung zuführen zu können, eine verhältnismäßige Zielsetzung.22 Der Wesensgehalt des europäischen Doppelbestrafungsverbots aus Art. 50 GRC werde gewahrt, weil zwischenstaatliche Doppelaburteilungen derselben Tat nach wie vor im Grundsatz verboten blieben.23 IV. Pauschaler Wegfall des Vollstreckungselements Vor allem im neueren Schrifttum24 wird demgegenüber die Meinung vertreten, das Erfordernis eines Vollstreckungselements sei mit Inkrafttreten des Art. 50 GRC entfallen. In den Rechtssachen Boere, Scheungraber und Spasic wäre demnach aufgrund der rechtskräftigen Urteile in den Niederlanden bzw. in Italien europäischer transnationaler Strafklageverbrauch eingetreten. Boere, Scheungraber und Spasic hätten somit in Deutschland infolge eines Verfahrenshindernisses weder nochmals verfolgt, noch ein zweites Mal verurteilt werden dürfen. Den Freiheitsinteressen der Täter an einmaliger Strafverfolgung wird damit pauschal der Vorrang vor etwaig bestehenden Strafvollstreckungsinteressen eingeräumt. Methodisch stützt sich diese Ansicht auf das Rangverhältnis zwischen Art. 50 GRC und Art. 54 SDÜ. Der primärrechtliche Art. 50 GRC verdränge den sekundärrechtlichen Art. 54 SDÜ nach dem Grundsatz lex superior derogat legi inferiori.25 Wenn demgegenüber teilweise zusätzlich mit dem Grundsatz lex posterior derogat legi priori argumentiert wird,26 vermag das insofern nicht gänzlich zu überzeugen, als sich die zeitliche Geltung – d.h. das Außerkrafttreten – von Unionsrecht nach Art. 9 des Protokolls Nr. 36 über die Übergangsbestimmungen zum Vertrag von Lissabon27 richtet. Demnach sind „Übereinkommen, die auf Grundlage des 2015, 421 (428); Hackner, NStZ 2011, 425 (429); Hecker, JuS 2014, 845 (847); ders., JuS 2012, 261 (262); Radtke (Fn. 20), § 12 Rn. 58; Rosbaud, StV 2013, 289 (294); Satzger (Fn. 4), § 10 Rn. 70; ders. (Fn. 20 – FS Roxin), S. 1523 ff. 22 EuGH (Große Kammer), Urt. v. 27.5.2014 – Rs. C-129/14 (Spasic), Rn. 64, 65, 73, 74; BGHSt 56, 11 (15); Ambos (Fn. 4), § 10 Rn. 132; Hecker, JuS 2012, 261 (262); Eckstein, JR 2015, 421 (428); Rosbaud, StV 2013, 289 (294). 23 EuGH (Große Kammer), Urt. v. 27.5.2014 – Rs. C-129/14 (Spasic), Rn. 58; BGHSt 56, 11 (15); Ambos (Fn. 4), § 10 Rn. 132; Hackner, NStZ 2011, 425 (429); Hecker, JuS 2012, 261 (262); Rosbaud, StV 2013, 289 (294). 24 Anagnostopoulos, in: Neumann/Herzog (Hrsg.), Festschrift für Winfried Hassemer, 2010, S. 1121 (1135); Böse, GA 2011, 504 (508 ff.); Eser, in: Sieber/Satzger/v. HeintschelHeinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2014, § 36 Rn. 78; Heger, ZIS 2009, 406 (408); Merkel/Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (208 ff.); Meyer, HRRS 2014, 269 (271 ff.); Stalberg (Fn. 13), S. 174 ff., 179; Swoboda, JICJ 2011, 243 (262 f., 265); Weißer (Fn. 4 – Europarecht), § 42 Rn. 132 f.; dies., ZJS 2014, 589 (592 f.) 25 Eser (Fn. 24), § 36 Rn. 78; Stalberg (Fn. 13), S. 174 ff., 179. 26 So z.B. Merkel/Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (208). 27 ABl. EU 2008 Nr. C 115, S. 322. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 68 Das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ _____________________________________________________________________________________ Vertrags über die Europäische Union zwischen Mitgliedstaaten“ vor Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages geschlossen wurden, solange gültig, „bis sie in Anwendung der Verträge aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert werden“. Eine solche Aufhebung, Nichtigerklärung oder Änderung ist bis heute – zumindest sofern man nicht das Inkrafttreten einer höherrangigen Regelung als Aufhebung der niederrangigeren einstuft28 – nicht erfolgt. V. Vermittelnder Standpunkt Die methodischen Begründungen beider Standpunkte erscheinen zwar auf den ersten Blick plausibel. Gerechte ne bis in idem-Entscheidungen vermag allerdings keiner der Ansätze zu erzeugen. Eine pauschale Fortgeltung des Vollstreckungselements führte zu dem unbefriedigenden Ergebnis, dass beispielsweise selbst Kleinkriminelle oder haftunfähige Täter nach langwierigen freiheitsbeschränkenden Strafverfahren im Ersturteilsstaat eine erneute Verfolgung und Bestrafung über sich ergehen lassen müssten. Nicht weniger unbefriedigend wäre es, wenn selbst gefährliche Schwerstverbrecher infolge eines pauschalen Wegfalls des Vollstreckungselements im Einzelfall einer Strafvollstreckung entgehen könnten. Es bedarf demzufolge einer flexibleren Lösung. Die folgende Auslegung zeigt, dass die Art. 50 GRC, 54 SDÜ hierfür offen sind. 1. Erläuterungen zu Art. 50 GRC In entstehungsgeschichtlicher Hinsicht sind zunächst die Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtekonvents zu Art. 50 GRC von Interesse. Gem. Art. 52 Abs. 7 der GRC sind diese „als Anleitung für die Auslegung der Charta […] gebührend zu berücksichtigen“. Welches Gewicht den Erläuterungen zukommt, lässt sich dieser in sämtlichen Sprachfassungen allgemein gehaltenen Formulierung nicht eindeutig entnehmen. Klar ist zumindest, dass die Erläuterungen keinen rechtsverbindlichen Charakter aufweisen. Denn „gebührend zu berücksichtigen“ heißt jedenfalls nicht „verbindlich anzuwenden“.29 Gleichwohl zeigt die Erwähnung der Erläuterungen sowohl in Art. 52 Abs. 7 GRC als auch in der Präambel der GRC, dass dem Grundrechtekonvent eine Berücksichtigung der – zum Zwecke einer besseren Verständlichkeit der Chartainhalte verfassten30 – Erläuterungen wichtig war. Darüber hinaus sah sich auch der Unionsgesetzgeber dazu veranlasst, den Charakter der Erläuterungen als Auslegungshilfe nochmals an einer zentralen Stelle des EU-Vertrages in Art. 6 28 Vgl. hierzu Walther, ZJS 2013, 16 (18). Ähnlich Burchard/Brodowski, StraFo 2010, 179 (183); Eckstein, ZStW 124 (2012), 490 (522); Scheuing, EuR 2005, 162 (185). In den Erläuterungen heißt es außerdem ausdrücklich: „Diese Erläuterungen haben als solche keinen rechtlichen Status, stellen jedoch eine nützliche Interpretationshilfe dar, die dazu dient, die Bestimmungen der Charta zu verdeutlichen.”, ABl. EU 2007 Nr. C 303, S. 17. 30 Vgl. ABl. EU 2007 Nr. C 303, S. 17. 29 Abs. 1 UAbs. 3 EUV hervorzuheben und sie den Normadressaten im Amtsblatt31 zugänglich zu machen. In den Erläuterungen zu Art. 50 GRC heißt es: „Nach Artikel 50 findet die Regel „ne bis in idem“ […] auch zwischen den Gerichtsbarkeiten mehrerer Mitgliedstaaten Anwendung. Dies entspricht dem Rechtsbesitzstand der Union; siehe die Artikel 54 bis 58 des Schengener Durchführungsübereinkommens […]. Die klar eingegrenzten Ausnahmen, in denen die Mitgliedstaaten nach diesen Übereinkommen von der Regel „ne bis in idem“ abweichen können, sind von der horizontalen Klausel des Artikels 52 Absatz 1 über die Einschränkungen abgedeckt.“32 Nach Meinung des BGH33 und des EuGH34 nimmt der Passus „Die klar eingegrenzten Ausnahmen, in denen die Mitgliedstaaten nach diesen Übereinkommen von der Regel ne bis in idem abweichen können“ das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ in Bezug. Die Gerichte lesen die Erläuterungen wie folgt: „Das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ ist von der horizontalen Klausel des Artikels 52 Absatz 1 über die Einschränkungen abgedeckt“. In der Rechtssache Scheungraber bezeichnete der BGH diese Interpretation der Erläuterungen als „offenkundig und unzweifelhaft“.35 Hinter dieser Formulierung verbirgt sich das Bestreben des Senats, unter Berufung auf die acteclair-Doktrin des EuGH36 einem Vorabentscheidungsverfahren zu entgehen, das eine Beendigung des Hauptverfahrens aufgrund des hohen Alters und kritischen Gesundheitszustands des damals 90-jährigen Scheungrabers gefährdet hätte.37 Angesichts der großen Bedeutung eines Verfahrensabschlusses für eine verspätete justizielle Aufarbeitung und zumindest partielle Abgeltung der niederträchtigen nationalsozialistisch motivierten Taten Scheungrabers38 insbesondere im Interesse des überlebenden Opfers Gino M. und der Angehörigen der 14 getöteten Opfer, ist das Vorgehen des Senats moralisch und rechtspolitisch nachvollziehbar. 31 ABl. EU 2007 Nr. C 303, S. 17 ff. ABl. EU 2007 Nr. C 303, S. 31. 33 BGHSt 56, 11 (15). 34 EuGH (Große Kammer), Urt. v. 27.5.2014 – Rs. C-129/14 (Spasic), Rn. 54 f. 35 BGHSt 56, 11 (15). Eine gegen diese Vorgehensweise gerichtete Verfassungsbeschwerde wegen einer Entziehung des gesetzlichen Richters i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nahm das BVerfG nicht zur Entscheidung an, BVerfG NJW 2012, 1202, zur Kritik an dieser Entscheidung siehe V. 4. 36 EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 (C.I.L.F.I.T.) = Slg. 1982, 3415, Rn. 16; Urt. v. 6.12.2005 – Rs. C-461/03 (Gaston Schul) = Slg. 2005, I-10513, Rn. 16. 37 Vgl. Merkel/Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (212 f.); Swoboda, JICJ 2011, 243 (268). 38 Scheungraber gab im Jahre 1944 als Kommandant eines Gebirgsbataillons seinen Soldaten den Befehl, zum Zwecke der Vergeltung eines vorangegangen Partisanenangriffs willkürlich aufgegriffene Zivilisten in ein Bauernhaus einzusperren und das Haus anschließend zu sprengen. Nur der damals fünfzehnjährige Junge Gino M. überlebte den Angriff schwer verletzt. 32 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 69 Erik Duesberg _____________________________________________________________________________________ In der Sache lag ein acte clair allerdings nicht vor. Die Fehlbeurteilung des BGH scheint in einer methodisch ungenauen Interpretation der Chartaerläuterungen zu wurzeln. Die Ungenauigkeit liegt darin, dass der Senat – in Übereinstimmung mit dem Großteil des deutschen Schrifttums39 – wohl allein die deutsche Sprachfassung der Erläuterungen heranzieht. Eine solche Vorgehensweise missachtet den Charakter des Art. 50 GRC und seiner Erläuterungen als Ergebnis einer Einigung zwischen europäischen Staaten. Um den Inhalt dieser Einigung zu ermitteln, bedarf es – mangels vorrangig zu berücksichtigender Sprachfassungen – einer Berücksichtigung sämtlicher Sprachfassungen. 40 Nimmt man verschiedene Sprachfassungen in den Blick, ergibt sich dann auch ein ganz anderes Bild als bei alleiniger Betrachtung der deutschen Fassung. So heißt es beispielsweise in der englischen Fassung der Erläuterungen anstelle von „Die klar eingegrenzten Ausnahmen“ „The very limited exceptions“. In der französischen Fassung ist von „Les exceptions très limitées“ die Rede. Und die italienische Fassung spricht von „Lecessioni molto limitate“. All diese Formulierungen lassen sich mit „sehr enge Ausnahmen“ oder „sehr begrenzte Ausnahmen“ übersetzen. Das Vollstreckungselement ist damit jedenfalls nicht gemeint. Denn dieses statuiert eine weitläufige Voraussetzung des in Art. 54 SDÜ normierten Doppelbestrafungsverbots: Das Vollstreckungselement ist weitläufig statt eng oder sehr begrenzt, weil es den Eintritt europäischen Strafklageverbrauchs regelmäßig bis zum Vollstreckungsbeginn hinauszögert. Es statuierte eine Voraussetzung statt eine Ausnahme, weil es in Art. 54 SDÜ nicht etwa „es sei denn“ oder „außer“ heißt, sondern „vorausgesetzt, dass“. 41 Das letztgenannte Argument mag auf den ersten Blick insofern als wenig bedeutsam erscheinen, als es in Art. 54 SDÜ statt „vorausgesetzt, dass die Strafe vollstreckt wird [usw.]“ etwa ebenso gut hätte heißen können „es sei denn, die Strafe wurde noch nicht vollstreckt [usw.]“. Ein solcher Einwand verkennt allerdings den Bezugspunkt der Argumentation: Vorliegend geht es um den Inhalt der Erläuterungen zu Art. 50 GRC. Wenn hier von bestimmten in Art. 54-58 SDÜ normierten Ausnahmen die Rede ist, wird die Art. 54-58 SDÜ zugrunde liegende Systematik und Terminologie in Bezug genommen. Und der in den Erläuterungen enthaltene Passus „Ausnahmen, in denen die Mitgliedstaaten […] von der Regel ,ne bis in idem‘ abweichen können“, hat in Art. 54-58 SDÜ einen klaren Bezugspunkt: Gemeint ist nicht das Vollstreckungselement, sondern die in Art. 55 SDÜ angesprochenen Dispensierungsvorbehal- 39 Vgl. nur Burchard/Brodowski, StraFo 2010, 179 (183); Merkel/Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (208 f.); Rosbaud, StV 2013, 289 (292); vorbildlich hingegen Böse, GA 2011, 504 (506), und Walther, ZJS 2013, 16 (21). 