of the current issue (ger)

Inhalt
AUFSÄTZE
Jugendstrafrecht
Jugendstrafrecht und Jugendstrafvollzug in Chile, Bolivien
und Peru – Aktuelle Entwicklungen und Reformtendenzen
Von Dr. Alvaro Castro Morales, Chile, Prof. Dr. Frieder Dünkel,
Greifswald
1
Europäisches Strafrecht
Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen
Union – ein Überblick
Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Dominik Brodowski, LL.M. (Univ.
Pennsylvania), Frankfurt a.M.
11
„In camera“-Verfahren als Gewährung effektiven
Rechtsschutzes?
Neue Entwicklungen im europäischen Sicherheitsrecht
Von Dr. Benjamin Vogel, Freiburg
28
Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare
(Auslands-)Zeuge: Appell zur Stärkung des
Konfrontationsrechts bei präjudizierender
Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren
Zugleich Besprechung von EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10
(Schatschaschwili v. Deutschland)
Von Ref. iur. Diana Thörnich, Trier
39
Kompensation der unzulässigen staatlichen Tatprovokation
Zu den Auswirkungen der Rechtsprechung des EGMR in
Deutschland und Österreich
Von Dr. Carolin Schmidt, Frankfurt (Oder)
56
Das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ im
Spannungsfeld zwischen Europäisierung und nationalen
Sicherheitsinteressen
Plädoyer für einen vermittelnden Standpunkt
Von Dr. Erik Duesberg, Münster
66
BUCHREZENSIONEN
Strafrecht
Thomas Kröger, Der Aufbau der Fahrlässigkeitsstraftat, 2016
(Dr. Matthias Wachter, Regensburg)
75
VARIA
Tagungsbericht
Tagungsbericht: „The European Convention on Human Rights
and the Crimes of the Past” – ESIL European Court of Human
Rights Conference am 26.2.2016 am EGMR in Straßburg
(stud. iur. Natascha Kersting, Köln und Paris)
78
Tagungsbericht „Mapping the challenges in economic and
financial criminal law: a comparative analysis of Europe and
the US” vom 17.3.2016 an der Universität Luxemburg
(Wiss. Mitarbeiter Julian Dust, Wiss. Mitarbeiterin Özlem Kayadibi,
Köln)
82
Jugendstrafrecht und Jugendstrafvollzug in Chile, Bolivien und Peru –
Aktuelle Entwicklungen und Reformtendenzen
Von Dr. Alvaro Castro Morales, Chile,* Prof. Dr. Frieder Dünkel, Greifswald**
Das Jugendstrafrecht auf dem südamerikanischen Kontinent
hat sich seit der Verabschiedung der Kinderrechtskonvention
(KRK) von 1989 wie auf keinem anderen Kontinent dynamisch weiterentwickelt.1 Die bisherigen rechtsvergleichenden
Arbeiten in diesem Bereich haben jeweils das Jugendstrafund Jugendstrafverfahrensrecht allgemein in den Vordergrund gestellt. Der vorliegende Beitrag rückt demgegenüber
den Jugendstrafvollzug und menschenrechtliche Fragen des
Rechtsschutzes von Jugendlichen unter Freiheitsentzug ins
Blickfeld.2
Die besonders prekäre menschenrechtliche Lage im
Strafvollzug der lateinamerikanischen Länder legt diese
Schwerpunktsetzung nahe. Insbesondere die drastische
Überbelegung in Gefängnissen hat zu Reaktionen von Menschenrechtsorganisationen, z.B. seitens der Interamerikanischen Kommission (IKM) oder dem Interamerikanischen
Gerichtshof für Menschenrechte (IGM) geführt.3 Die sich
langsam entwickelnde Aufmerksamkeit für menschenrechtliche Fragen auch im Bereich des Jugendkriminalrechts in
Lateinamerika wird am Beispiel des vorliegenden Beitrags
deutlich. Das Thema der Beachtung der Menschenrechte im
Jugendstrafvollzug und der Existenz und ggf. Effizienz von
Kontrollmechanismen ist vor dem Hintergrund einer bislang
nur rudimentären kriminologischen Forschung zu sehen, die
angesichts eines fehlenden spezifischen Rechtsschutzes vergleichbar der §§ 92 JGG, 109 ff. StVollzG in Deutschland als
völlig unzulänglich anzusehen ist und mit der früheren
Rechtsfigur des besonderen Gewaltverhältnisses vergleichbar
ist.4 Dies gilt insbesondere für den Jugendstrafvollzug, der
* Universidad de Chile – Centro de Estudios de la Justicia.
** Universität Greifswald.
1
Vgl. dazu bereits Tiffer-Sotomayor, Jugendstrafrecht in
Lateinamerika unter besonderer Berücksichtigung von Costa
Rica, 2000; Gutbroth, Jugendstrafrecht in Kolumbien, 2010;
vgl. zum Jugendstrafrecht in Bolivien ferner Zegada, Jugendstrafrecht in Bolivien, 2005; im Überblick Beloff, in:
UNICEF (Hrsg.), Revista Justicia y derechos del niño, Bd. 9,
2007, S. 177; Beloff/Langer, in: Zimmering/Langer/ Tanenhaus (Hrsg.), Juvenile justice in Global Perspective, 2015,
S. 198.
2
Vgl. Castro Morales, Jugendstrafvollzug und Jugendstrafrecht in Chile, Peru und Bolivien unter besonderer Berücksichtigung von nationalen und internationalen Kontrollmechanismen, 2015.
3
Vgl. hierzu ausführlich Castro Morales (Fn. 2), S. 194 ff.
(203 ff.); IKM (Hrsg.), Informe sobre los derechos Humanos
de las personas privadas de libertad en las Américas, CIDHOEA, 2011, abrufbar unter:
www.cidh.org (15.1.2017); sowie die Entscheidungen des
IGM in den Jahren 1995 bis 2014, abrufbar unter:
www.oas.org/es/cidh/ppl/decisiones/corteidh.asp (15.1.2017).
4
Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 227.
aus verschiedenen Gründen besonders rückständig ist.5
Prüfmaßstab für die rechtliche und tatsächliche Entwicklung
des Jugendstrafvollzugs in Chile, Bolivien und Peru sind
nicht allein lateinamerikanische Standards, sondern auch die
deutsche Entwicklung nach der Föderalismusreform und
insbesondere die European Rules for Juvenile Offenders
Subject to Sanctions or Measures (ERJOSSM) des Europarats von 2008.
I. Historische Entwicklung des Jugendstrafrechts und
Jugendstrafvollzugs in Lateinamerika – Überblick
Zunächst wird deutlich, dass wesentliche Elemente des klassischen Inquisitionsprozesses sich bis Ende des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika erhalten haben, was den großen Einfluss der KRK verdeutlicht, die eine grundlegende Umorientierung auf das sog. Justizmodell bewirkte. 6 So war derselbe
Jugendrichter im Ermittlungsverfahren zuständig, der später
im Hauptverfahren die Entscheidung fällte, ein Zustand, der
mit einem aufgeklärten liberalen Strafprozess nicht vereinbar
ist. In Zeiten der Diktaturen waren das Recht und insbesondere das Jugendstrafrecht selbst eher autoritär ausgerichtet, so
dass ein neuer Geist sich erst mit dem Ende der diktatorischen Regime entwickeln konnte. Das Jugendrecht vor der
Reformbewegung Ende der 1980er Jahre war rein wohlfahrtsrechtlich ausgestaltet (sistema tutelar) und von den patriarchalischen Ideen des Jugendrichters als zentrale Figur des
Jugendverfahrens geprägt.7 Ähnlich wie in den USA spielten
Rechte der Minderjährigen keine Rolle und die Interventionen waren inhaltlich und zeitlich unbestimmt. Die Abkehr
vom Wohlfahrtsmodell durch ein justizmodellorientiertes
Verfahren wurde nicht nur durch die KRK, sondern durch ein
ganzes Bündel von gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozessen ausgelöst. Dazu gehörten die Demokratisierung der
politischen Strukturen (Ende von Diktaturen) und damit einhergehend die verstärkte Beachtung von Menschenrechten,
das Wirtschaftswachstum und die Modernisierung der Staaten, die zunehmend negative Wahrnehmung des überkommenen Justizsystems, die Beteiligung ausländischer Organisationen und nicht zuletzt die Beteiligung der Wissenschaft.
Im Zeitraum von 1994-2004 haben 16 Länder in der Region ihr überkommenes Strafprozessrecht in Richtung eines
Anklageverfahrens geändert.8 Die teilweise parallel laufende
5
Zu den Unzulänglichkeiten des gesetzlichen Rechtsschutzes
und der Rechtsprechung im Bereich des Erwachsenenvollzugs in Chile vgl. Stippel, Gefängnis und Gesetz, Eine Untersuchung zur Vollzugsgesetzgebung, Rechtspraxis und Rechtsreform in Chile, 2010.
6
Vgl. Tiffer-Sotomayor (Fn. 1), S. 245 ff.; Gutbrodt (Fn. 1),
S. 102; Castro Morales (Fn. 2), S. 14 ff.
7
Vgl. Beloff/Langer (Fn. 1), S. 200 ff.
8
Vgl. Beloff (Fn. 1), S. 15 ff.
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com
1
Alvaro Castro Morales/Frieder Dünkel
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Reform des Jugendstrafrechts wurde – wie erwähnt – wesentlich durch die seit 1990 überall ratifizierte KRK beeinflusst. 9
Dabei sind zwei Reformstrategien zu unterscheiden: zum
Einen, sog. integrierte Jugendgesetze zu schaffen, die sowohl
jugendstraf- wie zivilrechtliche und jugendhilferechtliche
Fragen in einem Gesetz regeln. Für diese Lösung haben sich
im Zeitraum bis 2007 14 Länder entschieden. 10 Zum anderen
Länder, die ein reines Jugendstrafrecht verabschiedeten und
die anderen Fragen in getrennten Gesetzen regelten (Chile
und Costa Rica, El Salvador und Panama).11 Unterschiedlich
geregelt sind auch das Strafmündigkeitsalter und das
Höchstmaß der Jugend-/Freiheitsstrafe in den Ländern der
Region (vgl. Tab. 1).
Das Mindestalter der Strafmündigkeit liegt – ähnlich wie
in Europa – zumeist zwischen 12 und 14 Jahren, in der Mehrzahl der Länder (insoweit abweichend von Europa) jedoch
bei 12 oder 13 Jahren. Andererseits wird häufiger noch die
Tradition des wohlfahrtsrechtlichen (Jugendhilfe-)Modells
erkennbar, wenn erst ab 16 bzw. 18 Jahren (jugend-)strafrechtliche Reaktionen möglich sind, bei jüngeren Jugendlichen jedoch allein der jugendhilferechtliche Ansatz dominiert
(z.B. Argentinien, Brasilien, Honduras). In einigen Ländern
differenziert das Jugendstrafrecht die strafrechtlichen Eingriffe, indem für jüngere (z.B. 12-13- oder 12-15-Jährige) eine
mildere Sanktionierung und insbesondere geringere Höchststrafen als für ältere Jugendliche vorgesehen werden (z.B.
Bolivien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Kolumbien, Venezuela, vgl. Tab. 1).
Zugleich wird erkennbar, dass die Frage einer Einbeziehung von Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht oder von
Sonderregelungen (z.B. Strafmilderungen) für Heranwachsende12 in Lateinamerika noch kein Thema sind.13 Lediglich
Brasilien und Uruguay sehen entsprechende Sonderregelungen vor.
In diesem Kontext sind Hintergrunddaten zur Entwicklung der Gefangenenzahlen bzw. -raten und im Strafvollzug
der lateinamerikanischen Länder von Bedeutung. Leider ist
ein gesonderter Überblick über den Jugendstrafvollzug nur
lückenhaft möglich,14 weshalb hier zunächst ein grober
Überblick zur Gesamtentwicklung mit den allgemein zugänglichen Daten des Institute for Criminal Policy Research (an9
Vgl. Beloff/Langer (Fn. 1), S. 203 ff.
Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 16 f.; einen umfassenden
Überblick über Reformen in 23 Ländern bzw. Bundesstaaten
(Mexiko) geben auch Beloff/Langer (Fn. 1), S. 205 ff.
11
Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 17; zur Reformgeschichte
in Lateinamerika und insbesondere Costa Rica vgl. bereits
Tiffer-Sotomayor (Fn. 1); ferner Gutbroth (Fn. 1).
12
Vgl. zum europäischen Vergleich Pruin, Die Heranwachsendenregelung im deutschen Jugendstrafrecht, 2007;
Pruin/Dünkel, Better in Europe?, European responses to
young adult offending, 2015.
13
In dem Überblick von Beloff/Langer (Fn. 1) wird diese
Frage nicht thematisiert.
14
Vgl. aber – mit interessanten Details auch zur jugendstrafrechtlichen Sanktionspraxis – Beloff/Langer (Fn. 1), S. 216
ff.
10
hand des sog. World Prison Brief) gegeben wird.15 Die Entwicklung mit einer mehr als Verdoppelung der Gefangenenrate in Brasilien (+ 126 %), Ecuador (+ 153 %), Paraguay
(+ 163 %), Peru (+ 131 %), Uruguay (+ 116 %) und Venezuela (+ 174%, d.h. nahezu eine Verdreifachung!) und einer
nahezu Verdoppelung in Costa Rica, Guatemala und Kolumbien (siehe Tab. 2) im Zeitraum seit 2000 ist geradezu atemberaubend.
Die Belegung in Chile betrug am 31.12.2015 105,6 %
(n = 43.336; Gefangenenrate: 242). Die Belegung hatte hier
im Zeitraum 2000 bis 2010 von 33.050 auf 53.410 (Gefangenenrate: 313) drastisch zugenommen mit der Folge einer
erheblichen Überbelegung. Nachdem im Jahr 2010 bei einem
Brand im Gefängnis San Miguel in Santiago mehr als 80
Gefangene starben, hat die Regierung das Gesetz für alternative Sanktionen ausgeweitet (Einführung der gemeinnützigen
Arbeit als selbständige Sanktion, des Hausarrests und Ausweitung der Strafaussetzung zur Bewährung) und wurde auch
die richterliche Praxis der Untersuchungshaft eingeschränkt.16 Dies hat zu dem aktuellen Rückgang der Gefangenenrate beigetragen. Allerdings ist zu befürchten, dass
dieser Effekt durch gegenwärtig diskutierte Strafschärfungen
konterkariert werden wird.
Die Entwicklung in Bolivien ist von einer drastischen und
chronischen Überbelegung gekennzeichnet. Nach den Daten
des Institute for Criminal Policy Research (2016) kamen in
Bolivien am 1.10.2015 13.468 Gefangene auf 5.126 Haftplätze, was einer Belegung von 262,7% entspricht. Die Gefangenenzahlen sind in Bolivien von 8.151 im Jahr 2000 auf
14.587 im Jahr 2014 gestiegen und seither leicht zurückgegangen. Die Gefangenenrate betrug 2015 122 (2000: 95,
siehe Tab. 2).
Die Folge dieser dramatischen Entwicklung ist eine z.T.
drastische Überbelegung (siehe dazu Tab. 3), die zu menschenrechtlich untragbaren Verhältnissen geführt hat, die
wiederholt zu Recht kritisiert wurden (siehe dazu unten). Die
Überbelegung betrug 2014/15 zwischen 4 % in Argentinien
und knapp 6 % in Chile einerseits und nicht weniger als
161 % in Venezuela, 163 % in Bolivien und 191 % in Guatemala. Auch in Nicaragua und Peru kamen auf einen Haftplatz mehr als 2 Gefangene (vgl. Tab. 3). Derartige Zustände
würden vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
und vom Anti-Folter-Komitee des Europarats zweifellos als
Verstoß gegen das Folterverbot gewertet.17
Ein weiterer Problembereich, der eine unzulängliche personelle Ausstattung bzw. Arbeitsweise der Justiz indiziert,
wird durch den teilweise außerordentlich hohen Anteil an
Untersuchungsgefangenen verdeutlicht (siehe Tab. 3). Wäh15
Siehe Institute for Criminal Policy Research, 2016, abrufbar unter:
http://www.prisonstudies.org/ (2.1.2017); zur Entwicklung
des Jugendstrafvollzugs in Chile, Bolivien und Peru siehe
unten III.
16
Vgl. das Gesetz (Ley) Nr. 20.603 von 2013 zur Neuordnung des Systems der alternativen Sanktionen.
17
Vgl. van Zyl Smit/Snacken, Principles of European Prison
Law and Policy, 2009, S. 131 ff. m.w.N.
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ZIS 1/2017
2
Jugendstrafrecht und Jugendstrafvollzug in Chile, Bolivien und Peru
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rend in Europa die Zahl und der Anteil von Untersuchungsgefangenen eher rückläufig und nur selten noch bestimmend für
die Gefangenenraten insgesamt sind,18 ist dies in Lateinamerika anders. So betrug der Anteil in 10 der 16 in Tab. 3 aufgeführten Länder nahezu oder mehr als 50 %, in Panama, Uruguay und Venezuela sogar mehr als 60 %. In Bolivien (86 %)
und Paraguay (75 %) besteht die Gesamtpopulation des
Strafvollzugs ganz überwiegend aus Untersuchungsgefangenen, was einen Resozialisierungsvollzug weitgehend ausschließt.
Der Anteil Jugendlicher im Strafvollzug ist offensichtlich
untererfasst, was aber daran liegt, dass Jugendliche häufig in
eigenständigen Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht
und damit statistisch nicht immer eindeutig erfasst werden.
Immerhin überraschend ist der hohe Anteil von 13 % Jugendlichen im bolivianischen Vollzug und von 14% in Mexiko
(siehe Tab. 3).
Gerne wüsste man natürlich mehr zu den Ursachen der
„Explosion“ von Gefangenenraten, die nur in Argentinien,
Chile und Honduras in einem relativ moderaten Umfang
stattgefunden zu haben scheint (vgl. Tab. 2). Auch sind die
regionalen Unterschiede zwischen 122 pro 100.000 der
Wohnbevölkerung in Bolivien und 352 in Costa Rica bzw.
392 in Panama erklärungsbedürftig. Offensichtlich gibt es
allerdings dazu in Lateinamerika keine nennenswerte Forschung. Dass sich hieraus menschenrechtlich unhaltbare
Haftbedingungen ergeben, liegt auf der Hand und wurde vom
Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte auch in
verschiedenen Fällen moniert.19
Für Chile führt Castro Morales einige mögliche Ursachen
für den immensen Belegungsanstieg an. So wurden die Strafrahmen bei Eigentums-, Drogen und insbesondere Sexualdelikten erhöht und zugleich wurde die Entlassungspraxis bzgl.
der vorzeitigen Entlassung auf Bewährung restriktiver gehandhabt. Bezeichnenderweise führte die Reform des Strafprozessgesetzes zu vermehrten Anzeigen und Verurteilungen,
weil die Bevölkerung mit der Einführung einer separaten
Anklagebehörde und einem unabhängigen Gericht Vertrauen
in die Justiz fasste. In diesem Zusammenhang führt er politikwissenschaftliche Aspekte an, wie sie von Lappi-Seppälä
für Europa als bedeutsam erarbeitet wurden.20 Chile hat zwar
ein starkes Wirtschaftswachstum erlebt, zugleich allerdings
eine der ausgeprägtesten Ungleichverteilungen des Wohlstands mit einer der höchsten Armutsquoten, also Bedingungen, die üblicherweise mit hohen Gefangenenraten assoziiert
sind. Auch scheint nach Umfragen die chilenische Bevölkerung ausgesprochen rigide Strafvorstellungen zu haben. Das
18
Vgl. Morgenstern, in: Daems/Snacken/van Zyl Smit (Hrsg.),
Europan Penology?, 2013, S. 185; Dünkel/Geng, FS 2015,
213.
19
Vgl. hierzu ausführlich Castro Morales (Fn. 2), S. 194 ff.
20
Vgl. Lappi-Seppälä, in: Tonry (Hrsg.), Crime, Punishment,
and Politics in Comparative Perspective, Crime and Justice,
Bd. 36, 2007, S. 217; ders., in: Dünkel/Lappi-Seppälä/Morgenstern/van Zyl Smit (Hrsg.), Kriminalität, Kriminalpolitik,
strafrechtliche Sanktionspraxis und Gefangenenraten im
europäischen Vergleich, 2010, S. 963.
alles könnte eine plausible Erklärung dafür sein, dass Chile
vorübergehend mit 311 pro 100.000 der Wohnbevölkerung
die dritthöchste Gefangenenrate in der lateinamerikanischen
Region aufwies (vgl. Tab.2). Der Rückgang seit 2010 ist –
wie erwähnt – aufgrund der durch eine Brandkatastrophe im
Strafvollzug bedingten Richtungsänderung der chilenischen
Kriminalpolitik bedingt.
Einige interessante weitere Daten, etwa zum Budget der
Gefängnisse, das i.d.R. nur marginale Anteile für Resozialisierungsmaßnahmen ausweist, oder zu Todesfällen in Gefängnissen, häufig durch Morde von Gefangenen an Mitgefangenen, insbesondere in Venezuela, verdeutlichen die gravierenden Probleme des Strafvollzugs in Lateinamerika. 21
Folter und Gewalt scheint im Strafvollzug der lateinamerikanischen Länder zum Alltag zu gehören. Als weitere Belastung kommt hinzu, dass es an Beschäftigungsmöglichkeiten
mangelt mit der Folge, dass im Durchschnitt nur ca. 50 % der
Gefangenen in einem Betrieb arbeiteten (zwischen 8 % in
Guatemala und 61 % in Kolumbien).22 Dies dürfte ein Teil
der Erklärung für die verbreitete „Kultur der Gewalt“ sein.
II. Das Jugendstrafrecht in Chile, Bolivien und Peru
Chile verabschiedete 1928 ein am Wohlfahrtsmodell orientiertes Jugendgesetz, während Bolivien (1966) und Peru
(1962) erst in den 1960er Jahren entsprechende Kodifikationen schufen. In Bolivien wurde das „modelo tutelar“ allerdings bereits durch eine Verordnung aus dem Jahr 1947 eingeführt. Interessanterweise hat die KRK in den drei lateinamerikanischen Ländern nicht nur wie in Deutschland der
Fall Gesetzes-, sondern sogar Verfassungsrang. Dies erklärt,
warum diese Länder nach der Ratifizierung bemüht waren,
umgehend eine moderne, an Kinderrechten orientierte Jugendstrafgesetzgebung zu verabschieden.
1. Das Jugendstrafrecht in Chile
In Chile wurde das Strafmündigkeitsalter in den Gesetzen
von 1928 und 1966 bei 16 Jahren festgelegt. Zwischen 16
und 20 Jahren galt ein ggf. gemildertes Strafrecht, sofern das
Urteilsvermögen bzw. die Unrechtseinsicht gegeben waren.
Dieses Konzept ähnelt dem deutschen § 3 JGG, enthält aber
nicht die zweite Komponente des Handlungsvermögens. Im
Gesetz von 1966 blieb die Strafmündigkeit bei 16 Jahren
erhalten, jedoch wurde die Übergangsphase einer relativen
Strafmündigkeit auf die 16- und 17-Jährigen begrenzt. Das
aktuelle Gesetz aus dem Jahr 2007 gab das Wohlfahrtsmodell
zugunsten eines justizmodellorientierten Ansatzes auf, die
Strafmündigkeit liegt jetzt bei 14 Jahren. Ab 18 Jahren beginnt die volle strafrechtliche Verantwortung i.S.d. Erwachsenenstrafrechts.
Der Reformprozess begann in Chile erst mit dem Ende
der Pinochet-Diktatur im Jahr 1989. In der Folge ratifizierte
Chile zahlreiche Menschenrechtsabkommen, bereits 1990 die
Kinderrechtskonvention. Eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung des Gesetzes von 2007 spielten dabei Strafrechtswis21
22
Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 33 ff.
Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 35 f.
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com
3
Alvaro Castro Morales/Frieder Dünkel
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senschaftler (Cillero Bruñol und Couso).23 Von der Einsetzung einer Reformkommission im Jahr 1990 bis zum Inkrafttreten des Gesetzes vergingen 17 Jahre. Grund dafür waren
Prioritätensetzungen zugunsten anderer wichtiger Reformgesetze (hier die Strafprozessreform) und Blockadehaltungen
rechtsgerichteter Abgeordneter im Kongress, denen es vor
allem um Strafschärfungen ging.24 Erst durch den Druck
seitens des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes25
wurde das Gesetz schließlich als Kompromissgesetz verabschiedet, das einerseits die Rechte der Beschuldigten i.S.d.
KRK stärkte, andererseits aber durch strafende Elemente und
die Betonung von Opferinteressen auch für die seinerzeit
konservative Mehrheit im Parlament akzeptabel erschien.
Die Grundlagen des neuen Gesetzes und das Sanktionensystem weisen zahlreiche Ähnlichkeiten mit dem deutschen
Recht auf, wenngleich mit dem „öffentlichen Strafverteidiger“ eine Art institutionalisierte Pflichtverteidigung geschaffen wurde, die es so in Deutschland nicht gibt. Untersuchungshaft ist bei Bagatell- bzw. minder schweren Straftaten
(Strafandrohung bis zu 5 Jahren Freiheitsstrafe) ausgeschlossen, Einschränkungen bzgl. der Haftgründe (vgl. § 72 JGG)
gibt es allerdings nicht. Im Bereich des Sanktionensystems
wurden der Vorrang der Diversion und die Einschränkung
der Freiheitsstrafe als ultima ratio festgeschrieben. Zwar steht
der Erziehungszweck im Vordergrund, jedoch darf der Jugendrichter z.B. bei der Ersetzung freiheitsentziehender
Maßnahmen durch vorzeitige Entlassung aus einer Anstalt
ein „generalpräventives Minimum“ festlegen. Interessant ist
auch der detaillierte Katalog von Ersatzsanktionen im Falle
der Nichterfüllung von bestimmten Sanktionen.26
Die Sanktionspraxis scheint relativ moderat zu sein, ca.
90 % der richterlichen Sanktionen sind ambulante Maßnahmen. Nach einer Untersuchung von UNICEF wurden 20072010 nur 2 % der Verurteilten in einer geschlossenen Anstalt,
weitere 3 % in einer halb geschlossenen Anstalt untergebracht. Allerdings hat sich der Anteil freiheitsentziehender
Maßnahmen 2012 auf 11 % erhöht.27 Diese Zahlen sind mit
Blick auf die informellen Reaktionen weiter zu relativieren.
So gibt es neben der „normalen“ Diversion ohne Auflagen
bzw. Weisungen auch die Einstellung nach erfolgter Wiedergutmachung des Schadens (ein Mediationsverfahren i.e.S.
existiert dagegen noch nicht) sowie die bedingte Verfahrenseinstellung mit Auflagen. Nach einer aktuellen Statistik für
das Jahr 2014 wurden 52 % der Verfahren gegen Jugendliche
aus Opportunitätsgründen, 16 % aus anderen, verfahrenshindernden Gründen eingestellt und 32 % wurden angeklagt.
91 % der formellen Sanktionen betrafen ambulante Maßnah-
23
Vgl. insbesondere Cillero Bruñol, in: UNICEF (Hrsg.),
Revista Justicia y de Derechos del niño, Bd. 2, 2004, S. 53;
Couso/Duce, Juzgamiento Penal de Adolescentes, 2013.
24
Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 50.
25
Vgl. Comité de los Derechos del Nino (Hrsg.), CRC/C/
CHL/CO/3 vom 23.4.2007, 44 Sitzung.
26
Vgl. im Ergebnis Castro Morales (Fn. 2), S. 62.
27
Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 62 f.
men, lediglich 9 % die Einweisung in eine Jugendanstalt. 28
Damit wird deutlich, dass Freiheitsentzug tatsächlich die
ultima ratio darstellt und in einem der deutschen Praxis vergleichbaren Rahmen liegt.
2. Das Jugendstrafrecht in Bolivien
Ein Jugendstrafrecht in Form eines einheitlichen Jugendhilferechts wohlfahrtsstaatlicher Prägung mit eigenständigen
Jugendgerichten wurde in Bolivien gesetzlich erst 1966 geschaffen, allerdings wurden spezifische jugendrechtliche
Sanktionen bereits 1947 per Verordnung eingeführt. Das
zweite Jugendgesetz von 1975 verschärfte vor dem Hintergrund politisch instabiler Verhältnisse die Sanktionen gegenüber Minderjährigen. Auch in Bolivien setzte der Demokratisierungsprozess in den 1980er Jahren Kräfte für eine menschenrechtsorientierte Jugendkriminalpolitik frei und bereits
1992 wurden die Forderungen der KRK in einem „Kindergesetz“ teilweise umgesetzt. Allerdings behielt das Gesetz die
Rechtsfolgen des früheren Gesetzes bei und auch die Anknüpfungspunkte für Interventionen (situación peligrosa
anstatt situación irregular) blieben relativ vage. Das 1999 in
Kraft getretene aktuell geltende Jugendgesetz enthält ebenso
wie in Chile familienrechtliche, sozialrechtliche und jugendstrafrechtliche Regelungen. Eine gegen internationale Standards wie die KRK verstoßende und heftig kritisierte Änderung war die Beschränkung des Jugendstrafrechts i.e.S. auf
12- bis 15-Jährige, während 16- und 17-Jährige nach Erwachsenenstrafrecht sanktioniert werden. Auch in Bolivien ist der
Rechtsschutz für Minderjährige im Rahmen des (staatlichen)
Büros „für Verteidigung von Kindern und Jugendlichen“
formal geschaffen. Ob und wie diese Art Pflichtverteidigung
funktioniert, ist aus den vorhandenen Quellen nicht zu erschließen. Eine verfahrensbezogene Besonderheit ist, dass die
(restriktiv zu handhabende) Untersuchungshaft maximal 45
Tage dauern darf. Das Sanktionensystem ähnelt dem chilenischen, allerdings gibt es mit dem Hausarrest von bis zu 6
Monaten eine Besonderheit hinsichtlich freiheitsentziehender
Maßnahmen. Das Maximum der Jugendstrafe beträgt bei 12und 13-Jährigen drei, bei 14- und 15-Jährigen fünf Jahre (vgl.
Tab. 1; auch für die ambulanten Maßnahmen sind Höchstgrenzen vorgesehen). Zur Sanktionspraxis können leider nur
wenige Daten mitgeteilt werden, weil es auch hier keine
verlässlichen offiziellen Statistiken gibt. Nach dem Bericht
einer Nichtregierungsorganisation (DNI) bestehen nicht weniger als 94 % der gerichtlichen Sanktionen in freiheitsentziehenden Maßnahmen. Grund dafür ist, dass es schlichtweg
an der Infrastruktur für ambulante Sanktionen fehlt. 29
3. Das Jugendstrafrecht in Peru
In Peru geht das geltende Jugendstrafrecht auf die Gesetzgebung von 1924 zurück. Im damaligen Strafgesetzbuch gab es
einen Abschnitt mit speziellen Sanktionen für 13- bis unter
18-jährige gefährdete oder straffällige Jugendliche. Das Ge28
Vgl. Ministerio Publico de Chile (Hrsg.), Informe Anual
2015, Kap. 4.
29
Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 74 ff.
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ZIS 1/2017
4
Jugendstrafrecht und Jugendstrafvollzug in Chile, Bolivien und Peru
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setz von 1962 stand ganz in der Tradition des Wohlfahrtsmodells. Die weitere Entwicklung wurde durch den Kampf gegen den Terrorismus der Gruppe „Leuchtender Pfad“ erschwert. Erst mit der Auflösung dieser Gruppe Anfang der
2000er Jahre wurde dieser Konflikt beendet. Inzwischen war
aber bereits 1992 aufgrund der Ratifizierung der KRK ein
Jugendgesetz verabschiedet worden, das die Vorgaben der
KRK einzulösen versuchte. Es handelt sich dabei ebenso wie
in Bolivien um ein einheitliches Gesetz mit familien-, sozialund jugendstrafrechtlichen Normierungen. Das Jugendstrafrecht findet auf 12- bis unter 18-Jährige Anwendung.
Im Zuge der Terrorismusbekämpfung wurde 1998 ein Gesetz erlassen, das es ermöglichte 16- und 17-Jährige im Fall
der Beteiligung an terroristischen Akten nach Erwachsenenstrafrecht abzuurteilen. Die maximale Freiheitsstrafe für
Minderjährige wurde auf 6 Jahre erhöht. Ferner wurden (jugendtypische) Bandendelikte verstärkt kriminalisiert. Der
ebenfalls neu eingeführte kommunale Soziale Dienst war
außerordentlich militärisch geprägt und dürfte mit einer modernen Erziehungssanktion wenig gemein gehabt haben. Er
wurde demgemäß durch die Reform des Jahres 2000 wieder
abgeschafft. Das Gesetz von 2000 ist wie sein Vorgänger von
1992 ein integriertes Jugendgesetz mit familien-, sozial- und
jugendstrafrechtlichen Normen. Im strafrechtlichen Bereich
wurde das sehr weite Konzept der „schädlichen Bande“ beibehalten. Der Anwendungsbereich des Jugendstrafrechts
betrifft die 12- bis unter 18-Jährigen. Die maximale Dauer
der Freiheitsstrafe beträgt 3 Jahre, im Fall der Mitgliedschaft
in einer „schädlichen Bande“ jedoch 6 Jahre. Dieses Konzept
der „schädlichen Bande“ unterläuft das ansonsten in Peru
hervorgehobene Gesetzlichkeitsprinzip. Auch in Peru gibt es
ein interdisziplinäres Team, das inhaltlich dem europäischen
„multi-agency approach“ (vgl. Nr. 15 der ERJOSSM) oder
der deutschen Jugendgerichtshilfe entsprechen dürfte. Eigenständige Verteidigerbüros für Minderjährige gibt es dagegen
im Gegensatz zu Chile und Bolivien nicht. Der Rechtsschutz
für jugendliche Straftäter ist zusätzlich noch dadurch erschwert, dass die im Einzelfall ernannten Pflichtverteidiger
keinen Kostenersatz erhalten, weshalb das Interesse an einer
derartigen Tätigkeit erwartungsgemäß gegen Null tendiert.
Das Sanktionensystem ähnelt stark dem bolivianischen System, indem für die einzelnen Erziehungsmaßnahmen jeweils
eine maximale Dauer festgelegt wird.30
Die Angaben zur Sanktionspraxis sind auch in Peru spärlich, immerhin deutet sich – ähnlich wie in Bolivien – eine
relativ rigide Praxis an, wenn man bedenkt, dass 2007 66 %
(2012: 64 %) der gerichtlich verhängten Maßnahmen die
Freiheitsstrafe betrafen. Die sog. „eingeschränkte Freiheit“,
eine ambulante Betreuung mit täglichen Meldepflichten
nimmt mit 2007 33 % bzw. 2012 35 % den größten Anteil
nicht-freiheitsentziehender Sanktionen ein, d.h. alle anderen
Maßnahmen wie die stärker erzieherisch geprägte „betreute
Freiheit“ oder die gemeinnützige Arbeit spielen mit Anteilen
von unter 1 % keine Rolle. Die Sanktionspraxis wurde vom
Ombudsmann ebenso wie vom UN-Ausschuss für die Rechte
des Kindes stark kritisiert, da Angehörige unterer sozialer
30
Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 86.
Schichten systematisch diskriminiert und die Prinzipien der
Beijing-Rules der UN missachtet würden.31
Der Vergleich der drei im Einzelnen betrachteten Länder
zeigt, dass die relevanten Altersgrenzen des Jugend- und
Erwachsenenstrafrechts recht unterschiedlich sind. Die
Strafmündigkeit beginnt in Bolivien und Peru mit 12 Jahren,
in Chile wie in Deutschland „erst“ mit 14. Heranwachsendenregelungen gibt es in den lateinamerikanischen Ländern insgesamt nur in Brasilien und Uruguay (s.o.), während in Europa auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, Soziologie und neuerdings der Neurowissenschaften deutlich andere Tendenzen vorherrschen,
die als Vorbild auch für Lateinamerika gesehen werden. 32
Trotz einiger Ähnlichkeiten unterscheiden sich die Sanktionssysteme der 4 verglichenen Länder z.T. erheblich. So
sind Geldstrafen oder entsprechende Auflagen nur in Chile
und Deutschland vorgesehen. Bemerkenswert ist, dass es in
Chile keine unmittelbare Aussetzung der Jugendstrafe gibt,
wenngleich die Rechtsinstitute der betreuten oder speziell
betreuten Freiheit – auch wenn es keine Bewährungshilfe im
eigentlichen Sinn gibt – funktional einer Bewährungsstrafe
i.S.d. anglo-amerikanischen „probation“ oder einer Betreuungsweisung entsprechen dürften.
III. Jugendstrafvollzug in Chile, Bolivien und Peru
Für den europäischen Leser überraschend ergibt sich ein
vielfältiges Bild von „hard“ und „soft law“ bzgl. der allgemeinen menschenrechtlichen Vorgaben für jugendliche Inhaftierte in Amerika. Die Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK) gehört zum rechtlich verbindlichen
Normenbestand. Sie wurde nach ihrer Inkraftsetzung im Jahr
1978 von 25 Ländern des amerikanischen Kontinents ratifiziert. Ebenso verbindlich und sogar im Rang der Verfassung
übergeordnet oder gleichgestellt ist – wie erwähnt – die
KRK.
Die Interamerikanische Konvention zur Verhütung von
Folter ist das amerikanische Pendant zur Anti-FolterKonvention des Europarats.
Sog. „soft law“ stellen die amerikanischen Strafvollzugsgrundsätze dar. Die 5. Säule des Menschenrechtsschutzes für
jugendliche Inhaftierte stellen die sog. Havanna-Rules der
Vereinten Nationen, die ebenso wie ihr moderneres Europäi-
31
Vgl. Defensoría del Pueblo (Hrsg.), Serie de informes
defensoriales, Informe Nr. 157, 2012, S. 42; Castro Morales
(Fn. 2), S. 87.
32
Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 89, mit Verweis auf Pruin
(Fn. 12); Pruin/Dünkel (Fn. 12) und Dünkel/Geng, in: Boers/Feltes/Kinzig/Sherman/Streng/Trüg (Hrsg.), Kriminologie
– Kriminalpolitik – Strafrecht. Festschrift für Hans-Jürgen
Kerner zum 70. Geburtstag, 2014, S. 562; vgl. zur Reform in
den Niederlanden mit einer Ausweitung des JGG auf Heranwachsende bis 23 Jahre und den entwicklungspsychologischen und neurowissenschaftlichen Begründungen Loeber u.a.,
in: Loeber/Hoeve/Slot/van der Laan (Hrsg.), Persisters and
Desisters in Crime from Adolescence into Adulthood, Explanation, Prevention and Punishment, 2012, S. 335.
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Alvaro Castro Morales/Frieder Dünkel
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sches Pendant, die ERJOSSM von 2008,33 als Orientierungshilfe für zukünftige Menschenrechtsstandards in Lateinamerika wichtig erscheinen. Bemerkenswert ist die Aufwertung
der sog. „Soft-law“-Normierungen durch die Rechtsprechung, hier durch den Interamerikanischen Gerichtshof für
Menschenrechte.34
In der Folge werden die rechtlichen Regelungen und
rechtstatsächliche Daten zum Jugendstrafvollzug in Chile,
Bolivien und Peru dargestellt.
1. Jugendstrafvollzug in Chile
Was zunächst Chile anbelangt, so ist die Geschichte der Inhaftierung Jugendlicher seit Ende des 19. Jahrhunderts von
Unzulänglichkeiten der Unterbringungspraxis gekennzeichnet. Erst 1994 wurde die Unterbringung Jugendlicher in Erwachsenengefängnissen gesetzlich untersagt. Die aktuelle
Rechtslage beinhaltet grundlegende Einzelregelungen für den
Jugendvollzug innerhalb des Jugendgesetzes von 2007. Die
Detailregelungen finden sich dagegen in Verwaltungsvorschriften (vgl. die sog. JVV). Die Situation ähnelt insoweit
derjenigen in Deutschland vor 2008. Immerhin werden aber
Beschwerderechte (vgl. dazu einschränkend unten) und das
Recht auf einen Rechtsbeistand auch im Vollzug gesetzlich
vorgegeben. Die einzelnen Rechte von Jugendgefangenen
entsprechen nach Inhalt und Aufbau den internationalen
Standards und mit Blick auf die deutschen Jugendstrafvollzugsgesetze bzw. allgemeinen Strafvollzugsgesetze werden
deutliche Parallelen erkennbar. So werden u.a. ein individueller Vollzugsplan, Lockerungen und Besuchskontakte (mindestens einmal pro Woche) vorgesehen.
Mit Blick auf die in Deutschland intensiv geführte Diskussion auf ein Recht auf Einzelunterbringung während der
Ruhezeit findet man in Chile nichts Vergleichbares. Die
Unterbringung erfolgt in Mehrbetträumen mit 2 bis 4 Betten.
Entsprechende Standards werden angesichts des deutlichen
Belegungsrückgangs von 5.346 auf 1.249 im Zeitraum 1990201235 derzeit unproblematisch eingehalten.
Disziplinarmaßnahmen werden in der JVV nach der
Schwere des Anlasses differenziert, wobei ein Katalog von
„schwerwiegenden“ und „weniger schwerwiegenden“ Verstößen enumerativ aufgelistet wird. Eine Isolationssanktion
wie den disziplinarischen Arrest in Deutschland gibt es in
Chile nicht. Die schwerste Sanktion ist ein Lockerungsverbot
(Ausgänge) für bis zu 30 Tage. Nach der JVV gibt es eine
isolierende Maßnahme nicht als Disziplinarmaßnahme, sondern nur als Sicherungsmaßnahme (vergleichbar der deutschen Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum), deren Höchstdauer 7 Tage beträgt. Aus deutscher
Sicht verfassungsrechtlich bedenklich ist die Untersagung des
Besuchs von Ehegatten für bis zu zwei Monate als Disziplinarmaßnahme.36 Als besonders problematisch ist der eingeschränkte Rechtsschutz gegen Disziplinarmaßnahmen anzusehen, die als nicht justiziable verwaltungsinterne Angele33
Vgl. hierzu zusammenfassend Dünkel, ZJJ 2011, 140.
Siehe dazu Castro Morales (Fn. 2), S. 203 ff. und unten IV.
35
Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 126.
36
Vgl. dazu kritisch Castro Morales (Fn. 2), S. 121.
34
genheit betrachtet werden.37 Das Jugendgesetz von 2007
bleibt diesbezüglich vage und eröffnet kein dem deutschen
Recht vergleichbares Verfahren eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung (vgl. § 92 JGG i.V.m. §§ 109 ff.
StVollzG). Lediglich eine Beschwerde an den regionalen
Direktor des Vollzugs ist möglich.
Der chilenische Jugendstrafvollzug ist verfassungsrechtlich zu problematisieren: Zum einen wegen der nur rudimentären Regelungen im Jugendgesetz von 2007, zum anderen
wegen der Regelung wesentlicher Fragen lediglich in Verwaltungsvorschriften, wodurch das auch in der chilenischen
Verfassung enthaltene Gesetzlichkeitsprinzip und das Prinzip
des Vorbehalts des Gesetzes verletzt werden.
Die rechtstatsächliche Situation des Jugendvollzugs in
Chile ist von interessanten Besonderheiten geprägt. Im Gegensatz zum allgemeinen Trend der Entwicklung der Gefangenenzahlen in Chile und Lateinamerika (vgl. Tab. 2) ist die
Entwicklung im Jugendvollzug stark rückläufig: Im Zeitraum
1990-2012 sanken die Jugendgefangenenzahlen von mehr als
5.000 auf 1.249 (31.3.2012), d.h. auf etwa ein Fünftel (s.o.).
Insgesamt war der Jugendstrafvollzug bei 1.471 Haftplätzen
nicht überbelegt, in 5 der 17 Anstalten jedoch durchaus (mit
Spitzenwerten von + 68 %.38
Die stichtagsbezogene Deliktsstruktur ist wesentlich
durch Eigentumsdelikte ohne (knapp 37 %) und mit Gewalt
(Raub, Erpressung; ca. 27 %) geprägt.
Der Anteil von Untersuchungsgefangenen liegt insgesamt
bei 38 %, steigt allerdings in einzelnen Regionen auf über
50 %, im Extremfall auf 76 % in der Region Aysen.39
Zur Situation der Menschenrechte im Jugendvollzug gibt
es Berichte von UNICEF und von der Aufsichtskommission
des Justizministeriums. Der UNICEF-Bericht vermittelt Unzulänglichkeiten in nahezu allen denkbaren Bereichen der
Unterbringung, Ausbildung, medizinischen Versorgung,
Disziplinierung, des Personals bis hin zu mangelhafter Infrastruktur (schlechter Zustand von Wasserleitungen, der Gebäude) etc. Als besonders problematisch werden die Jugendabteilungen innerhalb von Erwachsenenanstalten charakterisiert.
Auch die Berichte der Aufsichtskommissionen des Justizministeriums waren durchaus kritisch und vermerkten
erhebliche, z.T. auch neue Probleme im Vergleich zu früheren Berichten.
Die Befunde der Interamerikanischen Menschenrechtskommission aus dem Jahr 2008 ergaben für den chilenischen
Strafvollzug insgesamt und den Jugendvollzug im Besonderen gleichfalls inakzeptable Lebensbedingungen und unzureichende rechtliche Garantien. Als Gründe für die Unterentwicklung des Jugendstrafvollzugs werden die unzureichende
37
Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 122.
Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 130; zu einer ähnlichen
Entwicklung
ansteigender
Gefangenenzahlen
bei
Erwachsenen
bei
gleichzeitig
sinkenden
Zahlen
Minderjähriger in geschlossenen Jugendeinrichtungen in
Brasilien und Kolumbien (2007-2011) vgl. Beloff/Langer
(Fn. 1), S. 223 ff.
39
Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 135.
38
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ZIS 1/2017
6
Jugendstrafrecht und Jugendstrafvollzug in Chile, Bolivien und Peru
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gesetzliche Regelung im Jugendgesetz und die mangelnden
Kontrollmechanismen genannt. In der seit Ende der 1990er
Jahre besonders ausgeprägten allgemeinen Strafschärfungsdebatte blieb kaum Raum für eine differenzierte Menschenrechtsdebatte zugunsten Inhaftierter. Nicht zuletzt die Prioritätensetzung zugunsten notwendiger Reformen im allgemeinen Straf- und Strafprozessrecht führte dazu, dass der Jugendvollzug „auf der Strecke“ blieb. Widerstände kamen
nicht zuletzt von Seiten des Justizministeriums und der Strafvollzugsbehörden, die an Veränderungen nicht interessiert
waren. Auch mangelte es bislang an interessierten Wissenschaftlern, die empirische Forschungen durchführen und sich
am Prozess der Erneuerung des Jugendvollzugs engagiert
beteiligen wollten oder konnten.
2. Jugendstrafvollzug in Bolivien
In Bolivien stellt sich die Situation des Jugendstrafvollzugs
ähnlich bedrückend wie in Chile dar. Der Jugendvollzug ist
gesetzlich ebenfalls nur rudimentär geregelt, und zwar in
einem Abschnitt des allgemeinen Strafvollzugsgesetzes.
Auch im Jugendgesetz von 1999 finden sich einige Regelungen, überwiegend sind aber auch hier Verwaltungsvorschriften maßgebend.
Die Bestandsaufnahme des Jugendstrafvollzugs offenbart
gleichfalls erhebliche Unzulänglichkeiten. Angesichts einer
nur in einem Departement (von insgesamt 9) zur Verfügung
stehenden Infrastruktur für alternative Sanktionen stieg die
Zahl von Jugendgefangenen von 1994-2010 auf ca. das Dreifache (von 283 auf 876). Besonders problematisch sind die
Lebensbedingungen und die Situation der Überbelegung bei
16- und 17-Jährigen, die im Erwachsenenvollzug untergebracht werden. Die Datenlage ist in Bolivien noch schlechter
als in Chile. Außer dem Bericht des Ombudsmanns von 2009
gibt es kaum verlässliche Daten zu den Haftbedingungen von
jungen Gefangenen. Die Gründe für die Unterentwicklung
des Jugendvollzugs liegen auch in Bolivien in der Verschärfung der allgemeinen Kriminalpolitik, der Prioritätensetzung
zugunsten anderer Reformen und der fehlenden Teilnahme
von Experten.40
3. Jugendstrafvollzug in Peru
In Peru ist der Jugendvollzug in einigen Vorschriften des
Kinder- und Jugendgesetzbuchs sowie detaillierter in Verwaltungsvorschriften geregelt. Damit ergibt sich auch für Peru
ein rechtsstaatlich bedenklicher Rechtszustand. Immerhin
enthalten die Verwaltungsvorschriften detaillierte Regelungen zur Wiedereingliederung von Jugendstrafgefangenen in
geschlossenen und offenen Einrichtungen einschließlich
ergänzender Programme für Gewalttäter etc. und Maßnahmen
des Übergangsmanagements.
Die rechtstatsächliche Bestandsaufnahme des peruanischen Jugendvollzugs fällt ebenfalls ernüchternd aus: Ebenso
wie in Bolivien, aber im Gegensatz zu Chile, hat sich die
Belegung 2000-2012 nahezu verdoppelt. Ursache scheint eine
Jugendliche mit Defiziten im familiären und sozialen Bereich
benachteiligende Sanktionspraxis zu sein. Die Folge sind
Probleme der Überbelegung vor allem in den großen Städten.
Die Insassenstruktur weist auch in Peru die bekannten
Merkmale sozialer Marginalisierung auf. Von den Delikten
her gesehen überwiegen Eigentumsdelinquenten, Sexualdelikte mit fast 19 % sind im Vergleich zu anderen Ländern
deutlich überrepräsentiert (was erklärungsbedürftig erscheint). Der Untersuchungshaftanteil mit 16 % der inhaftierten Jugendlichen ist ausgesprochen niedrig und steht im Gegensatz zu zahlreichen anderen lateinamerikanischen Ländern. Offensichtlich gibt es auch dazu keine Ursachenforschung.
Außerordentlich spannend sind die Berichte des peruanischen Ombudsmanns über die Situation der Menschenrechte
in Jugendgefängnissen. Sie „beschreiben eine besorgniserregende Realität von Armut, Gewalt, Überbelegung, Korruption, Krankheit und prekärer Infrastruktur in den Anstalten“. 41
Auch in Peru sind die Gründe für die Unterentwicklung des
Jugendstrafvollzugs vielfältig, jedoch vergleichbar mit den
Aussagen zu Chile und Bolivien: Die Verschärfungstendenzen in der allgemeinen Kriminalpolitik, Prioritätensetzung
zugunsten anderer Reformgesetze und die fehlende Beteiligung von (wissenschaftlichen) Experten. So bleibt der Ombudsmann auch hier eine der wesentlichen Quellen für rechtstatsächliche Daten zum Strafvollzug.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Jugendvollzug trotz der für Lateinamerika festgestellten Defizite im
Vergleich zum Erwachsenenvollzug generell besser ausgestattet ist. Andererseits gibt es in Chile, Bolivien und Peru
eine ausgeprägte Kultur der Gewalt, Korruption und eine
mangelnde Infrastruktur für ein wiedereingliederungsförderndes Übergangsmanagement. Als ausgesprochen defizitär
im Vergleich zu Deutschland ist die fehlende detaillierte
gesetzliche Regelung des Jugendstrafvollzugs in den lateinamerikanischen Ländern zu kritisieren, was als Verstoß gegen die internationalen Menschenrechtsstandards zu werten
ist.
Als positiv ist der wachsende Einfluss internationaler
Menschenrechtsstandards anzuerkennen. Andererseits ist die
Entwicklung detaillierterer Menschenrechtsstandards bzw.
spezifisch amerikanischer Empfehlungen vergleichbar den
ERJOSSM in Europa dringend geboten. Ebenso richtig erscheint, auf das Potenzial der Strafvollzugsforschung als
wesentlichen Motor der Reform des Jugendstrafvollzugs zu
verweisen. In Lateinamerika scheint dies aus verschiedenen
Gründen noch nicht umsetzbar zu sein. Möglicherweise ist
allerdings jetzt der Zeitpunkt gekommen, kriminalpolitisch
neue Akzente zu setzen und die jahrzehntelange legislatorische Vernachlässigung des Jugendvollzugs umzukehren.
IV. Kontrollmechanismen im Jugendstrafvollzug in Chile,
Bolivien und Peru
Die Notwendigkeit eines umfassenden Systems von Kontrollmechanismen im Jugendstrafvollzug ist unbestritten und
für Lateinamerika von besonderer Bedeutung. Zu unterschei41
40
Vgl. Castro Morales (Fn. 2), S. 151 ff.
Vgl. Defensoría del Pueblo (Fn. 31), S. 89; Castro Morales
(Fn. 2), S. 173.
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Alvaro Castro Morales/Frieder Dünkel
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den sind die richterliche Kontrolle von Vollzugsentscheidungen und Ansprüche, Beschwerden und Anfragen gegenüber
dem Anstaltsleiter. Der gerichtliche Rechtsschutz ist sowohl
in der AMRK wie in der KRK verankert. Aber auch die
„Grundsätze für den Schutz der Gefangenen in Amerika“
verpflichten die Mitgliedsstaaten der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) den gerichtlichen Rechtsschutz auszubauen. Neben dem allgemeinen Beschwerderecht werden
auch Kontrollmechanismen durch unabhängige Gremien wie
z.B. Ombudsleute oder durch von den Strafvollzugsbehörden
eingerichtete Aufsichtskommissionen gefordert.
Internationale Kontrollinstanzen wie die IKM und die Befunde aus deren Besuchen bzw. Inspektionen in lateinamerikanischen Gefängnissen sowie Entscheidungen des IGM
haben einen beachtlichen Fortschritt der menschenrechtlichen
Situation in lateinamerikanischen Gefängnissen gebracht.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der IGM zunehmend die Rechtsprechung des EGMR beachtet und sie als
Orientierungshilfe verwendet.
Der IGM sieht in den Menschenrechtsinstrumenten der
AMRK, der KRK, aber auch den Empfehlungen der Vereinten Nationen einen „Corpus Juris der Menschenrechte“ für
Minderjährige, an dem sich die Rechtssysteme der Staaten zu
orientieren haben. Das klingt auffällig ähnlich der Entscheidung des BVerfG vom 31.5.2006, in der es eine Indizwirkung
der Verfassungswidrigkeit für Normen angenommen hat, die
diese internationalen Standards unterschreiten. 42 Auch die
vom IGM in seiner Rechtsprechung entwickelte besondere
Schutzpflicht des Staates gegenüber inhaftierten Jugendlichen
aufgrund deren besonderer Verletzlichkeit findet im Urteil
des BVerfG und diesem nachfolgend in den gesetzlichen
Neuregelungen zum Jugendstrafvollzug in einzelnen Bundesländern Entsprechung. Bemerkenswert ist ferner die Rechtsprechung des IGM hinsichtlich der lebenslangen Freiheitsstrafe, die als unmenschliche und erniedrigende Bestrafung
angesehen wird. Weitere herausragende Urteile des IGM zum
Jugendstrafvollzug betreffen das Recht auf Ausbildung und
Beschäftigung junger Inhaftierter und das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz bei einer vorläufigen Inhaftierung.
Der IGM hat in seiner Rechtsprechung verschiedene
Formen der Wiedergutmachung entwickelt. So wirksam
einzelne Urteile für die Fortentwicklung der Menschenrechtssituation junger Inhaftierter waren, so bedenklich bleibt doch
die sehr lange Verfahrensdauer, die bei den geschilderten
Fällen zwischen 4 und 14 Jahre betrug, in den meisten Fällen
zwischen 7 und 12 Jahre.
Die nationalen Kontrollmechanismen in Chile, Bolivien
und Peru sind noch sehr defizitär. In Chile gibt es kein gerichtliches Verfahren ähnlich der §§ 109 ff. StVollzG in
Deutschland. Der sog. Garantie-Richter hat lediglich die
Aufgabe die Anstalten zu inspizieren. Die Individualbeschwerde zu den obersten Gerichten ist zwar wie für jeden
Bürger möglich, jedoch zumeist aussichtslos, abgesehen
davon, dass die jugendlichen Inhaftierten faktisch keinen
Zugang haben (eine Situation vergleichbar mit dem Zustand
vor 2006, als in Deutschland nur der komplizierte Rechtsweg
42
Vgl. BVerfG NJW 2006, 2093 (2097).
gem. § 23 EGGVG zu den Oberlandesgerichten eröffnet war,
was vom BVerfG als verfassungswidrig eingestuft wurde).
So bleiben in Chile als wichtigste Kontrollorgane für die
Gefangenen die sog. Aufsichtskommission und der Ombudsmann, die tatsächlich großen Einfluss zu haben scheinen.
Auch in Bolivien gibt es keinen gerichtlichen Rechtsschutz zu einem Strafvollstreckungsgericht o.ä. Lediglich
Beschwerden zum Anstaltsleiter und eine Verfassungsbeschwerde sind – wie in Chile – möglich, wobei die Acción de
Libertad gegen willkürliche Festnahmen schützen soll. Die
richterliche Aufsicht der Anstalten scheint wenig effektiv zu
sein, sodass als einzige einigermaßen erfolgversprechende
bzw. effektive Kontrollinstanz der Ombudsmann (Defensor
del Pueblo) verbleibt.
Ähnlich problematisch sind die Kontrollmechanismen in
Peru ausgestaltet. Hier hat die Staatsanwaltschaft (kein Richter) die Aufsichtsfunktion gegenüber den Anstalten durch
regelmäßige Besuche auszuüben. Individuelle Beschwerden
zum Anstaltsleiter und eine Individualverfassungsbeschwerde
sind möglich. Das Verfassungsgericht hat im Rahmen der
sog. Habeas-Corpus-Verfahren verschiedentlich menschenrechtliche Fragen angesprochen und eine Verbesserung der
Unterbringung und Ernährung, die Verlegungspraxis, die
Gewährung von Lockerungen, verbesserte Besuchsregelungen etc. angemahnt. In Peru scheint das Verfassungsgericht
eine wirksame Kontrollinstanz zu sein, wenngleich auch hier
der faktische Zugang schwer sein dürfte.
Der Vergleich mit Deutschland macht die Defizite des gerichtlichen Rechtsschutzes in Chile, Bolivien und Peru deutlich. In diesem Zusammenhang ist auch auf die verbesserten
Rechtsschutzmöglichkeiten in Deutschland nach der Reform
des § 92 JGG im Jahr 2008 hinzuweisen. Defizite des deutschen Rechts könnte man hinsichtlich des in Lateinamerika
bedeutenden und offensichtlich wirksam arbeitenden Ombudsmanns feststellen, nachdem nur Nordrhein-Westfalen die
Institution eines Strafvollzugsbeauftragten geschaffen hat.
V. Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend ist nochmals auf die Gründe für die Unterentwicklung der Materie des Jugendstrafvollzugsrechts in
Chile, Bolivien und Peru zu verweisen: Fehlende Prioritätensetzung, allgemein ungünstiges kriminalpolitisches Klima,
weitgehende Abstinenz der Wissenschaft und unterentwickeltes Bewusstsein für menschenrechtliche Belange. Zugleich ist
auf die Notwendigkeit eines Jugendstrafvollzugsgesetzes für
die drei untersuchten Länder hinzuweisen. Das zweite besonders wichtige Reformanliegen ist die Schaffung eines gerichtlichen Rechtsschutzverfahrens, dessen Fehlen als Verfassungsverstoß bzw. Verstoß gegen die anerkannten (internationalen und amerikanischen) Menschenrechtsstandards anzusehen ist. Die Notwendigkeit eines Strafverteidigers für jugendliche Gefangene, die Professionalisierung des Personals,
die Entwicklung von Arbeitsstandards als Garantie für die
Aufrechterhaltung des Rechts, insbesondere um die weit
verbreitete Korruption in Anstalten zu bekämpfen, sind weitere Reformaspekte. Nicht zuletzt ist die Notwendigkeit kriminologischer Forschung im Strafvollzug hervorzuheben.
Erste Ansätze sind zumindest in Chile erkennbar.
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Jugendstrafrecht und Jugendstrafvollzug in Chile, Bolivien und Peru
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Tabelle 1: Vergleich der Altersgrenzen strafrechtlicher Verantwortlichkeit und maximale Dauer der Jugendstrafe
Land
Argentinien
Bolivien
Brasilien
Chile
Costa Rica
Dominikanische
Republik
Ecuador
El Salvador
Guatemala
Honduras
Kolumbien
Nicaragua
Panama
Paraguay
Peru
Uruguay
Venezuela
Strafmündigkeitsalter
Alter, ab dem Erwachsenenstrafrecht angewendet werden kann/
muss
16
18
Entwurf
2005: 14
18
12/14
16
12*/18
18/21
14/16
18
12/15
18
13
18
12
18
12/16
18
13/15
18
16
14/16
12
14
14
12
13
18
18
18
18
18
17
18
12/15
18/21
Maximale Dauer der Sanktion
Lebenslange Freiheitsstrafe vor der Entscheidung des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom
14.05.2013;
14-15: 3 Jahre
16-17: 5 Jahre
12-14 = 3 Jahre
14-16 = 5 Jahre
3 Jahre
14-15 = 5 Jahre
16-17= 10 Jahre
12-15 = 10 Jahre
15-18 = 15 Jahre
13-15 = 3 Jahre
16-18 = 5 Jahre
4 Jahre
12-15 = 5 Jahre
16-18 = 7 Jahre
13-15 = 2 Jahre
15-18 = 6 Jahre
8 Jahre
8 Jahre
6 Jahre
7 Jahre
8 Jahre
3 Jahre
5 Jahre
12-14 = 2 Jahre
15-18 = 5 Jahre
* Keine Strafmündigkeit i.e.S., sondern Mindestalter für die Anwendung des Kinderschutzgesetzes (Estatuto del niño y adolescente von 1990); Maßnahmen nach diesem Gesetz können bis zur Vollendung des 21. Lebensjahrs fortdauern.
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Alvaro Castro Morales/Frieder Dünkel
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Tabelle 2: Die Entwicklung der Gefangenenraten pro 100.000 der Wohnbevölkerung in Lateinamerika 2000 bis 2015/16
Land
2000
2004
2008
2012
2014
2015
Argentinien
Bolivien
Brasilien
Chile
Costa Rica
Ecuador
Guatemala
Honduras
Kolumbien
Mexiko
Nicaragua
Panama
Paraguay
Peru
Uruguay
Venezuela
151*
95
133
215
193
64
62
178
128
156
128
280
60
107
135
58
168
70
184
226
209
84
70
160
159
186
116
342
104
114
207
76
249
75
234
311
214
83
60
149
154
202
120
270
93
151
229
85
k.A.
135
275
294
303
135
100
152
237
206
160
378
117
193
277
150
160
134
301
247
352
162
115
196
231
214
171
386
158
228
279
166
k.A.
122
k.A.
242
k.A.
k.A.
121
k.A.
242**
212
k.A.
392
k.A.
247
291
159
Veränderung
in %
+ 6,0
+ 28,4
+ 126,3
+ 12,6
+ 82,4
+ 153,1
+ 95,2
+ 10,1
+ 89,1
+ 35,9
+ 33,6
+ 40,0
+ 163,3
+ 130,8
+ 115,6
+ 174,1
* 2002; ** 31.1.2016.
Tabelle 3: Belegung und Belegungskapazitäten (Überbelegung) und Anteile von Untersuchungsgefangenen sowie Jugendstrafgefangenen in Lateinamerika 2015
Land
Belegungskapazität
2015
Belegung 2015
Überbelebung in
%*
Anteil
von
Untersuchungsgefangenen in %
Argentinien
Bolivien
Brasilien
Chile
Costa Rica
Ecuador
Guatemala
Honduras
66.239*
5.126
376.669*
41.034
9.791*6
22.635*
6.809*
69.060*
13.468
607.731*
43.336
17.440*
25.902*
19.810
+ 4,3
+ 162,7
+ 61,3
+ 5,6
+ 78,1
+ 14,4
+ 190,9
50,9
85,9
38,3
29,7
17,2
48,8*
48,6
8.526*
16.331*
+ 91,5
51,8
Kolumbien
Mexiko
Nicaragua
Panama
Paraguay
Peru
Uruguay
77.953*5
202.896
4.742*4
13.910
6.637*
32.922
120.736*5
255.138
10.569
15.508
10.949*
77.244
+ 54,9
+ 25,8
+ 122,9
+ 11,5
+ 65,0
+ 134,6
35,9*5
42,1
12,3*3
62,6*
75,1
50,7
9.195
9.996
+ 8,7
69,4
19.000*
49.664
+ 161,4
63,4
Venezuela
Anteil Jugendlicher (< 18 J.) im
Strafvollzug in
%
0,03
12,9**
0,0
0,4
1,6
3,1*3
4,6
0,0 (356 in JuHiEinr.)
0,0
14,0
0,6*3
0,0
3,1*6
0,0
0,0 (680 in JuHiEinr.)
0,0 (k.A. zu
JuHi-Einr.)*8
* 2014; ** unter 21-Jährige 2012; *3 2012; *4 2010; *5 31.1.2016; *6 2013; *7 Die vom International Centre for Prison Studies
ausgewiesenen Prozentanteile weichen teilweise infolge anderer Bezugsgrößen geringfügig ab. * 8 JuHi-Einr. = Einrichtungen
der Jugendhilfe.
_____________________________________________________________________________________
ZIS 1/2017
10
Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick*
Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Dominik Brodowski, LL.M. (Univ. Pennsylvania), Frankfurt a.M.
Zwei Marksteine der Europäisierung der Strafrechtspflege
befinden sich auf der Zielgeraden: Das sogenannte vierte
Maßnahmenpaket für Verfahrensrechte für Beschuldigte und
Verdächtige ist weitgehend in Kraft; über die Verordnung
über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft
konnte eine weitreichende konzeptionelle Einigung erzielt
werden. Als teils zu derartigen Kodifikationen gegenläufige
Entwicklung ist zugleich eine zunehmende Informalisierung
und Privatisierung der Rechtshilfe zu verzeichnen, so etwa
bei der Zusammenarbeit von Strafverfolgungsbehörden mit
Internetdiensteanbietern. Von wesentlicher Bedeutung für die
weitere Europäisierung sind ferner aktuelle Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, so zum europäisch-transnationalen ne bis in idem, zum Auslieferungsschutz gegenüber Drittstaaten, zu Verfahrensrechten, zum Europäischen
Haftbefehl und verstärkt auch zur Europäischen Vollstreckungsanordnung. Diese und zahlreiche weitere Entwicklungen im Bereich der Europäisierung der Strafrechtspflege von
November 2015 bis September 2016 werden hier im Anschluss an ZIS 2016, 106, im Überblick vorgestellt und einer
ersten Analyse unterzogen.
Two major building blocks of European Criminal Law are
nearing completion: Most of the remaining elements of the
roadmap for strengthening procedural rights of suspected or
accused persons are in force; the Regulation on the European Public Prosecutor's Office is nearing completion. In partial contrast thereto, a trend to informal cooperation is
emerging, most noticeable in the interaction between authorities and Internet service providers. Other major aspects for
the continuing Europeanization of Criminal Justice are current ECJ preliminary proceedings, e.g. concerning ne bis in
idem, the protection against extradition to third countries,
procedural rights, the European Arrest Warrant and – increasingly – the European Enforcement Order. These and
several further developments in EU Criminal Justice between
November 2015 and September 2016 are presented in this
overview, which follows up on ZIS 2016, 106.
I. Strafrechtsverfassung
1. EU-Sicherheitsunion
Am 20.4.2016 legte die EU-Kommission eine Mitteilung zur
„Umsetzung der Europäischen Sicherheitsagenda im Hinblick
auf die Bekämpfung des Terrorismus und die Weichenstellung für eine echte und wirksame Sicherheitsunion“ vor. 1 In
* Fortsetzung von ZIS 2010, 376; ZIS 2010, 749; ZIS 2011,
940; ZIS 2012, 940; ZIS 2013, 455; ZIS 2015, 79; ZIS 2016,
106. Alle in diesem Bericht aufgeführten EU-Rechtsakte und
EU-Rechtsetzungsvorgänge sind in der Datenbank
http://db.eurocrim.org/ verfügbar.