40 Zur Wortlautauslegung europarechtlicher Rechtsakte vgl. EuGH, Urt. v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 (The Institute of the Motor Industry) = Slg. 1998, I-7053, Rn. 16; Luttermann, EuZW 1999, 401 (403 f.). 41 Ähnlich Böse, GA 2011, 504 (506); Merkel/Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (209). te.42 Hier sind ausdrücklich und mehrfach als „Ausnahmen“ bezeichnete Fallgruppen normiert, in denen Vertragsstaaten von dem in Art. 54 SDÜ normierten ne bis in idemGrundsatz im Wege einer Vorbehaltserklärung „abweichen können“.43 Im Ergebnis enthalten die Erläuterungen also keine konkreten Aussagen zur Fortgeltung des Vollstreckungselements aus Art. 54 SDÜ. Sie bringen vielmehr zum Ausdruck, dass die Ausnahmeregelung des Art. 55 SDÜ fortgelten sollte. Jedenfalls eine in Teilen des Schrifttums44 als Argument für einen gänzlichen Wegfall des Vollstreckungselements angeführte gänzliche Verdrängung der SDÜ-Regelungen nach dem Grundsatz „lex superior derogat legi inferiori“ widerspräche daher dem Willen des Grundrechtekonvents. 2. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Der europäischen Einigung auf Art. 50 GRC lag das Bestreben der Mitgliedstaaten zugrunde, die Entwicklung der Union zu einem „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ i.S.d. Art. 3 Abs. 2 EUV voranzutreiben. Ein Raum der Freiheit und des Rechts – verstanden als Rechtssicherheit – erfordert, dass sich Unionsbürger rechtssicher darauf verlassen können, nach einer rechtskräftigen Aburteilung nicht nochmals wegen derselben Sache innerhalb der EU verfolgt und abgeurteilt zu werden. Rechtskräftig abgeurteilte Unionsbürger könnten sich so frei in den Mitgliedstaaten der Union aufhalten, ohne erneute Strafverfolgungen befürchten zu müssen. Der Gesichtspunkt des Freiheits- und Rechtsraumes spricht daher für eine einschränkungslose Geltung des zwischenstaatlichen Doppelbestrafungsverbots – ohne jegliches Vollstreckungserfordernis.45 Ein Raum der Sicherheit setzt demgegenüber voraus, dass verhängte Sanktionen vollstreckt werden können und dass sich Straftäter einer Bestrafung nicht entziehen können. Das kann aber ohne ein Vollstreckungselement als Voraussetzung des europäischen transnationalen Strafklageverbrauchs nur schwer realisiert werden, wenn sich verurteilte Straftäter nach einer rechtskräftigen Verurteilung in einem anderen EUMitgliedstaat als dem Urteilsstaat aufhalten. Einer erneuten 42 So bereits zutreffend Böse, GA 2011, 504 (506); Merkel/Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (209); dahin tendierend auch Walther, ZJS 2013, 16 (21). 43 So können sich die Vertragsstaaten beispielsweise nach Art. 55 Abs. 1 lit. a SDÜ für durch Art. 54 SDÜ ungebunden erklären, „wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurde; im letzteren Fall gilt diese Ausnahme jedoch nicht, wenn diese Tat teilweise im Hoheitsgebiet der Vertragspartei begangen wurde, in dem das Urteil ergangen ist“. Zur deutschen Vorbehaltserklärung siehe BGBl. II 1994, S. 631; kritisch hierzu Schomburg, in: Schomburg/Lagodny/ Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. 2012, Art. 55 SDÜ Rn. 3. 44 Eser (Fn. 24), § 36 Rn. 78; Stalberg (Fn. 13), S. 174 ff., 179. 45 So auch Böse, GA 2011, 504 (508 ff.); Merkel/Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (210); Weißer, ZJS 2014, 589 (593). _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 70 Das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ _____________________________________________________________________________________ Strafverfolgung und Bestrafung samt Strafvollstreckung in diesem Staat könnten sie in diesem Fall ein einschränkungslos geltendes europäisches ne bis in idem entgegenhalten. Dass verurteilte Straftäter durch einen Rückzug in einen anderen EU-Mitgliedstaat einer Strafvollstreckung entgehen, lässt sich allerdings durch die derzeit zur Verfügung stehenden Instrumente strafrechtlicher Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten weitgehend verhindern. So kann der Urteilsstaat etwa durch die Ausstellung eines – in der europäischen Strafverfolgungspraxis bedeutsamen – Europäischen Haftbefehls46 vom Aufenthaltsstaat eine Überstellung des Verurteilten verlangen, um dann die eigens verhängte Strafe im Inland vollstrecken zu können.47 Nach derzeitiger Rechtslage greifen die bestehenden Instrumentarien allerdings nicht einschränkungslos. Im Fall Boere scheiterte eine Auslieferung etwa daran, dass das niederländische Urteil in Abwesenheit des Angeklagten und ohne Hinzuziehung eines Pflichtverteidigers erging. In solchen Fällen verbietet § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG eine Auslieferung des Täters zur Strafvollstreckung mit der Erwägung, der Vollstreckungstitel sei unter Verletzung rechtsstaatlicher Mindeststandards in Gestalt des Rechts auf rechtliches Gehör und des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ergangen. Der Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl i.V.m. einem Rahmenbeschluss zur gegenseitigen Anerkennung von Abwesenheitsurteilen48 sieht derartige Ausnahmetatbestände ausdrücklich vor. Eine Überstellung Scheungrabers an Italien kam – neben dem Umstand, dass auch hier ein von § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG erfasstes Abwesenheitsurteil erging – schon deshalb nicht in Betracht, weil Italien gar kein Auslieferungsersuchen gestellt hatte. Und auch in der Rechtssache Spasic scheiterte eine Auslieferung an der fehlenden Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls seitens der italienischen Behörden. 46 Rahmenbeschluss 2002/548/JI v. 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren durch die Mitgliedstaaten, ABl. EG 2002 Nr. L 190, S. 1 i.d.F. des Änderungsrahmenbeschlusses 2009/299/JI v. 26.2.2009 zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist, ABl. EU 2009 Nr. L 81, S. 24. Zur praktisch weniger relevanten Vollstreckungsübernahme vgl. Böse, GA 2011, 504 (508 ff.). 47 Vgl. Anagnostopoulos (Fn. 24), S. 1137; Böse, GA 2011, 504 (508); Merkel/Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (211); Weißer, ZJS 2014, 589 (592 f.). 48 Rahmenbeschluss 2009/299/JI v. 26.2.2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist, ABl. EU 2009 Nr. L 81, S. 24, vgl. hierzu Hauck, JR 2009, 141; Hecker (Fn. 14), § 12 Rn. 54; Klitsch, ZIS 2009, 11; Weißer (Fn. 4 – Europarecht), § 42 Rn. 90. Sähe man in solchen Fällen unter Berufung auf einen gänzlichen Wegfall des Vollstreckungselements als Voraussetzung transnationalen europäischen Strafklageverbrauchs pauschal von einer erneuten Verurteilung samt Strafvollstreckung ab, könnten verurteilte Straftäter einer Strafvollstreckung entgehen, indem sie sich nach Rechtskrafteintritt in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten. In Fällen nicht gestellter Auslieferungsersuchen profitierten sie von der Untätigkeit der Behörden des Urteilsstaats. Ein solcher Rechtszustand verhinderte nicht nur eine gerechte, abschreckende Abgeltung des verwirklichten Unrechts und einen flächendeckenden Schutz der Gesellschaft vor verurteilten Straftätern. Auch das Vertrauen der Bevölkerung in eine durchsetzungsstarke Strafrechtsordnung würde erheblich geschwächt, wenn sich verurteilte Schwerstverbrecher durch Flucht in einen anderen Mitgliedstaat oder infolge Nachlässigkeit nationaler Behörden einer Inhaftierung entziehen könnten. Die Sicherheit und der Rechtsfrieden innerhalb Europas würden dadurch erheblich gefährdet. Ließe man in den in Rede stehenden Ausnahmefällen andererseits Doppelbestrafungen pauschal zu, müssten sich etwa auch solche bereits verurteilten Straftäter einem nochmaligen Strafverfahren unterziehen, die wegen leichteren Delikten eine längere freiheitsbeschränkende Strafverfolgung im Urteilsstaat hinter sich gebracht haben. Im Falle von Abwesenheitsurteilen ohne Pflichtverteidigerbestellung fiele es dem Verurteilten zur Last, dass ihm im Urteilsstaat rechtsstaatliche Mindeststandards verwehrt geblieben sind.49 Stellt der Urteilsstaat kein Auslieferungsersuchen, würde dem Verurteilten die Nachlässigkeit der nationalen Behörden des Urteilsstaates zum Verhängnis.50 Zumindest in Fällen, in denen der Täter die Strafvollstreckung nicht durch Flucht, sondern beispielsweise – wie im Fall Spasic – aufgrund haftbedingter Abwesenheit verhindert, hinge die Doppelbestrafung damit von Umständen ab, die man dem Täter nicht zum Vorwurf machen kann. Mit dem individualschützenden Charakter des Justizgrundrechts aus Art. 50 GRC lassen sich derartige Ungerechtigkeiten schwerlich vereinbaren. Gefragt ist vor diesem Hintergrund ein Mittelweg, der die im jeweiligen Einzelfall tangierten Freiheits- und Sicherheitsbedürfnisse in bestmöglichen Ausgleich bringt. Dieser Zielvorgabe werden einzelfallspezifische ne bis in idemEntscheidungen der nationalen Justizbehörden gerecht, die sämtliche Freiheits- und Sicherheitsaspekte des Einzelfalles angemessen gewichten und gegeneinander abwägen. Die Dogmatik der GRC ist für ein solches Vorgehen offen: Es korrespondiert mit einer Fortgeltung des Art. 54 SDÜ als Schranke des Justizgrundrechts aus Art. 50 GRC i.S.d. Art. 52 Abs. 1 GRC, die dem in Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRC normierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur in solchen Ausnahmefällen genügt, in denen das Sicherheitsinteresse an einer Strafvollstreckung das Beschuldigteninteresse an einmaliger Strafverfolgung überwiegt. Nur dann handelt es sich 49 Vgl. auch Böse, GA 2011, 504 (510); Merkel/Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (211). 50 Vgl. Meyer, HRRS 2014, 269 (276 f.); Weißer, ZJS 2014, 589 (593). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 71 Erik Duesberg _____________________________________________________________________________________ um eine angemessene Einschränkung des individualschützenden Justizgrundrechts aus Art. 50 GRC. 3. Rechtsunsicherheit und Rechtsschutzdefizite Einzelfallspezifischen Entscheidungen haftet prinzipiell der Vorwurf von Einzelfallwillkür und fehlender Vorhersehbarkeit für den Normadressaten an. Sowohl inner- als auch zwischenstaatlich könnten justizielle Abwägungen der tangierten Freiheits- und Sicherheitsaspekte – abhängig von moralischen, kulturellen und politischen Überzeugungen der zur Entscheidung berufenen Personen – unterschiedlich ausfallen. Man mag daher gegen einzelfallspezifische ne bis in idem-Entscheidungen einwenden, sie führten zu einer der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union ebenso wie rechtsstaatlichen Erfordernissen zu wider laufenden Rechtsunsicherheit für die Unionsbürger, die sich nicht sicher sein könnten, nach einer rechtskräftigen Aburteilung möglicherweise nochmals verfolgt und verurteilt zu werden. Einzelfallspezifische Entscheidungen, einen Täter erneut zu verfolgen und ggf. zu verurteilen, bedürfen vor diesem Hintergrund einer besonderen Rechtfertigung. Sie kommen nur in Fällen in Betracht, in denen gravierende Gemeinwohlbelange die tangierten Freiheitsinteressen überwiegen. Das ist regelmäßig der Fall, wenn Straftäter ohne eine erneute Verfolgung und Bestrafung der Vollstreckung einer wegen eines schweren Verbrechens verhängten Strafe entgehen würden. Das Freiheitsinteresse des Schwerverbrechers, rechtssicher auf die Einmaligkeit seiner Verfolgung und Bestrafung vertrauen zu können, ist in solchen Fällen regelmäßig angesichts der Schwere des verwirklichten Unrechts und gravierender Interessen an der Wahrung von Sicherheit und Rechtsfrieden in Europa abgemildert. Dies gilt umso mehr, wenn sich der Täter absichtlich im Wege vorwerfbarer Flucht einer Strafvollstreckung im Ersturteilsstaat entzogen hat. Auf Basis der derzeitigen Rechtslage wäre der EuGH gefragt, dem Rechtsanwender im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren entsprechend restriktive Vorgaben für die einzelfallspezifische Abwägungsentscheidung zwischen Freiheits- und Sicherheitsinteressen an die Hand zu geben. Durch klare Kriterien, Fallgruppen und/oder Indizien müssten justizielle Entscheidungen vorhersehbarer gemacht und das Risiko willkürlicher Rechtsanwendung reduziert werden. Auf Basis der obigen Überlegungen sollte eine Entscheidung für eine erneute Verfolgung und Sanktionierung regelmäßig auf Fälle besonders schwerwiegender Taten beschränkt sein. Die besondere Schwere der Tat sollte anhand einer bestimmten Höhe der im Ersturteilsstaat verhängten Sanktion quantifiziert werden. Eine vorwerfbare fluchtbedingte Vollstreckungsentziehung könnte als Indiz für ein überwiegendes Sicherheitsbedürfnis fungieren. Fehlt es an einer besonderen Schwere der Tat, sollte das justizielle Ermessen im Lichte des individualschützenden Justizgrundrechts aus Art. 50 GRC dahingehend reduziert sein, dass Doppelverfolgungen und -bestrafungen unterbleiben. Eine erneute Verfolgung und Bestrafung ausschließende überwiegende Freiheitsinteressen des Täters sollten außerdem – selbst im Falle schwerer Straftaten – beispielsweise immer dann bejaht werden, wenn eine Strafvollstreckung z.B. infolge dauernder Haftunfähigkeit des Täters ohnehin unterbleiben müsste. Der mit einer Doppelbestrafung verfolgte Zweck, den Straftäter einer Strafvollstreckung zuzuführen, könnte in solchen Fällen nämlich ohnehin nicht erreicht werden. Nimmt man die derzeit bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten gegen nationale Doppelbestrafungen mit in den Blick, mag man bezweifeln, ob derartigen EuGH-Vorgaben eine effektive Präjudizwirkung zukäme: Nach derzeitigem Rechtsstand können Verletzungen des Justizgrundrechts aus Art. 50 GRC nicht mittels einer Individualbeschwerde gerügt werden. Vielmehr muss das Grundrecht im nationalen Verfahren geltend gemacht werden. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts vor nationalem Recht51 müssen sich nationale Entscheidungen an Art. 50 GRC messen lassen. Der EuGH erlangt unter den Voraussetzungen des Art. 267 AEUV nur dann eine Entscheidungskompetenz, wenn nationale Gerichte bei der Auslegung des Art. 50 GRC Zweifel haben. Auf diese Weise soll einer uneinheitlichen Auslegung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten vorgebeugt werden.52 Sollte die nationale Strafjustiz ein starkes Interesse daran haben, einen bereits verurteilten Straftäter aus Sicherheitsgründen zu sanktionieren, steht allerdings zu befürchten, dass der EuGH trotz einer tatsächlich bestehenden Vorlagepflicht aus Art. 267 AEUV nicht mit der Sache befasst wird. Der Fall Boere demonstriert diese Problematik in anschaulicher Weise: Der BGH schreckte hier nicht davor zurück, sich mit fadenscheinigen Begründungen auf die acte clair-Doktrin des EuGH zu berufen, um den Angeklagten möglichst schnell einer Strafvollstreckung zuführen zu können (siehe hierzu oben unter IV. 1.). Eine gegen diese Entscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerde wegen einer Entziehung des gesetzlichen Richters i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nahm das BVerfG nicht zur Entscheidung an. 53 Das Gericht zog sich auf das Argument zurück, es müsse seinen Prüfungsumfang auf Willkürverstöße beschränken, um nicht zur „Superrevisionsinstanz“ zu werden. Ein solcher lasse sich aber nicht feststellen, da der BGH vertretbar argumentiert habe.54 Der Rechtsweg war damit erschöpft und das tatsächlich nicht vertretbare Vorgehen des BGH wurde bestandskräftig. Solchen Umgehungen der Vorlagepflicht aus Art. 267 AEUV muss nach derzeitigem Rechtsstand durch eine konsequente Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 ff. AEUV) gegen vertragsbrüchige Mitgliedstaaten begegnet werden. Vor allem die Europäische Kommission ist gefragt, auf diese Weise zukünftig intensiver dafür Sorge zu tragen, rechtspolitisch oder moralisch motivierte Alleingänge 51 Siehe hierzu Hecker (Fn. 14), § 9 Rn. 10 ff.; Weißer (Fn. 4 – Europarecht), § 42 Rn. 52 ff. 52 Vgl. EuGH, Urt. v. 6.12.2005 – Rs. C-461/03 (Gaston Schul) = Slg. 2005, I-10513, Rn. 21; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 12), Art. 267 AEUV Rn. 2. 53 BVerfG NJW 2012, 1202. Kritisch hierzu Merkel/ Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (212 f.); Radtke (Fn. 20), § 12 Rn. 58; Swoboda, JICJ 2011, 243 (264 ff.); Walther, ZJS 2013, 16 (22); Weißer (Fn. 4 – Europarecht), § 42 Rn. 132. 54 BVerfG NJW 2012, 1202 (1203 ff.). _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 72 Das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ _____________________________________________________________________________________ nationaler Strafjustizorgane zu Lasten der Unionsbürger zu verhindern. 4. Anwendung auf die Fälle Spasic, Boere und Scheungraber Legt man die oben entwickelten Maßstäbe für einzelfallspezifische ne bis in idem-Entscheidungen der Rechtssache Spasic zugrunde, stellte sich die erneute Verfolgung und Verurteilung aufgrund überwiegender Freiheitsinteressen als unzulässig dar. Denn zum einen wurde der Angeklagte in Italien infolge eines Geständnisses zu einer vergleichsweise geringen einjährigen Freiheitsstrafe samt Geldstrafe i.H.v. 800 Euro verurteilt. Zum anderen entging Spasic der italienischen Strafvollstreckung nicht etwa durch Flucht, sondern weil er sich wegen einer anderen Tat in österreichischer Haft befand. Auch Scheungraber hätte nicht noch einmal verurteilt werden dürfen. Zwar bestand wegen der außerordentlichen Schwere seiner Taten ein generalpräventives Bedürfnis, der Bevölkerung nach langen Verfahrensverzögerungen und Rechtsprechungsänderungen endlich zu demonstrieren, dass die deutsche Strafjustiz schwerste nationalsozialistisch motivierte Taten nicht unbestraft lässt. Vor allem dem überlebenden Opfer Gino M. und den Angehörigen der 14 verstorbenen Opfer demonstrierte die Verurteilung lang ersehnte Gerechtigkeit. Ein nochmaliger Strafprozess stellte für den Angeklagten jedoch insofern eine außerordentliche Härte dar, als er sich aufgrund seines kritischen Gesundheitszustands und hohen Alters bereits am Rande der Verhandlungsunfähigkeit befand. Die Verfahrensbeteiligten gingen bereits bei Verfahrensbeginn zutreffend davon aus, dass Scheungraber ohnehin infolge Haftunfähigkeit einer Strafvollstreckung entgehen würde. Heinrich Boere hingegen wurde letztlich sowohl als verhandlungs-55 als auch als haftfähig56 eingestuft. Ihm wird man zwar zumindest nicht zum Vorwurf machen können, dass er sich in der Nachkriegszeit durch einen Sprung aus einem Gefangenentransporter der Vollstreckung einer zunächst57 verhängten Todesstrafe in den Niederlanden entzog. Und auch die Tatsache, dass Boere über ein halbes Jahrhundert nach dem niederländischen Urteil bei Prozessbeginn bereits ein hohes Alter erreicht hatte, mag man zu seinen Gunsten werten. Die kaum zu überbietende außerordentliche Schwere der Tat des bis Verfahrensende ohne Schuldbewusstsein auftretenden Angeklagten begründete allerdings Das OLG Köln stellte mit Beschluss vom 1.7.2009 – 2 Ws 69/09 = BeckRS 2009, 19898 fest, dass Boere trotz einer Herzerkrankung verhandlungsfähig sei. Eine hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde Boeres wegen einer Verletzung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nahm das BVerfG nicht zur Entscheidung an, vgl. BVerfG EuGRZ 2009, 645. 56 Nach seiner Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe trat Heinrich Boere am 15.11.2011 seine Haftstrafe an. Er verbrachte den Rest seines Lebens in der Justizvollzugsanstalt Fröndenberg, wo er im Alter von 92 Jahren eines natürlichen Todes starb. 57 Fünf Jahre nach der Verurteilung wandelte sich die Todesstrafe nach niederländischem Recht in eine lebenslange Freiheitsstrafe. 55 ein überwiegendes Bedürfnis, den Täter unter dem Gesichtspunkt positiver Generalprävention insbesondere im Interesse der Opferseite einer Strafvollstreckung zuzuführen. 5. Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten Konflikte zwischen Freiheits- und Sicherheitsinteressen können auch außerhalb der bislang diskutierten Fälle auftreten, in denen eine verfahrensgegenständliche Tat die Rechtsordnungen mindestens zweier EU-Mitgliedstaaten betrifft. Man stelle sich etwa den folgenden fiktiven Beispielsfall vor: Der deutsche Staatsbürger A wird wegen eines in Deutschland und Polen verwirklichten schwerwiegenden Drogendelikts in Polen zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Um der Strafvollstreckung zu entgehen, flieht er in die USA. Die amerikanischen Behörden verweigern eine Auslieferung des A an Polen, sind aber bereit, A unter der Bedingung an Deutschland auszuliefern, dass dieser für seine Tat nach deutschem Recht in Deutschland zur Verantwortung gezogen wird. Ohne ein Vollstreckungselement als Voraussetzung europäischen Strafklageverbrauchs würde A einer Strafvollstreckung entgehen: Die USA könnten ihn mangels tauglichen Anknüpfungspunktes der US-amerikanischen Strafgewalt nicht verurteilen. Polen könnte die verhängte Strafe mangels Erreichbarkeit des A nicht vollstrecken. Und Deutschland wäre wegen des rechtskräftigen polnischen Urteils infolge europäischen Strafklageverbrauchs an einer vollstreckbaren Verurteilung gehindert. Die seitens der USA gestellten Auslieferungsbedingungen könnten also nicht erfüllt werden. Auf Basis der hier vorgeschlagenen Einzelfallabwägungslösung könnte A demgegenüber – unter Berufung auf das aktive Personalitätsprinzip gem. § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB – nochmals in Deutschland verurteilt werden und die verhängte Sanktion könnte vollstreckt werden. Die Abwägungsentscheidung fiele hier angesichts der Schwere des Drogendelikts und der fluchtbedingten Vollstreckungsentziehung zugunsten des Sicherheitsinteresses an einer Strafvollstreckung aus. Deutschland könnte die seitens der USA gestellten Auslieferungsbedingungen somit erfüllen, ohne gegen das europäische Doppelbestrafungsverbot zu verstoßen. Man mag sich in solchen Fällen die Frage stellen, wie sich eine entsprechende deutsch-amerikanische Auslieferungsvereinbarung mit den europäischen Regelungen zum Europäischen Haftbefehl und dem Gebot zwischenstaatlicher Loyalität aus Art. 4 Abs. 3 EUV58 innerhalb der Europäischen Union verträgt. Würden nämlich im Beispielsfall polnische Behörden einen Europäischen Haftbefehl zum Zwecke einer Vollstreckung der in Polen verhängten Strafe ausstellen, könnte die Bundesrepublik Deutschland nach einer Ausliefe58 Zur zwischenstaatlichen Geltung des Loyalitätsgebots vgl. EuGH, Urt. v. 22.3.1983 – Rs. C-42/82 (Kommission/Frankreich) = Slg. 1983, 1013, Rn. 36; Urt. v. 11.6.1991 – Rs. C-251/89 (Athanasopoulos u.a.) = Slg. 1991, I-2797, Rn. 57; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 4 EUV Rn. 78 f.; Kahl, in: Callies/Ruffert (Hrsg.), Kommentar, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 4 EUV Rn. 111. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 73 Erik Duesberg _____________________________________________________________________________________ rungsvereinbarung mit den USA ihrer nach dem Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl grundsätzlich bestehenden Auslieferungsverpflichtung nicht mehr nachkommen, ohne gegenüber den USA vertragsbrüchig zu werden. Um solche Konflikte auszuschließen, müssten die deutschen Behörden vor Unterzeichnung einer Auslieferungsvereinbarung mit den USA das Einverständnis der polnischen Behörden einholen. Diese dürften sich der deutsch-amerikanischen Auslieferungsvereinbarung im Interesse der nationalen und europäischen Sicherheit höchstwahrscheinlich nicht in den Weg stellen. Denn anderenfalls würden sie dem Schwerverbrecher A faktisch bei einer Vollstreckungsentziehung behilflich. Polens Souveränitätsinteressen, den A anhand polnischer Verhaltensanforderungen zur Verantwortung zu ziehen, würde zumindest insofern Rechnung getragen, als die deutsche Bestrafung aufgrund des in § 7 StGB verankerten restriktiv zu interpretierenden Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit59 der polnischen ähneln wird. Festzuhalten ist nach alledem, dass Einzelfallabwägungsentscheidungen auch im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten angemessene Ergebnisse herbeiführen. VI. Fazit Weder ein pauschaler Wegfall noch eine pauschale Fortgeltung des Vollstreckungselements aus Art. 54 SDÜ führt zu angemessenen Ergebnissen. Beide Standpunkte haben sich aufgrund einer einseitigen Hervorhebung entweder des Freiheits- oder des Sicherheitsaspekts als zu unflexibel erwiesen. Derzeit bietet sich vielmehr eine vermittelnde Auslegung der Art. 50 GRC, 54 SDÜ an, wonach transnationaler Strafklageverbrauch in einem Raum der Freiheit und der Rechtssicherheit grundsätzlich unabhängig von einer Vollstreckungsbedingung eintritt, es sei denn gewichtige Sicherheitsbedürfnisse überwiegen die Freiheitsinteressen des Täters an einer einmaligen Strafverfolgung und Bestrafung. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hätte in den Rechtssachen Scheungraber, Boere und Spasic allein die doppelte Verurteilung Boeres Bestand. In Zukunft könnte die Erforderlichkeit eines Vollstreckungselements gänzlich entfallen, wenn sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union etwa darauf einigen würden, den Europäischen Haftbefehl vorbehaltlos anzuwenden. In einem Mitgliedstaat verurteilte Straftäter, die in einem anderen Mitgliedstaat ergriffen werden, könnten so ausnahmslos an den Urteilsstaat überstellt werden, der die eigens verhängte Strafe dann vollstrecken könnte. Vor allem in Anbetracht der mit Doppelbestrafungen und -verfolgungen einhergehen59 Vor allem im Verhältnis zu Mitgliedstaaten der Europäischen Union als einem auf grundsätzlichem gegenseitigem Vertrauen in die nationalen Strafrechtsordnungen aufbauenden Rechtsraum ist das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit restriktiv auszulegen, vgl. hierzu Duesberg (Fn. 14), S. 86 ff.; vgl. auch Vogel, in: Hoyer/Müller/Pawlik (Hrsg.), Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag, 2006, S. 877 (893); Weißer, ZJS 2014, 589 (593); siehe auch EuGH, Urt. v. 11.2.2003 – Rs. C-187/01 und 385/01 (Gözütok und Brügge) = Slg. 2003, I-1345, Rn. 33. den gravierenden Freiheitsbeschränkungen wäre eine entsprechende Einigung erstrebenswert. Zu begrüßen wäre darüber hinaus eine grundlegende europäische Einigung auf eine verbindliche Koordinierung nationaler Strafverfolgungszuständigkeiten dahingehend, dass immer nur ein Mitgliedstaat zur Verfolgung und Ahndung einer Tat berufen wäre.60 Europäische transnationale Doppelbestrafungsverbote würden damit obsolet. Unionsbürger hätten ihr Verhalten von vornherein an nur einer Rechtsordnung auszurichten und müssten nur ein freiheitsbeschränkendes Strafverfahren innerhalb der EU befürchten. Wettläufe zwischen nationalen Strafverfolgungsbehörden um die schnellste strafklageverbrauchende Entscheidung wären verfahrensökonomisch ausgeschlossen. Aktuell besteht allerdings wenig Hoffnung, dass solche Einigungen zeitnah zustande kommen werden. Im Gegenteil symbolisieren etwa die Entwicklungen in der Flüchtlingskrise, dass viele Mitgliedstaaten Abschottungsstrategien wie die autonome Schließung europäischer Binnengrenzen gemeinschaftlich loyalen europäischen Problemlösungen vorziehen. Die Vorzeichen stehen insofern mehr denn je auf Rück- statt auf Fortschritt. Das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ dürfte vor diesem Hintergrund in den geschilderten Ausnahmefällen noch lange Bestand haben. Sollten sich nationale Abschottungstendenzen zu Lasten der strafrechtlichen Zusammenarbeit im Bereich des Europäischen Haftbefehls auswirken, dürfte die Bedeutung des Vollstreckungselements sogar noch zunehmen. Solche Entwicklungen wirkten zwangsläufig zum Nachteil der Normadressaten. Letztlich verblieben dann nämlich zwei Szenarien: Entweder müssten verurteilte Straftäter freiheitsbeschränkende Doppelbestrafungen über sich ergehen lassen. Oder Unionsbürger litten unter einer ineffektiven europäischen Strafrechtspflege auf Kosten der europäischen Sicherheit. Beide Szenarien stehen in krassem Widerspruch zum Ziel eines rechtsstaatlichen europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. 60 Wie derartige Regelungen ausgestaltet sein könnten, ist Gegenstand zahlreicher Vorschläge und kontroverser Diskussionen, vgl. statt vieler Böse/Meyer/Schneider (Hrsg.), Conflicts of Jurisdiction in Criminal Matters in the European Union, Vol. II: Rights, Principles and Model Rules, 2014, passim; dies., GA 2014, 572; Zimmermann, Strafgewaltkonflikte in der Europäischen Union, 2015, S. 283 ff. Derzeit besteht nach Art. 10 Abs. 1 des EU-Rahmenbeschlusses 2009/948/JI des Rates vom 30.11.2009 zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren ABl. EU 2009 Nr. L 328, S. 46, lediglich eine Konsultationspflicht zwischen den zur Strafverfolgung berufenen nationalen Strafverfolgungsbehörden, „um zu einem Einvernehmen über eine effiziente Lösung zu gelangen, bei der die nachteiligen Folgen parallel geführter Verfahren vermieden werden“. Können sich die Behörden nicht einigen, kann es bis zum Eintritt zwischenstaatlichen Strafklageverbrauchs weiterhin zu Parallelverfahren kommen. Näher hierzu Eckstein, ZStW 124 (2012), 490 (505 ff.); Eisele, ZStW 125 (2013), 1 (18). _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 74 Kröger, Der Aufbau der Fahrlässigkeitsstraftat Wachter _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Thomas Kröger, Der Aufbau der Fahrlässigkeitsstraftat. Unrecht, Schuld, Strafwürdigkeit und deren Bezüge zur Normentheorie, Duncker & Humblot, Berlin 2016, 526 S., € 109,90. Die Systematik strafrechtlichen Unrechts hat in den letzten einhundert Jahren eine Vielzahl von Veränderungen durchlebt. Beinahe einer jeden philosophischen „Modeerscheinung“ kam dabei, stets mit einer gewissen Verzögerung behaftet, ein gewisser Einfluss auf die Frage nach dem zutreffenden Verbrechensaufbau zu. In aller Regelmäßigkeit führten diese Entwicklungsschübe zu einer Verlagerung von Elementen innerhalb des Straftatsystems. Dem Finalismus etwa verdankt die heute herrschende Lehre die Stellung des Vorsatzes als Merkmal des Tatbestandes, während sich die neukantianisch orientierten Strafrechtler um eine erste, noch recht zaghafte „normative Aufladung“ der Systembegriffe verdient gemacht haben. Bei all diesen Entwicklungen blieb jedoch eine Strukturentscheidung de facto unangetastet: Die Untergliederung der Straftat in die tragenden Deliktskategorien Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld. Lediglich die präzise Umschreibung des materiellen Gehalts dieser Axiome des Verbrechensaufbaus, der für die Frage nach der Einordnung einzelner Straftatkonstituenten bedeutsam ist, unterlag im Laufe der Jahrzehnte vielfachen Wandlungen. In Einklang mit diesem Credo setzt sich Thomas Kröger in seiner von Winrich Langer betreuten Dissertation zum Ziel, die für die Prüfung der Fahrlässigkeitstat relevanten Elemente im Rahmen der überkommenen Deliktskategorien neu zu justieren. Seine Herangehensweise erscheint dabei äußerst vielversprechend: Zur Lösung des Problems verschreibt er sich einer am Telos der Verbrechensfolgen orientierten Ausrichtung der einzelnen Verbrechensmerkmale (S. 45 ff.). Damit reiht sich Kröger in den stetig größer werdenden Chor derer ein, die nach einer strafzweckorientierten Ausgestaltung der Allgemeinen Verbrechenslehre streben. 1 Die Berechtigung dieses Unterfangens stellt er in schlichter Klarheit heraus: „[W]ollte man […] die Zweck- und Werterwägungen, die mit dem Begriff der Strafe verbunden sind, ausblenden, wäre vollkommen offen, wie man die konkret in Rede stehende Rechtsfolge, nämlich den Strafausspruch, erklärbar machen sollte“ (S. 46). Die Arbeit beginnt mit einem recht ausführlich gehaltenen Aufriss der Entwicklung des Verbrechensaufbaus in den letzten 150 Jahren, wobei der Fokus naturgemäß auf der Lozierung der für die Fahrlässigkeitsstraftat relevanten Elemente liegt (S. 48-142). Dem Leser wird dabei die Verlagerung der die Fahrlässigkeit prägenden Sorgfaltspflichtverlet1 Aus neuerer Zeit etwa Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 32; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, S. VII; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 17 ff.; Kubiciel, Die Wissenschaft vom Besonderen Teil des Strafrechts, 2013, S. 138; Wachter, Das Unrecht der versuchten Tat, 2015, S. 3 f. zung von der Schuld hin zum Unrecht vor Augen geführt, die ihrerseits zu einer „Wanderschaft“ subjektiver Merkmale in das grundsätzlich objektiv zu bestimmende Unrecht führte. Bezeichnenderweise endet die Übersicht mit der Darstellung der Fahrlässigkeitsdogmatik Welzels als der auffälligsten Frucht dieser Entwicklung (S. 128-138). Kröger legt dabei den Finger in die durch die Verlagerung der Deliktsmerkmale aufgerissene Wunde: Durch das Bemühen, Reststücke im Bereich der Sorgfaltspflichtverletzung für die Schuld als der ursprünglichen Domäne der Fahrlässigkeit aufrecht zu erhalten, kommt es unweigerlich zu einer Konfundierung von Unrecht und Schuld. Die Sorgfaltspflichtverletzung verkommt zu einem wenig geglückten Komplexbegriff, der Momente des Unrechts wie der Schuld in sich vereinigt (S. 142). In dem weitaus umfangreichsten dritten Kapitel der Schrift (S. 143-389) geht Kröger den gegenwärtigen Lösungsansätzen nach. Zentral für seine Argumentation ist jeweils die Rückführung der Meinungsstränge auf deren normtheoretische Prämissen. Als Grundübel wird von ihm dabei die Annahme der herrschenden Auffassung ausgemacht, nach der das Strafrecht mittels Verhaltensnormen bestimmend auf die Vorstellungen und damit mittelbar auf die Verhaltensweisen der Bürger einwirkt. Diesen dem Rechtsgüterschutz geschuldeten Gedanken verwirft Kröger unter Berufung auf zwei so unterschiedliche Denker wie Kant und Kelsen (S. 339). An seine Stelle tritt ein von Schmidhäuser begründetes Modell, das „einzig den Rechtsstab als Adressaten der Rechtsnormen“ (S. 350) ansieht. Der zweite Haupteinwand gegen die Dogmatik der herrschenden Lehre betrifft die Aufteilung der Straftatelemente innerhalb des Unrechts. Kröger wendet sich gegen die derzeit überwiegend vertretene Ansicht, die mithilfe der Lehre von der objektiven Zurechnung bereits die Tatbestandsebene normativ aufzuwerten versucht. Indem es hiernach schon auf dieser ersten Prüfungsstufe um die Frage nach der Schaffung eines unerlaubten Risikos geht, stellt sich in der Tat die Frage nach den spezifischen Unterschieden in den materiellen Wertungen zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit; denn auch Letzterer geht es um die Ausfilterung erlaubten Verhaltens (S. 222 ff., 316 f.). In seinem Bemühen um eine klare Abschichtung der Prüfungsebenen innerhalb des Unrechts bemängelt Kröger in erster Linie die Ausdünnung der Rechtswidrigkeit: Welche Aufgabe sollte der „mit elementarer, eigenständiger Funktion versehenen Rechtswidrigkeit zugewiesen werden“, wenn die Tatbestandsmäßigkeit den „bereits umfassend geprüften Verstoß gegen die [fahrlässige] Sollensnorm zum Inhalt“ (S. 216 f.) hat? Den dritten grundlegenden Angriff führt Kröger gegen die bei der Fahrlässigkeit evident gewordene Vermischung objektiver und subjektiver Merkmale und Verhaltensmaßstäbe. Dieses durch die oben umschriebene Verlagerung von subjektiven Elementen bedingte Problemfeld hat zu einem bunten Strauß an Lösungsansätzen geführt, deren augenscheinlichster Diskussionspunkt die Frage nach der Berücksichtigung von Sonderwissen und Sonderkenntnissen betrifft. Kröger legt erneut sehr sorgfältig die Insuffizienzen im herkömmlichen Denken offen (S. 359 ff.): So soll die Tatsa- _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 75 Kröger, Der Aufbau der Fahrlässigkeitsstraftat Wachter _____________________________________________________________________________________ chenbasis für die Ermittlung eines Sorgfaltspflichtverstoßes grundsätzlich objektiv sein, wohingegen jedenfalls bestimmte Formen von Tatsachenwissen zu berücksichtigen seien – eine Konsequenz, die zu Ende gedacht spätestens in der Versuchsdogmatik zu unüberwindbaren Brüchen führt. 