1
KOM (2016) 230 endg. v. 20.4.2016. Zur Europäischen
Sicherheitsagenda siehe zuvor EUCO 22/15, Nr. 10; KOM
(2015) 185 endg. v. 28.4.2015, Ratsdok. 15670/14, P8_TAPROV (2015) 0269, sowie Brodowski, ZIS 2016, 106 (109).
bedauerlicher Verquickung von Terrorismus einerseits und
schwerer und organisierter Kriminalität andererseits betont
sie in den allgemeinen, einleitenden Worten die Bedeutung
eines umfassenden transnationalen Austauschs von strafverfolgungs- und gefahrenabwehrrelevanten Informationen.2
Neben bereits im Gesetzgebungsverfahren befindlichen oder
zwischenzeitlich abgeschlossenen Maßnahmen3 teilt die
Kommission mit, noch 2016 Legislativvorschläge zur „Harmonisierung von Straftatbeständen und Sanktionen im Bereich der Geldwäsche“, für eine „Richtlinie zur Bekämpfung
von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren
Zahlungsmitteln“ sowie zur (Überarbeitung der) „gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen zur Sicherstellung und
Einziehung von Erträgen aus Straftaten“ vorlegen zu wollen.4
Ergänzend bietet ein Arbeitspapier des Rates Aufschluss über
potentielle zukünftige Legislativmaßnahmen und deren politische Priorisierung; darin wird u.a. die Einrichtung eines
Europäischen Kriminalaktennachweises (EPRIS) erwogen. 5
2. Beitritt zur EMRK;6 Prüfungsmaßstab des EGMR bei
unionsrechtlich determinierten Sachverhalten
Nach wie vor sind nur zögerliche Schritte zu vernehmen, wie
sich der Beitritt der EU zur EMRK trotz des ablehnenden
Gutachtens des EuGH zum Entwurf eines Beitrittsabkommens7 realisieren lässt.8 Mit Spannung wurde insbesondere
das Urteil des EGMR (Große Kammer) in der Sache Avotiņš
gegen Lettland erwartet, das einen Sachverhalt der gegenseitigen Anerkennung in Zivilsachen betraf. Darin hielt der
EGMR die Bosphorus-Vermutung9 im Grundsatz aufrecht:10
Zwar sei Art. 6 Abs. 1 EMRK auch auf die Vollstreckung
ausländischer Erkenntnisse anwendbar (Rn. 96), und zwar
gebe es – auch bei grundsätzlicher Gewährleistung einer Verfahrensfairness im Urteilsstaat – eine (Rest-)Verpflichtung,
dass der Anerkennungsstaat eine gewisse Prüfung der Verfahrensfairness vornehme (Rn. 98 f.: „a court examining a
request for recognition and enforcement of a foreign judgment cannot grant the request without first conducting some
measure of review of that judgment in the light of the guarantees of a fair hearing; the intensity of that review may vary
depending on the nature of the case“). Allerdings gebe es
2
KOM (2016) 230 endg. v. 20.4.2016, S. 3.
Siehe insbesondere unten II. 2., III. 3. a), IV. 3., 5., 6., 7.
4
KOM (2016) 230 endg. v. 20.4.2016, S. 15.
5
Ratsdok. 5298/16 REV 1 LIMITE.
6
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (106 f.).
7
EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014.
8
Zuletzt Ratsdok. 7551/16; zuvor Ratsdok. 12528/15
LIMITE; Ratsdok. 9319/15.
9
Begründet in EGMR (Große Kammer), Urt. v. 30.6.20015 –
45036/98 (Bosphorus v. Irland).
10
EGMR (Große Kammer), Urt. v. 23.5.2016 – 17502/07
(Avotiņš v. Lettland). Instruktiv hierzu:
http://eulawanalysis.blogspot.de/2016/05/eu-law-and-echrbosphorus-presumption.html (5.1.2017).
3
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com
11
Dominik Brodowski
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nach wie vor eine Vermutung eines äquivalenten Menschenrechtsschutzes in der EU (Rn. 101 ff.), die an zwei Voraussetzungen anknüpfe: fehlender (Umsetzungs-, Gestaltungs-,
Handlungs-)Spielraum des EU-Mitgliedstaats einerseits und
volle Entfaltung der Sicherungsmechanismen des EU-Rechts
zur Gewährleistung dieses Menschenrechtsschutzes (etwa
qua Vorabentscheidungsersuchen zum EuGH) andererseits.
Doch selbst dann – und dies ist bemerkenswert – müsse der
Vollstreckungsstaat sich versichern, dass ein Instrument der
gegenseitigen Anerkennung keine Lücke verursache, bei
welcher der Schutz europäischer Menschenrechte offensichtlich unzulänglich gewährleistet würde (Rn. 114: „[T]he court
in the State addressed must at least be empowered to conduct
a review commensurate with the gravity of any serious allegation of a violation of fundamental rights in the State of
origin, in order to ensure that the protection of those rights is
not manifestly deficient.“) Das schließe eine automatische
oder mechanische Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung aus. Im Falle eines schwerwiegenden und
substantiierten Vorbringens der Menschenrechtswidrigkeit
darf sich der Vollstreckungsstaat nicht dahinter verstecken,
dass er nur EU-Recht umsetze oder anwende, sondern müsse
seiner (Rest-)Verantwortung zum Menschenrechtsschutz
gerecht werden (Rn. 116). Das aber entspricht einem Standard, den der EuGH im Bereich des Europäischen Haftbefehls allenfalls zögerlich zu akzeptieren scheint (siehe unten
IV. 1.) und als funktionales Äquivalent zur Identitätskontrolle
des BVerfG11 anzusehen sein könnte.
3. Ne bis in idem (Art. 50 GRC, Art. 54 SDÜ)12
Ein im Juni 2016 ergangenes Urteil der Großen Kammer des
EuGH zum europäisch-transnationalen Doppelbestrafungsverbot hat nicht die erhoffte Klarstellung gebracht, ob der
Vorbehalt Deutschlands zu Art. 54 SDÜ primärrechtswidrig
und daher nichtig ist.13 Deutschland hatte nämlich unter Verweis auf Art. 55 Abs. 1 lit. a SDÜ erklärt, dass Art. 54 SDÜ
dann nicht greife, „wenn die Tat, die dem ausländischen
Urteil zugrunde lag, ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurde“. Während Generalanwalt Yves Bot in
seinen Schlussanträgen noch darauf verwiesen hatte, dass
nunmehr ein Rechtszustand erreicht sei, in dem „der in
Art. 55 Abs. 1 Buchst. a SDÜ vorgesehene Vorbehalt den
Wesensgehalt des in Art. 50 der Charta genannten Grundsatzes ne bis in idem verletzt und daher für ungültig zu erklären
ist“ (Schlussanträge, Rn. 68), beschränkte sich die Große
Kammer auf die Beantwortung der zweiten Vorlagefrage und
präzisierte dabei das Erfordernis einer rechtskräftigen Abur-
teilung im Sinne des Art. 54 SDÜ: Zwar sei durch den Einstellungsbeschluss der polnischen Kreisstaatsanwaltschaft die
Strafklage in Polen endgültig verbraucht (Rn. 36 f.), und
zwar sei es für den Strafklageverbrauch unerheblich, dass
dieser Beschluss von einer Staatsanwaltschaft erlassen wurde
und keine Sanktionen vorsieht (Rn. 38 ff.). Allerdings sei für
einen transnationalen Strafklageverbrauch auch Voraussetzung, dass eine Prüfung in der Sache erfolgt sei, welche wiederum „eingehende Ermittlungen“ (Rn. 42 ff.) erfordere.
Wenn die Staatsanwaltschaft aber bereits die Vernehmung
des Geschädigten und eines möglichen Zeugen allein deswegen unterlasse, weil diese in einem anderen EU-Mitgliedstaat
wohnen, so stelle dies ein Indiz für das Fehlen eingehender
Ermittlungen dar.
4. Verstärkter Auslieferungsschutz für eigene Staatsangehörige
und unionsrechtliches Diskriminierungsverbot
Deutschland aber auch andere europäische Staaten kennen
verfassungsrechtliche Regelungen, mit denen die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Drittstaaten erschwert oder
gänzlich ausgeschlossen wird (vgl. Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG).
In gleich mehreren Vorabentscheidungsersuchen wurde dem
EuGH die Frage vorgelegt, ob angesichts des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots von EU-Bürgern (Art. 18
AEUV) dieser erweiterte Schutz auch auf sämtliche EUBürger zu erstrecken ist.14 Vom OLG Frankfurt und sodann
vom Bundesverfassungsgericht war dies im Fall Piscotti noch
verneint worden, ohne dies dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.15 Nach Auslieferung und Verbüßung der
Strafhaft in den USA verklagte Piscotti nunmehr Deutschland
gerichtet auf den Ersatz „sämtlichen Schaden[s] [...], der ihm
dadurch entstanden ist, dass die Beklagte seine Auslieferung
an die Vereinigten Staaten von Amerika nicht verhindert,
sondern bewilligt hat“.16 In diesem Amtshaftungsverfahren
legte das LG Berlin dem EuGH u.a. die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob „ein Mitgliedstaat in ungerechtfertigter
Weise gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 18 Abs. 1
AEUV verstößt, wenn er auf der Grundlage einer verfassungsrechtlichen Norm (hier: Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG) bei
Auslieferungsersuchen von Drittstaaten eigene Staatsangehörige und Staatsangehörige anderer EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich behandelt, indem er nur letztere ausliefert“. 17 Dieselbe Frage – indes mit der Abweichung, dass die EU bislang
nur mit den USA ein Auslieferungsabkommen geschlossen
hat – lag dem EuGH auch in zwei weiteren Verfahren zur
Vorabentscheidung vor: Das Bezirksgericht Linz legte den
14
BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, m. Anm.
und Bespr. (u.a.) Brodowski, JR 2016, 415; Kühne, StV 2016,
299; Meyer, HRRS 2016, 332; Nettesheim, JZ 2016, 424;
Oehmichen, FD-StrafR 2016, 375738; Sachs, JuS 2016, 373;
Sauer, NJW 2016, 1134; Schönberger, JZ 2016, 422.
12
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (108) sowie Zöller,
GA 2016, 325.
13
EuGH, Urt. v. 29.6.2016 – C-486/14 (Kossowski) m. Anm.
und Bespr. Gaede, NJW 2016, 2942; Wegner, HRRS 2016,
396.
11
Instruktiv hierzu García, De legibus blog v. 20.3.2016,
online abrufbar unter:
http://blog.delegibus.KOM/2016/03/20/eugh-ueberprueftauslieferungsrechtsprechung-des-bverfg/ (5.1.2017).
15
BVerfG, Beschl. v. 17.2.2014 – 2 BvQ 4/14; siehe hierzu
Zehetgruber, StraFo 2015, 133.
16
LG Berlin, Beschl. v. 18.3.2016 – 28 O 111/14, openjur,
Rn. 12.
17
LG Berlin, Beschl. v. 18.3.2016 – 28 O 111/14, openjur,
Rn. 6; das Verfahren wird vor dem EuGH unter Rs. C-191/16
geführt.
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ZIS 1/2017
12
Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick
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Fall eines österreichischen Staatsbürgers zur Vorabentscheidung vor, der im Falle einer Reise nach Deutschland befürchten müsste, nach Dubai ausgeliefert zu werden;18 ein estnischer Staatsbürger, der von einer vergleichbaren lettischen
Verfassungsbestimmung zum Auslieferungsschutz lettischer
Staatsangehöriger nicht unmittelbar erfasst wird, wehrte sich
gegen eine Auslieferung nach Russland.
In letzterem Verfahren erkannte die Große Kammer des
EuGH19 im Anschluss an die Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot zwar an, dass die in nur einem Mitgliedstaat
drohende Auslieferung an einen Drittstaat den Betroffenen in
seiner Freizügigkeit im Sinne von Art. 21 AEUV beschränke
(Rn. 31 ff.), so dass der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet sei. Die Beschränkung der Freizügigkeit sei
vor dem europäischen Primärrecht nur zu „rechtfertigen,
wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht“ (Rn. 34). Die Ungleichbehandlung eigener Staatsangehöriger und EU-Bürger finde
jedoch grundsätzlich ihre Legitimation darin, dass gegenüber
eigenen Staatsangehörigen unter Verweis auf das aktive Personalitätsprinzip leichter eigene Strafverfolgungsmaßnahmen
ergriffen werden können und somit eine Straflosigkeit vermieden werden kann, während ein solch gewichtiger Anknüpfungspunkt des Strafanwendungsrechts bei Staatsangehörigen anderer EU-Staaten fehlen könne (Rn. 35 ff.). Sodann benennt die Große Kammer jedoch eine gewichtige
Einschränkung: Eine Strafverfolgung durch einen anderen
EU-Mitgliedstaat und insbesondere durch den Mitgliedstaat,
dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, greife
weniger stark in die Freizügigkeit ein als die Auslieferung in
einen Drittstaat (Rn. 47 ff.). Daher sei zunächst der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, zu
informieren, und – wenn jener Staat dann selbst eine Strafverfolgung einleite – dieser Priorität einzuräumen, d.h. der
Betroffene an den anderen EU-Mitgliedstaat und nicht an den
Drittstaat auszuliefern (Rn. 48 ff.).
In dieser Linie dürfte sich daher auch die Entscheidung
des EuGH in der Rechtssache Piscotti bewegen. Im Fall des
österreichischen Staatsbürgers ist allerdings zusätzlich zu
berücksichtigen, dass die Ermittlungen wegen desselben
Vorwurfs, wegen dem er von Dubai gesucht wird, in Österreich bereits mit beschränkter Rechtskraft eingestellt wurden.
Deutschland aber kennt dem Wortlaut des § 9 Nr. 1 IRG
zufolge nur ein Auslieferungshindernis bei einer vorangegangenen oder konkurrierenden innerstaatlichen Strafverfolgung.
Im Lichte des Unions- und auch des Verfassungsrechts erscheint es jedoch – auch in Fortführung dieses neuen EuGHUrteils – geboten, „einem zuvor in einem anderen Mitgliedstaat der EU oder in einem sonstigen Schengen-Vertragsstaat
Abgeurteilten denselben auslieferungsrechtlichen Schutz zu
Bezirksgericht Linz, Beschl. v. 24. Juli 2015 – 10 C
66/15g; das Verfahren ist vor dem EuGH unter Rs. C-473/15
(Adelsmayr) anhängig.
19
EuGH, Urt. v. 6.9.2016 – C-182/15 (Petruhhin).
18
gewähren, als ob er zuvor in Deutschland strafverfolgt worden wäre“.20
5. Datenschutz (RL 2016/680)21
Im Schatten der Datenschutz-Grundverordnung22 wurde auch
eine überarbeitete Richtlinie zum Schutz natürlicher Personen
bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die
zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der
Strafvollstreckung23 verabschiedet, die bis zum 6.5.2018 in
nationales Recht umzusetzen ist. Im Vergleich zur zuvor
referierten Fassung wurde neu aufgenommen eine explizite
Verpflichtung der Mitgliedstaaten, für die Löschung personenbezogener Daten angemessene Fristen vorzusehen und
deren Einhaltung durch „verfahrensrechtliche Vorkehrungen“
zu sichern (Art. 5 RL 2016/680). Ferner enthält nun auch der
operative Teil der Richtlinie eine Maßgabe, dass unterschiedliche Kategorien betroffener Personen (z.B. Verdächtige,
Verurteilte, Opfer) gebildet werden sollen (Art. 6 RL 2016/
680). Die Informationspflichten gegenüber den von einer
Datenverarbeitung Betroffenen wurden ergänzt (Art. 13 RL
2016/680). Hervorzuheben ist schließlich, dass der Begriff
der Straftat in dieser Richtlinie als ein eigenständiger unionsrechtlicher Begriff durch den EuGH auslegungsfähig und
-bedürftig ist (Erwägungsgrund 13 RL 2016/680). Gleichwohl verbleiben umfangreiche Auslegungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten, insbesondere zur Datenschutz-Grundverordnung.
6. „Brexit“, Subsidiaritätsrügen nationaler Parlamente und
eine „rote Karte“
Die Kommission hat beschlossen, dass sich das Vereinigte
Königreich – auch nach seinem „opt-out“ und jedenfalls bis
zum nunmehr drohenden „Brexit“ – unverändert an dem
sogenannten Prümer Beschluss24 beteiligen kann.25 Noch
20
Brodowski, StV 2013, 339 (343).
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (108) sowie
Schantz, NJW 2016, 1841.
22
Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments
und des Rates v. 27.4.2016 zum Schutz natürlicher Personen
bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien
Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG
(Datenschutz-Grundverordnung), ABl. EU 2016 Nr. L 119,
S. 1.
23
Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments
und des Rates v. 27.4.2016 zum Schutz natürlicher Personen
bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die
zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der
Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur
Aufhebung des Rahmenbeschl. 2008/977/JI des Rates, ABl.
EU 2016 Nr. L 119, S. 89.
24
Beschl. 2008/615/JI des Rates v. 23.6.2008 zur Vertiefung
der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur
Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden
Kriminalität, ABl. EU 2008 Nr. L 210, S. 1, sowie Beschl.
21
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13
Dominik Brodowski
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gänzlich ungeklärt ist indes die Frage, wie die Beziehungen
zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU im Bereich der Strafrechtspflege nach dem „Brexit“ ausgestaltet
werden sollen.
Da das britische Referendum einen Austritt aus der EU
befürwortete, hat sich vorerst ein Plan erledigt, die Beteiligung der nationalen Parlamente im EU-Gesetzgebungsverfahren zu stärken. Dieser sah vor, dass sich – außerhalb
des europäischen Primärrechts – die im Rat der Europäischen
Union vereinigten Regierungen dazu verpflichten, europäische Legislativmaßnahmen abzulehnen, gegen die binnen
zwölf Wochen von 55 % aller26 nationalen Parlamente eine
Subsidiaritätsrüge erheben.27 Bis auf Weiteres verbleibt es
daher bei den Regelungen des Art. 7 Protokoll Nr. 2 über die
Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit: Erheben im Politikbereich des Raums der
Freiheit der Sicherheit und des Rechts innerhalb der kurzen
Frist von acht Wochen ein Viertel aller Parlamente (in sonstigen Politikbereichen: ein Drittel) derartige Rügen, so hat der
Initiator des Gesetzentwurfs diesen im Hinblick auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu überprüfen (sogenannte
„gelbe Karte“); bei Rügen der Hälfte aller Parlamente ist ein
ausdrücklicher Beschluss der Kommission darüber erforderlich, ob sie an ihrem Gesetzentwurf festhält (sogenannte
„orange Karte“).
II. Institutionen
1. Europäische Staatsanwaltschaft (EPPO)28
Der Rat der Europäischen Union – Justiz und Inneres – erzielte weitere weitgehende konzeptionelle Einigungen zu
inzwischen großen Teilen der geplanten Verordnung des
Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft.29 Im Vergleich zur zuletzt referierten Fassung ist auf
folgende, wesentliche Veränderungen hinzuweisen:
2008/616/JI des Rates v. 23.6.2008 zur Durchführung des
Beschlusses 2008/615/JI zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des
Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität,
ABl. EU 2008 Nr. L 210, S. 12.
25
Beschl. (EU) 2016/809 der Kommission v. 20.5.2016 über
die Mitteilung der Absicht des Vereinigten Königreichs von
Großbritannien und Nordirland, sich an Rechtsakten der
Union im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit, die vor
dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon angenommen
wurden und die nicht Teil des Schengen-Besitzstandes sind,
zu beteiligen, ABl. EU 2016 Nr. L 132, S. 105.
26
Auf jeden Mitgliedstaat entfallen zwei Stimmen; in
Deutschland auf Bundestag und Bundesrat je eine Stimme.
27
ABl. EU 2016 Nr. C 69 I, S. 1.
28
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (109 ff.).
29
Zu Art. 17 bis Art. 35 VO-E i.d.F. Ratsdok. 15100/15 wurde eine derartige Einigung auf der 3433. Sitzung am 3. und
4.12.2015 erzielt, zu weiteren Teilen des VO-E i.d.F. Ratsdok. 9799/16 auf der 3473. Sitzung am 9. und 10.6.2016.
a) Zuständigkeit; Kompetenz
Die sachliche Zuständigkeit von EPPO soll sich ausdrücklich
auch auf kriminelle Organisationen erstrecken, deren
Schwerpunkt auf der Begehung von Delikten zum Nachteil
der finanziellen Interessen der EU liegt (Art. 17 Abs. 1a VOE i.d.F. Ratsdok. 10830/16). Die Voraussetzungen für die
Wahrnehmung der Zuständigkeit wurden in Art. 20 VO-E
i.d.F. Ratsdok. 10830/16 zusammengefasst: So darf die Europäische Staatsanwaltschaft in Fällen mit einem Schaden
unter 10.000 EUR von ihrer Kompetenz nur dann Gebrauch
machen, wenn Auswirkungen auf Unionsebene zu verzeichnen sind oder aber wenn ein europäischer Amtsträger beschuldigt wird (Art. 20 Abs. 2 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/
16). Weiterhin soll sie von ihrer Kompetenz keinen Gebrauch
machen, wenn dem Beschuldigten in derselben Sache ein
anderes Delikt zur Last gelegt wird, das keinen Bezug zu den
finanziellen Interessen der EU aufweist, und welches zudem
mit gleicher oder höherer Strafe bedroht ist (Art. 20 Abs. 3
lit. a, lit. aa VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). Schließlich soll
sie von ihrer Kompetenz ebenfalls keinen Gebrauch machen,
wenn ein Dritter einen größeren finanziellen Schaden zu
erleiden hatte als die EU (Art. 20 Abs. 3 lit. b VO-E i.d.F.
Ratsdok. 10830/16). In all diesen Konstellationen obliegt es
in Streitfällen den nach nationalem Recht zuständigen nationalen Stellen, einen Kompetenzkonflikt zwischen der Europäischen Staatsanwaltschaft und den nationalen Strafverfolgungsbehörden zu lösen (Art. 20 Abs. 5 VO-E i.d.F. Ratsdok.
10830/16). Bei einer Schadenshöhe kleiner als 100.000 EUR
soll die Europäische Staatsanwaltschaft schließlich nur zurückhaltend von ihrer Kompetenz Gebrauch machen
(Art. 22a Abs. 7, Art. 28 Abs. 2a VO-E i.d.F. Ratsdok.
10830/16). Die wechselseitigen Mitteilungspflichten wurden
konkretisiert (Art. 19 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) und
ein sehr kurzes Zeitfenster von fünf Tagen – einmalig um
weitere fünf Tage verlängerbar – festgelegt, innerhalb dessen
die Europäische Staatsanwaltschaft von ihrem Evokationsrecht Gebrauch machen kann (Art. 22a Abs. 1 VO-E i.d.F.
Ratsdok. 10830/16). All das spricht für eine gegenüber nationalen Strafverfolgungsbehörden vergleichsweise schwache
Stellung der Europäischen Staatsanwaltschaft.
Die temporale Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft soll sich auf alle Taten erstrecken, die ab zwanzig
Tage nach Veröffentlichung der Verordnung im Amtsblatt
begangen werden, auch wenn die Europäische Staatsanwaltschaft erst zu einem späteren Zeitpunkt arbeitsfähig ist
(Art. 75 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16).
b) Ermittlungsmaßnahmen
Hinsichtlich Ermittlungsmaßnahmen ist nun explizit vorgesehen, dass das nationale Recht die Telekommunikationsüberwachung, aber auch eine Herausgabe- und Entschlüsselungsanordnung auf bestimmte und durch die Verordnung
vorgegebene Listendelikte einschränken darf (Art. 25
Abs. 1b, Anlage X VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). Delegierte Europäische Staatsanwälte sollen unter den gleichen
Bedingungen wie nationale Staatsanwälte Zugriff auf inländische strafverfolgungsrelevante Datenbanken erhalten
(Art. 36a VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) und diese und
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ZIS 1/2017
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Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick
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weitere Informationen in ein elektronisches Fallbearbeitungssystem (Art. 36b ff. VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) einspeisen dürfen. Die Datenschutzbestimmungen richten sich im
Wesentlichen nach den Maßstäben der neuen DatenschutzRichtlinie (Art. X VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) – auch
hinsichtlich der Datenweitergabe an Drittstaaten (Art. 43a ff.
VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) – und enthalten eine relativ
eng formulierte Zweckbindung (Art. 37 Abs. 1 VO-E i.d.F.
Ratsdok. 10830/16).
c) Datenaustausch und Beziehungen mit anderen europäischen
Institutionen; Unterstützung von Nebenklägern
Bemerkenswert sind die Bestimmungen über die Beziehungen zu anderen europäischen Einrichtungen und Institutionen: So soll die Europäische Staatsanwaltschaft einen indirekten Zugriff (d.h. beschränkt auf die Angabe Treffer/KeinTreffer – „hit/no-hit“) auf das Fallbearbeitungssystem von
Eurojust (Art. 57 Abs. 3 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) und
von OLAF (Art. 57a Abs. 5 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16)
erlangen sowie jegliche fallrelevanten Informationen von
Eurojust und Europol sowie analytische Unterstützung durch
Europol erhalten können (Art. 57 Abs. 2, Art. 58 Abs. 2 VOE i.d.F. Ratsdok. 10830/16). Die Europäische Staatsanwaltschaft soll sich auf OLAF als ermittelnde Behörde stützen
können (Art. 57a Abs. 3 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) und
Fälle zur „administrativen“ Erledigung an OLAF abgeben
(Art. 57a Abs. 4 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16); im Grundsatz sollen Ermittlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft
denjenigen von OLAF vorgehen (Art. 57a Abs. 2 VO-E i.d.F.
Ratsdok. 10830/16). Wenig überraschend ist die enge Kooperation mit Eurojust in administrativer Hinsicht (Art. 57
Abs. 5 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). Ein Einfallstor für
umfangreichen Informationsaustausch bietet schließlich
Art. 58a VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16: Sämtliche Institutionen, Einrichtungen, Agenturen und sonstige Geschädigte
sollen von der Europäischen Staatsanwaltschaft alle nötige
Unterstützung erhalten, damit sich diese als „Nebenkläger“
(„civil party in the proceedings“) beteiligen und/oder anderweitig ihre Restitutionsinteressen verfolgen können. Auch für
„administrative“ Maßnahmen – man denke an den Ausschluss von Vergabeverfahren (debarment) o.ä. – ist ein umfassender Informationsaustausch vorgesehen.
d) Alternative Verfahrensbeendigung („Transaktion“)
Für alternative Verfahrensbeendigungen – die unter dem
Stichwort „Transaktion“ diskutiert werden – ist nun ein Generalverweis in das jeweils anwendbare nationale Recht vorgesehen (Art. 34 Abs. 1 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16): Auf
Vorschlag des Delegierten Europäischen Staatsanwalts soll
die Ständige Kammer daher neben Anklageerhebung (Art. 29
ff. VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16) oder Verfahrenseinstellung die Möglichkeit erhalten, nach den Maßstäben des jeweiligen nationalen Rechts auch „plea bargaining“ zu betreiben oder – in Deutschland – Einstellungen nach §§ 153 ff.
StPO sowie den Erlass eines Strafbefehls beantragen zu können. Bei der Entscheidung, ob von derartigen Opportunitätsvorschriften Gebrauch gemacht wird, soll die Ständige
Kammer die Schwere der vorgeworfenen Tat, die Bereit-
schaft des Täters, den entstandenen Schaden wieder auszugleichen und die Vereinbarkeit mit den Zielen und Prinzipien
der VO-E berücksichtigen (Art. 34 Abs. 2 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/16). Mit der Durchführung der alternativen Verfahrensbeendigung ist sodann wieder der zuständige Europäische Delegierte Staatsanwalt betraut (Art. 34 Abs. 3 VO-E
i.d.F. Ratsdok. 10830/16).
e) Finanz- und Personalstruktur
Relativ großen Raum nahmen in den Verhandlungen auch die
Finanz- und Personalfragen (Art. 48 ff. VO-E i.d.F. Ratsdok.
10830/16) ein, insbesondere hinsichtlich der Frage, inwieweit
die Kosten einzelner Ermittlungsmaßnahmen von der Europäischen Staatsanwaltschaft oder aber von den nationalen
Kriminaljustizsystemen zu tragen sind. Der aktuelle Regelungsentwurf orientiert sich dabei am Modell der Europäischen Ermittlungsanordnung, demzufolge nur bei außergewöhnlichen Belastungen die anordnende Stelle die Kosten zu
tragen hat (Art. 49 Abs. 5, Abs. 5a VO-E i.d.F. Ratsdok.
10830/16). Die Arbeitssprache soll vom Plenum der Europäischen Staatsanwaltschaft entschieden werden (Art. 63 VO-E
i.d.F. Ratsdok. 10830/16).
f) Ausblick
Damit verbleiben als zentrale Verhandlungsgegenstände noch
die gerichtliche Kontrolle (Art. 36 VO-E i.d.F. Ratsdok.
10830/16)30 sowie die – in den bisherigen Entwürfen mit der
geplanten PIF-Richtlinie31 verknüpfte – Frage nach der sachlichen Zuständigkeit (Art. 4, 17 VO-E i.d.F. Ratsdok. 10830/
16). Zwar wird in den Ratsdokumenten stets der Grundsatz
„nothing is agreed until everything is agreed“ betont. Bei
entsprechendem politischen Willen erscheint es jedoch nicht
unrealistisch, dass sich der Rat kurzfristig auf einen Verordnungstext einigt. Dieser bedarf sodann noch der Zustimmung
des Europäischen Parlaments.
2. Europol32
Rat und Europäisches Parlament einigten sich auf einen neuen Rechtsrahmen für Europol,33 der Art. 77 Abs. 2 VO (EU)
2016/794 zufolge im Wesentlichen ab 1.5.2017 gelten wird.
Die Regelung orientiert sich weitgehend an der allgemeinen
Ausrichtung des Rates;34 größere Modifikationen sind vorrangig in den Datenschutzbestimmungen zu finden.
30
Siehe hierzu ferner Ratsdok. 10818/16.
Siehe unten II. 2.
32
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2015, 79 (85).
33
Verordnung (EU) 2016/794 des Europäischen Parlaments
und des Rates v. 11.5.2016 über die Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der
Strafverfolgung (Europol) und zur Ersetzung und Aufhebung
der Beschl. 2009/371/JI, 2009/934/JI, 2009/935/JI, 2009/
936/JI und 2009/968/JI des Rates, Abl. EU 2016 Nr. L 135,
S. 53.
34
Ratsdok. 10033/14.
31
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Dominik Brodowski
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3. Agentur der Europäischen Union für die Aus- und
Fortbildung auf dem Gebiet der Strafverfolgung (EPA)35
Die Agentur der Europäischen Union für die Aus- und Fortbildung auf dem Gebiet der Strafverfolgung tritt an die Stelle
der bisherigen Europäischen Polizeiakademie. Ihre Rechtsgrundlage wurde Ende 2015 neu gefasst. 36
III. Materielles Strafrecht
1. Prinzipien der Rechtssetzung im Bereich des materiellen
Strafrechts37
Im Rahmen einer informellen Arbeitsgruppe der europäischen Legislativorgane – die „Criminal Law Contact Group“
– scheint nunmehr auf Initiative von Dennis De Jong (MdEP)
wenigstens Verhandlungsbereitschaft zu bestehen, die bestehenden drei Rahmendokumente über die bei Strafrechtsetzung zu beachtenden Prinzipien in ein gemeinsames, wenn
auch nur unverbindliche Leitlinien enthaltendes Dokument zu
überführen.38 Dabei handelt es sich namentlich erstens um die
Schlussfolgerungen des Rates über Musterbestimmungen als
Orientierungspunkte für die Beratungen des Rates im Bereich
des Strafrechts,39 zweitens um die Mitteilung der Kommission „Auf dem Weg zu einer europäischen Strafrechtspolitik:
Gewährleistung der wirksamen Durchführung der EU-Politik
durch das Strafrecht“40 sowie drittens um die Resolution des
Europäischen Parlaments über einen EU-Ansatz für das Strafrecht.41
2. Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union
(PIF)42
Als wesentlicher Streitpunkt hinsichtlich des Vorschlags für
eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates
über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug
verbleibt die Frage, ob auch Umsatzsteuerbetrügereien in den
Anwendungsbereich der Richtlinie fallen sollen.43 Erschwert
wird eine Lösung dadurch, dass einige Mitgliedstaaten an
ihrem nationalen Recht und dort bestehenden verwaltungsrechtlichen Sanktionsmechanismen nichts verändern wollen,
35
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2015, 79 (85).
Verordnung (EU) 2015/2219 des Europäischen Parlaments
und des Rates v. 25.11.2015 über die Agentur der Europäischen Union für die Aus- und Fortbildung auf dem Gebiet der
Strafverfolgung (EPA) und zur Ersetzung sowie Aufhebung
des Beschl. 2005/681/JI des Rates, ABl. EU 2015 Nr. L 319,
S. 1.
37
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (112).
38
Ratsdok. 10599/16; Ratsdok. 9284/16.
39
Ratsdok. 16798/09.
40
KOM (2011) 573 endg. v. 20.9.2011.
41
Europäisches Parlament, Initiativbericht 2010/2310(INI).
42
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (112 f.) sowie
ferner Grünewald, JR 2015, 245.
43
Ratsdok. 9804/16; Ratsdok. 9301/16; Ratsdok. 5690/16;
Ratsdok. 14281/15; allgemeine Ausrichtung des Rates in
Ratsdok. 10729/13; Kommissionsvorschlag in KOM (2012)
363 endg. v. 11.7.2012.
36
insbesondere soweit dieses einen „Spielraum [bietet], so dass
zwischen verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Sanktionen gewählt werden kann. Oft [werde] ein Schwellenbetrag – ausgedrückt als geschätzte Höhe des Schadens für den
Staatshaushalt – verwendet, um sich für einen Ansatz zu
entscheiden“.44 Als Kompromisslinie wurde zuletzt ausgelotet, (nur) schwerste Formen von Umsatzsteuerbetrug in die
Richtlinie aufzunehmen, „wie Karussellbetrug und Missing
Trader Intra-Community Fraud (MTIC) mit einer Gesamtschadenshöhe von mindestens 1.000.000 EUR“.45
Ein bulgarisches Vorabentscheidungsersuchen betrifft die
Frage, ob ein nationales Beweisverwertungsverbot den europäischen primär- (Art. 325 Abs. 1 AEUV) und sekundärrechtlichen Verpflichtungen zur Betrugsbekämpfung widersprechen könnte. Im konkreten Fall seien Erkenntnisse aus
einer Telekommunikationsüberwachung an sich nach bulgarischem Recht unverwertbar, weil diese zeitweise durch ein
unzuständiges Gericht angeordnet worden war. Der EuGH
soll nun entscheiden, ob diese Verwertungsregelung in dieser
Konstellation zu europäischem Recht im Widerspruch steht
und daher unanwendbar ist.46
3. Terrorismus;47 Geldwäsche48
a) Richtlinie zur Terrorismusbekämpfung
Im Dezember 2015 legte die Kommission einen Vorschlag
für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des
Rates zur Terrorismusbekämpfung und zur Ersetzung des
Rahmenbeschlusses 2002/475/JI zur Terrorismusbekämpfung
vor.49 Zielrichtung dieses Vorschlags ist zum einen, das von
der EU gezeichnete Zusatzprotokoll zum Übereinkommen
des Europarats zur Verhütung des Terrorismus50 sowie auch
die sich „aus den einschlägigen Empfehlungen der FATF zur
Terrorismusfinanzierung ergeben[den]“ „Pflichten“ (sic!)51 in
europäisches Recht zu übernehmen und dabei den bisherigen
Rahmenbeschluss in eine Richtlinie zu transformieren. Zum
anderen aber sollen noch weitere Regelungen „zur Erleichterung der Untersuchung und Verfolgung aller einschlägigen
Vorgehensweisen von Terroristen“ getroffen werden. 52 Letztere sollen hier schwerpunktmäßig referiert werden:
 Art. 12 bis Art. 14 RL-E enthalten bemerkenswerte Pönalisierungsverpflichtungen: „Schwerer Diebstahl“, „Erpressung“ und „die Ausstellung gefälschter Verwaltungsdokumente“, die „mit dem Ziel“ begangen werden, eine
terroristische Straftat i.S.d. Art. 3 RL-E i.d.F. KOM
(2015) 625 zu begehen, müssen „bei Vorliegen von Vor44
Ratsdok. 9301/16, S. 4.
Ratsdok. 9301/16, S. 6.
46
Das Verfahren wird unter der Rs. C-310/16 (Dzivev) geführt.
47
Vgl. zuvor Brodowski, ZIS 2015, 79 (88).
48
Vgl. zuvor Brodowski, ZIS 2013, 455 (465 f.).
49
KOM (2015) 625 endg. v. 2.12.2015.
50
Siehe unten VI. 1.
51
KOM (2015) 625 endg. v. 2.12.2015, S. 7.
52
KOM (2015) 625 endg. v. 2.12.2015, S. 7.
45
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ZIS 1/2017
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Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick
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satz als Straftat“ ahndbar sein. Die Relevanz dieser Bestimmungen ergibt sich erst aus dem systematischen Kontext, namentlich Art. 17 Abs. 1 RL-E i.d.F. KOM (2015)
625 (es muss sich um auslieferungsfähige Delikte handeln), aus Art. 16 Abs. 2 RL-E i.d.F. KOM (2015) 625
(Anstiftung, Beihilfe und Versuch müssen zu einer höheren Strafdrohung führen als „ohne den [...] besonderen
Vorsatz, [...] es sei denn, die vorgesehenen Strafen stellen
bereits die nach dem nationalem Recht möglichen
Höchststrafen dar“) sowie aus den begleitenden Bestimmungen zur Ausdehnung der Jurisdiktion (Art. 21 RL-E
i.d.F. KOM [2015] 625).
 Die Teilnahme- und Versuchsstrafbarkeit soll auf nahezu
sämtliche erfasste Delikte ausgedehnt werden, insbesondere auch auf die Beihilfe zum Absolvieren einer Ausbildung für terroristische Zwecke, auf die Anstiftung zu den
genannten qualifizierten Diebstahls-, Erpressungs- und
Urkundendelikten und auf den Versuch der Terrorismusfinanzierung (Art. 16 RL-E i.d.F. KOM [2015] 625).
 Beachtenswert ist der Kriterienkatalog in Art. 21 Abs. 2
RL-E i.d.F. KOM (2015) 625, der zur Vermeidung und
Beilegung von positiven Kompetenzkonflikten herangezogen werden soll: Angesichts der sehr weitreichenden
Maßgaben zur extraterritorialen Erstreckung der Jurisdiktion „arbeiten die betreffenden Mitgliedstaaten zusammen, um darüber zu entscheiden, welcher von ihnen die
Straftäter verfolgt, um die Strafverfolgung nach Möglichkeit in einem einzigen Mitgliedstaat zu konzentrieren“.
Hierzu soll auch Eurojust involviert werden.
 Schließlich ist auf besondere Unterstützungsleistungen
und Rechte für Opfer terroristischer Straftaten hinzuweisen (Art. 22, Art. 23), die über die RL 2012/29/EU hinausgehen.
Bereits auf seiner 3455. Tagung am 10. und 11.3.2016 in
Brüssel beschloss der Rat der Europäischen Union – Justiz
und Inneres – seine allgemeine Ausrichtung zu diesem Vorschlag.53 Im Vergleich zum Kommissionsvorschlag wurden
die Anknüpfungstaten auch auf bestimmte Formen der Computerkriminalität erweitert, der Straftatbestand hinsichtlich
von Auslandsreisen jedoch objektiv (auf Reisen in Drittstaaten) und subjektiv (mit Wissen hinsichtlich der Förderung
krimineller Taten der terroristischen Organisation) eingeschränkt. Die Strafbarkeit der Terrorismusfinanzierung soll
ausdrücklich unabhängig von der Frage sein, ob und zu welcher konkreten Tat die Finanzmittel eingesetzt wurden
(Art. 11 Abs. 2 RL-E i.d.F. Ratsdok. 6655/16). Schließlich
soll der Opferschutz stärker hervorgehoben werden (Art. 22
ff. RL-E i.d.F. Ratsdok. 6655/16). Damit wird auch einigen
Bedenken des Europäischen Parlaments Rechnung getragen,
das teils eine noch punitivere Linie verfolgt.54
53
54
Ratsdok. 6655/16.
Vgl. Ratsdok. 11169/16.
b) Aktionsplan gegen Terrorismusfinanzierung; Geldwäsche
Ein von der Kommission vorgelegter Aktionsplan für ein
intensiveres Vorgehen gegen Terrorismusfinanzierung55 sieht
zum einen terrorismusspezifische Maßnahmen vor, so eine
Beschleunigung des Listungsverfahrens, oder auch die Prüfung, ob eine Vermögensabschöpfung auf Grundlage des
Art. 75 AEUV eingeführt werden soll. Zum anderen sieht
dieser Aktionsplan auch Maßnahmen vor, deren Reichweite
weit über die Terrorismusbekämpfung hinausgehen dürfte:
So plant die Kommission noch für 2016, eine „Verbesserung
der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen zur
Sicherstellung und Einziehung von Erträgen aus Straftaten“
zu prüfen56 und „auf der Grundlage des Artikels 83 AEUV
eine Richtlinie zu den Straftatbeständen und Sanktionen im
Bereich der Geldwäsche vor[zu]schlagen. Auf diese Weise
sollen Mindestvorschriften für die Festlegung des Straftatbestands der Geldwäsche (mit Bezug auf terroristische Straftaten und andere schwere Straftaten) eingeführt und die Sanktionen angeglichen werden.“ Eine weitere Ankündigung setzte
die Kommission wenige Wochen später um: Eine von ihr
vorgelegte Legislativmaßnahme sieht vor, dass alle Mitgliedstaaten zentralisierte Möglichkeiten für einen Kontenabruf
(d.h. einen Zugriff auf Kontostammdaten) bereitstellen und
auch miteinander vernetzen sollen.57
4. Menschenhandel58
Im Mai 2016 legte die Kommission einen Bericht über die
Fortschritte bei der Bekämpfung des Menschenhandels vor. 59
Die „schwerwiegende Grundrechtsverletzung“ des Menschenhandels stelle ein im Untersuchungszeitraum (20132014) quantitativ unverändertes Problem dar, wenn auch der
Kinderhandel zugenommen habe und auch im Zuge der Migrationskrise ein „beunruhigend starker Anstieg“ zu befürchten sei. Zumeist erfolge Menschenhandel zu Zwecken der
sexuellen Ausbeutung, teils aber auch zu „Zwecken der Arbeitsausbeutung“. Europol zufolge hätten es Menschenhändler „in Ländern, in denen die Prostitution legal und reguliert
ist, [...] wesentlich einfacher“.60 Mitgliedstaaten sollten „ihre
Anstrengungen zur Erhöhung der Anzahl der Ermittlungen
und Verfolgungen ausbauen und die während der Beweiserhebungsverfahren auf den Opfern und ihren Zeugen ruhende
Last verringern“ sowie den Opferschutz stärken. 61 Auch
55
KOM (2016) 50 endg. v. 2.2.2016.
Siehe hierzu unten V. 7.
57
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Rates zur Änderung der Richtlinie (EU) 2015/849
zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung und zur
Änderung der Richtlinie 2009/101/EG, KOM (2016) 450
endg. v. 5.7.2016.
58
Richtlinie 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des
Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer, ABl. EU
Nr. L 101, S. 1. Siehe zuletzt Brodowski, 2011, 940 (944).
59
KOM (2016) 267 endg. v. 19.5.2016.
60
KOM (2016) 267 endg. v. 19.5.2016, S. 6 f.
61
KOM (2016) 267 endg. v. 19.5.2016, S. 13.
56
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Dominik Brodowski
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sollte, so die Kommission, „die Nutzung der Dienste der
Opfer des Menschenhandels als Straftat, wenn sie wissen,
dass die betreffende Person Opfer von Menschenhandel ist“,
in mehr Mitgliedstaaten als derzeit verfolgbar sein. 62 Unmittelbaren legislativen Handlungsbedarf auf europäischer Ebene benannte die Kommission hingegen nicht.
5. Organisierte Kriminalität63
Im Juli 2016 legte die Kommission eine Evaluation des
Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität vor.64 Darin erinnert sie daran, dass sie den Rahmenbeschluss bereits bei seiner Verabschiedung als unzureichend kritisiert hatte, und gelangt zu dem Schluss, dass
„die erforderliche Mindestangleichung der Straftatbestände
der Anführung einer oder der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung auf der Grundlage eines einheitlichen Begriffs einer solchen Vereinigung“ nicht erreicht worden sei.
Gleichwohl ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt von einer neuen
Legislativmaßnahme nicht die Rede.
6. Wohnungseinbruchskriminalität
In den Arbeitsgruppen des Rates wurde ein französischdeutscher Vorschlag für eine Europäische Initiative der Verhütung und Bekämpfung organisierter Wohnungseinbruchskriminalität diskutiert.65 Über (legislative und nichtlegislative) Aspekte dieser Initiative liegen noch keine Informationen vor.
7. Glücksspiel66
Auf Vorlage des AG Sonthofen urteilte der EuGH zu Fragen
des Glücksspielrechts.67 Der Ersten Kammer zufolge darf
„ein Mitgliedstaat keine strafrechtlichen Sanktionen wegen
einer nicht erfüllten Verwaltungsformalität verhängen [...],
wenn er die Erfüllung dieser Formalität unter Verstoß gegen
das Unionsrecht abgelehnt oder vereitelt hat“ (Rn. 48). Daher
komme es nicht darauf an, dass die Angeklagte selbst keine
Erlaubnis für die Veranstaltung oder die Vermittlung von
Sportwetten beantragt habe. Entscheidend sei, dass sie in
Österreich lizensierte Sportwetten vermittelt habe und dass
das deutsche Glücksspielrecht wegen eines fortbestehenden
und unzureichend legitimierten staatlichen Monopols unionsrechtswidrig ist (Rn. 65).
IV. Strafverfahrensrecht
1. Sog. „Viertes Maßnahmenpaket“
a) Unschuldsvermutung; Recht auf Anwesenheit68
Mit der Richtlinie (EU) 2016/343 wurde ein europäischer
Mindeststandard geschaffen, der das Schweigerecht, die
Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in
strafgerichtlichen Verhandlungen absichern soll. 69 Indes
findet diese Richtlinie auf Irland, das Vereinigte Königreich
und Dänemark keine Anwendung und ist erst bis zum
1.4.2018 umzusetzen. Die zuletzt noch strittigen Punkte wurden wenig ambitioniert gelöst. So erstreckt sich der Anwendungsbereich der Richtlinie lediglich auf natürliche Personen
(Art. 2 S. 1; Erwägungsgründe 13-15 RL 2016/343); so sind
– jedenfalls nach Auffassung der Mitgliedstaaten70 – gewisse
Einschränkungen des Schweigerechts und damit einer Beweislastumkehr bei geringfügigen Delikten vorstellbar (Art. 7
Abs. 6; Erwägungsgrund 30 RL 2016/343); so setzen Abwesenheitsverfahren nicht zwingend die Beteiligung eines Verteidigers voraus (Art. 8 Abs. 2 lit. a RL 2016/343); und so ist
anstelle eines strikten Beweisverwertungsverbots lediglich
vorgesehen, dass bei der Beweiswürdigung Verstöße gegen
diese Richtlinie im Lichte der Verteidigungsrechte und der
Fairness des Verfahrens gebührend zu berücksichtigen sind
(Art. 10 Abs. 2 RL 2016/343). Besonders hervorzuheben ist
schließlich, dass gesetzlich statuierte Dokumentations-, Aufbewahrungs- und Herausgabepflichten und sich hierauf beziehende Anordnungen der Ermittlungsbehörden keinen
Verstoß gegen das Schweigerecht darstellen sollen (Erwägungsgrund 29 RL 2016/343).
b) Rechte beschuldigter Kinder und Jugendlicher71
Ebenfalls konnte das europäische Legislativverfahren hinsichtlich einer Richtlinie über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige oder beschuldigte Kinder erfolgreich abgeschlossen werden;72 diese ist bis zum 11.6.2019 in
nationales Recht umzusetzen. In Abschwächung des Kommissionsvorschlags ist die Richtlinie nicht zwingend auf
solche Angeklagte anzuwenden, die erst nach Tatbegehung
volljährig geworden sind (Art. 2 Abs. 3 RL 2016/800). Die
Pflichten zur Information der Erziehungsberechtigten bzw.
einer Ersatzperson wurden näher spezifiziert (Art. 5 RL 2016/
68
62
KOM (2016) 267 endg. v. 19.5.2016, S. 15 f.
Rahmenbeschl. 2008/841/JI des Rates v. 24.10.2008 zur
Bekämpfung der organisierten Kriminalität, ABl. EU 2008
Nr. L 300, S. 42; siehe hierzu Hecker, ZIS 2016, 467 (470
ff.).
64
KOM (2016) 448 endg. v. 7.7.2016.
65
Vgl. Ratsdok. 6876/15 LIMITE; ergänzend Ratsdok.
7441/16.
66
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2015, 79 (88).
67
EuGH, Urt. v. 4.2.2016 – C-336/14 (Ince) m. Anm. und
Bespr. (u.a.) Streinz, JuS 2016, 568; Weidemann, NVwZ
2016, 374.
63
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (114) sowie
Ahlbrecht, StV 2016, 257.
69
Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments
und des Rates v. 9.3.2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren, ABl. EU 2016
Nr. L 65, S. 1.
70
Vgl. die gegenteilige Auffassung der Kommission, Ratsdok. 5561/16.
71
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (115).
72
Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments
und des Rates v. 11.5.2016 über Verfahrensgarantien in
Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte
Personen in Strafverfahren sind, ABl. EU 2016 Nr. L 132,
S. 1.
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ZIS 1/2017
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Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick
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800). Strafverfahren gegen Kinder und Jugendliche sind
grundsätzlich Fälle notwendiger Verteidigung (Art. 6 Abs. 2
RL 2016/800; zu „legal aid“ siehe Art. 18 RL 2016/800),
insbesondere vor (!) und während jeder polizeilichen Befragung (Art. 6 Abs. 3, Abs. 7 RL 2016/800). Davon kann allerdings abgesehen werden, wenn dies zur Abwehr schwerwiegender Gefahren oder aber zur effektiven Strafverfolgung
von schwerer Kriminalität („wenn ein sofortiges Handeln der
Ermittlungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines sich auf eine schwere Straftat beziehenden Strafverfahrens abzuwenden“) unter Berücksichtigung des Kindswohls im Einzelfall erforderlich sei (Art. 6
Abs. 8 RL 2016/800). Zudem dürfen die Mitgliedstaaten
generell von einer notwendigen Verteidigung absehen, wenn
eine solche „nicht verhältnismäßig“ sei und ein Verzicht auf
eine notwendige Verteidigung – auch unter Berücksichtigung
des Tatvorwurfs und der drohenden Rechtsfolgen – mit dem
Wohl des Jugendlichen im Einklang stehe; auf jeden Fall aber
sei die Pflicht zu notwendiger Verteidigung gegeben, soweit
Freiheitsentzug verhängt oder vollstreckt wird (Art. 6 Abs. 6
RL 2016/800). Eine audiovisuelle Aufzeichnung von Vernehmungen ist – ebenfalls in Abschwächung des Kommissionsvorschlags – nur nach Maßgabe einer Abwägung vorzunehmen (Art. 9 RL 2016/800). Ebenso ist es ausreichend,
wenn Verfahren gegen Jugendliche unter Ausschluss der
Öffentlichkeit geführt werden können (Art. 14 Abs. 2 RL
2016/800).
c) Prozesskostenhilfe73
Ende Juni 2016 konnte eine politische Einigung über den
Richtlinienvorschlag über Prozesskostenhilfe 74 geschlossen
werden. Um das – kraft Europarecht garantierte – Recht auf
einen Rechtsbeistand auch für diejenigen Beschuldigten
wirksam werden zu lassen, die sich einen Rechtsbeistand
nicht leisten können, sieht diese Richtlinie vor, dass in bestimmten Fällen Prozesskostenhilfe (oder, als funktionales
Äquivalent, notwendige Verteidigung) zu gewähren ist
(Art. 4 Abs. 1 RL-E i.d.F. Ratsdok. 10665/16 LIMITE). Dies
ist indes begrenzt auf Fälle des Freiheitsentzugs sowie auf
Tatrekonstruktionen und Gegenüberstellungen (Art. 2 Abs. 1
RL-E i.d.F. Ratsdok. 10665/16 LIMITE). In Fällen des Europäischen Haftbefehls ist Prozesskostenhilfe grundsätzlich nur
im Vollstreckungsstaat zu gewähren; im Ausstellungsstaat
nur dann, wenn dies zur effektiven Gewährleistung von
Rechtsschutz notwendig ist (Art. 5 Abs. 2 RL-E i.d.F. Ratsdok. 10665/16 LIMITE). Nicht aufgegriffen wurde der Vorschlag des Berichterstatters des Europäischen Parlaments,
dass wenigstens in bestimmten Konstellationen einer Europäischen Ermittlungsanordnung (Vernehmungen, Gegenüberstellungen, Tatort-Rekonstruktionen) auch im Vollstreckungsstaat dem Beschuldigten Prozesskostenhilfe zu gewähren sei.
73
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (115 f.).
Siehe zuvor Ratsdok. 6603/15; Kommissionsvorschlag in
KOM (2013) 824 endg. v. 27.11.2013.
74
2. Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen
(RL 2010/64/EU); Recht auf Belehrung und Unterrichtung
(RL 2012/13/EU)75
Mit den Folgewirkungen des EuGH-Urteils in der Rechtssache Covaci76 beschäftigen sich drei neue Vorabentscheidungsersuchen. Der EuGH hatte in jener Sache geurteilt, dass
„der Beschuldigte tatsächlich über die volle Frist für einen
Einspruch gegen den Strafbefehl verfüg[en]“ können muss
(Rn. 64 ff.). Daher sei entscheidend, wann er persönlich und
tatsächlich Kenntnis von der ihn belastenden Entscheidung
erhalte. Anders indes die Konzeption des deutschen Zustellungsrechts, das insbesondere mit Zustellungsbevollmächtigten (§§ 116a Abs. 3, 132 Nr. 2 StPO) und -fiktionen operiert.
Das LG München versucht nunmehr die Rechtskraft und
daher die Vollstreckbarkeit (§ 449 StPO) eines Strafbefehls,
der an einen Zustellungsbevollmächtigten zugestellt wurde,
dadurch abzusichern, dass es den Betroffenen auf die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweist und ihm anstelle
der in § 45 Abs. 1 StPO genannte Wochenfrist eine zweiwöchige Frist gewährt.77 Die Frage, ob dieser Lösungsansatz
trotz der dem Betroffenen drohenden Rechtsnachteile (so
drohende Strafvollstreckungsmaßnahmen) europarechtskonform ist, legte das LG München dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.78 In ähnliche Stoßrichtung tendieren auch
zwei weitere Vorabentscheidungsersuchen des AG München
(Ermittlungsrichter).79
Die Streitfrage, ob auch Strafbefehle „Urteile“ i.S.d. § 37
Abs. 3 StPO sind80 und daher bei ihrer Übersetzungsbedürftigkeit nur dann als wirksam zugestellt gelten, wenn auch die
Übersetzung ebenfalls zugestellt wurde, hat das LG Aachen
auf die europäische Arena gehoben.81 Diese Frage wurde dem
EuGH unter Verweis auf Art. 3 RL 2010/64/EU vorgelegt.
Jene Vorschrift spricht zwar nur von der Verpflichtung, „jegliches Urteil“ zu übersetzen, was aber aus teleologischen
Gründen auf sämtliche rechtskraftfähige, aber potentiell mit
Rechtsbehelfen angreifbare gerichtliche Entscheidungen zu
erstrecken sein dürfte.
Ein ungarisches Vorabentscheidungsersuchen zur Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzun-
75
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (116).
EuGH, Urt. v. 15.10.2015 – C-216/14 (Covaci) m. Anm.
Böhm, NJW 2016, 306; Brodowski, StV 2016, 210; Kuhlanek,
JR 2016, 208.
77
Zu diesem – auf Schlussanträge des Generalanwalts Yves
Bot zurückgehenden – Lösungsansatz siehe bereits
Brodowski, StV 2016, 210 (211).
78
LG München, Beschl. v. 23.3.2016 – 25 Qs 26/16. Das
Verfahren wird vor dem EuGH unter der Rs. C-188/16 (Opria) geführt.
79
Diese Verfahren werden vor dem EuGH unter den Rs. C124/16 (Tranca) sowie Rs. C-213/16 (Reiter) geführt.
80
Bejahend LG Stuttgart StV 2014, 539; LG Gießen StraFo
2015, 243; verneinend LG Ravensburg NStZ-RR 2015, 219.
81
LG Aachen, Beschl. v. 6.5.2016 – 66 Qs-605 Js 1847/1510/16. Das Verfahren wird vor dem EuGH unter der Rs. C278/16 (Sleutjes) geführt.
76
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19
Dominik Brodowski
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gen in Strafverfahren82 betrifft die Frage, ob die Gewährleistungen dieser Richtlinie auch in einem besonderen ungarischen Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren anzuwenden sind. Beachtlich – und bemerkenswert – ist jedoch
die Antwort des EuGH auf eine weitere Vorlagefrage: 83 Der
Anwendungsbereich dieser Richtlinie sei deren Art. 1 zufolge
auf Fälle des Europäischen Haftbefehls und auf Strafverfahren „bis zum Abschluss des Verfahrens“ begrenzt, „worunter“, so der EuGH, „die endgültige Klärung der Frage zu
verstehen ist, ob [die beschuldigte Person] die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des
Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem
Rechtsmittelverfahren“ (Rn. 36). Damit ist aber die Rechtsstellung von Verurteilten im Strafvollstreckungsverfahren
(soweit sich dieses nicht Europäischer Haftbefehle bedient) in
transnationalen Fällen merklich beeinträchtigt.
3. Digitale Spuren/Verfolgung von Cyberkriminalität
Auf seiner 3473. Tagung nahm der Rat der Europäischen
Union – Justiz und Inneres – Schlussfolgerungen des Rates
der Europäischen Union zur Verbesserung der Strafjustiz im
Cyberspace84 sowie Schlussfolgerungen des Rates der Europäischen Union zum Europäischen Justiziellen Netz für Cyberkriminalität85 an. Letzteres dient der Vernetzung spezialisierter Justizbehörden bzw. derer Abteilungen im Rahmen
des (allgemeinen) Europäischen Justiziellen Netzes (EJN).
Unter Verweis auf die „praktische[n] und rechtliche[n]
Hindernisse [...] in Fällen, in denen der Ursprung der Cyberangriffe oder der Standort der elektronischen Beweismittel
(noch) nicht bekannt oder flüchtig ist oder einander widersprechende Regelungen die Zusammenarbeit mit den
Diensteanbietern behindern“86 fordert der Rat, dass eine „verstärkte“ (informelle) „Zusammenarbeit mit Diensteanbietern
[...] in Betracht gezogen werden [soll], die eine rasche Offenlegung von Daten ermöglich[t];“ so „ließen sich die Rechtshilfeersuchen zwischen den zuständigen Behörden mengenmäßig verringern“.87 Hierdurch und durch die Verwendung
„vereinheitlichter Formulare“ und Prozeduren in der Kommunikation zwischen Strafverfolgungsbehörden und Diensteanbietern wird daher einer Privatisierung der Rechtshilfe in
Strafsachen Vorschub geleistet.88 Auch wurde erwogen, auf
förmliche Rechtshilfe in Strafsachen zugunsten einer polizeilichen Zusammenarbeit immer dann zu verzichten, wenn es
nicht zur Erlangung von verwertbaren Beweismitteln für die
gerichtliche Hauptverhandlung erforderlich sei. 89
Daneben werden die Bedeutung von Aus- und Fortbildung und die Notwendigkeit eines hinreichenden Ressourceneinsatzes für (nationale wie transnationale) Ermittlungen
gegen Cyberkriminalität betont.90 Schließlich solle die Kommission „Möglichkeiten für ein gemeinsames Konzept der
EU für die Zuständigkeit für Ermittlungsmaßnahmen im
Cyberspace [...] sondieren“, was Fallkonstellationen betrifft,
„wenn mehrere Informationssysteme in verschiedenen Gerichtsbarkeiten gleichzeitig genutzt werden, [...] wenn sich
einschlägige elektronische Beweismittel innerhalb kurzer Zeit
zwischen verschiedenen Gerichtsbarkeiten bewegen oder
wenn der Standort der elektronischen Beweismittel oder der
Ort der kriminellen Handlung mit ausgeklügelten Methoden
verschleiert werden, so dass es zu einem ‚Standortverlust‘
kommt“ („loss of location“).91 Dies betrifft ausdrücklich auch
die Vornahme von transnationalen Ermittlungen „unabhängig
von physischen Grenzen“. Als Anknüpfungspunkte beispielsweise für Herausgabe- oder Auskunftsverlangen gegenüber Diensteanbietern werden diskutiert dessen Sitz und
dessen wirtschaftliche Betätigung, aber auch der „gewöhnliche [...] Aufenthaltsort der beschuldigten oder verdächtigen
Person und/oder [der] Aufenthaltsort der geschädigten Person“. Erwogen werden sollen „mögliche Analogien zu anderen grenzübergreifenden rechtlichen Regelungen wie z.B.
dem Open-Sky-Abkommen und dem Seerechtsübereinkommen [...] und dem Wettbewerbsrecht der EU“. 92
4. Gemeinsame Ermittlungsgruppen/Joint Investigation
Teams93
Ein Netzwerk von nationalen Experten zu Gemeinsamen
Ermittlungsgruppen (Network of National Experts on Joint
Investigation Teams [JITs]) legte im Dezember 2015 einen
ersten Evaluierungsbericht vor, der zugleich auch etliche
Handlungsempfehlungen für Gemeinsame Ermittlungsgruppen enthält.94 Schwierigkeiten bestünden in operativer Hinsicht bei der Finanzierung von Gemeinsamen Ermittlungsgruppen, der verschlüsselten Kommunikation zwischen den
Beteiligten der Ermittlungsgruppe und der Sprachenfrage.
Aus rechtlicher Sicht beachtenswert sind erstens Schwierigkeiten beim Austausch von Informationen, die im Wege der
Rechtshilfe von Drittstaaten erlangt wurden, zweitens die
Vgl. Ratsdok. 7323/16, S. 8: „The general understanding is
that police cooperation is aimed at exchanging information
that could lead to the opening of criminal proceedings. The
purpose of MLA is to obtain evidence for use in criminal
proceedings. Participants were of the opinion that when police-to-police cooperation is possible, MLA should not be
used.“
90
Ratsdok. 10007/16, S. 8 f.
91
Ratsdok. 10007/16, S. 10.
92
Ratsdok. 10007/16, S. 10 f.; siehe hierzu ergänzend Ratsdok. 7323/16.
93
Rahmenbeschl. des Rates v. 13.6.2002 über gemeinsame
Ermittlungsgruppen, ABl. EG 2002 Nr. L 162, S. 1.
94
Ratsdok. 15179/15.
89
82
Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und
des Rates v. 20.10.2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, ABl. EU 2010
Nr. L 280, S. 1.
83
EuGH, Urt. v. 9.6.2016 – C-25/15 (Balogh). Zu einem
anderen Aspekt dieses Urteils siehe noch unten V. 6. c).
84
Ratsdok. 10007/16.
85
Ratsdok. 10025/16.
86
Ratsdok. 10007/16, S. 4.
87
Ratsdok. 10007/16, S. 5.
88
Zur vergleichbaren Tendenz bezüglich Drittstaaten siehe
ergänzend unten VI. 4. b).
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ZIS 1/2017
20
Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick
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Beachtung der nötigen Standards, um die Verwertbarkeit von
Beweismitteln sicherzustellen, sowie drittens die Notwendigkeit, Fragen der Jurisdiktion frühestmöglich zu klären. 95 Erhellend zur Praxis und zum Selbstverständnis von Gemeinsamen Ermittlungsgruppen ist zudem ein Leitfaden, welcher
von dem genannten Netzwerk in Zusammenarbeit mit europäischen Institutionen verfasst wurde.96
5. Administrativer Ansatz zur Prävention und Bekämpfung
der schweren und organisierten Kriminalität
Auf seiner 3473. Tagung nahm der Rat der Europäischen
Union – Justiz und Inneres – am 9.6.2016 Schlussfolgerungen zum administrativen Ansatz zur Prävention und Bekämpfung der schweren und organisierten Kriminalität an. 97 Ein
solcher administrativer Ansatz soll „strafrechtliche [...] Maßnahmen zur Prävention, Bekämpfung, Unterbindung und
Verfolgung schwerer und organisierter Kriminalität“ ergänzen und sich insbesondere folgender bemerkenswerter Methoden bedienen: Personen, die an kriminellen Handlungen
beteiligt sind, sollen weitestmöglich daran gehindert werden,
„legale Verwaltungsinfrastrukturen“, „Genehmigungs- oder
Auftragsverfahren“ für kriminelle Zwecke zu nutzen. Hierzu
soll eine „präventive Kontrolle und Überwachung natürlicher
und juristischer Personen“ sowie der Informationsaustausch
zwischen Strafverfolgungsbehörden und Administrativbehörden gestärkt werden. Ferner sollen Gebäude enteignet oder
geschlossen werden, „wenn es aufgrund krimineller Handlungen in diesen Gebäuden oder in deren Nähe zur Belästigung der Öffentlichkeit kommt“.
6. Vorratsdatenspeicherung von Fluggastdatensätzen (PNRDaten)98
Nach langwierigen Verhandlungen99 wurde eine europäische
Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung von Fluggastdatensätzen beschlossen und im Amtsblatt veröffentlicht. Zwar
erfasst diese auf den ersten Blick nur Flüge aus oder in Drittstaaten. Sämtliche Mitgliedstaaten haben jedoch bereits bekundet, von der Öffnungsklausel in Art. 2 RL (EU) 2016/681
Gebrauch zu machen,100 so dass letztlich auch sämtliche
innereuropäischen Flüge erfasst werden. Die erhobenen PNR„[N]eed to consider jurisdictional issues at the earliest
possible stage since these issues could have an impact on the
operational phase [execution of European arrest warrants]“,
Ratsdok. 15179/15, S. 7.
96
Ratsdok. 11501/16.
97
Ratsdok. 9935/16.
98
Richtlinie (EU) 2016/681 des Europäischen Parlaments
und des Rates v. 27.4.2016 über die Verwendung von Fluggastdatensätzen (PNR-Daten) zur Verhütung, Aufdeckung,
Ermittlung und Verfolgung von terroristischen Straftaten und
schwerer Kriminalität, ABl. EU 2016 Nr. L 119, S. 132.
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (116).
99
Kommissionsvorschlag in KOM (2011) 32 endg. v.
2.2.2011; aufschlussreich zum Ablauf der Verhandlungen ist
Ratsdok. 14024/15.
100
Ratsdok. 15271/15.
95
Daten dürfen insbesondere mit Fahndungsdatenbanken abgeglichen werden (Art. 6 Abs. 2 lit. a, Abs. 3 RL [EU] 2016/
681). Daneben dürfen sie zur einzelfallbezogenen „Beantwortung von auf einer hinreichenden Grundlage gebührend begründeten Anfragen zuständiger Behörden“ genutzt werden,
soweit dies dem Zweck „der Verhütung, Aufdeckung, Ermittlung und Verfolgung von terroristischen Straftaten oder
schwerer Kriminalität“ dient (Art. 6 Abs. 2 lit. b RL [EU]
2016/681). Eine auf diese Richtlinie beschränkte Definition
schwerer Kriminalität findet sich in Art. 3 Nr. 9, Anhang II
und erstreckt sich beispielsweise auch auf Wirtschaftsspionage und „Betrugsdelikte, einschließlich Betrug zum Nachteil
der finanziellen Interessen der Union“. Nach Ablauf einer
ersten Speicherdauer von sechs Monaten sollen die Fluggastdatensätze für weitere 4 1/2 Jahre maskiert gespeichert werden, so dass auf diese nur unter erschwerten prozeduralen
Voraussetzungen zugegriffen werden kann.
7. Vorratsdatenspeicherung von TelekommunikationsVerbindungsdaten101
Seit dem EuGH-Urteil, das die europäische Rechtsgrundlage
zur Vorratsdatenspeicherung von TelekommunikationsVerbindungsdaten für grundrechtswidrig und nichtig erklärte,102 hat sich die Divergenz zwischen nationalen Regelungen
einer solchen Vorratsdatenspeicherung weiter vergrößert.
Dies führte zu neuen Diskussionen im Rat der Europäischen
Union – Justiz und Inneres – und seinen Arbeitsgruppen:103
Manche Mitgliedstaaten sprachen sich daher für einen neuen
Legislativvorschlag durch die Kommission aus. Zunächst
jedoch solle eine weitere Entscheidung des EuGH abgewartet
werden, namentlich zur Frage, ob und inwieweit eine nationale Regelung zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung von
Telekommunikations-Verbindungsdaten mit europäischem
Datenschutzrecht und europäischen Grundrechten vereinbar
ist.104 In seinen Schlussanträgen vom 19.7.2016 bejaht Generalanwalt Henrik Saugmandsgaard Øe dies unter gewissen
Kautelen. Die Speicherung und der Zugriff auf Telekommunikations-Verbindungsdaten unterfielen der ePrivacy-Richtlinie 2002/58/EG, so dass der Anwendungsbereich der EUGrundrechtecharta eröffnet sei. Der Eingriff in die Grundrechte aus Art. 7, Art. 8 GRC sei jedoch nur zur „Bekämpfung schwerer Kriminalität“ – nicht aber zur Verfolgung
einfacher Kriminalität oder für nicht strafrechtliche VerfahVgl. zuletzt Brodowski, ZIS 2015, 79 (93), sowie – aus
spezifisch europäischer Perspektive – Böhm/Andrees, CR
2016, 146; Schiedermair/Mrozek, DÖV 2016, 89; Wollenschläger/Krönke, NJW 2016, 906.
102
EuGH, Urt. v. 8.4.2014 – Rs. C-293/12, C-594/12.
103
Ratsdok. 14246/15, Ratsdok. 14677/15; siehe ergänzend
auch Ratsdok. 14369/15, S. 5 f. sowie Schlussfolgerungen
des Consultative Forum of Prosecutors General and Directors
of Public Prosecutions of the Member States of the European
Union, Ratsdok. 5930/16.
104
Dieses Verfahren wird vor dem EuGH unter der Rs. C203/15 (Tele 2 Sverige) geführt; siehe nunmehr auch das
ebenfalls anhängige (Eil-)Verfahren Rs. C-698/15 PPU
(Watson u.a.).