2 Das Ausmaß der Berücksichtigung von Kenntnissen bleibt regelmäßig nicht nur unklar, sondern wirft elementare Folgeprobleme für die Stellung und Konstituierung eines (potentiellen) Unrechtsbewusstseins auf (S. 377 f.). Schließlich ist, um nur noch eine weitere Inkonsistenz im überkommenen Straftatsystem anzusprechen, nicht einzusehen, inwiefern eine am Rechtsgüterschutzdenken orientierte, auf die Vermeidung gewisser unwerter Verhaltensweisen und Zustände abzielende Lehre unter Umständen Verhaltensnormen aufzustellen vermag, deren Befolgung für den Bürger aufgrund individueller seelischer Defizite von vornherein nicht möglich ist. Nach all diesen Mängeln im überkommenen Verbrechensaufbau hätte es nahe gelegen, ihn einer umfassenden Revision zu unterziehen. Kröger hingegen stellt in seiner eigenen Grundlegung gleich zu Beginn klar, dass er die herkömmlichen Pfade im Grundsatz nicht verlassen will (S. 390). Dies betrifft vorab die Aufteilung des Verbrechens in die Kategorien Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld, die für ihn „aufgrund der klaren gesetzlichen Bestimmungen“ (S. 40 Fn. 146) bindend sind. Im Rahmen des Tatbestandes soll es dabei lediglich um die Feststellung eines isolierten Angriffs auf ein Rechtsgut gehen, während auf der Stufe des Unrechtsausschlusses „sämtliche Forderungen des Rechts […] mittels einer umfassenden Güter- bzw. Interessenabwägung zur Rechtsgutsverletzung in Beziehung gesetzt“ (S. 391) werden. Kröger verortet den aus der modernen Zurechnungsdogmatik her bekannten Terminus der „unerlaubten Risikoschaffung“ auf dieser zweiten Stufe. Damit gelingt es ihm, den Rechtsgutangriff per se rein objektiv, „unabhängig vom individuellen Täterwissen“ (S. 395 und explizit auf S. 398) zu bestimmen. Entscheidend sei lediglich die Bejahung „einer realen Gefahr für ein Rechtsgutsobjekt“ (S. 395). Gleichzeitig erteilt Kröger einer weitergehenden Normativierung des Tatbestandes eine Absage (S. 397). Diese dem Bestreben nach einer klaren Abgrenzung innerhalb des Unrechts geschuldete Positionierung führt indessen dazu, dass die Tatbestandsmäßigkeit in einem ersten Schritt seiner Fähigkeit beraubt wird, einen Sachverhalt zu bewerten. Übrig bliebe die reine Kausalität als alleiniges (objektives) Zurechnungsprinzip. Dies erkennt auch Kröger. Seine Abhilfe wirft indessen zentrale Elemente seiner vorangegangenen Kritik über Bord: Nicht die Sorgfaltspflichtverletzung, sondern der den subjektiven Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts ausfüllende Prüfungspunkt der „potentiellen Tatumstandskenntnis“, die Frage also, ob der Handelnde die zuvor umschriebenen Merkmale des Tatbestandes erkennen konnte, verleihe der Tat ihr entscheidendes Gepräge (S. 400 ff.). Dass es sich hierbei um einen zutiefst normativen Begriff handelt, für dessen Feststellung ein Konglomerat an objektiven (vgl. insbesondere S. 404 f.) und subjektiven Elementen notwendig ist, wird nun ohne Problembewusstsein hinge- nommen. Auch der zweite Grundpfeiler des Krögerschen Verbrechensverständnisses, die strikte Scheidung von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit, erweist sich hierbei als großes Hindernis für die Bestimmung unrechten Verhaltens: Die potentielle Tatumstandskenntnis soll anhand bestimmter Warnsignale, d.h. risikorelevanter Faktoren, die den Handelnden in der je konkreten Situation erreichen, bestimmt werden (S. 404). Beispielhaft: Wer handelt, obwohl er „zureichende Anhaltspunkte zur Verfügung“ hat, „um auf die Lebensgefährlichkeit“ seines Tuns „schließen zu können“ (S. 405), erfüllt die Voraussetzungen der Fahrlässigkeit. Wann aber ein „Signalfaktor“ derart gewichtig ist, dass ein Hinwegsetzen über seinen Impuls schon zu einem Fahrlässigkeitsverdikt führt, ist für Kröger schon deshalb nicht sinnvoll bestimmbar, weil er die Wertungen der objektiven Zurechnungslehre wie auch des Begriffs des Sorgfaltspflichtverstoßes, mit deren Hilfe sich seit Jahrzehnten um eine Trennlinie bemüht wird, aus dem Tatbestand verbannt hat. Übrig bleibt das Anknüpfen an die wertungsarme, kausal zu bestimmende „Vermeidung von Rechtsgutverletzungen“. Der Rechtstreue müsste sich dann aber in letzter Konsequenz von allen potentiell zu Verletzungen führenden Verhaltensweisen abgehalten sehen, mag die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts auch noch so gering sein. Die aus der konsequenten Trennung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit resultierende Wertungsarmut für die Bestimmung eines Rechtsgutangriffs führt daher spätestens hier zu der Unmöglichkeit, eine sinnvolle Grenzlinie für die Annahme fahrlässigen Handelns zu bestimmen. Im Bereich der Schuldbegründung verbleibt Kröger auf der Linie der herrschenden Meinung. Den Schuldvorwurf kennzeichnet für ihn das Urteil der Vorwerfbarkeit als „unrechtliche Einzeltatgesinnung“ (S. 426), wobei Vorsatz und Fahrlässigkeit auch hier klar voneinander zu scheiden sind. Während es bei der Vorsatztat um ein aktuelles Bewusstsein von der Unrechtmäßigkeit der Tat geht, handelt fahrlässig, wer lediglich die „Möglichkeit hat, das Unerlaubte seines unrechtstatbestandsmäßigen Verhaltens zu erkennen“ (S. 430). Bemerkenswert ist an dieser Stelle lediglich die explizite Absage an eine strafzweckorientierte Begründung des Schuldbegriffs, wie sie sich beispielhaft in der Konzeption Jakobs‘ findet. Entgegen seiner einleitenden Stellungnahme, in der Kröger noch die Relevanz der sich aus dem Strafbegriff ergebenden Wertungen gerade für die „Unwertgehalte von Unrecht und Schuld“ (S. 46) erkennt, erteilt er nun „den Auffassungen eine deutliche Absage […], die Aspekte der Prävention in den Schuldbegriff einbeziehen wollen“3 (S. 427). Kröger sieht sich schlussendlich dazu veranlasst, eine weitere Wertungsstufe der „Strafwürdigkeit“ im Anschluss an die Schuld einzuführen (S. 451 ff.). Hier nun wird endlich fündig, wer bisher vergebens nach einer Verbindung zu den Straftheorien suchte. Ohne weitere Diskussion wird die in der Schuld noch verschmähte positive Generalprävention zum zentralen Wertungselement erhoben: Strafe sei als Reaktion 3 2 Zu Letzterem vgl. Wachter (Fn. 1), S. 188 ff. Der Vergeltungsgedanke spielt in der Arbeit durchgehend keine Rolle, vgl. nur S. 454. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 76 Kröger, Der Aufbau der Fahrlässigkeitsstraftat Wachter _____________________________________________________________________________________ nur angemessen, soweit durch sie ein Angriff auf die „Grundlagen des Zusammenlebens in der Rechtsgemeinschaft […] zu ihrer Restabilisierung“ (S. 455) zurückgedrängt werden muss. Als limitierender Aspekt entfalte die Prüfung der Strafwürdigkeit insbesondere in „Geringfügigkeitsfällen“ ihren Sinn, die von der herrschenden Meinung bereits auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit ausgesondert werden. Der eigentliche Grund, weshalb Kröger die Stufe der „Strafwürdigkeit“ im Verbrechensaufbau einführt, tritt hier offen zu Tage: Die „Bereinigung“ des Tatbestandes von normativen Wertungen führt zu einer am Kausaldogma orientierten Weite, die nun wieder eingegrenzt wird. So überrascht es denn auch nicht, wenn schließlich zentrale Prüfungspunkte der objektiven Zurechnungslehre (Eigenverantwortung, rechtmäßiges Alternativverhalten, Überschreiten des erlaubten Risikos, S. 456 ff.) durch die Hintertür eingeführt werden. Welchen Fortschritt es darstellen sollte, erst jenseits des überkommenen Straftataufbaus mit einer normativ aufgeladenen Verbrechenskategorie aufzuwarten, die sich in einer Korrektur des im Vorfeld zu weit gezogenen Unrechtsbegriffs erschöpft, ist nicht erkennbar. Kröger gelingt es leider nicht, seine im Kern zutreffende Kritik an der gegenwärtigen Fahrlässigkeitsdogmatik innerhalb der überkommenen Aufteilung in Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld stringent umzusetzen. Man hätte ihm von Anfang an den Mut gewünscht, sich dieses faulig gewordenen Korsetts zu entledigen. Hier rächt sich auch, dass Kröger allzu leichtfertig über Ansätze4 hinweggeht, die sich um ein alternatives Straftatsystem bemühen. Dessen ungeachtet hat Kröger ein über weite Teile scharfsinniges, von analytischem Geschick und hohem Problembewusstsein geprägtes Werk vorgelegt. Durch seine präzise Herausarbeitung der Ungereimtheiten im überkommenen Verbrechenssystem wird er an dessen Zersetzung vermutlich stärker mitgewirkt haben, als ihm lieb sein mag. Dr. Matthias Wachter, Regensburg 4 Etwa T. Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006 (vgl. zu diesem Werk S. 40 Rn. 146). Die Schrift von Pawlik (Fn. 1), die ebenfalls eine Allgemeine Verbrechenslehre jenseits des überkommenen Systems ausarbeitet, wird von Kröger leider nicht ausgewertet, vgl. S. 324 f. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 77 Tagungsbericht: „The European Convention on Human Rights and the Crimes of the Past” – ESIL European Court of Human Rights Conference am 26.2.2016 am EGMR in Straßburg Von stud. iur. Natascha Kersting, Köln und Paris Am 26.2.2016 fanden sich namhafte Praktiker, wie Richter internationaler Gerichtshöfe, Mitglieder der Völkerrechtskommission und Präsidenten verschiedener Menschenrechtsausschüsse sowie bedeutende Wissenschaftler im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zusammen, um Relationen zwischen der Europäischen Menschenrechtskonvention und Verbrechen der Vergangenheit aus juristischen, philosophischen und historischen Winkeln zu beleuchten. Die vom EGMR in Kooperation mit der European Society of International Law (ESIL) ausgerichtete Konferenz, deren Ziel die Förderung des Dialogs zwischen juristischer Praxis und Wissenschaft auf dem Gebiet des internationalen Rechts ist, schließt sich an die letztjährige Tagung zum Thema der Anwendung allgemeinen Völkerrechts durch internationale Gerichte an und dürfte abermals relevante Impulse in Bezug auf Fragestellungen nicht allein des materiellen, sondern auch des Prozessrechts gesetzt haben. I. Tagungsablauf Der Tagungsablauf gliederte sich in vier Sequenzen. Die thematisch universelleren Auftakt- und Finalsitzungen fanden jeweils im Plenum statt, während die beiden spezifischeren Tagungsabschnitte in parallelen Expertenkreisen abliefen. Es soll im Folgenden ein globales Bild der beiden Plenarsitzungen gegeben werden, wobei die Eindrücke aus dem Expertengremium zum Gesetzlichkeitsprinzip im Kontext internationaler Verbrechen in die anschließenden Gedanken zu Ansatz und Organisation der Tagung sowie zu den von dieser ausgehenden Denkanstößen, miteinfließen sollen. 1. Plenarsitzung I – Gerichte als Historiker und Geschichtsschreiber Nach einer freundlichen Begrüßung und Einleitung durch die Präsidenten des EGMR und der ESIL, Guido Raimondi und André Nollkaemper, die jeweils die herausragende Bedeutung der Tagung und die besondere Pertinenz des facettenreichen Themas unterstrichen, schloss sich sogleich der erste und wohl bemerkenswerteste Themenblock an. Dieser hatte die Rolle der Gerichte als Interpreten der Geschichte, aber auch als Geschichtsschreiber zum Gegenstand und wurde von der Vize-Präsidentin des EGMR, Iʂil Karakaʂ, geleitet. Ein eröffnender Beitrag der Mitinitiatorin und Organisatorin, Iulia Motoc, verdeutlichte die Probleme, vor die Gerichtshöfe im Umgang mit historischen Quellen gestellt sind. Nach der Feststellung, dass Gerichte sich nicht ausreichend mit geschichtlichen Fragestellungen befassen, zeichnete die EGMR-Richterin das Spannungsfeld zwischen subjektiv gefärbten historischen Aussagen und der Bemühung der Gerichte um eine objektive Darstellung der Vergangenheit auf. In diesem Zusammenhang bedauerte sie, dass geschichtliche Abhandlungen nie frei von subjektivem Gedankengut des Autors und somit immer in gewisser Hinsicht tendenziös seien. Entsprechend stelle sich das Problem, in welchem Maße diese dennoch zur Wahrheitsfindung durch Gerichte berücksichtigt werden sollten. Eine Lösung muss sich wohl daran orientieren, ob es andere – objektivere – Möglichkeiten gibt, als den Rückgriff auf historische Expertisen und Zeugenaussagen. Schloss Motoc mit einer offenen Frage, so stellte Michel de Salvia eine nicht minder anregende, inwiefern der EGMR im Hinblick auf bisweilen zweifelhafte historische „Wahrheiten“ ein „Zeuge der Moralität“ sei, gleich an den Beginn seiner Intervention, um das Auditorium im Anschluss an seinen substantiierten Gedanken hierzu teilhaben zu lassen. Ausgangspunkt seiner Darlegungen war die Feststellung, dass das Verstreichen von Zeit die Schwere der begangenen Taten in keinster Weise mindere. Sodann zeigte er die ZielRisiko-Relation des Umgangs mit Vergangenheitsverbrechen internationaler Gerichte auf. Urteile, die in direkter oder indirekter Weise an solch schwere Verbrechen rührten, würden das Ziel verfolgen, die Leiden der Geschichte zu lindern, gleichzeitig aber auch die Gefahr bergen, Salz in die noch nicht ausgeheilten Wunden zu streuen. An dieser Stelle wäre es interessant gewesen zu erfahren, wie de Salvia zu der Frage steht, ob denn das Rücken des Verbrechens von der Gegenwart in eine fortschreitend entferntere Vergangenheit in der Lage sein kann, die kollektiven oder individuellen Wunden zu heilen. Eine pauschale Lösung dieser Problematik erscheint von vornherein ausgeschlossen, doch kann anhand verschiedener Parameter durchaus eine differenzierte Betrachtung gewagt werden. Einen ersten Punkt könnten Generationswechsel und der damit verbundene Grad der direkten Betroffenheit darstellen. Des Weiteren – und hier in besonderem Maße von Interesse – käme das Ausmaß der Versöhnung oder Aussöhnung, des Gefühls der Betroffenen einer Wiederherstellung von oder zumindest einer Annäherung an Gerechtigkeit in Betracht – ein Aspekt, der das erklärte Ziel aller Kriegsverbrecherprozesse, angefangen bei Nürnberg und Tokyo, darstellt. De Salvia konzentrierte sich sogleich auf substantielle juristische Aspekte. Während der erste Teil seiner bereichernden Darstellung auf dem in diesem Zusammenhang elementaren prozessualen Punkt der Kompetenz ratione temporis lag, der allein schon vom Gericht verlange, die ihm vorliegenden Fakten zeitlich zu lokalisieren1 und somit gewissermaßen historische Aussagen treffe, widmete er sich folgend dem materiellen Recht und zwar dem Spannungsfeld zwischen der durch Artikel 10 der Konvention geschützten Freiheit der Meinungsäußerung und dem Leugnen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Seinem Fazit zufolge, das er mit dem treffenden Zitat keines geringeren als Cesare Beccarias bereicherte, „Die Geschichte der So auch EGMR (Große Kammer), Urt. v. 8.3.2006 – 59532/00 (Blečić v. Kroatien). 