101
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21
Dominik Brodowski
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ren – und unter Beachtung der im EuGH-Urteil zur europäischen Rechtsgrundlage genannten Bedingungen rechtfertigbar, so Saugmandsgaard Øe.
8. Entschädigung der Opfer von Straftaten (RL 2004/80/EG)
Generalanwalt Yves Bot hat in seinen Schlussanträgen vom
12.4.2016 die italienische Rechtslage zur Entschädigung der
Opfer von Straftaten als unionsrechtswidrig bezeichnet, da
nur die Opfer einiger weniger, besonders qualifizierter (insb.
terroristischer) Straftaten eine derartige Entschädigung erhalten können.105 Hingegen sieht Art. 12 Abs. 2 RL 2004/80/ EG
vor, dass derartige Entschädigungsleistungen für „in ihrem
jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten
vorgesehen [sein müssen], die eine gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer gewährleistet“. Dies interpretiert
Bot dahingehend, dass sich eine solche Regelung auf alle
vorsätzlich begangenen Gewalttaten erstrecken muss.
V. Zusammenarbeit in Strafsachen
1. Europäischer Haftbefehl106
a) Ablehnungsgrund unzureichender Haftbedingungen?
In einem Grundsatzurteil unternahm die Große Kammer des
EuGH am 5.4.2016 eine Kurskorrektur dahingehend, dass
unter „außergewöhnlichen Umständen“ die gegenseitige
Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen – hier eines
Europäischen Haftbefehls – einzuschränken ist, selbst wenn
kein enumerativ genannter Ablehnungsgrund einschlägig
ist.107 Unter Verweis auf die besondere Bedeutung des Verbots unmenschlicher und erniedrigender Strafe oder Behandlung bestehe nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht
des Vollstreckungsstaats, bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte detailliert zu prüfen, ob dem Gesuchten nach
seiner Überstellung eine solche Strafe oder Behandlung konkret drohe. Lasse sich eine derartige Sorge nicht ausräumen –
sei es durch Zusicherungen, sei es durch niederschwelligere
Mechanismen108 –, so sei die Überstellung aufzuschieben,
aber nicht aufzugeben (1. Stufe). (Erst) Wenn der weitere
Vollzug der Auslieferungshaft angesichts der eingetretenen
Verzögerung unverhältnismäßig geworden ist, sei der Haftbefehl außer Vollzug zu setzen (2. Stufe). Hiermit öffnet der
EuGH zugleich die Tür, „auch in anderen Fällen des Europäischen Haftbefehls und insbesondere in Bagatellfällen breit-
flächig aus Gründen der Verhältnismäßigkeit auf den Vollzug
von Auslieferungshaft zu verzichten, soweit auch anderweitig
sichergestellt werden kann, das ‚die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person‘ zum Überstellungszeitpunkt gegeben sind.“109 Erst wenn „binnen längerer Zeit keine Gewähr für die Einhaltung hinreichender
Haftbedingungen [...] geschaffen werden kann“,110 müsse, so
die Große Kammer, „die vollstreckende Justizbehörde darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist“
(Rn. 104, 3. Stufe).
b) Mindeststrafdrohung
Die Maßgabe des RbEuHb, dass dieser nur bei Überschreitung eines gewissen Mindesthöchstmaßes der Strafdrohung
anwendbar ist,111 bezieht sich allein auf das Recht des Ausstellungsmitgliedsstaates. Dies beschloss bereits am
25.9.2015 die Vierte Kammer des EuGH in Fortführung
bisheriger Rechtsprechung nun auch für Fälle, bei denen kein
Listendelikt nach Art. 2 Abs. 2 RbEuHb gegeben ist und
daher die beiderseitige Strafbarkeit dennoch zu prüfen ist. 112
c) Erfordernis eines nationalen Haftbefehls als Grundlage
des Europäischen Haftbefehls
Mit Urteil vom 1.6.2016 stellte die Zweite Kammer des
EuGH klar, dass jeder Europäische Haftbefehl auf einem
nationalen Haftbefehl beruhen muss, der nicht mit dem Europäischen Haftbefehl identisch sein darf. 113 Denn nur dann
werde gewährleistet, dass der gesuchten Person mindestens
dieselben Verfahrens- und Grundrechte zugutekommen wie
in einer rein nationalen Situation (Rn. 56). Darauf aufbauend
entschied der EuGH in diesem Verfahren, dass ein formaler
Mangel eines Europäischen Haftbefehls – hier fehlte nämlich
ein Verweis auf einen nationalen Haftbefehl –, der auch nicht
im Rahmen von Konsultationen nach Art. 15 Abs. 2 RbEuHb
geheilt wird, dazu führt, dass dieser „nicht gültig“ und daher
auch „nicht vollstreckt“ werden darf (Rn. 67). Damit wird
eine weitere Lücke im (zu) engen Katalog der Ablehnungsgründe der Art. 4, 4a, 5 RbEuHb geschlossen.
d) Vollstreckung von Abwesenheitsentscheidungen
Die (Mindest-)Voraussetzungen in Art. 4 Abs. 1 lit. a
RbEuHb, die an zu vollstreckende Abwesenheitsentscheidungen gestellt werden, sind europäisch-autonom auszule-
105
Das Verfahren wird vor dem EuGH unter der Rs. C601/14 (Kommission v. Italien) geführt.
106
Rahmenbeschl. des Rates v. 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den
Mitgliedstaaten i.d.F. CONSLEG 2002F0584 v. 28.3.2009.
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (117) sowie Riegel/
Speicher, StV 2016, 250.
107
EuGH, Urt. v. 5.4.2016 – Rs. C-404/15 (Pál Aranyosi)
und C-669/15 PPU (Robert Căldăraru) m. Anm. und Bespr.
(u.a.) Böhm, NJW 2016, 1708; Brodowski, JR 2016, 415;
Meyer, JZ 2016, 621; Satzger, NStZ 2016, 514.
108
Einschränkend Meyer, JZ 2016, 621 (622 f.): Das völkerrechtliche Instrument von Zusicherungen stehe nicht zur
Verfügung.
109
Brodowski, JR 2016, 415 (430).
Brodowski, JR 2016, 415 (430 f.); skeptischer Meyer, JZ
2016, 621 (623).
111
Grundsätzlich zwölf Monate (Art. 2 Abs. 1 RbEuHb); bei
Wegfall des Erfordernisses der beiderseitigen Strafbarkeit bei
Listendelikten 3 Jahre (Art. 2 Abs. 2 RbEuHb).
112
EuGH, Beschl. v. 25.9.2015 – C-463/15 (Openbaar Ministerie v. A.) unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 12.9.2006 –
C-303/05 (Advocaten voor de Wereld).
113
EuGH, Urt. v. 1.6.2016 – C-241/15 (Bob-Dogi). Ebenso
zuvor Supreme Court of the United Kingdom, Urt. v.
30.5.2015 – (2012) UKSC 22 (Assange), Rn. 79.
110
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Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick
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gen.114 Daraus folge, so der EuGH, dass für die Frage, ob
jemand „persönlich vorgeladen wurde“ oder ob er auf „andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin
und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde“, nicht
mit Fiktionen des nationalen Prozessrechts gearbeitet werden
dürfe (hier: die Selbstverpflichtung eines anderen Erwachsenen, der unter der Meldeadresse angetroffen wurde, die Ladung an den Beschuldigten auszuhändigen). Statt dessen
müsse der Ausstellungsstaat dem Vollstreckungsstaat – nötigenfalls im Konsultationsverfahren des Art. 15 Abs. 2
RbEuHb – belegen, dass „zweifelsfrei nachgewiesen wurde,
dass [die mit dem Europäischen Haftbefehl gesuchte Person]
von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte“ (so die
Formulierung in Art. 4 Abs. 1 lit. a a.E. RbEuHb).
e) Anrechnung eines elektronischen Hausarrests als „verbüßte
Haft“?
Nach Art. 26 Abs. 1 RbEuHb ist ein im Vollstreckungsstaat
infolge eines Europäischen Haftbefehls eingetretener „Freiheitsentzug“ auf die verbleibende Haftdauer anzurechnen.
Auf ein polnisches Vorabentscheidungsersuchen hin bekräftigte der EuGH, dass der Begriff des „Freiheitsentzugs“ europäisch-autonom auszulegen ist. Zwar sei dies nicht zwingend
mit „Haft“ gleichzusetzen, erfordere aber – unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 5 Abs. 1
EMRK – doch eine vergleichbare Schwere des Grundrechtseingriffs. Dies sei, so der EuGH, bei einer Verpflichtung, sich
nachts zu Hause aufzuhalten, und einer entsprechenden elektronischen Überwachung („elektronischer Hausarrest“), hier
flankiert durch regelmäßige Erscheinungspflichten bei der
örtlichen Polizeibehörde, nicht gegeben.115
f) Fehlende beiderseitige Strafbarkeit und Gesamtstrafe
Ein Mitgliedstaat ersuchte Schweden um die Auslieferung
eines Verurteilten, der wegen mehrerer Straftaten zu einer
(untrennbaren) Gesamtstrafe verurteilt wurde. Eine der Taten
ist jedoch in Schweden nicht strafbar und stellt auch kein
Listendelikt nach Art. 2 Abs. 2 RbEuHb dar. Das zuständige
schwedische Gericht legte nun die Frage dem EuGH zur
Vorabentscheidung vor, ob es in dieser Konstellation wegen
fehlender beiderseitiger Strafbarkeit insgesamt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern darf.116
g) Auslieferung Minderjähriger
Die Frage, ob und inwieweit auch Minderjährige auf Grundlage des RbEuHb zur Strafverfolgung und zur Strafvollstreckung ausgeliefert werden dürfen, steht im Zentrum eines
belgischen Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH. So
könne die Vorschrift in Art. 3 Nr. 3 RbEuHb nach Auffassung des vorlegenden Gerichts dahingehend ausgelegt werden, dass dieser die Auslieferung Minderjähriger gänzlich
verbiete. Sei das nicht der Fall, sei unklar, ob nur eine absEuGH, Urt. v. 24.5.2016 – C-108/16 PPU (Dworzecki).
EuGH, Urt. v. 28.7.2016 – C-294/16 PPU (JZ).
116
Das Verfahren wird unter der Rs. C-148/16 (Akarsar)
geführt.
114
115
trakte Prüfung (also das Erreichen des Alters der Strafmündigkeit) oder auch eine konkrete Prüfung (so – nach deutschem Verständnis – die Voraussetzungen der Verantwortlichkeit nach § 3 S. 1 JGG) vorgenommen werden dürfe. 117
2. Europäische Vollstreckungsanordnung (RB 2008/909/JI)118
a) Normidentität als Voraussetzung beiderseitiger
Strafbarkeit?
Jedenfalls soweit kein Listendelikt nach Art. 7 Abs. 1 RB
2008/909/JI gegeben ist, kennt auch die Europäische Vollstreckungsanordnung den Ablehnungsgrund einer fehlenden
beiderseitigen Strafbarkeit (Art. 7 Abs. 3, Art. 9 Abs. 1 lit. d
RB 2008/909/JI). Ein slowakisches Vorabentscheidungsersuchen betrifft nun die – soweit ersichtlich im europäischen
Zusammenarbeitsrecht bislang nicht abschließend geklärte –
Frage, ob für eine beiderseitige Strafbarkeit eine Normidentität zwischen beiden Straftatbeständen119 vorauszusetzen
ist.120 In seinen Schlussanträgen vom 28.7.2016 zu diesem
Verfahren schlägt Generalanwalt Bobek vor, einen „relativ
hohen Grad an Abstraktion“ anzulegen und insbesondere
keine „exakte Übereinstimmung der Systematik“ zu verlangen (Rn. 76 f.).
b) Wechselspiel zwischen Europäischem Haftbefehl und
Europäischer Vollstreckungsanordnung
Schweden verwies auf eine Fallgestaltung, bei der gegen eine
Person wegen desselben Strafurteils sowohl ein Europäischer
Haftbefehl zur Vollstreckung dieses Urteils als auch ein Ersuchen nach der Europäischen Vollstreckungsübernahme
vorgelegen habe.121 Daher fragte Schweden bei den anderen
Ratsdelegationen an, ob vergleichbare Konstellationen bekannt seien und daher über Art. 4 Abs. 6 RbEuHb hinausgehender Koordinationsbedarf bestehe.
c) Zur Stichtagsregelung bei Altfällen
Die Rechtsbank Amsterdam legte dem EuGH eine Frage zur
Übergangsbestimmung in Art. 28 Abs. 2 RB 2008/909/JI vor:
Diese Regelung gestattet es den Mitgliedstaaten, das vor dem
117
Das Verfahren wird unter der Rs. C-367/16 (Piotrowski)
geführt.
118
Rahmenbeschl. 2008/909/JI des Rates v. 27.11.2008 über
die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union, ABl. EU
2008 Nr. L 327, S. 27 i.d.F. CONSLEG 2008F0909 v.
28.3.2009. Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2015, 79 (97).
119
Zur vergleichbaren Streitfrage bei § 3 IRG vgl. einerseits
Vogel/Burchard, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 40. Lfg., Stand:
Dezember 2016, § 3 IRG Rn. 29; andererseits Kubiciel, in:
Ambos/König/Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht in Strafsachen, 2015, § 3 IRG Rn. 26.
120
Das Verfahren wird unter der Rs. C-289/15 (Grundza)
geführt.
121
Ratsdok. 14775/15.
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Dominik Brodowski
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5.12.2011 geltende Recht auf Altfälle weiter anzuwenden.
Dabei ist indes unklar, ob diese Regelung nur auf Urteile
anwendbar ist, die zu diesem Stichtag bereits rechtskräftig
waren, oder auch auf zum Stichtag zwar erlassene, aber damals noch nicht rechtskräftige Urteile.122
d) Anrechnung von in Haft geleisteter Arbeit
Ein bulgarisches Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH
thematisiert, ob bei einer Vollstreckungsübernahme die vor
der Übernahme der Vollstreckung in Haft geleistete Arbeit
nach dem Recht des Ausstellungsstaats oder aber nach dem
Recht des Vollstreckungsstaats anzurechnen ist. 123 In seinen
Schlussanträgen vom 30.5.2016 weist Generalanwalt Yves
Bot darauf hin, dass die Vollstreckungsübernahme durch
Bulgarien nicht auf Grundlage der Europäischen Vollstreckungsanordnung erfolgt sei, sondern noch nach dem Europarats-Übereinkommen über die Überstellung verurteilter
Personen. Gleichwohl entfalte der Rahmenbeschluss angesichts des Ablaufs der Umsetzungsfrist eine Verpflichtung
zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung nationalen
Rechts. Aus Art. 17 Abs. 1, Abs. 2 RB 2008/909/JI folge
wiederum, so Bot, dass allein der Urteilsstaat darüber zu
befinden habe, ob und inwieweit Arbeit, die vor der Überstellung in Strafhaft geleistet wurde, anzurechnen ist, auch wenn
dies für den Verurteilten ungünstiger sei. Daher habe es das
bulgarische Gericht zu unterlassen, die in Dänemark geleistete Arbeit nach bulgarischem (und nicht nach dänischem)
Strafvollstreckungsrecht anzurechnen.
3. Befangenheit infolge EuGH-Vorlagebeschluss?
In einem weiteren Vorabentscheidungsersuchen in demselben
Strafverfahren hat die Große Kammer des EuGH betont, dass
eine Vorlageentscheidung eines nationalen Gerichts nach
Art. 267 AEUV und die daraus folgende Begründungspflichten – in denen das Gericht ggf. zum Nachweis der Entscheidungserheblichkeit bereits darlegen muss, von welchem
Sachverhalt es überzeugt ist – nicht zu einer Befangenheit des
nationalen Gerichts führt.124 Ohnehin sei das vorlegende
Gericht nicht daran gehindert, so die Große Kammer, nach
einer Entscheidung des EuGH erneut in die Beweisaufnahme
einzutreten (Rn. 29 f.).
4. Europäische Geldstrafe und Geldbuße (RB 2005/214/JI)125
Die niederländische Ratspräsidentschaft suchte nach Wegen,
die Anwendung der gegenseitigen Anerkennung von Geld122
Das Verfahren wird unter der Rs. C-582/15 (van Vemde)
geführt.
123
Das Verfahren wird unter der Rs. C-554/14 (Ognyanov)
geführt.
124
EuGH, Urt. v. 5.7.2016 – C-614/14 (Ognyanov).
125
Rahmenbeschl. 2005/214/JI des Rates v. 24.2.2005 über
die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl. EU 2005 Nr. L
76, S. 16 i.d.F. CONSLEG 2005F0214 v. 28.3.2009. Siehe
zuletzt Brodowski, ZIS 2015, 79 (98), sowie Johnson, ZIS
2016, 206.
strafen und Geldbußen in der Strafrechtspraxis zu verbessern.126 So hob sie hervor, dass bei im Inland uneinbringlichen Geldstrafen zunächst versucht werden solle, diese europaweit zu vollstrecken, anstelle sogleich eine Ersatzfreiheitsstrafe zu verhängen und deren Vollstreckung über einen Europäischen Haftbefehl zu bewirken zu suchen. Außerdem
wies sie auf praktische Schwierigkeiten bei der Vollstreckung
von Sanktionen hin, die in schriftlichen Verfahren oder von
Verwaltungsbehörden (bei Administrativsanktionen) verhängt wurden.
5. Berücksichtigung von in anderen EU-Mitgliedstaaten
ergangenen Verurteilungen (RB 2008/675/JI)127
Ein von einem bulgarischen Gericht vorgelegtes Vorabentscheidungsersuchen betrifft vordergründig die Frage, ob die
(i.d.R. strafschärfende) Berücksichtigung von einschlägigen
Vorstrafen auch von einem Beschuldigten durchgesetzt werden kann.128 Das gegenständliche bulgarische Verfahren
scheint zwar eine andere Tat zu betreffen als die vorhergehende Verurteilung, jedoch würde die dort abgeurteilte Straftat die in Bulgarien vorgeworfene Tat in materiell-rechtlicher
Hinsicht konsumieren. Daher erhofft sich der Beschuldigte
durch eine Berücksichtigung der ersten Verurteilung einen
Vorteil – aufgrund Art. 3 Abs. 5 RB 2008/675/JI allerdings
wohl ohne größere Aussicht auf Erfolg.
6. Europäisches Strafregisterinformationssystem (ECRIS) 129
a) Evaluation
Im Januar 2016 legte die Kommission eine Evaluation des
Europäischen Strafregisterinformationssystems (ECRIS) 130
vor. Darin betont die Kommission, wie wichtig es für die
Strafzumessung sei, über vorausgehende Verurteilungen
Bescheid zu wissen, auch wenn diese im EU-Ausland ergangen sind. Dieses Ziel werde durch ECRIS bezüglich EUBürger in großem Umfang erreicht, da sich 25 EU-Staaten
am elektronischen Informationsaustausch beteiligen. Nur
betreffend Malta, Portugal und Schweden gebe es noch (vorrangig technische) Schwierigkeiten. Unklarheiten und Divergenzen seien allerdings hinsichtlich der nachfolgenden
Übermittlung der bereits vorliegenden Urteile und hinsicht126
Ratsdok. 7222/16.
Rahmenbeschl. 2008/675/JI des Rates v. 24.7.2008 zur
Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen
Strafverfahren, ABl. EU 2008 Nr. L 220, S. 32. Siehe hierzu
die Evaluation in KOM (2014) 312 endg. v. 2.6.2014, sowie
zuletzt Brodowski, ZIS 2015, 79 (98).
128
Das Verfahren wird unter der Rs. C-171/16 (Beshkov)
geführt.
129
Beschl. 2005/876/JI des Rates v. 21.11.2005 über den
Austausch von Informationen aus dem Strafregister, ABl. EU
2005 Nr. L 322, S. 33 sowie Beschl. 2009/316/JI des Rates v.
6.4.2009 zur Einrichtung des Europäischen Strafregisterinformationssystems (ECRIS), ABl. EU 2009 Nr. L 93, S. 33;
siehe hierzu Sollmann, NStZ 2012, 253.
130
KOM (2016) 6 endg. v. 19.1.2016.
127
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ZIS 1/2017
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Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick
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lich der Reichweite der Übermittlungs- und Speicherungsverpflichtung zu verzeichnen, namentlich inwieweit auch
staatsanwaltschaftliche Abschlussverfügungen mitzuteilen
seien.
b) Erweiterung auf Drittstaatsangehörige
Eine Schwachstelle weist das bestehende System allerdings
hinsichtlich Drittstaatsangehörigen auf. Daten über Verurteilungen dieser Personen werden nicht nur durch einen leicht
bestimmbaren Mitgliedstaat vorgehalten, sondern potentiell
in allen EU-Mitgliedstaaten. Daher unterbreitete die Kommission zugleich einen Vorschlag für eine Erweiterung von
ECRIS auf Drittstaatsangehörige.131 Dem Vorschlag zufolge
sollen die Mitgliedstaaten mittels eines „hit/no-hit-Verfahrens“
schnell abfragen können, welche andere Mitgliedstaaten
Informationen über Drittstaatsangehörige vorhalten. Zur
Identifikation der Drittstaatsangehörigen sollen – von Ausnahmefällen abgesehen – u.a. deren Fingerabdrücke und die
Namen der Eltern der verurteilten Person gespeichert und
(zunächst in pseudonymisierter Form) abgeglichen werden
(Art. 4a Abs. 1 lit. e, lit. j, Abs. 2 RL-E). Im Rat und seine
Gremien stößt dieser Vorschlag grundsätzlich auf Zustimmung.132 Indes befürchten die Mitgliedstaaten, dass das vorgeschlagene dezentrale System und das transnationale Verfahren zum Identitätsabgleich zu aufwändig seien. Dies soll
daher nach den Vorstellungen des Rates durch eine zentralisierte Datenbank ersetzt werden.
c) Eintragung ausländischer Verurteilungen im Heimatstaat
Betreffend Staatsangehörigen eines EU-Mitgliedstaats sieht
das bisherige System des RB 2009/315/JI vor, dass Verurteilungen im Heimatstaat des Verurteilten in die dortigen Strafregister einzutragen sind. Hierfür sah Ungarn bislang ein
gesondertes, förmliches Verfahren vor, das u.a. eine Übersetzung des Urteils erforderte und jedenfalls die Kosten hierfür
dem Verurteilten auferlegte. Das widerspricht, so die Fünfte
Kammer des EuGH, den Regelungen des RB 2009/315/JI
und des begleitenden Beschlusses 2009/316.133 Denn der
Heimatstaat müsse „Verurteilungen [...] unmittelbar auf der
Grundlage der hierzu in Form von Codes von der Zentralbehörde des Urteilsmitgliedstaats über das ECRIS übermittelten
Angaben in das Strafregister eintragen“ (Rn. 48). Ein weiteres Vorabentscheidungsersuchen sucht nun dieses gesonderte
ungarische Verfahren gänzlich zu kippen.134
131
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung des Rahmenbeschl.
2009/315/JI des Rates im Hinblick auf den Austausch von
Informationen über Drittstaatsangehörige und das Europäische Strafregisterinformationssystem (ECRIS) und zur Ersetzung des Beschl. 2009/316/JI des Rates, KOM (2016) 7 endg.
v. 19.1.2016.
132
Ratsdok. 9798/16.
133
EuGH, Urt. v. 9.6.2016 – C-25/15 (Balogh). Zu einem
anderen Aspekt dieses Urteils siehe bereits oben IV. 2.
134
Das Verfahren wird unter der Rs. C-390/16 (Lada) geführt.
7. Gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen zur
Sicherstellung und Einziehung von Erträgen aus Straftaten135
Zur Vorbereitung einer neuen Legislativmaßnahme betreffend die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen zur
Sicherstellung und Einziehung von Erträgen aus Straftaten
veröffentlichte die Kommission ein Diskussionspapier. 136
Aus diesem lässt sich der Schluss ziehen, dass die Kommission einen weiten Anwendungsbereich beabsichtigt, der sich
auch auf sogenannte „non-conviction based confiscation“, auf
„civil forfeiture“ sowie auf Einziehung und Verfall bei Dritten erstreckt. Hierzu könne es notwendig sein, so die Kommission, bestimmte Verfahrensgarantien zu gewährleisten –
etwa Selbstverständlichkeiten wie ein faires Verfahren und
gerichtliche Begründungspflichten. Zudem erwägt die Kommission, auch solche Entscheidungen europaweit „verkehrsfähig“ zu machen, die auf einer Beweislastumkehr und/oder
auf einem reduzierten Beweismaß (etwa überwiegende
Wahrscheinlichkeit) beruhen.
8. Bereinigung des acquis; Europäische Beweisanordnung137
Durch drei Verordnungen wurden für entbehrlich gehaltene
Rechtsakte in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufgehoben, darunter insbesondere die
Europäische Beweisanordnung. 138
135
Zum bisherigen Rechtsrahmen siehe zuletzt Brodowski,
ZIS 2015, 79 (88 f.), zur Richtlinie 2014/42/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 3.4.2014 über die Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen
aus Straftaten in der Europäischen Union, ABl. EU 2014
Nr. L 127, S. 39; korrigiert in ABl. EU 2014 Nr. L 138,
S. 114, sowie Brodowski, ZIS 2010, 749 (757), zum Rahmenbeschl. 2006/783/JI des Rates v. 6.10.2006 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung
auf Einziehungsentscheidungen, ABl. EU 2006 Nr. L 328,
S. 59 i.d.F. CONSLEG 2006F0783 v. 28.3.2009.
136
Verfügbar unter:
http://ec.europa.eu/justice/criminal/files/discussion-cr-event20160620_en.pdf (5.1.2017).
137
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (118).
138
Verordnung (EU) 2016/93 des Europäischen Parlaments
und des Rates v. 20.1.2016 zur Aufhebung bestimmter
Rechtsakte aus dem Schengen-Besitzstand, ABl. EU 2016
Nr. L 26, S. 1; Verordnung (EU) 2016/94 des Europäischen
Parlaments und des Rates v. 20.1.2016 zur Aufhebung bestimmter Rechtsakte aus dem Schengenbesitzstand im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in
Strafsachen, ABl. EU 2016 Nr. L 26, S. 6; Verordnung (EU)
2016/95 des Europäischen Parlaments und des Rates v.
20.1.2016 zur Aufhebung bestimmter Rechtsakte im Bereich
der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, ABl. EU 2016 Nr. L 26, S. 9.
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Dominik Brodowski
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VI. Zusammenarbeit mit Drittstaaten und Internationalen
Organisationen
1. Europarat
a) Terrorismus139
Auf Grundlage eines entsprechenden Beschlusses des Rats
der Europäischen Union140 zeichnete die Europäische Union
das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung des Terrorismus (SEV-Nr. 196) sowie das Zusatzprotokoll zu jenem
Übereinkommen. Hiervon zu unterscheiden ist der (zukünftige) Abschluss durch die EU sowie die sekundärrechtliche
Umsetzung.141
b) Sexualstrafrecht
Anfang März 2016 legte die Europäische Kommission zwei
Legislativvorschläge vor, die darauf abzielen, dass die Europäische Union das (Istanbul-)Übereinkommen des Europarats
zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
und häuslicher Gewalt unterzeichnet und abschließt.142 Als
Rechtsgrundlage wird vorrangig Art. 82 Abs. 2, Art. 84
AEUV herangezogen, da das Übereinkommen primär auf die
„Verhütung von Gewalt gegen Frauen, einschließlich häuslicher Gewalt, und dem Schutz der Opfer solcher Straftaten“
abziele und die übrigen Bestimmungen – wozu die in
Deutschland umstrittenen Pönalisierungsverpflichtungen
zählen (Art. 33 ff. Istanbul-Übereinkommen) – lediglich eine
„Ergänzung“ darstellen oder aber (teilweise) nicht der Kompetenz der EU unterfallen.143 Der Abschluss des Übereinkommens durch die EU würde daher nur begrenzt unmittelbare Auswirkungen auf die Strafrechtslage in Deutschland
haben. In den Arbeitsgruppen des Rates stoßen die Ziele des
Istanbul-Übereinkommens zwar auf Zustimmung; die Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten
führt jedoch noch zu erheblichem Klärungsbedarf.144
2. WHO-Protokoll zur Unterbindung des unerlaubten
Handels mit Tabakerzeugnissen
Der Rat der Europäischen Union hat mit Zustimmung des
Europäischen Parlaments beschlossen, dass die EU das
WHO-Protokoll zur Unterbindung des unerlaubten Handels
mit Tabakerzeugnissen abschließt; der Vollzug dieses Beschlusses steht indes noch aus.145 Gezeichnet wurde dieses
Protokoll von der EU – wie auch von Deutschland – bereits
139
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (118); zum Europarats-Übereinkommen und zum Zusatzprotokoll siehe
Afsali, Der Beitrag des Europarats zur Terrorbekämpfung und
sein Einfluss auf die Europäische Union, 2014, sowie Sieber/
Vogel, Terrorismusfinanzierung, 2015.
140
ABl. EU 2015 Nr. L 280, S. 22, 24.
141
Siehe hierzu oben III. 3. a).
142
KOM (2016) 109 endg. v. 4.3.2016; KOM (2016) 111
endg. v. 4.3.2016
143
Z.B. KOM (2016) 109 endg. v. 4.3.2016, S. 8, 11.
144
Ratsdok. 7551/16, S. 2.
145
Ratsdok. 10063/16 sowie Europäisches Parlament, Entschließung v. 7.6.2016 – P8_TA(2016)0242; zuvor Ratsdok.
5338/16.
im Jahr 2013.146 Aus materiell-strafrechtlicher Sicht enthält
das Protokoll umfangreiche Sanktionierungsverpflichtungen
in Art. 14 Abs. 1: Diese erfassen neben jeglichem Handeltreiben unter Verstoß gegen die im Protokoll vorgegebenen
Prozeduren auch weitere Verstöße gegen due diligenceVorschriften des Protokolls, die Geldwäsche erlangter Erträge (Art. 14 Abs. 1 lit. j WHO-Protokoll) sowie auch jegliche
„Behinderung eines Amtsträgers oder amtlichen Beauftragten
bei der Erfüllung seiner Pflichten im Zusammenhang mit der
Verhinderung, Abschreckung, Aufdeckung, Untersuchung
oder Unterbindung des unerlaubten Handels mit Tabak, Tabakerzeugnissen oder Herstellungsgeräten“ (Art. 14 Abs. 1
lit. h WHO-Protokoll). Inwieweit jedoch Strafrecht als Sanktionierungsmittel gewählt wird, ist den jeweiligen Vertragspartnern überlassen (Art. 14 Abs. 2 WHO-Protokoll). Aus
strafverfahrensrechtlicher Sicht bemerkenswert ist – neben
einer Konvergenzvorschrift für „[b]esondere Ermittlungsbefugnisse“ (z.B. „elektronische oder andere Formen der Überwachung und verdeckte Ermittlungen“) in Art. 19 Abs. 1
WHO-Protokoll – vor allem Art. 16 Abs. 2 WHO-Protokoll:
Dieser Regelung zufolge soll jede Vertragspartei sicherstellen, „dass eine nach ihrem innerstaatlichen Recht bestehende
Ermessensfreiheit hinsichtlich der Strafverfolgung von Personen wegen in Übereinstimmung mit Artikel 14 umschriebener rechtswidriger Handlungen einschließlich Straftaten so
ausgeübt wird, dass die Maßnahmen der Strafrechtspflege in
Bezug auf diese rechtswidrigen Handlungen einschließlich
Straftaten größtmögliche Wirksamkeit erlangen, wobei der
Notwendigkeit der Abschreckung von diesen rechtswidrigen
Handlungen einschließlich Straftaten gebührend Rechnung zu
tragen ist.“
3. Schweiz und Liechtenstein – Prümer Beschluss
Die Europäische Union einerseits, die Schweiz und Liechtenstein andererseits haben Verhandlungen über eine Beteiligung dieser Staaten an bestimmten Aspekten des sog. Prümer
Beschlusses147 aufgenommen.148
4. Vereinigte Staaten von Amerika
a) Datenschutzabkommen („umbrella agreement“)149
Nachdem der Judicial Redress Act durch den US-Senat und
das US-Repräsentatenhaus beschlossen und von USPräsident Obama unterzeichnet wurde, legte die Europäische
Kommission erwartungsgemäß ihren Vorschlag für einen
Beschluss des Rates über die Unterzeichnung – im Namen
der Europäischen Union – des Abkommens zwischen den
Vereinigten Staaten von Amerika und der Europäischen Union über den Schutz personenbezogener Daten bei der Verhütung, Untersuchung, Aufdeckung und Verfolgung von Straf146
ABl. EU 2013 Nr. L 333, S. 73.
Siehe oben I. 6. bei und mit Fn. 24.
148
Vgl. Ratsdok. 5760/16 sowie Ratsdok. 9823/1/16; der das
Verhandlungsmandat vorbereitende Kommissionsvorschlag
KOM (2015) 521 endg. ist nicht öffentlich.
149
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (119) sowie
Smagon, ZD 2016, 55.
147
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Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick
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taten vor.150 Nach positivem Votum im Europäischen Rat –
Justiz und Inneres – auf dessen 3465. Sitzung in Brüssel am
20.5.2016 und begleitet durch die Veröffentlichung im
Amtsblatt151 wurde das Abkommen Anfang Juni in Amsterdam unterzeichnet. Zu dessen Inkrafttreten („Abschluss“) ist
jedoch ein weiterer Ratsbeschluss und zuvor ein Beschluss
des Europäischen Parlaments erforderlich.152
Unterdessen sieht sich das Abkommen europaverfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt, die in einem vertraulichen Rechtsgutachten des Juristischen Dienstes des Europäischen Parlaments näher ausgeführt werden:153 So sei ein
solches Abkommen – anders als eine herkömmliche Angemessenheitsentscheidung, wie sie der Schrems-Entscheidung
des EuGH zugrunde lag154 – nur eingeschränkter Kontrolle
durch den EuGH unterworfen. Zudem gewähre dieses Abkommen – wie auch der Judicial Redress Act – nur Rechtsschutz für EU-Bürger, nicht aber für Drittstaatsangehörige,
die (etwa als Gebietsansässige) EU-Recht unterworfen sind.
Dies führe, so der Juristische Dienst des Europäischen Parlaments, zu einer nicht hinnehmbaren Rechtsschutzlücke.
b) Rechtshilfeübereinkommen155
Ein Zwischenbericht zur Evaluation des Abkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten
von Amerika über Rechtshilfe sieht zwar keinen Änderungsbedarf am Vertragstext, wohl aber Potential zur Effektuierung des Abkommens in der Praxis der Strafrechtspflege.156
Neben organisatorischen Veränderungen (etwa der Einrichtung von „Single Point of Contacts“) und einer vermehrten
Nutzung elektronischer Kommunikation zwischen den beteiligten Stellen wird besonderes Augenmerk auf den Zugriff
auf elektronische Beweismittel gelegt. Darauf gerichtete
Rechtshilfeersuchen seitens EU-Mitgliedstaaten würden, so
der Zwischenbericht, zu langsam erledigt und zu häufig unter
Verweis auf einen zu geringen Tatverdacht – der nicht die
Schwelle eines „probable cause“ erreiche – zurückgewiesen.