1 _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 78 Tagungsbericht: „The European Convention on Human Rights and the Crimes of the Past“ _____________________________________________________________________________________ Menschen stellet uns sein grenzenloses Meer vor, welches starke Geschwadere von Irrtümern durchkreuzen; kaum das hin und wieder etliche nur halb bekannte Wahrheiten, in weiten Entfernungen von einander, herum schwimmen.“2, ist es eine große Herausforderung und Schwierigkeit für Gerichte, im Rahmen der Konfrontation mit zeitlich weit zurück liegenden Fakten, oftmals divergenten Zeugenaussagen und historischen Befunden zum Trotz, kohärente Äußerungen zu tätigen. Der von de Salvia bereits berührte materielle Aspekt der Meinungsfreiheit in Bezug auf die Leugnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde in einer anschließenden minutiösen und pointierten Analyse der aktuellen Rechtsprechung des EGMR3 zur Anwendung des Artikels 10 der Konvention hinsichtlich nationaler (strafrechtlicher) Reaktionen auf Hassreden durch Nicolas Hervieu detailliert beleuchtet. Der junge Jurist verwies auf die herausragende Bedeutung der Aussagen des Gerichtshofs im Zusammenhang mit der Geschichte. Wie er nach George Orwell kundtat, habe die Macht über Gegenwart und Zukunft derjenige, der sie auch über die Vergangenheit habe.4 Umso bedauernswerter sei es, dass es dem Gericht angesichts der Reflexe, von Negationismus geprägte Hassreden zu unterdrücken einerseits und der Wahrung der individuellen Freiheit im Rahmen historischer Debatte andererseits, nicht gelungen sei, eine klare Linie zu entwickeln, sondern vielmehr zwischen einem formellen und einem liberalen Demokratieverständnis und entsprechend unterschiedlich weit reichender Bedeutung von Grundrechten zu schwanken, was nicht zuletzt durch den mangelnden Konsens der Richter in diesem Punkt begründet sei. Der folgende Referent Lauri Mälksoo widmete seinen Beitrag dem Umgang des EGMR mit Sowjet-Verbrechen5 und in diesem Zusammenhang weiteren Gebieten des Völkerrechts insbesondere des humanitären Völkerrechts. Hier machte er auf eine doppelte Problematik aufmerksam: Einerseits bekenne sich Russland keiner Kriegsverbrechen schuldig – und dies bestenfalls mit einer Argumentation in Richtung der diskriminierenden Anwendung humanitären Völkerrechts, häufiger aber mit der absoluten Tatbestandsnegierung. Andererseits würden die baltischen Staaten in der Tendenz ihrer nationalen Rechtsprechung zu einer sehr niedrigen Schwelle, sowohl auf Tatbestands- als auch auf Vorsatzebene, für die Qualifikation zur Annahme eines Völkermords neigen, was er mit der provokanten Erklärung untermauerte, jeder Staat wolle derjenige sein, der am meisten gelitten habe. 2 Beccaria, Dei delitti et delle pene, 1764. Ein Schwerpunkt lag dabei auf zwei Urteilen des vergangenen Jahres: EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.10.2015 – 27510/08 (Perinçek v. Schweiz) und EGMR (Große Kammer), Urt. v. 20.10.2015 – 25239/13 (M’Bala M’Bala v. Frankreich), besser bekannt als „Dieudonné“-Entscheidung. 4 In George Orwells Roman „1984“. 5 Hierbei besprach er die Urteile EGMR (Große Kammer), Urt. v.17.5.2010 – 36376 (Kononov v. Lettland) und EGMR (Große Kammer), Urt. v. 20.10.2015 – 35343/05 (Vasilauskas v. Litauen). 3 Diese These wurde dann auch in der anschließenden Diskussion sogleich aufgegriffen und kontestiert. Nach einer Kaffeepause, die weitere Gelegenheiten zu vertieftem Austausch über die zahlreichen frischen Eindrücke bot, schloss sich unter der Leitung von Jean-Paul Costa der zweite Teil des ersten Themenblocks an. Dieser wurde durch Christiane Chanets Gedanken zu „lois mémorielles“, also solchen Gesetzen, die als Reaktion auf erschütternde Verbrechen entstünden, um deren Erinnerung zu wahren, eröffnet. Entsprechende Normen würden zum einen die Gefahr einer zu hohen Präzision bergen und dem Richter gewissermaßen schon die Fakten des Falles aufzuzwingen als auch jene der Impräzision, die vom Richter verlange, die Rolle eines Historikers zu übernehmen. Anlass zu leidenschaftlicher Debatte gab der Vortrag von Marko Milanović. Ihm zufolge ist die Aufgabe internationaler Gerichte die Etablierung von Gerechtigkeit 6 und dies sei durch Wahrheit zu erreichen. Diese „Wahrheit“ müsse aber – und hier der umstrittene Punkt – von der Bevölkerung auch als solche akzeptiert werden. Anhand verschiedener auf Meinungsumfragen basierender Graphen7 zeigte er, dass ein großer Teil der serbischen und bosnischen Bevölkerung eine Vorstellung von der Konfliktvergangenheit habe, die substantiell von den durch das Jugoslawien-Tribunal etablierten Fakten abweiche. Er kritisierte dies im Hinblick darauf, dass das Gericht hier seiner Funktion als Mediator nicht nachgekommen sei, gab aber offen zu, keinen Verbesserungsvorschlag einbringen zu können. Der ehemalige Ad-litemRichter des Jugoslawien-Tribunals, Albin Eser, fühlte sich an dieser Stelle zu einer Verteidigung des Gerichtes berufen und stellte vehement fest, dass es nicht die Aufgabe der Gerichte sei, für Versöhnung zu sorgen. Wenngleich Milanović durch seine emotionale Darstellung der Divergenz zwischen den Feststellungen des Gerichts und der herrschenden Auffassung der Bevölkerung sicher ein existentes Problem aufzeigte, so scheint es für dies keine im Zuständigkeitsbereich des Gerichts liegende Lösung zu geben. Dieses muss – gerade im Falle von Unstimmigkeiten in den Auffassungen unterschiedlicher Volksgruppen – eine objektive Darstellung der Fakten gewährleisten und darf sich keinesfalls dazu verleiten lassen, die Fakten nach politischen Überlegungen zu etablieren. Insofern scheint die Kritik Milanovićs vielmehr eine Stärke des Jugoslawien-Tribunals aufzuzeigen. Für weniger heftige Reaktionen sorgend, aber deshalb nicht weniger interessant war die anschließende Intervention von Erik Møse, der aus seinem am Ruanda-Tribunal gewonnenen Erfahrungsschatz schöpfte und feststellte, dass er im Hinblick auf die Perzeption der Faktendarstellung dieses Gerichtshofs in der hiesigen Bevölkerung kein solches Spannungsfeld sehe. Er konkretisierte zudem die bereits von Iulia Motoc angesprochene Idee des Gerichts als Geschichts6 Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern „Gerechtigkeit“ das einzige oder effektivste Mittel für nachhaltigen Frieden ist siehe Schabas, Kein Frieden ohne Gerechtigkeit?, 2013. 7 Im Internet abrufbar unter: http://www.osce.org/serbia/40751?download=true (5.1.2017). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 79 Natascha Kersting _____________________________________________________________________________________ schreiber, indem er in den Raum stellte, dass Historiker sich auf Gerichtsurteile als Quellen ihrer Schriften berufen würden. Des Weiteren ging er auf die koinzidierende Relevanz von Führungspersonen im internationalen Strafrecht und in der Geschichte ein. Während sich diese in erst genanntem Bereich durch das Ziel, die Hauptverantwortlichen zu verurteilen, erkläre, ließe sich für den letztgenannten historischen Bereich feststellen, dass sich die Geschichte insbesondere um Führungspersonen drehe, da diese naturgemäß großen Einfluss auf Ereignisse und Entwicklungen nähmen. Ein Beitrag Larissa van den Heriks, die sich zu dem Zusammenspiel von Untersuchungskommissionen und Gerichten insbesondere unter Berücksichtigung der niederländischen Rechtsprechung äußerte, schloss den ersten Themenblock. Mit einer entscheidenden Frage, nämlich der, wo die Vergangenheit – die Geschichte – aufhöre und die Gegenwart beginne, wurden die Kongressteilnehmer dann in die Mittagspause entlassen. 2. Plenarsitzung II – Reflexionen über Vergangenheitsverbrechen Nach zwei aufschlussreichen Expertensitzungen zum Gesetzlichkeitsprinzip im Kontext internationaler Verbrechen sowie zu Amnestien, Begnadigungen und Wahrheitskommissionen, fanden sich die beiden durch weitere Vertiefung des jeweiligen Themenkomplexes und ausführlichem Gedankenaustausch in Diskussionen stimulierten Gruppen wieder zusammen, um sich nahtlos dem finalen Veranstaltungsblock zu widmen. Unter dem offenen Titel „Reflections on the Crimes of the Past“ stehend, wurden die einzelnen Beiträge durch die gewandte Moderation der deutschen EGMR-Richterin Angelika Nußberger jeweils so kontextualisiert, im aktuellen Gerichtsgeschehen lokalisiert und thematisch verknüpft, dass selbst bereits ermüdete Geister eine klare Struktur vorfanden. Einen hochinteressanten Auftakt bot die passionierte Darstellung von Anja Seibert-Fohr, die den Bereich der Menschenrechte mit dem des internationalen Strafrechts durch ihre These, dass erstere den Blick auf die Zukunft lenkten, während letzteres eher vergangenheitsorientiert sei, kontrastierte. Eindringlich plädierte sie daher, unter näherer Betrachtung der Verpflichtung zur Verfolgung von Straftaten aus menschenrechtlicher Perspektive, für eine stärkere Gewichtung dieses Rechtsgebiets. Unter dem Titel „Réparer l’irréparable?“ – die Wiedergutmachung des Unwiedergutmachbaren? – verschaffte Photini Pazartzis dem Auditorium sodann einen fundierten Überblick über die Rechtsprechung internationaler Menschenrechtsgerichtshöfe und die Quasirechtsprechung internationaler Menschenrechtsausschüsse in Bezug auf den heiklen Bereich der Reparation. Auf diesen Beitrag folgte das informative Referat des Vorsitzenden des VN-Ausschusses für das gewaltsam verursachte Verschwinden von Personen, Emmanuel Decaux, der am Beispiel des Schutzes aller Personen vor dem Verschwindenlassen die Rolle der Vereinten Nationen im Kampf gegen Straflosigkeit von Vergangenheitsverbrechen und damit eines höheren Standards des Menschenrechtsschutzes, beleuchtete. Eine Verbindung zur morgendlichen Plenarsitzung schuf der erhellende Beitrag von Heike Krieger, die sich ebenso wie bereits Hervieu der Pönalisierung der Negation von Vergangenheitsverbrechen und einer Analyse der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR zuwandte. Dass sie diese in einen rechtsvergleichenden Kontext stellte, erwies sich als der näheren Auseinandersetzung mit der Materie ausgesprochen zuträglich. Ihr Fazit relativiert die von Hervieu geübte Kritik an der inkohärenten Rechtsprechung des EGMR. Krieger deduziert den Grundsatz des Gerichts, die in Artikel 7 der Konvention verbürgte Freiheit der Meinungsäußerung nur dann als in legitimer Weise eingeschränkt zu sehen, wenn von der in Rede stehenden reprimierten Tätigkeit eine Gefahr für die friedvolle Koexistenz ausgehe und erkennt überdies einen kontextbasierten Ansatz, der nach unterschiedlichen historisch-politischen Verbrechenskategorien, wie beispielsweise Kolonialverbrechen oder NS-Verbrechen, differenziert. Den glänzenden Schlusspunkt der Tagung setzte schließlich das Referat des EGMR-Richters Fausto Pocar, der unter dem bedeutungsvollen Titel „The Growing Role of International Criminal Law and the Violations of the Past“ nicht allein auf die Reaktionen und Antworten internationalen Strafrechts auf Vergangenheitsverbrechen einging, sondern auch aufzeigte, wie dessen Entwicklung potentiellen künftigen Verletzungen zuvorkommen könne. Nachdem seine konzise Darstellung der Entwicklungen und Interpretationen bis hin zu Lückenfüllungen von Vertrags- und Gewohnheitsrecht wichtige Errungenschaften wie die Annäherung an eine Gleichstellung der Behandlung von Rechtsverletzungen in internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten hervorhob, schloss er mit Reflexionen über die Möglichkeit, durch Mechanismen opferorientierter Justiz wie Reparationen und Wahrheitskommissionen ein im Hinblick auf Vergangenheitsbewältigung sinnvolles Komplement zur Rechtsprechung der Strafgerichtshöfe schaffen zu können, in eindrucksvoller Weise den finalen Themenkreis der Veranstaltung. II. Denkanstöße und Ausblick Die Konzentration des Tagungsthemas auf Verbrechen der Vergangenheit soll weder die Zukunftsrelevanz der Materie in den Hintergrund treten lassen noch dazu verleiten, die Konferenz gewissermaßen als Ereignis der Vergangenheit abzustempeln ohne dabei die von ihr ausgehenden Impulse darzustellen und einen Ausblick zu wagen. 