Allerdings habe sich eine informelle Praxis herausgebildet, demzufolge elektronische Beweismittel (einschließlich
Inhaltsdaten) durch US-amerikanische Strafverfolgungsbehörden in Fällen des Terrorismus oder bei einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben sichergestellt und die derart
gewonnenen Erkenntnisse sodann mit den europäischen Behörden geteilt werden.157 Dies soll – so die EUMitgliedstaaten – im Benehmen mit den USA noch weiter
intensiviert werden, was einer Informalisierung und Privatisierung der Rechtshilfe158 Vorschub leisten wird: Internet-
Service-Provider mit Sitz in den USA sollen verstärkt auf
Ersuchen europäischer Strafverfolgungsbehörden Bestandsund Verkehrsdaten freiwillig (und im Einklang mit USamerikanischem Datenschutzrecht) aushändigen. Dies hat
neben einer schnelleren Erledigung aus Sicht europäischer
Strafverfolger auch den Vorteil, dass hierfür ein niedrigerer
Verdachtsgrad als im förmlichen Rechtshilfeverfahren ausreichend ist.159
5. Kanada – PNR-Abkommen160
Das Europäische Parlament hat auf Grundlage des Art. 218
Abs. 11 AEUV beantragt, dass der EuGH ein Gutachten über
das geplante Abkommen zwischen der Europäischen Union
und Kanada über die Übermittlung und Verarbeitung von
Fluggastdatensätzen erstattet.161 Der EuGH solle dabei darauf
eingehen, ob dieses Abkommen mit dem europäischen, primärrechtlich verankerten Datenschutzrecht vereinbar ist,
sowie ob mit Art. 82 Abs. 1 lit. d und Art. 87 Abs. 2 lit. a
AEUV die korrekte Rechtsgrundlage gewählt wurde. In seinen Schlussanträgen vom 8.9.2016 erachtet Generalanwalt
Mengozzi das Abkommen für nicht vollständig grundrechtskonform, etwa soweit es im Einzelfall die Verwendung von
PNR-Daten auch zu anderen Zwecken legitimiert.
150
KOM (2016) 238 endg. v. 29.4.2016.
ABl. EU 2016 Nr. L 154, S. 1.
152
Siehe hierzu KOM (2016) 237 endg. v. 29.4.2016.
153
SJ-0784/15; D(2015)57806 v. 14.1.2016.
154
EuGH, Urt. v. 6.10.2015 – C-362/14 (Schrems).
155
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2016, 106 (120). Das Abkommen ist abgedruckt in ABl. EU 2003 Nr. L 181, S. 34.
156
Vgl. Ratsdok. 7403/16.
157
Ratsdok. 7403/16, S. 20.
158
Zu dieser Entwicklungslinie des Rechtshilferechts siehe
Vogel/Burchard (Fn. 119), Vor § 1.
151
159
Ratsdok. 7403/16, S. 20.
Siehe zuletzt Brodowski, ZIS 2013, 455 (472).
161
Das Verfahren wird unter der Rs. Gutachten 1/15 geführt.
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„In camera“-Verfahren als Gewährung effektiven Rechtsschutzes?
Neue Entwicklungen im europäischen Sicherheitsrecht
Von Dr. Benjamin Vogel, Freiburg*
Zum Schutz staatlicher Geheimhaltungsinteressen erlauben
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der
Gerichtshof der Europäischen Union eine gerichtliche Verwertung von Beweisen zunehmend auch dann, wenn der Inhalt dieser Beweise der durch sie belasteten Partei nicht
vollständig offengelegt wird. Der Beitrag untersucht den
möglichen Einfluss dieser Entwicklungen auf das Strafverfahren und bewertet sie im Lichte der Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts kritisch. Die Rechtsprechung der europäischen Gerichte beinhaltet keinen angemessenen Ausgleich
von Geheimnisschutz und effektiven Rechtsschutz und stellt
letzteren ernstlich infrage. Geboten ist eine effektivere gerichtliche Kontrolle behördlicher Geheimhaltung, nicht eine
Verwertbarkeit geheimer Beweise im Hauptsacheverfahren
I. Terrorismusprävention und Quellenschutz
Terrorismus stellt das Strafverfahrensrecht vor besondere
Herausforderungen. Eine präventiv begründete Vorverlagerung der Strafbarkeit auf Vorbereitungshandlungen sowie
nicht zuletzt die Ahndung von im Ausland begangenen terroristischen Taten verleiht nachrichtendienstlichen Ermittlungsergebnissen und der Geheimhaltung von Quellen besondere Bedeutung.1 Der Wunsch nach vermehrt grenzüberschreitender Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden schafft
zudem ein Bedürfnis, auch im Falle einer gerichtlichen Verwertung der so gewonnen Beweise und Informationen zwischenstaatliche Vertraulichkeitszusagen zu honorieren.2 Dem
dadurch bedingten Interesse an der gerichtlichen Verwertung
bloß mittelbarer Beweismittel kommt die in der jüngeren
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vollzogene Abschwächung des Rechts
auf Konfrontation von Belastungszeugen aus Art. 6 Abs. 3
lit. d EMRK3 entgegen. Die deutsche Rechtsprechung kann
* Ass. jur., Licencié en droit, Maître en droit (Paris X),
LL.M. (Cambridge). Der Autor ist wissenschaftlicher Referent und Habilitand am Max-Planck-Institut für ausländisches
und internationales Strafrecht. Dank für kritische Anmerkungen zu einem Entwurf dieses Beitrags gebührt Herrn Prof.
Dr. Stefano Ruggeri (Messina).
1
Bigo/Carrera/Hernanz/Scherrer, National Security and
Secret Evidence in Legislation and before the Courts, 2014,
S. 7.
2
Bigo/Carrera/Hernanz/Scherrer (Fn. 1), S. 4; Hickman/
Tomkins, in: Lazarus/McCrudden/Bowles (Hrsg.), Reasoning
Rights, 2014, S. 143 ff.; van Harten, International Journal of
Evidence & Proof 13 (2009), 1 (17). Vgl. beispielhaft die
auszugsweise Wiedergabe einer Sperrerklärung des Bundesministeriums des Innern in BVerwG, Beschl. v. 29.4.2015 –
20 F 8/14, Rn. 15.
3
Vgl. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.12.2011 –
26766/05 u. 22228/06 (Al-Khawaja u. Tahery v. Vereinigtes
Königreich); EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.12.2015 –
9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland); dahingehend
sich insofern darin bestätigt sehen, eine Beschränkung des
Konfrontationsrechts in der Regel nicht durch ein Verwertungsverbot, sondern durch eine vorsichtige Beweiswürdigung zu kompensieren.4
Allerdings zeichnen sich in der Auseinandersetzung mit
terroristischen Bedrohungen in Europa Entwicklungen ab, die
im Umgang mit geheimen Beweisquellen deutlich über eine
Einschränkung des Konfrontationsrechts hinausgehen und im
Hinblick auf die Garantien des rechtlichen Gehörs und eines
effektiven Rechtsschutzes erhebliches Konfliktpotential bieten. Deutlich wird dies vor allem an der Einführung von „in
camera“-Verfahren vor dem Gericht der Europäischen Union
(EuG).5 Unter „in camera“-Verfahren wird hier ein gerichtliches Verfahren verstanden, in dem das Gericht seine Entscheidung zumindest teilweise auf Beweise stützt, deren
Inhalt gegenüber der dadurch belasteten Partei sowie ihrem
Verfahrensbevollmächtigten nicht offengelegt wird. Dies
betrifft zwar gegenwärtig (noch) nicht die Feststellung strafrechtlicher Schuld, teilweise aber Maßnahmen, die angesichts
ihrer Anknüpfung an Straftaten und ihrer hohen Eingriffsintensität strafrechtsäquivalent sind. Eine Auseinandersetzung
mit der rechtsstaatlichen Zulässigkeit der so entstehenden
Verfahren ist in Deutschland einerseits im Hinblick auf die
weitere Positionierung der Bundesrepublik im Rat der Europäischen Union geboten. Von Interesse ist die gegenwärtig zu
beobachtende Entwicklung aber auch mit Blick auf die Herausbildung gemeinsamer europäischer Verfahrensstandards
im Strafrecht,6 vor allem hinsichtlich Maßnahmen im Ermittlungsverfahren.
II. Jüngere Entwicklungen zum rechtlichen Gehör auf
europäischer Ebene
1. Rechtsprechung des EGMR
Angestoßen wurde die Entwicklung hin zur Schaffung von
„in camera“-Verfahren durch den EGMR in der Rechtssache
bereits auch EGMR, Urt. v. 26.3.1996 – 20524/92 (Doorson
v. Niederlande); EGMR, Urt. v. 23.4.1997 – 21363/93 (van
Mechelen u.a. v. Niederlande); EGMR, Urt. v. 16.2.2000 –
27052/95 (Jasper v. Vereinigtes Königreich). Eingehend dazu
Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913, (923 ff.).
4
Vgl. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10
(Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 116; BGH NJW
2007, 204 (206); BGH NStZ-RR 2014, 246 (248 f.); Meyer,
HRRS 2012, 117 (120); du Bois-Pedain, HRRS 2012, 120
(138).
5
Verfahrensordnung des Gerichts der Europäischen Union
vom 4.3.2015, ABl. EU 2015 Nr. L 105, S. 1.
6
Vgl. zuletzt Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 9.3.2016 über die Stärkung
bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts
auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren.
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ZIS 1/2017
28
„In camera“-Verfahren als Gewährung effektiven Rechtsschutzes?
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Chahal/Vereinigtes Königreich aus dem Jahr 1996.7 Diese
betraf die Frage effektiven Rechtsschutzes gegen eine ausländerrechtliche Freiheitsentziehung in Großbritannien zur
Vorbereitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen. Die Feststellung einer Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (d.h. des
Rechts auf gerichtliche Überprüfung einer Freiheitsentziehung) beruhte dabei unter anderem darauf, dass jener der
Ausweisungsanordnung und der Abschiebungshaft zugrunde
liegende Verdacht der Begehung schwerer Straftaten auf
geheim gehaltenen Beweisen beruhte. Letztere wurden von
den nationalen Behörden weder gegenüber dem Betroffenen
noch gegenüber den nationalen Gerichten offengelegt. Zwar
erkannte der EGMR die Verwertung von geheimhaltungsbedürftigen Beweisen als mitunter unvermeidlich an, wenn es
um Angelegenheiten der nationalen Sicherheit gehe. Die
Geltendmachung des Schutzes der nationalen Sicherheit
dürfe aber nicht zu einer Freistellung der Behörden von effektiver gerichtlicher Kontrolle durch die nationalen Gerichte
führen. Es sei durchaus möglich, legitime Sicherheitsbedürfnisse an der Geheimhaltung der Art und Herkunft von Informationen einerseits sowie die Wahrung substanzieller Verfahrensrechte des Betroffenen anderseits durch bestimmte
Techniken der Verfahrensführung zum Ausgleich zu bringen.8 Dabei ließen die Straßburger Richter Sympathie für ein
kanadisches Verfahrensmodell erkennen, in dem die geheimhaltungsbedürftigen Beweise durch das Gericht unter Ausschluss des Betroffenen und seines Verfahrensbevollmächtigten untersucht werden, diese lediglich eine Zusammenfassung
des Inhalts der fraglichen Beweise erhalten und im Rahmen
der gerichtlichen Prüfung jener Beweise die Interessen des
Betroffenen von einem vom Gericht bestimmten und sicherheitsgeprüften Anwalt wahrgenommen werden.9
In der Rechtssache A./Vereinigtes Königreich hat sich die
Große Kammer des EGMR im Jahre 2009 mit Blick auf
Art. 5 Abs. 4 EMRK schließlich ausdrücklich zur Zulässigkeit eines solchen Verfahrensmodells bekannt. Die Entscheidung betraf die mehrjährige Freiheitsentziehung von Ausländern, die in Großbritannien wegen des Verdachts der Beteiligung an terroristischen Straftaten des Landes verwiesen, aus
rechtlichen Gründen aber nicht abgeschoben werden konnten.
Einem speziellen sicherheitsgeprüften Anwalt könne, auch
wenn dieser nach Kenntnisnahme der geheimen Beweise
grundsätzlich nicht mehr mit dem Betroffenen kommunizieren darf, eine wichtige Rolle dabei zukommen, das Fehlen
einer vollständigen Offenlegung von belastenden Beweisen
auszugleichen. Dem Betroffenen müssten jedoch hinreichende Informationen über den gegen ihn bestehenden Verdacht
mitgeteilt werden. Diese müssten detailliert genug sein, um
EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.11.1996 – 22414/93.
Sehr kritisch dazu Nanopoulos, Modern Law Review 2015,
913 (931).
8
EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.11.1996 – 22414/93,
Rn. 131.
9
EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.11.1996 – 22414/93,
Rn. 144. Zu den dem EGMR dabei hinsichtlich des kanadischen Rechts unterlaufenen Missverständnissen Jenkins,
Columbia Human Rights Law Review 2011, 279 (294 f.).
7
es dem Betroffenen selbst im Falle einer vollständigen oder
überwiegenden Geheimhaltung der zugrundeliegenden Beweise zu erlauben, seinem Verfahrensbevollmächtigten sowie
dem speziellen Anwalt sachgerechte Anweisungen zu geben.
Den Anforderungen von Art. 5 Abs. 4 EMRK werde nicht
genügt, wenn das offengelegte Material lediglich aus allgemeinen Behauptungen bestehe und die Freiheitsentziehung
allein oder in entscheidendem Maße auf geheimen Beweisen
beruhe.10 Werde der Betroffene hingegen über die genaue Art
der vorgeworfenen Handlung sowie ihren Ort und Zeitpunkt
informiert, so könne dies eine hinreichende Möglichkeit
bieten, die erhobenen Anschuldigungen wirksam anzugreifen.11
Noch nicht abschließend geklärt ist, inwieweit die vorgenannten Maßstäbe auch im Rahmen eines Strafverfahrens
Geltung beanspruchen können. Der EGMR schließt diese
Möglichkeit nicht aus. Vielmehr vertrat die Große Kammer
in der dargestellten Entscheidung A./Vereinigtes Königreich
ausdrücklich die Auffassung, angesichts der dort gegebenen
mehrjährigen, formell allerdings nicht-strafrechtlichen Beschränkung der Freiheit der Beschwerdeführer müsse Art. 5
Abs. 4 EMRK substantiell die gleichen fair-trial-Garantien
enthalten wie sie für Art. 6 Abs. 1 EMRK in strafrechtlicher
Hinsicht gelten.12 Daraus leitet die Große Kammer allerdings
lediglich einen Anspruch des Betroffenen ab, so viele Informationen über den gegen ihn bestehenden Verdacht und die
zugrunde liegenden Beweise mitgeteilt zu bekommen, wie
dies ohne Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit oder der
Sicherheit Dritter möglich ist.13 Ein Verbot der weitreichenden Geheimhaltung von belastenden Beweisen im Strafverfahren ergibt sich für den EGMR aber aus Art. 6 Abs. 1
EMRK also gerade nicht.
Jüngst hat nunmehr eine Kammerentscheidung des
EGMR die vorstehenden Maßstäbe für die Anordnung und
den Vollzug einer (vierzehntägigen) Untersuchungshaft anerkannt und auf dieser Grundlage trotz eines weitestgehend „in
camera“ abgehaltenen gerichtlichen Verfahrens eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK verneint. Die Beschwerdeführer waren lediglich über Grundzüge der ihnen vorgeworfenen
terroristischen Anschlagspläne informiert worden. Zudem
hatte man ihnen und ihren Verteidigern während der Haft
Gelegenheit zur Einsichtnahme in das zugrundliegende Beweismaterial verwehrt und sie nur in geringem Umfang über
den Inhalt von Beweismaterial in Kenntnis gesetzt.14 Zwar
seien nach Art. 5 Abs. 4 EMRK Beweise gegenüber dem
EGMR (Große Kammer), Urt. v. 19.2.2009 – 3455/05,
Rn. 220; dazu Murphy, King’s Law Journal 24 (2013), 19 (26
f.).
11
EGMR (Große Kammer), Urt. v. 19.2.2009 – 3455/05,
Rn. 222.
12
EGMR (Große Kammer), Urt. v. 19.2.2009 – 3455/05,
Rn. 217; vgl. van Harten, International Journal of Evidence
& Proof 13 (2009), 1 (5 f.).
13
EGMR (Große Kammer), Urt. v. 19.2.2009 – 3455/05,
Rn. 218.
14
EGMR, Urt. v. 20.10.2015 – 5201/11 (Sher v. Vereinigtes
Königreich), Rn. 48, 62 ff.
10
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Benjamin Vogel
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Betroffenen vor Gericht grundsätzlich offenzulegen. Terroristische Straftaten würden jedoch in eine besondere Kategorie
fallen. Zum Schutz menschlichen Lebens sei hier oft ein
behördliches Handeln dringlich und daher eine Verhaftung
von Verdächtigten notwendig, ohne die Quelle des zugrunde
liegenden Verdachts oder zu der Quelle führende Informationen offenlegen zu müssen. Der Beschuldigte müsse lediglich
genügend Informationen erhalten, die ihm Kenntnis der Art
der ihm vorgeworfenen Straftat vermittelten und ihm die
Möglichkeit eröffneten, Beweise zu seiner Entlastung vorzubringen.15
2. Rechtsprechung der Unionsgerichte
Unter dem Einfluss des EGMR hat zunehmend auch die
Rechtsprechung der Unionsgerichte eine Präferenz für ein
Verfahren „in camera“ erkennen lassen, um im Bereich des
Ausländerrechts und im Bereich von restriktiven Maßnahmen
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik16 staatliche
Geheimhaltungsinteressen und das Recht auf ein faires Verfahren zum Ausgleich zu bringen.17 In seiner Rechtsprechung
zur Listung von Personen, deren Vermögen wegen des Verdachts der Beteiligung an terroristischen Straftaten beziehungsweise der Verletzung länderspezifischer Embargos
eingefroren wurde, nimmt der Gerichtshof der Europäischen
Union (EuGH) auf die dargestellte Entscheidung des EGMR
in Chahal/Vereinigtes Königreich Bezug. Der erforderliche
Ausgleich zwischen staatlichen Geheimhaltungsinteresse und
individuellen Verfahrensrechten könne hergestellt werden,
indem der gelisteten Person und ihrem Verfahrensbevollmächtigten lediglich eine Zusammenfassung des Inhalts der
geheimen Informationen oder Beweise offengelegen werde.
Die Nichtoffenlegung sei dann bei der Beweiswürdigung
dahingehend zu berücksichtigen, dass sie die Beweiskraft der
vertraulichen Beweise beeinflussen könne.18
Wie der EuGH dabei anerkennt, können einer Offenlegung bestimmter Umstände nicht nur „zwingende Gründe der
Sicherheit“, sondern auch zwingende Gründe „der Gestaltung
der internationalen Beziehungen der Gemeinschaft und ihrer
EGMR, Urt. v. 20.10.2015 – 5201/11, Rn. 149. Ähnlich
schon EGMR (Große Kammer), Urt. v. 30.8.1990 – 12383/86
(Fox, Campbell und Hartley v. Vereinigtes Königreich),
Rn. 32.
16
Zur Entwicklung von „in camera“-Verfahren in anderen
Bereichen, vgl. im Telekommunikationsrecht EuGH, Urt. v.
13.7.2006 – C-438/04 (Mobistar) = MMR 2006, 803 (804 f.)
zu Artikel 4 der Richtlinie 2002/21/EG sowie den gegenwärtigen Richtlinienvorschlag KOM (2013) 813 zum Schutz von
Geschäftsgeheimnissen.
17
EuGH, Urt. v. 3.9.2008 – C-402/05 u. C-415/05 (Kadi u.
Al Barakaat), Rn. 344 = NJOZ 2008, 4499 (4543); EuGH,
Urt. v. 18.7.2013 – C-584/10 (Kadi II), Rn. 125; so auch
schon EuG, Urt. v. 12.12.2006 – T-228/02 (OMPI), Rn. 158.
18
EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-584/10 (Kadi II), Rn. 129;
vgl. schon EuGH, Urt. v. 3.9.2008 – C-402/05 u. C-415/05
(Kadi u. Al Barakaat), Rn. 344.
15
Mitgliedstaaten“ entgegenstehen.19 Dem Unionsrichter könne
aber die Vertraulichkeit von Beweisen und Informationen
nicht entgegengehalten werden.20 In einer Entscheidung zur
Richtlinie 2004/38/EG21 vertritt der EuGH ein weites Verständnis des Begriffs „Sicherheit eines Staates“. Eine Offenlegung bestimmter Beweise könne die Sicherheit „unmittelbar und besonders beeinträchtigen, als sie insbesondere das
Leben, die Gesundheit oder die Freiheit von Personen gefährden könnte oder die von den nationalen Sicherheitsbehörden speziell angewandten Untersuchungsmethoden enthüllen und damit die zukünftige Erfüllung der Aufgaben
dieser Behörden ernsthaft behindern oder sogar unmöglich
machen könnte“.22
3. Reform der EuG-Verfahrensordnung
In den vergangenen Jahren haben EuGH und EuG wiederholt
Entscheidungen der Europäischen Union für nichtig erklärt,
durch welche das Vermögen der Betroffenen aufgrund des
Verdachts der Beteiligung an Terrorismus oder als Sanktion
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eingefroren
wurde.23 Begründet wurden diese Urteile wiederholt auch
damit, dass das zuständige Unionsorgan dem Gericht keine
hinreichenden Beweise zur Substantiierung des Verdachts
vorgelegt habe.24 Als Reaktion auf die fehlende Bereitschaft
EuGH, Urt. v. 3.9.2008 – C-402/05 u. C-415/05 (Kadi u.
Al Barakaat), Rn. 342; EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-584/10
(Kadi II), Rn. 125.
20
EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-584/10 (Kadi II), Rn. 125; so
auch EuG, Urt. v. 12.12.2006 – T-228/02 (OMPI), Rn. 154 f.;
EuG, Urt. v. 11.7.2007 – T-47/03 (Sison I), Rn. 201 f.; EuG,
Urt. v. 4.12.2008 – T-284/08 (PMOI II) = BeckEuRS 2008,
484003, Rn. 74 f.; EuG, Urt. v. 30.9.2010 – T-85/09 (Kadi II)
= BeckRS 2010, 54122, Rn. 143 f.
21
Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger
und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der
Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
22
EuGH, Urt. v. 4.6.2013 – C-300/11 (ZZ), Rn. 66. Ähnlich
schon EGMR (Große Kammer), Urt. v. 19.2.2009 – 3455/05,
Rn. 205.
23
Zur Verordnung (EG) Nr. 881/2002 (Umsetzung von Terrorismus-Listen des UN-Sicherheitsrats): EuGH, Urt. v.
3.9.2008 – C-415/05 (Kadi I); EuGH, Urt. v. 3.12.2009 – C399/06 (Hassan); EuG, Urt. v. 29.9.2010 – T-135/06 (AlFaqih); EuG, Urt. v. 30.9.2010 – T-85/09 (Kadi II); EuG, Urt.
v. 14.1.2015 – T-127/09 (Abdulrahim II). Zur Verordnung
(EG) Nr. 2580/2001 (autonome EU-Terrorismus-Listen):
EuG, Urt. v. 4.12.2008 – T-284/08 (PMOI II); EuG, Urt. v.
16.10.2014 – T-208/11 (LTTE). Zu anderen Sanktionen im
Rahmen der GASP vgl. nur EuG, Urt. v. 29.1.2013 – T496/10 (Bank Mellat); EuG, Urt. v. 6.10.2015 – T-275/12
(Dynamo Minsk).
24
EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-584/10 (Kadi II), Rn. 159 ff.;
EuG, Urt. v. 4.12.2008 – T-284/08 (PMOI II), Rn. 76; EuG,
Urt. v. 14.1.2015 – T-127/09 (Abdulrahim II), Rn. 83 ff.;
EuG, Urt. v. 29.1.2013 – T-496/10 (Bank Mellat), Rn. 118;
19
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„In camera“-Verfahren als Gewährung effektiven Rechtsschutzes?
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der Mitgliedstaaten, den Unionsgerichten entsprechende
Beweise vorzulegen,25 erweiterte das EuG mit Wirkung vom
1.7.2015 im Einvernehmen mit dem EuGH und nach Genehmigung des Rates sein Verfahrensrecht. 26 Art. 105 Abs. 8 der
Verfahrensordnung erlaubt es dem EuG in Zukunft,27 vom
Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens abzuweichen.
Das Gericht kann demnach seine Entscheidung auf Auskünfte
oder Unterlagen stützen, die von einer Hauptpartei vorgelegt
und aufgrund ihres vertraulichen Charakters der anderen
Hauptpartei nicht bekannt gegeben wurden, soweit es diese
für die Entscheidung des Rechtsstreits für unerlässlich hält.
Die Vertraulichkeit der Auskünfte oder Unterlagen muss sich
gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung insofern aus
zwingenden Gründen ergeben, als ihre Bekanntgabe die Sicherheit der Union oder eines oder mehrerer ihrer Mitgliedstaaten oder die Gestaltung ihrer internationalen Beziehungen
verletzen würde. Dem Recht der anderen Hauptpartei auf
effektiven gerichtlichen Rechtsschutz ist mittelst solcher
durch das Gericht im Einzelfall zu bezeichnender Modalitäten Rechnung zu tragen. Dies kann gemäß Art. 105 Abs. 6
der Verfahrensordnung insbesondere durch die Vorlage einer
nichtvertraulichen Fassung oder einer nichtvertraulichen
Zusammenfassung der fraglichen Auskünfte oder Unterlagen
erfolgen, die den wesentlichen Inhalt wiedergibt und es der
anderen Hauptpartei ermöglicht, so weitgehend wie möglich
Stellung zu nehmen.
III. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum
rechtlichen Gehör
1. Weitgehende Ablehnung von „in camera“-Verfahren
Im Verwaltungsprozess ist ein „in camera“-Verfahren dem
deutschen Recht vor allem ausweislich § 99 Abs. 2 VwGO
nicht fremd. Diese Einschränkung des rechtlichen Gehörs ist
allerdings grundsätzlich28 nur mit Blick auf die gerichtliche
EuG, Urt. v. 18.9.2015 – T-5/13 (Iran Liquefied Natural
Gas), Rn. 55 ff.
25
Insofern bedeutsam ist Art. 346 Abs. 1 lit. a AEUV: „Ein
Mitgliedstaat ist nicht verpflichtet, Auskünfte zu erteilen,
deren Preisgabe seines Erachtens seinen wesentlichen Sicherheitsinteressen widerspricht.“
26
Dahingehende Impulse finden sich bereits in EuGH, Urt. v.
3.9.2008 – C-402/05 u. C-415/05 (Kadi u. Al Barakaat),
Rn. 343 f.; EuG, Urt. v. 12.12.2006 – T-228/02 (OMPI),
Rn. 156, 158.
27
Gemäß Art. 227 Abs. 3 der Verfahrensordnung tritt die
Regelung erst nach Veröffentlichung eines Beschlusses des
Gerichts gemäß Art. 105 Abs. 11 in Kraft, mit dem die Sicherheitsvorschriften zum Schutz der vertraulichen Daten
festgelegt werden.
28
Vgl. zudem § 138 Abs. 2 des Telekommunikationsgesetzes; dazu BVerwG NVwZ 2014, 790; Schmidt-Aßmann, in:
Baumeister/Roth/Ruthig (Hrsg.), Staat, Verwaltung und
Rechtsschutz, Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke zum 70.
Geburtstag, 2011, S. 1151; zu Verfahren im Informationsfreiheitsrecht BVerwG NJW 2007, 789, 792; dazu Schoch, in:
Heckmann/Schenke/Sydow (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit
Prüfung der Rechtmäßigkeit der behördlichen Verweigerung
der Aktenvorlage beziehungsweise der Erteilung von Auskünften zulässig, nicht jedoch mit Blick auf die Hauptsacheentscheidung.29 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts sind „in camera“-Verfahren insofern zulässig, weil „im
verwaltungsgerichtlichen Verfahren gerade ein Absehen von
einem ‚in camera‘-Verfahren zu einer Minderung des Individualrechtsschutzes“ führe, demgegenüber eine Einschränkung des rechtlichen Gehörs weniger schwer wiege. Weil der
Grundsatz in dubio pro reo hier nicht gelte, wirke sich die
Geheimhaltung entscheidungserheblicher Tatsachen regelmäßig nachteilig für den Rechtsschutzsuchenden aus. Im
Ergebnis würde dann das ungeschmälerte rechtliche Gehör zu
einer Herabsetzung der Effektivität des Rechtsschutzes führen, nicht zu dessen Stärkung. Die Einschränkung des rechtlichen Gehörs bedeute hier deshalb ausnahmsweise eine Verbesserung des Rechtsschutzes.30 In einer späteren Entscheidung meint das Bundesverfassungsgericht dann allerdings,
eine Verbesserung des Rechtsschutzes könne kein abschließendes Kriterium für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit
von „in camera“-Verfahren sein. Denn im Verwaltungsprozess wirke sich die Besserstellung eines Klägers regelmäßig
zugleich nachteilig auf andere Rechteinhaber aus, deren Anspruch auf rechtliches Gehör ebenfalls zu berücksichtigen
sei.31 Die Schaffung von „in camera“-Hauptsacheverfahren
ist demnach grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar,
um den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz und Rechte
Dritter zum Ausgleich zu bringen.32
Im Strafverfahren ist es nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts aber jedenfalls unzulässig, geheim zuhaltende Tatsachen nur gegenüber dem Gericht, nicht
aber gegenüber dem Beschuldigten offenzulegen. Eine vollumfängliche Sachprüfung könne hier wegen Art. 103 Abs. 1
GG nicht dadurch ermöglicht werden, geheime Unterlagen
lediglich dem Strafgericht zu offenbaren. Dieser Grundsatz
ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „unverzichtbar und gehört zum Kern einer rechtsstaatlichen Verfah-
im Wandel, Festschrift für Thomas Würtenberger zum
70. Geburtstag, 2013, S. 905.
29
Dagegen aber im Ergebnis OVG Münster NVwZ 2001,
820.
30
BVerfGE 101, 106 (130) = NJW 2000, 1175 (1178); überzeugend insoweit auch van Harten, International Journal of
Evidence & Proof 13 (2009), 1 (2).
31
Dazu Schmidt-Aßmann (Fn. 28), S. 1156 f.; McGuire,
GRUR 2015, 424 (431).
32
Vgl. BVerfG NVwZ 2006, 1041 (1044); für eine Ausweitung des „in camera“-Verfahrens auf das Hauptsacheverfahren die abweichende Meinung des Richters Gaier, NVwZ
2006, 1047. In diesem Sinne im Ergebnis zu § 138 Telekommunikationsgesetz BVerwG NVwZ 2014, 790. Ähnlich
bereits zu § 99 VwGO auch OVG Münster NVwZ 2001, 820;
Mayen, NVwZ 2003, 537 (542); Schoch (Fn. 28), S. 908;
zurückhaltender Schmidt-Aßmann (Fn. 28), S. 1162.
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31
Benjamin Vogel
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rensgestaltung“.33 Geheimhaltungsinteressen der Exekutive
wirkten im Strafverfahren „in dubio pro reo“.34 Das Verbot
von „in camera“-Verfahren im Strafrecht gilt nicht erst mit
Blick auf den Schuldspruch. Bereits die Beschwerdeentscheidung über die Anordnung von Untersuchungshaft darf nur
auf Tatsachen und Beweise gestützt werden, „die dem Beschuldigten durch Akteneinsicht der Verteidigung bekannt
sind“.35 Die jüngere verfassungsrechtliche Judikatur erkennt
einen umfassenden Anspruch auf rechtliches Gehör nunmehr
zudem bereits für das strafrechtliche Beschwerdeverfahren
über die Anordnung des dinglichen Arrests an. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts fügt der dingliche Arrest, auch soweit er lediglich zur Sicherung des Verfalls erfolgt, dem Betroffenen einen erheblichen Nachteil zu. Der
Arrest bedeute eine gravierende Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit. „Mittelbare Beeinträchtigungen, etwa im Beruf oder bei der Kreditwürdigkeit“ seien auch
im Falle einer möglichen Aufhebung der Maßnahme und
einer staatlichen Entschädigung „irreparabel“. Daher müsse
dem Betroffenen bereits im Arrestverfahren und nicht erst bei
der endgültigen Entscheidung über den Verfall rechtliches
Gehör gewährt werden. Wegen der Unvereinbarkeit eines „in
camera“-Verfahrens mit Art. 103 Abs. 1 GG bedeute dies im
Strafverfahren, dass „eine dem Betroffenen nachteilige Gerichtsentscheidung jedenfalls in der Beschwerdeinstanz nur
auf der Grundlage solcher Tatsachen und Beweismittel getroffen werden kann, über die dieser zuvor sachgemäß unterrichtet wurde und zu denen er sich äußern konnte.“ 36 Akteneinsicht müsse dem Beschuldigten Gelegenheit bieten, „zu
überprüfen, ob die bezeichneten Beweismittel vollständig und
richtig verwendet und beschrieben wurden und ob ihre vom
befassten Gericht dargelegte Bewertung und Einordnung in
den sachlichen und rechtlichen Zusammenhang überzeugt
oder andere Deutungen näher liegen.“37 Hierzu müssen, so
das Bundesverfassungsgericht, „dem Beschuldigten die Beweismittel auf die gleiche Art und Weise zugänglich und
anschaulich sein wie dem Richter.“ Die Übermittlung polizeilicher Ermittlungsberichte und eine Bezeichnung oder Beschreibung von Beweisstücken bietet dem Beschuldigten
mithin noch kein hinreichendes rechtliches Gehör.38 Jedenfalls im Beschwerdeverfahren dürfe der „intensive Eigentumseingriff der Arrestanordnung nicht mehr auf einen In-
formationsvorsprung der Ermittlungsbehörden gestützt werden“.39
2. Divergenzen
Hinsichtlich des Anspruchs auf rechtliches Gehör divergieren
die eben beschriebene verfassungsrechtliche Rechtsprechung
und die jüngere Rechtsprechung von EGMR und EuGH im
Bereich des Terrorismus erheblich. Dies gilt zunächst für die
angesprochene Entscheidung des EGMR40, wonach im Bereich terroristischer Straftaten Untersuchungshaft auch auf
der Grundlage von geheimen, gegenüber dem Beschuldigten
und seinem Verteidiger nicht offengelegten Beweismaterial
angeordnet werden darf. Dem Beschuldigten ist es dann gerade nicht möglich, sich zu den der Anordnung von Untersuchungshaft zugrunde liegenden Beweismitteln zu äußern. 41
Offensichtliche Diskrepanz zum deutschen Verfassungsrecht besteht aber auch insofern, als die europäischen Gerichte zur Begründung weiterer massiv in die Freiheit des Einzelnen eingreifender Maßnahmen, wie mehrjährigen Freiheitsentzug (EGMR) oder dem Einfrieren von Vermögen (EuGH),
eine Berücksichtigung geheimer Beweise für zulässig halten.