1. Impulse im Hinblick auf den Umgang des EGMR mit Verbrechen der Vergangenheit Von den vielen Denkanstößen, derer bereits einige in der Skizzierung der beiden Plenarsitzungen angeklungen sind, sei an dieser Stelle auf jene eingegangen, die in direktem Bezug zum Kongressgegenstand – dem Umgang des EGMR mit Verbrechen der Vergangenheit – stehen. Diese lassen sich hier unter drei Hauptaspekte subsumieren. Zunächst ist im Hinblick auf den Punkt der Kompetenz ratione temporis des EGMR die Frage aufgeworfen und behandelt worden, ohne aber einen abschließenden Konsens oder eine Klärung, sofern dies überhaupt in eindeutiger Wei- _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 80 Tagungsbericht: „The European Convention on Human Rights and the Crimes of the Past“ _____________________________________________________________________________________ se möglich sein sollte, erfahren zu haben, inwieweit historische Quellen dem Gericht zur Lokalisierung der Fakten in der Zeit und damit zur Beantwortung der Kardinalfrage der Jurisdiktionskompetenz dienen können und sollen. In umgekehrter Weise lässt sich ebenso fragen, welchen Wert Urteile und weitere Dokumente des Gerichts als Quellen für die Arbeit von Historikern haben. Ein weiterer Punkt, der Anlass zu weiterführenden Gedanken gibt und mit dem sich der EGMR in seiner Rechtsprechung immer wieder zu befassen hat, ist das Spannungsverhältnis von der in Artikel 10 der Konvention verbürgten Freiheit der Meinungsäußerung und der Negation von Vergangenheitsverbrechen. Neben der sich aufdrängenden Frage danach, inwieweit Staaten zur Ahndung der Vergangenheitsleugnung in Grundrechte eingreifen dürfen, scheint auch der über die Tagung hinausgehende Aspekt der konkreten Benennung der Gefahren, die von der Leugnung abgeurteilter Verbrechen ausgehen, weiteren Untersuchungen würdig. Neben den der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zweifelsohne gefährlichen Hassreden scheint die Betrachtung gewissermaßen „friedlicher“ Leugnungen und der (eventuell) von ihnen ausgehenden konkreten Gefahren bedenkenswert. Trotz Schwierigkeiten in der Grenzziehung könnte eine Differenzierung zwischen individueller und kollektiver Leugnung hier einen beachtlichen Parameter ausmachen. Eine große Fülle von Fragen wirft schließlich das von der Europäischen Menschenrechtskonvention in Artikel 7 geschützte Gesetzlichkeitsprinzip auf. Unter dem Titel „Keine Strafe ohne Gesetz“ verbietet dieser die Verurteilung wegen einer Tat, die zur Zeit ihrer Begehung nicht strafbar war. Scheint der Titel durch den Wortlaut „Gesetz“ auf geschriebenes Recht zu verweisen und so der Facette „nullum crimen sine lege scripta“ Rechnung zu tragen, so erhellt aus einem Blick in Absatz 2, dass eine Strafbarkeit nach „den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ ausreicht, damit eine Verurteilung nicht gegen das Gesetzlichkeitsprinzip der EMRK verstößt. Albin Eser hielt den Titel angesichts dessen für irreführend, wenn nicht gar falsch und schlug die globalere Formulierung „nullum crimen sine jure – Keine Strafe ohne Recht“ vor. Der jeweils unterschiedliche Gehalt des in 162 von 192 Staatsverfassungen, sowie in zahlreichen internationalen Instrumenten vorhandenen Gesetzlichkeitsprinzips verdeutlicht zudem, dass nicht nur eines, sondern eine Vielzahl verschieden weit gefasster Gesetzlichkeitsprinzipien existiert. Dieser Befund gibt Anlass zu Untersuchungen darüber, welche Facetten dieses fundamentalen Prinzips bereits zu Völkergewohnheitsrecht erstarkt sind – ein Punkt, der auf der Konferenz leider nicht zur Sprache gekommen ist. Während jedenfalls dem Kerngehalt des Gesetzlichkeitsprinzips im internationalen Strafrecht universelle Bedeutung zukommen dürfte, 8 hat die Frage, inwieweit dieses Menschenrecht in weiteren Gebieten, wie beispiels8 So auch Kreß, Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Nulla poena nullum crimen sine lege; im Internet abrufbar unter: http://www.uni-koeln.de/jurfak/kress/NullumCrimen24082010.pdf (5.1.2017), dort Rn. 19. weise Präventivmaßnahmen oder Maßregeln der Besserung und Sicherung, Anwendung findet oder finden sollte keine abschließende Klärung erfahren. 2. Gedanken zum Ansatz und zur Organisation der Tagung Das begrüßenswerte Ziel der Konferenz, ein Forum für Dialog zwischen Praxis und Wissenschaft zu schaffen ist zweifelsohne erreicht worden und hat zu wertvollen Gewinnen auf beiden Seiten geführt. Beachtenswert erscheint, dass zahlreiche Referenten nicht allein der einen oder anderen Kategorie zugeordnet werden können, sondern gar in beiden Bereichen tätig sind und somit die jeweils vorgestellten Themen aus zwei Perspektiven beleuchten konnten. Der fruchttragenden Ergebnisse dieser „interokkupativen“ Beleuchtung wegen, wäre es insbesondere im Hinblick auf das Tagungsthema wünschenswert gewesen, diesen Ansatz noch weiter – und nach dem erfolgreichen Vorbild des Arbeitskreises Völkerstrafrecht9 – zu einem interdisziplinären auszudehnen. So wäre ein Historiker oder gar ein Rechtshistoriker wie Andrej Umansky, der gerade durch seine Expertise im Bereich der NS-Verbrechen und damit des Ursprungs der Strafbarkeit des Völkermordes – des Verbrechens, das sich als „the crime of crimes“ wie ein roter Faden durch die Tagung zog – ein bereichernder Referent und Diskussionsteilnehmer gewesen. Es darf resümierend festgehalten werden, dass die Konferenz nicht allein in sich geschlossene Einblicke in die Materie bot, sondern überdies an Anregungen für weitere Recherche und Reflexion sowohl mit Blick auf prozedurale als auch auf materiell rechtliche Aspekte nicht zu wünschen übrig ließ und so die künftige wissenschaftliche wie praktische Arbeit zu bereichern vermag. Weiteren Tagungen dieser Art darf mit Spannung entgegengesehen werden. 9 Siehe hierzu insbesondere den Tagungsbericht von Berster (ZIS 2012, 312), der den interdisziplinären Ansatz der Arbeitskreissitzung lobt. Nähere Informationen zum genannten Arbeitskreis sind abrufbar unter: https://www.jura.uni-hamburg.de/ueber-diefakultaet/professuren/professur-jessberger/arbeitskreis.html (5.1.2017). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 81 Tagungsbericht „Mapping the challenges in economic and financial criminal law: a comparative analysis of Europe and the US” vom 17.3.2016 an der Universität Luxemburg Von Wiss. Mitarbeiter Julian Dust, Wiss. Mitarbeiterin Özlem Kayadibi, Köln* Seit einigen Jahrzehnten sind die Strafrechtssysteme weltweit mit globalen Herausforderungen und fundamentalen Veränderungen in dem Bereich der Wirtschafts- und Finanzkriminalität konfrontiert. Die Finanzkrise im Jahr 2008 und die anschließende Dämpfung der Konjunktur haben diese Herausforderungen in vielerlei Hinsicht spürbar gemacht. Bestehende Grundsätze, Normen und Praktiken sind vor diesem Hintergrund nicht immer ausreichend, weshalb Legislative und Exekutive unter Handlungsdruck geraten. Den hieraus resultierenden kriminalpolitischen Fragen war die Tagung „Mapping the challenges in economic and financial criminal law: a comparative analysis of Europe and the US“ gewidmet, die unter Leitung von Prof. Katalin Ligeti am 17.3.2016 an der Fakultät für Recht, Wirtschaft und Finanzen der Universität Luxemburg abgehalten wurde. Das geltende und künftige Sanktionenrecht der Nationalstaaten sollte dabei in den europäischen und transnationalen Kontext gesetzt werden. Zu Wort kamen neben renommierten Vertretern aus Justiz und Wissenschaft auch Nachwuchswissenschaftler verschiedener europäischer Länder. Die auf der Tagung angesprochenen Fragen sind für die deutsche kriminalpolitische Diskussion von besonderer Relevanz. In Deutschland wird derzeit noch über eine Änderung des Sanktionenregimes für Unternehmen diskutiert, die andere europäische Länder bereits vollzogen haben. I. Kriminalsysteme im Vergleich Die erste von vier Sitzungen leitete in die Herausforderungen des Wirtschafts- und Finanzstrafrechts ein. Prof. Stefan Braum, Dekan der Universität Luxemburg, eröffnete das Panel. Die Tagung solle, so Braum in seinen einführenden Worten, neue Legitimations- und Organisationsfragen des europäischen Strafrechts diskutieren. Diese seien entstanden, weil die klassischen Strafrechtsprinzipien (Schuldprinzip, Legalitätsprinzip und Verhältnismäßigkeitsprinzip) heute nicht mehr ohne weiteres das dogmatische Fundament der Rechtsentwicklung darstellten. Begriffe wie „compliance“ und „private enforcement“ seien Rechtsinstitute, die nicht klassischen horizontalen und vertikalen Organisationsstrukturen zuzuordnen seien. Deutlich wird dies bei der Zurechnung von Strafe, die horizontale (gleichrangig-arbeitsteiliges Vorgehen von Beteiligten wie bei der Mittäterschaft) und vertikale Verhältnisse (Fälle der Organisationsherrschaft, wie bei der mittelbaren Täterschaft) unterscheidet.1 Das Strafrecht im * Die Autoren Julian Dust, LL.B und Özlem Kayadibi, Ass. iur, sind wissenschaftliche Mitarbeiter der von der Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsgruppe Verbandsstrafrecht an der Universität zu Köln (Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel, Jun.-Prof. Dr. Elisa Hoven, Prof. Dr. Thomas Weigend, Prof. Dr. Martin Henssler), zur Forschungsgruppe: http://www.verbandsstrafrecht.jura.uni-koeln.de (5.1.2017). europäischen Kontext könne – dies zeigte die Tagung in der Tat sehr deutlich – nur als Sanktionenrecht verstanden werden, mit dem die Politik eigene Ziele durchsetzen wolle. Lars Bay Larsen, Richter am EuGH, befasste sich mit der Natur der durch das europäische Recht möglichen Sanktionen. Dabei ging es ihm insbesondere um die Klarstellung, dass die Nationalstaaten im Gegensatz zu den USA sehr unterschiedliche Strafrechtstraditionen mitbrächten, die EU aber in ihrer Diversität vereint sei. Auf EU-Ebene gäbe es bisher kein Strafrecht im engeren Sinne, es entstünden aber alternative Sanktionsmöglichkeiten wie z.B. im europäischen Wettbewerbsrecht. Deren Qualität als „Strafe“ sei unter anderem in dem Verfahren „Bonda“2 untersucht worden, in dem der EuGH jeweils nur eine Bußgeldqualität feststellte. Das Prinzip „ne bis in idem“ fand daher keine Anwendung. Grundlage dieser Feststellung seien die sog. „EngelKriterien“,3 auf welche auch weitere Redner noch eingegangen sind. Prof. Katalin Ligeti befasste sich in ihrem Beitrag mit den allgemeinen Perspektiven und Tendenzen im europäischen Finanz- und Wirtschaftsrecht. Dieses reagiere auf die Entwicklungen der Gesellschaft (Finanzwelt, Umwelt, Internet etc.). Zu beobachten sei eine Europäisierung des nationalen Rechts, eine Ausweitung des EU-Bußgeldrechts („judicialization“), verbunden mit einem Bedeutungsverlust des nationalen Strafrechts („moving away“-Effekt) sowie eine Verstärkung des Grundrechtsschutzes (ne bis in idem, Verhältnismäßigkeitsprinzip, prozessuale Rechte). Die langfristige Konsequenz sei ihrer Ansicht nach, dass die Europäische Union eine eigene Strafrechtsordnung etablieren werde. II. Grund und Grenzen individualstrafrechtlicher Systeme Die zweite Sitzung widmete sich der persönlichen Haftung, die Individuen aufgrund von Fehlverhalten im wirtschaftlichen und finanziellen Bereich auferlegt werden kann. Eingeleitet wurde das Panel von Dr. Jan Inghelram, Mitarbeiter Der Autor Dust promoviert zu materiell-rechtlichen Fragen des Unternehmensstrafrechts bei Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel. Die Autorin Kayadibi promoviert zu kriminologischen Fragen des Unternehmensstrafrechts bei Jun.