Zwar handelt es sich hierbei formell nicht um strafrechtliche
Maßnahmen; eine direkte Übertragbarkeit auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Untersuchungshaft
und zum dinglichen Arrest im Strafverfahren scheidet mithin
aus. Die erhebliche Eingriffsintensität der genannten Präventivmaßnahmen lässt jedoch vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips die Bedeutung ihres formell nichtstrafrechtlichen Charakters zurücktreten. Auch das Bundesverfassungsgericht stellt, soweit es den Anspruch auf rechtliches Gehör bei vorläufigen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen im Strafverfahren konkretisiert, maßgeblich auf
deren Eingriffsintensität ab.42 Zudem hält der EGMR mit
Blick auf die strafrechtlichen fair-trial-Garantien des Art. 6
Abs. 1 EMRK ein teilweise „in camera“ geführtes Verfahren
grundsätzlich für zulässig.43 Schließlich handelt es sich bei
den vor dem EuGH im Vordergrund stehenden Maßnahmen –
dem Einfrieren des Vermögens von Terrorismusverdächtigten
– trotz ihres formell rein präventiven Charakters oft um funktionale Äquivalente zu vermögenssichernden strafprozessualen Maßnahmen.44 Eine „Normalisierung“45 von „in camera“39
33
BVerfGE 57, 250 (288) = NJW 1981, 1719; bestätigend
BVerfG NJW 2006, 1048 (1049); NStZ-RR 2008, 16 (17);
NStZ-RR 2013, 379.
34
BVerfG NJW 2004, 2443 (2444); NJW 2006, 1048 (1049);
NStZ-RR 2008, 16 (17).
35
Vgl. BVerfG NJW 1994, 3219 (3220 f.); NJW 2004, 2443
(2444); NJW 2006, 1048 (1049); NStZ-RR 2008, 16 (17).
36
BVerfG NJW 2004, 2443 (2444); NJW 2006, 1048.
37
BVerfG NJW 2006, 1048 (1049); so auch für die strafprozessuale Telekommunikationsüberwachung BVerfG NStZRR 2008, 16 (17).
38
BVerfG NJW 2006, 1048 (1049).
BVerfG NJW 2006, 1048 (1049); so auch für die strafprozessuale Durchsuchung BVerfG NStZ-RR 2013, 379.
40
EGMR, Urt. v. 20.10.2015 – 5201/11.
41
Vgl. BVerfG NJW 1994, 3219 (3220).
42
BVerfG NJW 1994, 3219 (3220); NJW 2004, 2443 (2444);
NJW 2006, 1048.
43
Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913 (926); Vgl.
EGMR (Große Kammer), Urt. v. 19.2.2009 – 3455/05,
Rn. 217.
44
Denn das Einfrieren des Vermögens von Terrorismusverdächtigten durch den Rat der Europäischen Union setzt zumindest voraus, das eine zuständige nationale Behörde gegen
den Verdächtigten Ermittlungen anstellt; vgl. Art. 1 Abs. 4
des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP des Rates
vom 27.12.2001. Für das fortgesetzte Einfrieren von Vermögen des Verdächtigten durch die Europäische Union ist dann
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„In camera“-Verfahren als Gewährung effektiven Rechtsschutzes?
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Verfahren auf der Ebene der Europäischen Union kann deshalb auch für das sich entwickelnde europäische Strafverfahrensrecht Maßstäbe setzen.46 Es stellt sich dann die Frage, ob
diese Entwicklung auch in Deutschland aufgegriffen oder ihr
vielmehr rechtspolitisch sowie im Rahmen des Dialogs zwischen supranationalen und nationalen Gerichten47 entgegengetreten werden sollte.
IV. Effektiver Rechtsschutz im Spannungsfeld von
rechtlichem Gehör und Geheimnisschutz
1. Beschränkung der Sachverhaltsaufklärung infolge rechtlichen Gehörs
Für die Schaffung von „in camera“-Hauptsacheverfahren
streitet dabei die These, effektiver Rechtsschutz lasse sich
durch eine möglichst umfassende, wenn auch teilweise im
Geheimen erfolgende gerichtliche Verwertung von vertraulichen Beweismaterial besser herstellen als durch die öffentliche Verwertung bloß mittelbarer oder anonymisierter Beweismittel.48 Es kann tatsächlich so scheinen, also ob „in
camera“-Verfahren mitunter einen effektiveren Rechtsschutz
gewährleisteten. Auch die deutschen49 Strafgerichte stützen
mit Billigung von Bundesverfassungsgericht und EGMR
sogar den Schuldspruch mitunter in erheblichem Maße auf
die durch Zeugen von Hörensagen („Quellenführer“) in die
Verhandlung eingeführten Bekundungen anonymer polizeilicher oder nachrichtendienstlicher Gewährsleute.50 Soweit
unmittelbare Beweise zurückgehalten oder anonymisiert und
mittelbar zulasten des Beschuldigten verwertet werden, wird
diesem jedoch der Zugang zu potentiell entlastenden Beweismaterial verbaut. Entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts wirken sich insofern Geheimhaltungsinteressen der Exekutive im Strafverfahren faktisch nicht ledig-
der Fort- und Ausgang des nationalen Ermittlungsverfahrens
maßgeblich; vgl. EuG, Urt. v. 12.12.2006 – T-228/02
(OMPI), Rn. 117.
45
Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913 (930);
ähnlich Murphy, King’s Law Journal 24 (2013), 19 (28 f.).
46
Vgl. etwa den Verweis auf die Wahrung der Verteidigungsrechte bei Ausschluss des Beschuldigten aus der Verhandlung in Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie (EU) 2016/343 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.3.2016 über
die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung
und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren.
47
Vgl. insoweit nur jüngst BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2
BvR 2735/14, Rn. 43.
48
Dahingehend im Ergebnis BVerwG NVwZ 2014, 790
(793); OVG Münster NVwZ 2001, 820 (821); NVwZ 2009,
475 (476 f.); Gaier, NVwZ 2006, 1041 (1047 f.); Schoch,
NJW 2009, 2987 (2993).
49
Rechtsvergleichend dazu Bigo/Carrera/Hernanz/Scherrer
(Fn. 1), S. 9 ff.
50
So etwa im Fall Haas: BGH NStZ 2000, 265; BVerfG
NJW 2001, 2245; EGMR, Urt. v. 17.11.2005 – 73047/01.
Vgl. auch BGH NJW 2004, 1259 (El Motassadeq).
lich „in dubio pro reo“ zugunsten des Beschuldigten aus. 51
Eine „in camera“ erfolgende richterliche Befragung einer
Vertrauensperson verspricht möglicherweise größere Zuverlässigkeit als die Befragung des anonymen Zeugen oder des
bloßen Vernehmungsbeamten. Sollen nach dem Willen des
Bundesverfassungsgerichts im Strafverfahren „dem Beschuldigten die Beweismittel auf die gleiche Art und Weise zugänglich und anschaulich sein wie dem Richter“,52 so bedeutet dies vor dem Hintergrund des staatlichen Interessen an der
Geheimhaltung von Informanten und Ermittlungsmethoden
eine erhebliche Einschränkung des richterlichen Erkenntnishorizonts.53 Zumindest mit Blick auf dem Schuldspruch vorgelagerte, rein präventive Maßnahmen mag daher auf dem
ersten Blick die Schaffung von „in camera“-Elementen
durchaus als angemessener Ausgleich zwischen effektivem
Rechtsschutz und Geheimhaltungsinteressen erscheinen.54
2. Defizite der Entwicklung auf Unionsebene
Die dargestellten Entwicklungen auf Unionsebene sind allerdings einseitig durch Geheimhaltungsinteressen der Mitgliedsaaten motiviert55 und zeugen von unzureichender Sorge
um die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes. So bemüht
sich der EuGH trotz seines weiten Verständnisses des Begriffs „Sicherheit eines Staates“56 gerade im Bereich des
Terrorismus bisher kaum um eine Konkretisierung der materiellen Anforderungen an die Geheimhaltung von Beweisen.57
Zurückhaltung der Unionsgerichte gegenüber exekutiven
Vgl. BVerwG, Beschl. v. 29.4.2015 – 20 F 8/14, Rn. 8.
BVerfG NJW 2006, 1048 (1049).
53
Vgl. Gaier, in: Göcken/Remmers/Vorwerk (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scharf zum 70. Geburtstag, 2008, S. 204.
54
Nicht eingegangen werden kann hier auf mögliche „in
camera“-Verfahren jenseits des Strafverfahrens bzw. strafverfahrensäquivalenter Maßnahmen. So wurde unter anderem im
Hinblick auf eine Beteiligung der eigenen Behörden an menschenrechtswidrigen Praktiken ausländischer Geheimdienste
2013 in Großbritannien die Möglichkeit geschaffen, im Streit
über zivilrechtliche Ansprüche „in camera“-Verhandlungen
im Hauptsacheverfahren durchzuführen; vgl. Part 2 des Justice and Security Act 2013 und zur Vorgeschichte R (Binyam
Mohamed) v Secretary of State for Foreign and Commonwealth Affairs (No 1) [2008] EWHC 2048 (Admin.). Zu
teilweise ähnlich gelagerten Fragen in Deutschland vgl.
BVerwG NVwZ 2010, 321 (CIA-Flüge).
55
Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913 (930).
56
Vgl. EuGH, Urt. v. 4.6.2013 (ZZ?) – C-300/11, Rn. 66.
57
Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913 (935 ff.),
konstatiert bereits für die EGMR-Rechtsprechung insofern
eine „Asymmetrie“, als der Gerichtshof der Bestimmung
öffentlicher Interessen wie der „nationalen Sicherheit“ sowie
der Frage ihre tatsächlichen Beeinträchtigung nur wenig
Aufmerksamkeit widme und damit den Gehalt von Verfahrensrechten im Ergebnis relativiere. Diese Einseitigkeit lasse
„in-camera“-Verfahren erst recht bedenklich erscheinen.
51
52
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Geheimhaltungswünschen bringt dies nicht zum Ausdruck. 58
Der EuGH zeigt insoweit wenig Sensibilität für die dem „in
camera“-Verfahren innewohnende Gefahr der Marginalisierung rechtlichen Gehörs. Vor allem bei der Geltendmachung
von Geheimhaltungsbedürftigkeit durch einen Nachrichtendienst ist das Gericht nämlich mangels einschlägiger Erfahrung argumentativ regelmäßig unterlegen und somit tendenziell dem behördlichen Vorbringen zugeneigt.59
Nicht ersichtlich ist zudem, ob ein europäisches „in camera“-Verfahren tatsächlich zu einer besseren Sachverhaltsaufklärung beiträgt als dies im Falle von für das rechtliche Gehör weniger einschneidenden Formen der Beweiserhebung zu
erwarten wäre.60 Zwar betont der EuGH, die Geheimhaltung
von Beweisen dürfe den Gerichten nicht entgegengehalten
werden.61 Allerdings führt er nicht weiter aus, in welchem
Umfang die Gerichte solche Beweise einer Überprüfung
unterziehen, etwa nachrichtendienstliche oder polizeiliche
Gewährsleute persönlich vernehmen sollen. Die Schaffung
von „in camera“-Verfahren führt demnach also nicht notwendigerweise zu einem weniger häufigen Rückgriff des Gerichts
auf Zeugen vom Hörensagen oder Vernehmungsprotokolle,
und dies ist offenbar auch nicht bezweckt.62
Darüber hinaus lässt der EuGH auch hinsichtlich der für
das „in camera“-Verfahren geltenden Offenlegungspflichten
einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Anspruch auf
rechtliches Gehör und den staatlichen Geheimhaltungsinteressen vermissen. Zwar verlangt er wie schon der EGMR bei
freiheitsbeschränkenden Maßnahme eine Offenlegung zumindest des wesentlichen Inhalts des gegen den Betroffenen
erhobenen Verdachts.63 Nach der Rechtsprechung des EuGH
zum langjährigen Einfrieren des gesamten Vermögens von
Terrorismusverdächtigten müssen die Verdacht begründenden Taten allerdings nicht zwingend nach Ort und Zeit genau
bestimmt werden. Genügen kann vielmehr schon die Offenlegung der inhaltlichen Grundzüge der vorgeworfenen Tat
und des nach einem Jahr bestimmten ungefähren Zeitraums
ihrer Begehung.64 Für den Betroffenen wird damit die Mög-
Dahingehend auch die Einschätzung zur Praxis der „in
camera“-Verfahren im Vereinigten Königreich Nanopoulos,
Modern Law Review 2015, 913 (919).
59
Eingehend zu dieser Dynamik van Harten, International
Journal of Evidence & Proof 13 (2009), 1 (20 ff.).
60
Mayen, NVwZ 2003, 537 (543) fordert insofern die „Ausschöpfung milderer Mittel“.
61
EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-584/10 (Kadi II), Rn. 125;
EuGH, Urt. v. 18.2.2016 – C-176/13 P (Bank Mellat),
Rn. 109 f.
62
Vgl. Bigo/Carrera/Hernanz/Scherrer (Fn. 1), S. 23; van
Harten, International Journal of Evidence & Proof 13 (2009),
1 (13).
63
EGMR (Große Kammer), Urt. v. 19.2.2009 – 3455/05
(A./Vereinigtes Königreich), Rn. 220; EuGH, Urt. v.
4.6.2013 (ZZ) – C-300/11, Rn. 66.
64
EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-584/10 (Kadi II), Rn. 142 ff.
Anspruchsvoller und enger an den vom EGMR in A. v. Vereinigtes Königreich aufgestellten Anforderungen orientiert
58
lichkeit der sachdienlichen Stellungnahme zu den erhobenen
Vorwürfen massiv beschränkt.65
Unzureichende Sensibilität der Unionsgerichte gegenüber
der Bedeutung rechtlichen Gehörs wird auch insofern deutlich, als die Schaffung von „in camera“-Verfahren auf Unionsebene im Wege einer bloßen Änderung der EuGVerfahrensordnung erfolgte. Angesichts der grundsätzlichen
Bedeutung des rechtlichen Gehörs für die Rechtsstaatlichkeit
des gerichtlichen Verfahrens hätte es nahe gelegen, eine solch
tiefgreifende Änderung nicht durch eine Änderung der Verfahrensordnung,66 sondern durch eine Änderung der Satzung
des Gerichtshofs gemäß Art. 281 AEUV unter Mitwirkung
des Europäischen Parlaments vorzunehmen. Die Schaffung
von „in camera“-Verfahren ohne vorausgehenden parlamentarischen Diskurs ist der rechtsstaatlichen Bedeutung des
Themas schwerlich angemessen67 und weckt Zweifel an ihrer
Zulässigkeit. Dies gilt umso mehr deshalb, weil Art. 105 der
neuen EuG-Verfahrensordnung den Anwendungsbereich von
„in camera“-Verfahren nicht auf bestimmte Verfahrensgegenstände begrenzt.68 Dahingehend war die Änderung der
Verfahrensordnung bereits vor ihrer Verabschiedung durch
mehrere Anwaltskammern kritisiert worden. Das Gericht
habe zur Vorbereitung der Reform zwar den Rat, die Kommission, Mitgliedstaaten und sogar einige Drittsaaten konsultiert, von einer öffentlichen Konsultation etwa der anwaltlichen Berufsverbände jedoch abgesehen.69
Bezeichnenderweise schreibt die neue Verfahrensordnung
schließlich nicht einmal die Mitwirkung eines speziellen (d.h.
sicherheitsgeprüften) Anwalts vor, der in „in camera“Verfahren die Interessen des Betroffenen vertreten könnte.70
Zwar ist die Effektivität solcher Anwälte begrenzt, da sie den
noch die Vorinstanz: EuG, Urt. v. 30.9.2010 – T-85/09 (Kadi
II), Rn. 176 f.
65
Vgl. Barak-Erez/Waxman, Columbia Journal of Transnational Law 2009, 3 (24).
66
Dahingehende Kritik auch von Anwaltskammern und Menschenrechtsorganisationen des Vereinigten Königreichs und
Irlands in ihrem Brief an den Präsidenten des Gerichtshofs
der Europäischen Union vom 22.7.2013, einzusehen auf
http://europeansanctions.com/2013/07/ (15.12.2016).
67
Murphy, King’s Law Journal 24 (2013), 19 (29); ders., in:
Davis/de Londras (Hrsg.), Critical Debates on Counter Terrorism Judicial Review, 2014, S. 298; ähnlich im Hinblick auf
die Einführung von „in camera”-Verfahren außerhalb des
Strafrechts im Vereinigten Königreich auch das dortige
Oberste Gericht in der Rechtssache Al Rawi [2011] UKSC
34.
68
Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913 (930).
69
Vgl. insbesondere die Briefe mehrere Anwaltskammern
und Menschenrechtsorganisationen des Vereinigten Königreichs und Irlands an den Präsidenten des Gerichtshofs der
Europäischen Union vom 21.5.2013 und vom 22.7.2013,
einzusehen auf
http://europeansanctions.com/2013/07/ (15.12.2016).
70
Kritisch dazu auch Bigo/Carrera/Hernanz/Scherrer
(Fn. 1), S. 57 f.; Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913
(930).
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Betroffenen grundsätzlich nicht über den Inhalt der geheimen
Beweise unterrichten dürfen. 71 Den Betroffenen ist es somit
nicht möglich, auf die in geheimem Beweismaterial enthaltenen Informationen zu reagieren. Soweit dem speziellen Anwalt ein umfassendes Beweisantragsrecht eingeräumt und er
auch nach Einsichtnahme in das geheime Beweismaterial mit
dem Betroffenen sprechen darf,72 könnte durch spezielle
Anwälte jedoch ein zumindest im Ansatz adversatorisches
Verfahren gewährleistet werden.73
3. Grundsätzliche Bedenken gegenüber „in camera“Hauptsacheverfahren
Grundsätzliche Zweifel an „in camera“-Hauptsacheverfahren
beruhen aber vor allem auf der aus ihnen resultierenden fundamentalen Strukturveränderung74 des gerichtlichen Verfahrens. Denn damit verbunden ist eine Abkehr von dem Grundsatz, dass die Freiheit des Bürgers staatlicherseits durch ein
gerichtliches Urteil nur eingeschränkt werden darf, wenn er
sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt sachdienlich äußern konnte.75 Dafür muss dieser Sachverhalt für den Betroffenen einsehbar sein, in der Regel sogar
noch vor einer erstmaligen gerichtlichen Entscheidung.76
Andernfalls büßte jener seine Subjektstellung77 und mithin
seine Würde78 im Verfahren weitgehend ein. Darf das Gericht
bei seiner Überzeugungsbildung auf überlegenes Wissen
zurückgreifen, so wird diese Legitimationsgrundlage der
Justiz aufgegeben.
Darüber hinaus führt eine Beschränkung des rechtlichen
Gehörs kaum zu sachrichtigeren Entscheidungen. Selbst
wenn die Offenlegung des wesentlichen Inhalts eines Verdachts in einem über den EuGH hinausgehenden Maße verlangt und damit dem Betroffenen Gelegenheit zu einer substantiierten Erwiderung geboten würde, so blieben dem Betroffenen doch jedenfalls ihn belastende Beweise vorenthalten. Der Verdächtigte ist zu seiner Verteidigung in der Regel
auf die Infragestellung der Zuverlässigkeit der Belastungs-
beweise angewiesen. Dieser Weg ist ihm infolge der Geheimhaltung der Beweise jedoch zumindest teilweise verstellt. Durch „in camera“-Hauptsacheverfahren wird dem
Gericht die Kompetenz zugesprochen, über die Relevanz von
Beweismaterial und zugleich über dessen Zuverlässigkeit
ohne Mitwirkung des Betroffenen zu entscheiden.79 Doch
wird es für das Gericht ohne das diesbezügliche Tatsachenwissen des Verdächtigten regelmäßig nicht möglich sein,
Anhaltspunkte für die Unzuverlässigkeit eines Beweises zu
erkennen. Die Einschätzung des Gerichts stützt sich dann also
insoweit einseitig80 auf die Sachverhaltsdarstellung der Behörden und ist damit in besonderem Maß anfällig für Fehler
und Missbrauch.81
Die Verwertbarkeit von geheimem Beweismaterial im
Hauptsacheverfahren hat mithin nicht zur Folge, dem Gericht
eine zuverlässigere Beurteilung des Beweismaterials zu ermöglichen. Die damit einhergehende Einschränkung des
rechtlichen Gehörs bedeutet vielmehr grundsätzlich zugleich
eine Einschränkung der Effektivität des Rechtsschutzes. Der
Gesetzgeber begrenzt also nicht rechtliches Gehör zugunsten
effektiven Rechtsschutzes, sondern begrenzt effektiven
Rechtsschutz zugunsten des Schutzes von Geheimhaltungsinteressen.82 Eine Effektivierung des gerichtlichen Rechtsschutzes durch „in camera“-Verfahren könnte höchstens
durch einen damit einhergehenden Ausschluss oder zumindest eine weitgehende Beschränkung der Verwertbarkeit der
Aussagen anonymer Zeugen, Zeugen vom Hörensagen und
von Vernehmungsprotokollen erreicht werden. Andernfalls
bedeuten „in camera“-Verfahren eine einseitige Schlechterstellung des Betroffenen. Nicht zuletzt im Falle der Verwertung von Beweismitteln, die von ausländischen Sicherheitsdiensten vertraulich erlangt wurden, scheidet eine solche
Beschränkung der Verwendung mittelbarer Beweismittel
allerdings in der Regel praktisch aus. 83 Rechtsvergleichende
Erfahrungen mit „in camera“-Verfahren lassen zudem den
Schluss zu, dass Beweiswürdigungsstandards dabei sogar
hinter den Maßstäben offener Verfahren zurückbleiben.84
71
Barak-Erez/Waxman, Columbia Journal of Transnational
Law 2009, 3 (29 f.).
72
Vgl. Jenkins, Columbia Human Rights Law Review 2011,
279 (320 f.).
73
Sehr kritisch dazu Murphy, King’s Law Journal 24 (2013),
19 (30 f.).
74
Ähnlich insoweit für den Zivilprozess McGuire, GRUR
2015, 424 (433).
75
BVerfGE 19, 32 (36); 49, 325 (328); 89, 381 (392); vgl.
Gray, International Journal of Evidence & Proof 18 (2014),
230 (240); Murphy, King’s Law Journal 24 (2013), 19.
76
Zu durch den Zweck des Verfahrens bedingten Ausnahmen
insoweit BVerfGE 9, 89 (95); 18, 399 (404); 49, 329 (342);
70, 180 (188 f.).
77
Vgl. BVerfGE 107, 395 (409). BVerfG, Beschl. v.
2.3.2011 – 2 BvR 43/10, 2 BvR 86/10, 2 BvR 140/10; Beschl. v. 21.3.2011 – 2 BvR 301/11; Beschl. v. 24.7.2014 – 2
BvR 1489/14.
78
Dazu BVerfGE 7, 275 (279); 9, 89 (95); Barak-Erez/
Waxman, Columbia Journal of Transnational Law 2009, 3
(35 f.).
79
Kritisch dazu das kanadische Oberste Gericht in Charakaoui [2007] 1 SCR 350, Rn. 63 sowie das Oberste Gericht
des Vereinigten Königreichs in Al Rawi [2011] UKSC 34,
Rn. 36.
80
Dahingehend ausführlich die empirische Untersuchung zur
Praxis der administrativen Präventivhaft in Israel bei Krebs,
in: Lazarus/McCrudden/Bowles (Hrsg.), Reasoning Rights,
2014, S. 198.
81
van Harten, International Journal of Evidence & Proof 13
(2009), 1 (15 ff.) mit Beispielen zu Missbrauch in Kanada
und den Vereinigten Staaten. Eingehend zur Missbrauchsanfälligkeit von Anonymität Mazzone/Fischer, in: Cole/
Fabbrini/Vedaschi (Hrsg.), Secrecy, National Security and
the Vindication of Constitutional Law, 2013, S. 205 f.
82
Vgl. Gaier (Fn. 53), S. 208; Schmidt-Aßmann (Fn. 28),
S. 1156.
83
Vgl. van Harten, International Journal of Evidence & Proof
13 (2009), 1 (18).
84
Vgl. Krebs (Fn. 80), S. 198.
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Eine mit „in camera“-Verfahren verbundene Hoffnung
auf eine bessere Sachverhaltsaufklärung und damit auf effektiveren Rechtsschutz ist also eher realitätsfremd.85 Dazu mögen „in camera“-Verfahren zwar im Einzelfall beitragen
können, insbesondere wenn mittelbare Beweismittel Glaubwürdigkeitsdefizite ihrer vertraulichen Quelle verschweigen.
Die Frage, ob sich diese Hoffnung im konkreten Fall bewahrheitet, ist aber mangels Offenlegung der die Entscheidung tragenden Beweise einem öffentlichen Diskurs unzugänglich. Damit entziehen sich „in camera“-Verfahren letztlich auch politischer und wissenschaftlicher Kritik86 ebenso
wie den Einwänden von nicht zum „in camera“-Verfahren
zugelassenen Zeugen87. Abträglich ist dies auch dem öffentlichen Vertrauen in die Gerichte.88 Die irrtümliche Annahme,
solche Verfahren böten eine umfassende gerichtliche Kontrolle, kann schließlich zu einer übermäßigen behördlichen
Geltendmachung von Geheimhaltungsinteressen verleiten
und damit die gegenüber dem Betroffenen bestehenden Offenlegungspflichten sukzessive noch weiter verringern.89
4. Trennung von Hauptsacheverfahren und „in camera“Zwischenverfahren
Angesichts der damit verbundenen Schwächung des gerichtlichen Rechtsschutzes sollte – auch soweit rein präventive
freiheitsbeschränkende Maßnahmen dem Schutz von Dritten
vor massiver (vor allem terroristischer) Gewalt dienen – eine
Verwertung von gegenüber dem Betroffenen nicht offengelegten Beweisen im gerichtlichen Hauptsacheverfahren ausscheiden. Eine Verwertung mittelbarer Beweise oder der
Aussage anonymer Zeugen,90 insbesondere von Zeugen vom
Hörensagen, ist zwar in den Bereichen organisierte Kriminalität und Terrorismus für die Urteilsfindung mitunter unvermeidlich.91 Dies ist allerdings gegenüber „in camera“-
85
Cole/Vladeck, in: Lazarus/McCrudden/Bowles (Fn. 80),
S. 170.
86
Goss, in: Lazarus/McCrudden/Bowles (Fn. 80), S. 133 f.;
Nanopoulos, Modern Law Review 2015, 913 (931).
87
van Harten, International Journal of Evidence & Proof 13
(2009), 1 (14 f.).
88
Vgl. BVerfGE 133, 168; dazu Walther, NStZ 2015, 383
(384).
89
Barak-Erez/Waxman, Columbia Journal of Transnational
Law 2009, 3 (31 ff.).
90
Zur unter Umständen bestehenden Pflicht, eine umfassende
behördliche Sperrung des Zeugen im Wege seiner anonymisierten Vernehmung (gegebenenfalls unter optischer und
akustischer Abschirmung) zu vermeiden: BGH NJW 2003,
74 (76); NStZ 2005, 43; NStZ 2006, 648 (649); NJW 2007,
1475.
91
Zur gegenseitigen Abhängigkeit von Menschenrechtsschutz und Staatsschutz differenzierend Di Fabio, NKW
2008, 421 (422); Nanopoulos, Modern Law Review 2015,
913 (915 f.). Zur US-amerikanischen Praxis des Verwertung
mittelbarer Beweismittel, etwa der Substituierung einer Zeugenbefragung durch ein schriftliches Verfahren unter dem
Classified Information Procedures Act: Chandran, Duke Law
Hauptsacheverfahren vorzugswürdig. Zur Wahrung der Verteidigungsrechte des Betroffenen muss die Sperrung von
Beweismitteln dabei aber einer richterlichen Kontrolle unterworfen sein. Andernfalls könnten Behörden die die Effektivität gerichtlichen Rechtsschutzes willkürlich, das heißt
ohne Berücksichtigung der konkret auf dem Spiel stehenden
Interessen,92 behindern.93
Diese Kontrolle hat aber – wie in Deutschland durch § 99
Abs. 2 i.V.m. § 189 VwGO gewährleistet94 – außerhalb des
Hauptsacheverfahrens durch einen gesonderten Spruchkörper
zu erfolgen. Ein überlegenes Wissen des Gerichts der Hauptsache gegenüber dem Rechtsschutzsuchenden mit Blick auf
den Verfahrensgegenstand wird dadurch ausgeschlossen. Die
gesonderte Überprüfung der Geheimhaltung im Zwischenverfahren erfolgt zwar ihrerseits zwangsläufig in einem „in
camera“-Verfahren. Die darin liegende Beschränkung des
Rechtsschutzes ist jedoch verglichen mit einem „in camera“Hauptsacheverfahren vergleichsweise gering.95 Zum einen
gewährt auch Art. 103 Abs. 1 GG kein Recht auf eine bestimmte Art von Beweismitteln.96 Zudem ist bei fehlender
Möglichkeit zur Konfrontation eines unmittelbaren Zeugen
mit der deutschen Rechtsprechung ohnehin eine vorsichtige,
die übrigen Ergebnisse der Beweisaufnahme berücksichtigende Würdigung der Aussage eines Zeugen vom Hörensagen zu verlangen.97 Auf eine solche Aussage kann eine Verurteilung „regelmäßig nur dann gestützt werden“, wenn sie
„durch andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt“ wird“.98 Eine besonders kritische Überprüfung
wird von den deutschen Gerichten hinsichtlich der Bekundungen einer anonym gebliebenen Gewährsperson gefordert,
wenn deren Vernehmung nur wegen der Weigerung der zuständigen Behörde ausscheidet, die Identität preiszugeben
oder Aussagegenehmigung zu erteilen.99
Effektiver Rechtsschutz gegen auf geheim gehaltene Informationsquellen gestützte Maßnahmen lässt sich letztlich
bestenfalls durch eine klare Beschränkung der gerichtlichen
Verwertbarkeit mittelbarer Beweise erreichen, nicht hingegen
durch Geheimverfahren. Grundrechtsfreundlicher als die
Journal 2015, 1411 (1425 f.); Radsan, Cardozo Law Review
2010, 437 (450).
92
Zum öffentlichen Interesse an der Wahrheitsfindung als
Abwägungskriterium im Rahmen des durch § 99 Abs. 1 S. 2
VwGO eingeräumten Ermessens: BVerwG NVwZ 2010, 905
(909).
93
Vgl. BGHSt 29, 109 (112).
94
Schmidt-Aßmann (Fn. 28), S. 1150; Schoch (Fn. 28),
S. 899.
95
Insoweit ähnlich Mayen, NVwZ 2003, 537 (543).
96
BVerfG NJW 1981, 1719 (1722); NJW 1994, 2347.
97
BVerfG NJW 2010, 925 (926); BGH NJW 2007, 237
(239); BGH NStZ-RR 2014, 246 (249).
98
BVerfG NJW 2010, 925 (926).
99
BVerfG NJW 1981, 1719 (1725); NJW 2010, 925 (926);
BGH NJW 2004, 1259 (1261) und bereits BGHSt 17, 382
(386) = NJW 1962, 1876 (1877); BGHSt 34, 15 (18) = NJW
1986, 1766. Dahingehend auch zur Begründung eines dringenden Tatverdachts OLG Frankfurt NJW 1968, 1000.
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Schaffung von „in camera“-Hauptsacheverfahren sind daher
vor allem auf den konkreten Sachverhalt100 bezogene strenge
Maßstäbe hinsichtlich der von den deutschen Gerichten geforderten und dabei auf den Schutz verfassungsrechtlich
geschützter Belange abstellenden „Unumgänglichkeit“101
einer Geheimhaltung. Das Vorenthalten von belastenden
unmittelbaren Beweismitteln und deren Substituierung durch
mittelbare Beweise bedeutet eine Beeinträchtigung der Effektivität des Rechtsschutzes und ist auf das unbedingt erforderliche Maß zu begrenzen.102 Denn dadurch wird dem Betroffenen unter Umständen die Möglichkeit zur Heranziehung
von ihn entlastenden Beweisen genommen.103 Zur Wahrung
der Verfahrensfairness haben die Behörden daher vernünftige
Anstrengungen zu unternehmen, um die Anwesenheit von
Zeugen im Verfahren zu gewährleisten.104 Dem Rückgriff auf
mittelbare Beweise werden dadurch Grenzen gesetzt. Insbesondere mit Blick auf die Nichtvernehmung eines Zeugen aus
Sorge um dessen Sicherheit fordert daher konsequenterweise
auch die Große Kammer des EGMR, die Strafgerichte dürften sich nicht mit der bloßen abstrakten Möglichkeit einer
Verletzung des Zeugen abfinden, sondern hätten die insoweit
bestehende Befürchtung anhand von Beweisen zu substantiieren.105
Effektiver Rechtsschutz gegen eine Geheimhaltung von
Belastungsbeweisen erfordert in prozessualer Hinsicht zudem
Dazu bereist EGMR (Große Kammer), Urt. v. 16.2.2000 –
28901/95 (Rowe u. Davis v. Vereinigtes Königreich), Rn. 61;
vgl. auch BVerwG NVwZ 2010, 905 (906), wonach insoweit
zur Begründung einer Sperrerklärung die „konkret befürchteten Nachteile“ darzulegen sind. Dafür genüge „die bloße
Möglichkeit eines Nachteils nicht“. „Nachteil in diesem Sinne ist u.a. dann gegeben, wenn und soweit die Bekanntgabe
des Akteninhalts die künftige Erfüllung der Aufgaben der
Sicherheitsbehörden einschließlich deren Zusammenarbeit
mit anderen Behörden erschweren oder Leben, Gesundheit
oder Freiheit von Personen gefährden würde.“ Die „Prognose, ob eine Offenbarung bestimmter Dokumente eine Beeinträchtigung der auswärtigen Beziehungen erwarten lässt, [ist]
verwaltungsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar“. Ähnlich BVerwG, Beschl. v. 2.7.2009 – 20 F 4/09, Rn. 8;
BVerwG NVwZ 2010, 321.
101
BVerfG NJW 1981, 1719 (1723); BGHSt 29, 109 (112) =
BGH NJW 1980, 464 (465); BVerwG NJW 1987, 202 (203).