-Prof. Dr. Elisa Hoven. 1 Vgl. Eidam, Der Organisationsgedanke im Strafrecht, 2015, S. 313 ff.; Krämer, Individuelle und kollektive Zurechnung im Strafrecht, 2015, S. 102 ff. 2 EuGH, Urt. v. 5. 6. 2012 – C-489/10, Rn. 28 ff. 3 Benannt nach EGMR, Urt. v. 8.6.1976 – 5100/71, 5101/71, 5102/71, 5354/72, 5370/72 (Engel und andere gegen die Niederlande), Rn. 80 ff., wonach maßgeblich sind (a.) die Zuordnung der Vorschrift im nationalen Recht, (b.) die Natur des Vergehens sowie (c.) die Art und Schwere der Sanktion. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 82 Tagungsbericht „Mapping the challenges in economic and financial criminal law” _____________________________________________________________________________________ des EuGH. In dem ersten Vortrag führte Prof. Martin Böse von der Universität Bonn in das deutsche Kriminalstrafrecht und Bestrafungsmöglichkeiten von Managern und Unternehmensmitarbeitern ein. Hervorgehoben wurden insbesondere dogmatische Besonderheiten des deutschen Rechts (Tun und Unterlassen, Garantenpflichten, Unterschiede von Sonderund Allgemeindelikten) sowie das doppelte System des Ordnungswidrigkeiten- (insbesondere §§ 30, 130 OWiG) und allgemeinen Strafrechts. Besonders hob Prof. Böse hervor, dass das Strafrecht einen Ausgleich zwischen wirtschaftlichen Freiheiten und korrespondierenden Pflichten schaffen müsse. Dr. Stanislaw Tosza von der Universität Luxemburg stellte seine Doktorarbeit vor, die sich mit der individualstrafrechtlichen Verantwortung von Managern auseinandersetzt. Hervorzuheben ist Dr. Toszas Feststellung, dass die wirtschaftliche Betätigung allgemein von Risiken bestimmt sei, was auch die Finanzkrise gezeigt habe. Die Bestrafung von Managern, bei denen unter anderem diese Risiken zu Straftaten führten, habe deshalb immer zugleich Einfluss auf das Wirtschaftssystem. Dr. Tosza sprach sich für ein Unternehmensstrafrecht aus, das bei der Bestrafung von „Missmanagement“ ansetzen solle, weil letzteres zu „erheblichen Risiken“ führe. Insgesamt vertrat er somit das Konzept eines starken Strafrechts. Prof. Iain MacNeil von der Universität Glasgow setzte den Schwerpunkt hingegen mehr auf die Regulation von Märkten und weniger auf Strafe. Das Strafrecht habe sich seiner Ansicht nach bisher nicht bewährt und habe vergangene Krisen nicht verhindern können. Sofern eine Ausweitung erfolge, solle diese jedenfalls das Individualstrafrecht und nicht das Unternehmensstrafrecht betreffen. Denn letzteres verursache zugleich Kosten für die Gesellschafter, die nicht zwingend mit den Taten in Verbindung stünden. Besonders hervorzuheben ist der Vortrag von Prof. Sara Sun Beale von der Duke University, in dem sie die amerikanische Sicht darstellte. Sie erinnerte zunächst daran, dass das Unternehmensstrafecht in den USA seit langem existiere und skizzierte die Hintergründe der bekannten Entscheidung des U.S. Supreme Court, „New York Central & Hudson River Railroad Co. v. United States“, 212 U.S. 481, 495 f. (1909). Der Supreme Court hat in dieser Entscheidung schon vor mehr als einhundert Jahren die Strafbarkeit juristischer Personen anerkannt: „If, for example, the invisible, intangible essence or air which we term a corporation can level mountains, fill up valleys, law down iron tracks, and run railroad cars on them, it can intend to do it, an can act therein as well viciously and virtuously.“4 Unternehmensstrafe sei nach Meinung von Prof. Beale ein pragmatisches und utilitaristisches „tool“, deren Notwendigkeit sich als Ergänzung des amerikanischen Individualstrafrechts in der Geschichte herausgestellt habe. Gründe für Unternehmensstrafe seien insbesondere die enorme Macht von Unternehmen, die weite Verbreitung von Unternehmensdelinquenz und dass letztere bekämpft werden müsse, damit der Satz „crime pays“ nicht 4 U.S. Supreme Court, New York Central & Hudson River Railroad Co. v. United States, 212 U.S. 481, 495 f. (1909). gelte. Dogmatisch bediene sich das amerikanische Recht einer Zurechnung der Taten der Individuen an das Unternehmen. Anschaulich zeigte Prof. Beale anhand der jüngeren Geschichte der USA, dass die Gewichtung von Individualund Verbandsstrafrecht sich zyklisch verändere und mit der gesellschaftlichen Rahmensituation verbunden sei. Die Veränderungen um die Jahrtausendwende (z.B. Anschläge auf das World-Trade-Center, Worldcom-Skandal, EnronSkandal) hätten Ängste in der Bevölkerung ausgelöst, die das Bedürfnis nach Unternehmensstrafe steigerten. Dies ließe sich anhand einer Analyse der eröffneten Verfahren nachweisen. Die aktuelle Entwicklung zeige, dass Unternehmen mehr in die Strafverfolgung eingebunden werden, was aber nicht dazu führen dürfe, dass sie zum „Teil der Staatsanwaltschaft“ aufschwingen. Inzwischen werde Kritik laut, dass die Unternehmensstrafe die Bestrafung von Privaten faktisch verhindere. Derzeit sei ihrer Meinung nach – anders als dies teilweise in Deutschland wahrgenommen wird 5 – aber nicht zu erkennen, dass das Individualstrafrecht wieder mehr Bedeutung erlange. III. Alternative Sanktionsmöglichkeiten Die dritte Sitzung widmete sich neuen Sanktionsmöglichkeiten im Finanz- und Wirtschaftsstrafrecht und wurde von Prof. Braum eingeleitet. Associate-Prof. Maria Bergström von der Universität aus Uppsala gab einen Überblick über das schwedische Umweltstrafrecht. Sie stellte das nationale Recht in den Kontext zum internationalen Recht, zu Basel III (Europäisches Sekundärrecht) und der umweltrechtlichen Kriminalprävention. In einem nächsten Schritt sprach sie Verbesserungsmöglichkeiten in den Bereichen der Aufdeckung, der Anpassung von Strafrahmen und umweltrechtlichen Sanktionsgebühren („environmental sanction charges“) an. Letztlich warf sie die Frage auf, ob die Unternehmensstrafe im umweltrechtlichen Bereich mit der Individualstrafe in anderen Bereichen vergleichbar sei. Sie deutete damit die Kardinalfrage im Unternehmensstrafrecht an, die (nach Auffassung der Autoren) innerhalb der Tagung leider nur als Randproblem angesprochen und nicht weiter vertieft wurde. Das Verhältnis von Kronzeugenregelungen („leniency programs“) und der Durchsetzung von Strafe („criminal enforcement“) war Gegenstand des Vortrages von Prof. Vladimir Bastidas, ein Experte der Universität Uppsala. Kronzeugenregelungen sollten vor allem die Möglichkeiten der Aufdeckung von Straftaten erhöhen und damit zugleich die Abschreckungseffekte der Strafe verbessern. In prozessualer Hinsicht problematisch sei die Doppelstellung als Kronzeuge und Beschuldigter. Diese könne durch die Gewährung von Immunität gelöst werden, was aber mit schwedischem Recht nicht vereinbar sei. Dr. Witold Zontek von der Universität Krakau beendete das dritte Panel mit seinem Vortrag über das Nebeneinander 5 Vgl. nur Schünemann, in: Sieber/Dannecker/Kindhäuser/ Vogel/Walter (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen, Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, 2008, S. 429 (443). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 83 Julian Dust/Özlem Kayadibi _____________________________________________________________________________________ von Zivil-, Verwaltungs- und Strafrechtssanktionen im Finanzmarkt. Für die Finanzmärkte sei bedeutsam, wie das Sanktionenrecht ausgestaltet sei, weil die jeweiligen Rechtsfolgen unterschiedlich wären. Hinsichtlich der Konkurrenz von Verwaltungs- und Strafrecht befürwortete Dr. Zontek eine Priorität des Verwaltungsrechts, weil dieses effektiver sei. Jedenfalls aber sei ein Hauptsystem festzulegen. Er stellte außerdem die Frage in den Raum, ob die Verfolgung von Straftaten, zumal von Finanzmarktdelikten, spezialisierter Gerichte und Staatsanwaltschaften bedürfe. IV. Aktuelle und künftige Rechtsschutzmöglichkeiten Die vierte und letzte Sitzung handelte von den Möglichkeiten des Schutzes vor Strafe („safeguard systems“) und von der Rolle neuer Strafsysteme („new enforcement systems“). In dem durch Prof. Pierre-Henri Conac von der Universität Luxemburg eingeleiteten Panel konnte damit auf zuvor Besprochenes aus neuer Perspektive eingegangen werden. Prof. Silvia Allegrezza von der Universität Luxemburg stellte in ihrem Vortrag das verwaltungsrechtliche Sanktionenrecht („single supervisory mechanism“) der Europäischen Union dar und wies insbesondere auf das z.T. ungeklärte Verhältnis zum Europäischen Grundrechtsschutz (Art. 6-8, 13, 41, 47-49 der Charta der Grundrechte der EU) hin. Letzterem käme als höchster Rechtsquelle der EU insgesamt die Aufgabe zu, die europäische Politik zu bremsen. Stijn Lamberigts, Doktorand an der Universität Luxemburg, stellte Zwischenergebnisse seiner Forschung zu den Aussageverweigerungsrechten von angeklagten Mitarbeitern einer Gesellschaft („corporate defendants“) vor. Rechtliche Probleme ergäben sich insbesondere aus der Doppelstellung, Individuum und Mitarbeiter der Gesellschaft zu sein. Das US-Recht, welches kein „corporate right to silence“ in der Verfassung vorsehe, solle Modell für das luxemburgische Recht sein. Demnach könne das Schweigerecht nur dem Individuum als solchem, losgelöst von der gesellschaftlichen Stellung zukommen, nicht aber dem Unternehmen, vertreten durch das Individuum. Lamberigts befürwortete ein relatives Schweigerecht, das unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zwecks effektiver Strafverfolgung eingeschränkt werden könne. Prof. Juliette Tricot von der Université Paris-Ouest Nanterre La Défence trug zum Grundsatz ne bis in idem, sowohl hinsichtlich dessen Geltung im Verwaltungs- als auch im Strafrecht, vor. Für das französische Recht sei festzustellen, dass zwar nicht de jure aber de facto Verwaltungs- und Strafverfahren nicht nebeneinander eingeleitet würden, was eine gewisse „hidden order“ im französischen Rechtssystem darstellen würde. Dieser von Prof. Tricot offenbar befürwortete Ansatz solle indes positiv-rechtlich normiert werden, damit der Gesetzgeber handlungsfähig bleibe. V. Fazit und Ausblick Den Abschluss fand die Tagung mit resümierenden Worten von Prof. John Vervaele von der Universität Utrecht. Prof. Vervaele zufolge sei es angesichts der fließenden Entwicklungen auf der europäischen Ebene nicht verwunderlich, dass die Forschung sich bisher überwiegend auf theoretische Fra- gen konzentriert habe („law in the books“). Nun müsse sich die Wissenschaft aber konkreten Anwendungsfragen stellen („law in action“), die bislang noch wenig erforscht seien. Die Herausforderung dabei sei die Diversität der Kompetenzordnungen in der Europäischen Union, womit Prof. Vervaele einen Bezug zur Äußerung von Richter Lars Bay Larsen (siehe oben) herstellte, dass Europa in Vielfalt vereint sei. Dies zeigt sich insbesondere in Deutschland. Hier hat man sich jahrzehntelang mit der Frage beschäftigt, ob Verbände (schuldhaft) handeln können, nicht aber mit der Ausgestaltung und den Folgen eines Verbandsstrafrechts. 6 Dem von Prof. Stefan Braum gesetzten Tagesziel, Legitimations- und Ordnungsfragen des europäischen Sanktionenrechts zu erörtern, wurde die Tagung durch die vielseitigen und ansprechenden Vorträge gerecht. Nicht zuletzt konnte hierzu eine interessierte Hörerschaft beitragen, die am Ende jeder der vier Sitzungen Fragen an die Referenten stellte und auch den Einblick in die Belange der Rechtsanwaltschaft verschiedener Länder zuließ. 6 Vogel, StV 2012, 427 (428); Kubiciel, ZRP 2014, 133 (134). _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2017 84
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