102
BGH NJW 2003, 7476; zur Pflicht der Exekutive, bei
ihrer Entscheidung das Interesse an der Wahrheitsfindung
und das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Beschuldigten
zu berücksichtigen: BVerfGE 57, 250 (284) = NJW 1981,
1719 (1724); BGH NJW 2007, 3010 (3012).
103
Vgl. BVerwG, Beschl. v. 2.7.2009 – 20 F 4/09, Rn. 5;
Beschl. v. 29.4.2015 – 20 F 8/14, Rn. 8.
104
Vgl. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 27.2.2014 –
5699/11 (Lucic/Kroatien), Rn. 79; EGMR (Große Kammer),
Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 122.
105
EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.12.2011 – 26766/05
u. 22228/06 (Al-Khawaja u. Tahery v. Vereinigtes Königreich), Rn. 124.
100
Sorgfalt der Gerichte im Verfahren nach § 99 Abs. 2 VwGO,
einem übertriebenen106 Bedürfnis nach Geheimhaltung nicht
zur Geltung zu verhelfen. In diesem Zwischenverfahren kann
es zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes für das Gericht
auch erforderlich sein, über die zunächst von der Behörde
vorgelegten Akten hinaus weitere Beweismittel anzufordern,107 etwa Sachverständige oder Behördenmitarbeiter als
Zeugen zu vernehmen, um die Tatsachengrundlage des zur
Begründung der Sperrerklärung angegebenen Nachteils zu
prüfen.108 Nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer strafrechtlichen Relevanz nachrichtendienstlicher Erkenntnisse darf
sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Zwischenverfahren
nicht mit der Behauptung eines (angeblich) besseren Sachverständnisses der Sicherheitsbehörden abfinden und deren
Vorbringen auf die bloße Nachvollziehbarkeit oder ein „Mindestmaß an Plausibilität der Begründung“109 prüfen. Andernfalls droht die Effektivität der gerichtlichen Kontrolle von
Sperrerklärungen infolge einer zunehmend engeren internationalen Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden insbesondere unter Berufung auf zwischenstaatlich vereinbarte Verwendungsbeschränkungen unterlaufen zu werden. Große
Bedeutung für die Bejahung eines schutzwürdigen Geheimhaltungsinteresses zukommen sollte zudem der oft nur im
Zwischenverfahren effektiv überprüfbaren Fragen, ob bei der
Erlangung des gesperrten Beweismittels einschlägige rechtliche Vorgaben eingehalten wurden und ob geheim gehaltene
Umstände Zweifel an der Zuverlässigkeit eines gesperrten
Zeugen begründen. Eine Beeinflussung der Überzeugungsbildung des Hauptsachegerichts durch die tatsächlichen Feststellungen im Zwischenverfahren muss dabei ausgeschlossen
werden, andernfalls mittelbar letztlich doch ein „in camera“Hauptsacheverfahren geschaffen würde. Deshalb darf die
Begründung des Zwischenurteils keine Feststellungen zur
Glaubwürdigkeit der geheimen Beweisquelle enthalten.
106
Dies als Kernproblem der Praxis herausstellend: BarakErez/Waxman, Columbia Journal of Transnational Law 2009,
3 (32); Chandran, Duke Law Journal 2015, 1411 (1429);
Cole/Vladeck (Fn. 85), S. 175; van Harten, International
Journal of Evidence & Proof 13 (2009), 1 (20 ff.). Dahingehend wohl auch die Einschätzung des stellvertretenden Vorsitzenden der G 10-Kommission des Deutschen Bundestages
mit Blick auf das zwischen Deutschland und den USA geschlossenen Geheimschutzabkommens; Huber, NVwZ 2015,
1354 (1357): Dessen Behandlung als „Verschlusssache“ sei
„wenn man seinen Inhalt zur Kenntnis genommen hat, nicht
nachvollziehbar“. Es werde „getrickst“.
107
Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, 29. Lfg., Stand: Oktober 2015, § 99, Rn. 35.
108
Eine gesonderte Beweisaufnahme sieht § 99 Abs. 2
VwGO gegenwärtig nicht ausdrücklich vor; vgl. BVerwG
NVwZ 2002, 1249 (1250); BVerwG, Beschl. v. 2.7.2009 –
20 F 4/09, Rn. 10; Neumann, DVBl. 2016, 473 (481);
Schmidt-Aßmann (Fn. 28), S. 1150; Schoch (Fn. 28), S. 899.
109
So aber BVerwG, Beschl. v. 29.4.2015 – 20 F 8/14,
Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 2.7.2009 – 20 F
4/09, Rn. 9.
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37
Benjamin Vogel
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Zur Herstellung praktischer Konkordanz 110 zwischen Geheimhaltungsinteressen und effektiven Rechtsschutz kann es
schließlich de lege ferenda auch geboten sein, im Rahmen
des Zwischenverfahrens nach § 99 Abs. 2 VwGO – aber eben
nur hier – einen sicherheitsgeprüften, gegenüber dem Betroffenen mit Blick auf geheime Beweise zur Verschwiegenheit verpflichteten Verfahrensbevollmächtigten zuzulassen.
Dessen Aufgabe sollte darin bestehen, durch die Herstellung
eines kontradiktorischen Elements die Effektivität des Zwischenverfahrens zu verbessern und sich darin gegenüber dem
Gericht für eine möglichst weitreichende Offenlegung relevanter Beweismittel einzusetzen.111 Eine solche Weiterentwicklung der gerichtlichen Kontrolle erscheint vor allem mit
Blick auf jene Extremfälle geboten, in denen ein Konflikt
zwischen der Gefährdung überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter und einer (vor allem aus präventiven Gründen)
unerlässlich gebotenen Durchführung des Strafverfahrens zu
einer schwerwiegenden Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten führt.112 In solchen Fällen wird mitunter auch
eine besonders vorsichtige Beweiswürdigung im Hauptsacheverfahren keine hinreichende Kompensation für das
Vorenthalten der den mittelbaren Beweisen zugrunde liegenden vertraulichen Quellen bilden,113 sondern bedarf es darüber hinaus einer in tatsächlicher Hinsicht vertieften Kontrolle der behördlichen Geheimhaltungsentscheidung.
110
Vgl. Cole/Vladeck (Fn. 85), S. 170.
Dazu Barak-Erez/Waxman, Columbia Journal of Transnational Law 2009, 3 (28 f., 45); Cole/Vladeck (Fn. 85), S. 173.
112
Vgl. BGH NJW 2007, 3010 (3013).
113
Anders aber im Ergebnis im Fall Motassadeq BGHSt 49,
112 (123) = NJW 2004, 1259 (1263).
111
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ZIS 1/2017
38
Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge: Appell zur
Stärkung des Konfrontationsrechts bei präjudizierender Zeugenvernehmung im
Ermittlungsverfahren
Zugleich Besprechung von EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland)
Von Ref. iur. Diana Thörnich, Trier*
Urteile der Großen Kammer des EGMR sind die Ausnahme1
und verdienen besondere Beachtung – vor allem, wenn sie
einen Verstoß Deutschlands gegen die Europäische Menschenrechtskonvention feststellen. Aufmerksamkeit gebührt
daher auch dem Urteil vom 15.12.2015 in der Sache
Schatschaschwili v. Deutschland: Mit einer knappen Mehrheit von 9 zu 8 Stimmen bejahte die Große Kammer 2 des
EGMR eine Verletzung des Konfrontationsrechts aus Art. 6
Abs. 1, 3 lit. d EMRK3 durch die Bundesrepublik. In der konkreten Sache enthält das Urteil einen begrüßenswerten Appell gerichtet auf eine vorsorgliche Gewährung dieses Rechts
auf Verfahrensteilhabe im Falle einer faktischen Vorverlagerung der Beweisgewinnung aus der Hauptverhandlung ins
Ermittlungsverfahren. Losgelöst vom konkreten Sachverhalt
präzisiert der Straßburger Gerichtshof darüber hinaus auch
seine dreistufige Prüfung, welche auch als „Al-Khawaja
Test“4 bekannt ist und der Beurteilung einer Konfrontationsrechtsverletzung dient, in bislang noch ungeklärten Punkten.
Somit ist die gesamte Entscheidung ein beachtenswerter
Schritt in der seit Jahren bewegten Entwicklung zur Reichweite dieses Verteidigungsrechts und gibt Anlass, sich nach
der Schilderung von Verfahrensgeschichte und Sachverhalt
(I.) und einem Blick auf die rechtliche Problematik (II.) der
Präzisierung des Konfrontationsrechts zuzuwenden (III.).
Sodann gilt es, die Anwendung der präzisierten Stufenprüfung auf den konkreten Fall zu beleuchten (IV.).
I. Verfahrensgeschichte und Sachverhalt
Der Beschwerdeführer B war vom LG Göttingen 5 wegen
gemeinschaftlichen schweren Raubes in Tateinheit mit
schwerer räuberischer Erpressung in zwei Fällen verurteilt
worden.6 Die Feststellungen des LG beruhten vor allem auf
den Aussagen der beiden Tatopfer O und P. Bei diesen handelte es sich um sich zur Tatzeit legal 7 in Deutschland aufhaltende Prostituierte lettischer Staatsangehörigkeit. Die Inhalte
ihrer Zeugenaussagen wurden allerdings nicht im Rahmen
einer unmittelbaren Vernehmung in der Hauptverhandlung
gewonnen, sondern durch die Verlesung der Protokolle ihrer
polizeilichen und ermittlungsrichterlichen Vernehmungen
nach § 251 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 StPO eingeführt. Die
Vernehmung durch einen Ermittlungsrichter war – unter
Ausschluss von B gem. § 168c Abs. 3 S. 2 StPO und ohne
vorige Bestellung eines anwesenheitsberechtigten Verteidigers – aufgrund der Ankündigung von O und P, baldmöglichst nach Lettland zurückkehren zu wollen, erfolgt. 8 Der
Protokollverlesung in der Hauptverhandlung vorausgegangen
waren intensive,9 aber aufgrund der Rückkehr der Zeuginnen
nach Lettland vergebliche Versuche des LG, eine persönliche
Vernehmung in der Hauptverhandlung zu erreichen. Einer
entsprechenden Ladung Folge zu leisten, hatten O und P
unter Verweis auf ärztliche Bescheinigungen über ihr instabiles posttraumatisches Befinden abgelehnt. Die im RechtshilLG Göttingen, Urt. v. 25.4.2008 – 63 Js 1244/07.
Von den an unterschiedlichen Tagen, einmal in Kassel,
einmal in Göttingen, verübten angeklagten Taten sollen hier
nur die Geschehnisse in Göttingen und das damit zusammenhängende weitere Verfahren dargestellt werden. Die Darstellungen basieren auf den Feststellungen aus der Kammerentscheidung (EGMR, Urt. v. 17.4.2014 – 9154/10
[Schatschaschwili v. Deutschland]) unter I. A. „Facts established by the Göttingen Regional Court“, sowie den Feststellungen der Großen Kammer (EGMR, Urt. v. 15.12.2015 –
9154/10 [Schatschaschwili v. Deutschland]), Rn. 14 ff.; siehe
auch EGMR JR 2015, 95 (96 f.).
7
Siehe EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10
(Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 19. Die Kammer
(Rn. 11 des Kammerurteils) ging noch davon aus, dass sich
die beiden Opfer ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in
Deutschland aufhielten.
8
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 20.
9
Der Vertreter der deutschen Regierung trug in seiner Stellungnahme in der mündlichen Verhandlung vor der Großen
Kammer am 4.3.2015 vor, dass allein die Korrespondenz mit
dem Ausland schon eine Akte mit ca. 36 Briefen bzw.
Schreiben zwischen dem deutschen und dem lettischen Richter sowie dem EJN beinhalte.
5
6
* Die Verf. ist Rechtsreferendarin im OLG-Bezirk Koblenz
und wiss. Hilfskraft am Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht
sowie Wirtschaftsstrafrecht von Prof. Dr. Mark A. Zöller an
der Universität Trier.
1
Siehe die Liste beachtenswerter Entscheidungen der Großen
Kammer gegen Deutschland:
http://www.echr.coe.int/Documents/CP_Germany_ENG.pdf
(1.1.2017).
2
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland). Siehe auch das Kammerurteil v. 17.4.2014 –
9154/10 = JR 2015, 95 m. Anm. Lohse, JR 2015, 60.
3
Da die Garantien aus Art. 6 Abs. 3 EMRK spezielle Ausprägungen des Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 6
Abs. 1 EMRK sind, prüft der EGMR beide Vorschriften
zusammen. Siehe nur EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10
(Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 100.
4
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 109 ff. Der Name folgt aus der Modifikation der früheren Stufenprüfung durch die Große KammerEntscheidung in der Sache Al-Khawaja und Tahery v. das
Vereinigte Königreich, EGMR, Urt. v. 15.12.2011 –
26766/05, 22228/06.
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39
Diana Thörnich
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feweg mit Hilfe des Europäischen Justiziellen Netzes (EJN)
organisierte audiovisuelle Vernehmung war vom lettischen
Gericht aus demselben Grund kurzfristig abgesagt worden.
Der darauffolgende Vorschlag des LG, die Zeuginnen entweder von einem Amtsarzt untersuchen zu lassen oder zu einer
Aussage zu zwingen, war unbeantwortet geblieben. Auch
unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen war das Tatgericht daher zu dem Ergebnis gelangt,
dass eine unmittelbare Zeugeneinvernahme von O und P
nicht möglich war.
Als Zeugen vernommen wurden jedoch eine Freundin und
eine Nachbarin, denen O und P von den Geschehnissen noch
am Tattag bzw. am darauffolgenden Tag erzählt hatten; außerdem die Polizeibeamten und der Ermittlungsrichter, die O
und P im Ermittlungsverfahren vernommen hatten. Weiterhin
gab es Parallelen zu einem früheren Überfall durch B auf
Prostituierte in Kassel. Infolge einer Mobiltelefon- und GPSÜberwachung stand außerdem fest, dass sich B zum Zeitpunkt der Tat am Tatort aufgehalten hatte. B hatte jede Beteiligung an dem Überfall abgestritten, aber zugegeben, zum
Tatzeitpunkt am Tatort gewesen zu sein, um die Dienste der
Frauen in Anspruch zu nehmen.
In seinem Urteil führte das LG aus, dass es sich bei der
Beweiswürdigung des eingeschränkten Beweiswerts der
Zeugenaussagen bewusst gewesen sei und das Fehlen von
Konfrontationsmöglichkeiten gegenüber den einzigen unmittelbaren Zeugen berücksichtigt habe. Die Aussagen der Opferzeuginnen ebenso wie die der Zeugen vom Hörensagen
würdigte das LG kritisch und vorsichtig.10 Es betonte darüber
hinaus, dass während des Ermittlungsverfahrens keine Anhaltspunkte dafür vorhanden gewesen seien, dass die Zeugen
ihre Aussagen im Hauptverfahren nicht wiederholen würden.11 Aus diesem Grund sei kein Verteidiger zur ermittlungsrichterlichen Vernehmung bestellt worden.
Die von der Verteidigung wegen Verletzung von Art. 6
Abs. 3 lit. d EMRK eingelegte Revision zum BGH wurde als
offensichtlich unbegründet verworfen; die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung
angenommen.12
In seiner Individualbeschwerde rügte B u.a., das Gericht
habe nicht alles Mögliche unternommen, um die Zeuginnen
für die Hauptverhandlung herbeizubringen. Ihnen hätte etwa
eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis erteilt oder sie hätten in
ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden können.
Außerdem hätten die nationalen Behörden auf politischer
Ebene mit Lettland in bilaterale Verhandlungen treten müssen. Darüber hinaus sei absehbar gewesen, dass die Zeuginnen für eine weitere Vernehmung in Deutschland nicht mehr
zur Verfügung stehen würden. Vor der zu Beweissicherungszwecken vorgenommenen ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung hätte daher gem. §§ 141 Abs. 3, 140 StPO ein
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 32 ff.
11
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 29; im Kammerurteil unter Rn. 23.
12
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 48 ff.; im Kammerurteil unter Rn. 33 ff.
10
Verteidiger bestellt werden müssen, welcher gem. § 168c
Abs. 2 StPO bei der Zeugenvernehmung hätte anwesend sein
dürfen. Insgesamt seien die aus der fehlenden Konfrontationsmöglichkeit resultierenden Einschränkungen der Verteidigungsrechte nicht ausreichend kompensiert worden. 13
Die Kammer entschied am 17.4.2014 mit 5 zu 2 Stimmen
gegen die Verletzung von Art. 6 Abs. 1, 3 lit. d EMRK.14 Am
8.9.2014 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer angenommen.
II. Problematik
Bei diesem Sachverhalt kommen Erschwernisse der Wahrheitsfindung zum Tragen, wie sie bei Auslandszeugen15 infolge der Grenzen deutscher Hoheitsgewalt typisch sind. Im
Hauptverfahren sind häufig zeitaufwändige und kostspielige
staatliche Bemühungen zur Herbeischaffung des Zeugen
anzustrengen. Dies erfordert nicht nur der Unmittelbarkeitsgrundsatz, sondern auch die Rechtsprechung des EGMR,
nach der die Beweisgewinnung grundsätzlich in öffentlicher
Verhandlung in Gegenwart des Angeklagten mit dem Ziel
einer kontradiktorischen („adversarial“) Erörterung stattfinden soll.16 Sie scheitern – wie hier – allerdings nicht selten an
der Weigerung des Zeugen, persönlich nach Deutschland zu
reisen oder für eine audiovisuelle Vernehmung in der Hauptverhandlung zur Verfügung zu stehen. Bei Fruchtlosigkeit
der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sind dem Gericht
insbesondere mangels Zeugnispflicht bzw. Zeugniszwang 17
die Hände gebunden. In der Hauptverhandlung bleibt somit
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 75, 77 ff.; im Kammerurteil unter Rn. 53 f.
14
Siehe die Kammerentscheidung in EGMR, Urt. v.
17.4.2014 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland),
Rn. 67 ff., mit der beachtlichen dissenting opinion von Richterin Power-Forde; zusammengefasst in der Entscheidung der
Großen Kammer unter Rn. 69 ff.
15
In Anlehnung an § 244 Abs. 5 S. 2 StPO sind das Zeugen,
deren Ladung im Ausland zu bewirken ist.
16
Vgl. EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10
(Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 103; EGMR, Urt. v.
15.12.2011 – 26766/05, 22228/06 (Al-Khawaja u. Tahery v.
das Vereinigte Königreich), Rn. 118; EGMR, Urt. v.
19.7.2012 – 26171/07 (Hümmer v. Deutschland), Rn. 38 =
NJW 2013, 3225 (3226); EGMR, Urt. v. 18.12.2014 –
14212/10 (Scholer v. Deutschland), Rn. 45; vgl. Krausbeck,
Konfrontative Zeugenbefragung, 2010, S. 90 ff.; siehe auch
Maffei, The Right to Confrontation in Europe, 2012, S. 35 ff.,
zu den 6 Bestandteilen des „confrontational paradigm“, welche auch in der Rechtsprechung des EGMR zum Ausdruck
kommen und grundsätzlich vorausgesetzt werden: Publicity,
Live Presence of the Accused, Live Presence of the Factfinder, Legal Commitment to Sincerity, Disclosure of Personal Identity, Adverse-questioning.
17
Siehe nur Norouzi, Die audiovisuelle Vernehmung von
Auslandszeugen, 2010, S. 68 ff., der bei „Zeugnispflicht“ von
der Erscheinenspflicht, bei „Zeugniszwang“ von ihrer Durchsetzbarkeit spricht.
13
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ZIS 1/2017
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Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge
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nur der Rückgriff auf frühere Zeugenaussagen. Kommt es
dadurch zu einem Ausfall des Konfrontationsrechts, werden
nicht nur bedeutende Verteidigungsrechte beschnitten; vielmehr wird die Wahrheitsfindung insgesamt gefährdet. Denn
das Konfrontationsrecht dient, wenn es auch vorrangig als
individuelles Verteidigungsrecht zum Zwecke der Gewährung einer wirksamen Einflussnahme auf die Entscheidungsgrundlage ausgestaltet ist, zumindest mittelbar auch einer
umfassenden Aufklärung und gerechten Wahrheitsfindung.18
In der vorliegenden Fallkonstellation, in der die (zukünftigen
Auslands-)Zeugen im Ermittlungsverfahren noch in Deutschland verfügbar sind und zugleich ihr Ausfall in der Hauptverhandlung droht, muss zur Sicherung des Fragerechts daher
bereits im Ermittlungsverfahren Vorsorge geleistet werden.
Wird mit der Zeugenvernehmung ein (wesentlicher) Teil der
Hauptverhandlung vorweggenommen und damit ein kaum
veränderliches Präjudiz geschaffen, sind grundsätzlich die in
der Hauptverhandlung geltenden Verteidigungsrechte bereits
im Ermittlungsverfahren einzuräumen. 19 Das Erfordernis
einer konventionskonformen Auslegung des § 141 Abs. 3
StPO in einem solchen Fall ist nach zu begrüßender Rechtsprechung des BGH bereits seit dem grundlegenden Urteil
des 1. Strafsenats vom 25.7.200020 anerkannt. Demnach muss
vor einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung eines zentralen Belastungszeugen zum Zwecke der Beweissicherung ein
Verteidiger bestellt werden, wenn der Beschuldigte von der
Anwesenheit gem. § 168c Abs. 3 StPO ausgeschlossen und
abzusehen ist, dass die Mitwirkung eines Verteidigers im
gerichtlichen Verfahren notwendig sein wird. 21
Trechsel, AJP 2000, 1366 (1367); Demko, „Menschenrecht
auf Verteidigung“ und Fairness des Strafverfahrens auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene, 2014,
Rn. 553 f.; Renzikowski, in: Dölling (Hrsg.), Jus humanum,
Grundlagen des Rechts und Strafrecht, Festschrift für ErnstJoachim Lampe zum 70. Geburtstag, 2003, S. 791 (802);
Frister, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur
Strafprozessordnung, GVG und EMRK, Bd. 4, 5. Aufl. 2015,
§ 240 Rn. 3 m.w.N.; ablehnend demgegenüber aber Krausbeck (Fn. 16), S. 28 f., 47.
19
Vgl. Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 2006, S. 253; v. Stetten, in:
Fahl/Müller/Satzger/Swoboda (Hrsg.), Ein menschengerechtes Strafrecht als Lebensaufgabe, Festschrift für Werner
Beulke zum 70. Geburtstag, 2015, S. 1053 (1059 f.);
Schlothauer, StV 2001, 127 (128 f.).
20
BGHSt 46, 93 (97 ff.) = NJW 2000, 3505 (3508 ff.) =
NStZ 2001, 212 m. Anm. Kunert, NStZ 2001, 217 = JZ 2001,
359 m. Anm. Fezer, JZ 2001, 363, siehe auch die Besprechung von Eisele, JA 2001, 100 sowie Martin, JuS 2001,
194 f.; an diese Entscheidung wurde für die Vernehmung des
Beschuldigten angeknüpft in BGHSt 47, 172 (176 ff.). Die
Bestellung eines Verteidigers vor einer beweissichernden
ermittlungsrichterlichen Vernehmung eines wesentlichen
Belastungszeugen in Abwesenheit des Beschuldigten hat
auch der 5. Strafsenat begrüßt, siehe BGHSt 47, 233 (236).
21
BGHSt 46, 93 (97, 99 f.). Insoweit reduziert sich das richterliche Ermessen nach § 141 Abs. 3 S. 1 StPO und verengt
18
Doch was, wenn dieser Sicherungshebel nicht gekippt
und somit keine aktive Befragungsmöglichkeit gewährt wurde? Bislang hat der BGH als Folge einer unterlassenen Verteidigerbestellung unter ausdrücklicher Ablehnung eines
Beweisverwertungsverbots lediglich eine Beweiswürdigungslösung vertreten und gefordert, dass die Zeugenbekundungen
durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage
bestätigt werden.22 Ob aber eine sorgfältige Beweiswürdigung und die Zeugenaussagen bestätigende Indizienbeweise
das Defizit der Verteidigung heilen und ein insgesamt faires
Verfahren gewährleisten können, ist zu bezweifeln.
III. Die präzisierte Ausgestaltung des Konfrontationsrechts
1. Schutzbereich: Idealfall und Grundsatzregel
Bereits bei der Rekapitulation des Gewährleistungsinhalts des
Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK unterstreicht die Große Kammer
die Bedeutung des Ermittlungsverfahrens, da die dort erlangten Beweise den Rahmen der in der Hauptverhandlung untersuchten Beweise absteckten.23 Aus dem primären Zweck des
Art. 6 EMRK, ein faires Verfahren vor einem „Gericht“ zuzusichern, folge nicht, dass dieser Artikel keine Anwendung
im Vorverfahren finde. Vielmehr könne insbesondere Absatz 3 des Art. 6 EMRK bereits vor dem Hauptverfahren
relevant werden, soweit die Verfahrensfairness voraussichtlich erheblich durch einen anfänglichen Verfahrensfehler
vorherbestimmt werde.24
Diese Feststellung stärkt die Verteidigungsrechte bei einer Verlagerung wesentlicher Entscheidungen in das Vorverfahren in erfreulicher Weise. Bedeutend ist sie nicht nur für
die hier skizzierte Verfahrenssituation. Sie trägt insbesondere
auch dem Phänomen Rechnung, dass sich der Verfahrensschwerpunkt in einigen Strafverfahrensrechtsordnungen ins
Ermittlungsstadium verschoben hat und infolgedessen u.U.
von einer erneuten Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung abgesehen wird.25 Die Akzentuierung des Vorverfahrens
sich der entsprechende Beurteilungsspielraum der Staatsanwaltschaft aus § 141 Abs. 3 S. 2 StPO.
22
BGHSt 46, 93 (103 ff.); ablehnend etwa Fezer, JZ 2001,
363, der den Verstoß als Verstoß gegen das grundlegende,
weiterreichende Recht auf Verteidigung einordnet und ein
Beweisverwertungsverbot fordert; ebenso Eisele, JR 2004, 12
(17); Kunert, NStZ 2001, 217; Schlothauer, StV 2001, 127
(129 ff.); Sowada, NStZ 2005, 1 (6) m.w.N.; v. Stetten
(Fn. 19,) S. 1059.
23
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 104.
24
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 104.
25
Zur tatsächlichen Bedeutung des Ermittlungsverfahrens
auch mit statistischen Belegen und zum Recht auf den Verteidiger in diesem Verfahrensstadium siehe Zöller, in:
Livonius/Graf/Wolter/Zöller (Hrsg.), Strafverteidigung im
Wirtschaftsleben, Festgabe für Hanns W. Feigen, 2014,
S. 399. Ein nur beschränktes Unmittelbarkeitsprinzip kennt
etwa die schweizerische Strafprozessordnung, vgl. Art. 343,
350 Abs. 2 schwStPO. Näher zur Rechtslage in der Schweiz
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Diana Thörnich
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bringt zugleich zum Ausdruck, dass der Straßburger Gerichtshof eine solche Verfahrensweise nicht als mit der
EMRK unvereinbar erachtet, sofern die prozessualen Absicherungen der Konvention eingehalten werden. 26 Dies ergibt
sich auch aus der in der Rechtsprechung beständig betonten
Grundsatzregel („as a rule“), dass dem Beschuldigten oder
seinem Verteidiger zumindest einmal im Verlaufe des Verfahrens, entweder zum Zeitpunkt der Zeugenaussage oder zu
einem späteren Verfahrenszeitpunkt, angemessene und ausreichende Gelegenheit geboten werden muss, den Belastungszeugen zu befragen, um seine Glaubwürdigkeit zu prüfen und seine Verlässlichkeit in Zweifel zu ziehen. 27
Ungeachtet dessen bleibt es aber bei dem Idealfall der
Verwirklichung des Konfrontationsrechts im Rahmen der
Beweisaufnahme in der öffentlichen (Haupt-)Verhandlung.
Handelt es sich bei der Zeugenkonfrontation außerhalb der
Hauptverhandlung zwar auch um eine den Wesensgehalt des
Examinierungsrechts wahrende Verfahrensweise, so stellt sie
doch eine rechtfertigungsbedürftige Einschränkung des Idealfalls, quasi die Ausnahme von der Regel dar. 28 Diese EinRiklin, ZStW 126 (2014), 173 (176 ff.); Wohlers, ZStrR
2014, 424 (429 ff.). Eine Verlagerung des Schwerpunkts der
Strafverfahren ins Ermittlungsstadium wird auch in Verfahrensordnungen festgestellt, in denen grundsätzlich eine öffentliche, mündliche und kontradiktorische Hauptverhandlung vorgesehen ist. Siehe zu Frankreich Leblois-Happe,
ZStW 126 (2014), 185, (187 ff., 193); für Spanien Bachmeier
Winter, ZStW 126 (2014), 194 (196); für die Niederlande
Groenhuijsen/Selçuk, ZStW 126 (2014), 248, (258, 261); vgl.
Weigend, in: Müller/Sander/Válková (Hrsg.), Festschrift für
Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, 2009, S. 657 (664), zu
verschiedenen Faktoren, die die Barriere der Unmittelbarkeit
zwischen Ermittlungs- und Hauptverfahren löchrig und brüchig machen.
26
Hierzu ausdrücklich EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10
(Schatschaschwili v. Deutschland), joint concurring opinion
of judges Spielmann, Karakaş, Sajó, and Keller, Rn. 13; vgl.
EGMR, Urt. v. 19.7.2012 – 26171/07 (Hümmer v. Deutschland), Rn. 42 = NJW 2013, 3225 (3226).
27
Siehe nur EGMR, Urt. v. 18.12.2014 – 14212/10 (Scholer
v. Deutschland), Rn. 45; EGMR, Urt. v. 20.11.1989 –
11454/85 (Kostovski v. Niederlande), Rn. 41 = StV 1990,
481 (482); EGMR, Urt. v. 14.12.1999 – 37019/97 (A.M. v.
Italien), Rn. 25; EGMR, Urt. v. 27.2.2001 – 33354/96 (Lucà
v. Italien), Rn. 39; EGMR, Urt. v. 15.12.2011 – 26766/05,
22228/06 (Al-Khawaja u. Tahery v. das Vereinigte Königreich), Rn. 118, 127.
28
Vgl. EGMR, Urt. v. 13.3.2012 – 5605/04 (Karpenko v.
Russland), Rn. 68, 70: „The Court, however, considers that a
close look at its case-law does not allow it to conclude that
the very fact of an accused’s participation in confrontation
interviews with witnesses at the pre-trial stage can, in itself,
strip him or her of the right to have those witnesses examined
in court. The Court has consistently held that the evidence
must be produced ‘live’ before the body called upon to assess
the case and determine the facts. This relates in the first place
to the trial, which is the central aspect of criminal proceed-
schränkung des Idealfalls muss den Anforderungen des sog.
„Al-Khawaja Test“ genügen.
2. Rechtfertigung einer Einschränkung des Konfrontationsrechts
Die Große Kammer bestätigt die in „Al-Khawaja u.
Tahery“29 herausgearbeitete und seither30 gefestigte Stufenprüfung als das maßgebliche Prüfungsmuster.31
a) Die Prüfungsstufen seit „Al-Khawaja u. Tahery“
Der „Al-Khawaja Test“ enthält drei Prüfungsschritte:32 Für
die Nichtanwesenheit des Zeugen in der Hauptverhandlung
und damit verbunden auch die Zulässigkeit des nicht hinterfragten (mittelbaren) Beweises muss (auf der ersten Stufe)
ein sachlicher bzw. legitimer Grund („good reason“/„motif
sérieux“) vorliegen. Als ein solcher ist die hier relevante
(rechtliche oder tatsächliche) Unerreichbarkeit 33 des Zeugen
ings and applies to witness evidence, which the defence must
be able to question in open court.“ (Rn. 68). Siehe auch
Esser, JR 2005, 248 (249); Demko, ZStrR 122 (2004), 416
(424) m.w.N.; Gless, in: Zöller/Hilger/Küper (Hrsg.), Gesamte Strafrechtswissenschaft in internationaler Dimension, Festschrift für Jürgen Wolter zum 70. Geburtstag am 7. September 2013, 2013, S. 1355 (1357); Beulke, in: Hanack/
Hilger/Mehle/Widmaier (Hrsg.), Festschrift für Peter Rieß
zum 70. Geburtstag am 4. Juni 2002, 2002, S. 3 (17).
29
EGMR, Urt. v. 15.12.2011 – 26766/05, 22228/06 (AlKhawaja u. Tahery v. das Vereinigte Königreich), Rn. 120 ff.
30
Siehe etwa EGMR, Urt. v. 16.12.2014 – 4184/10 (Horncastle u.a. v. das Vereinigte Königreich), Rn. 132, 139; EGMR,
Urt. v. 18.12.2014 – 14212/10 (Scholer v. Deutschland),
Rn. 49; EGMR, Urt. v. 13.3.2012 – 5605/04 (Karpenko v.
Russland), Rn. 61. Eine detailliertere, klare Zusammenfassung der nach dem EGMR anzuwendenden Prinzipien für
den Fall, dass ein Zeuge nicht an der Hauptverhandlung teilnimmt, listen etwa die Fälle EGMR, Urt. v. 25.10.2012 –
18027/05 (Štefančič v. Slowenien), Rn. 37, und EGMR, Urt.
v. 27.2.2014 – 5699/11 (Lučić v. Kroatien), Rn. 73, in 8
Schritten auf.
31
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 107.
32
Zwar ist in EGMR, Urt. v. 15.12.2011 – 26766/05,
22228/06 (Al-Khawaja u. Tahery v. das Vereinigte Königreich), Rn. 119, nur von zwei Voraussetzungen die Rede.
Faktisch bleibt es aber bei drei Stufen. So ausdrücklich
EGMR, Urt. v. 18.12.2014 – 14212/10 (Scholer v. Deutschland), Rn. 46; EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10
(Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 107.
33
Vgl. nur EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10
(Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 119 f.; EGMR, Urt.
v. 17.11.2005 – 73047/01 (Haas v. Deutschland) = NStZ
2007, 103 (105), hinsichtl. des Zeugen Said S.); EGMR, Urt.
v. 10.4.2012 – 8088/05 (Gabrielyan v. Armenien), Rn. 81;
EGMR, Urt. v. 13.3.2012 – 5605/04 (Karpenko v. Russland),
Rn. 73 ff.; m.w.N. auch Gless (Fn. 28), S. 1358; Paeffgen, in:
Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozess-
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ZIS 1/2017
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Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge
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trotz angemessener staatlicher Bemühungen oder infolge der
Verweigerung der beantragten Rechtshilfe durch den Aufenthaltsstaat anerkannt. Falls sich (im nächsten Schritt) herausstellt, dass die nichtkonfrontierte Zeugenaussage der einzige
oder entscheidende Beweis ist, müssen (auf der letzten Prüfungsstufe) kompensatorische Maßnahmen einschließlich
strenger prozessualer Absicherungen („sufficient counterbalancing factors, including the existence of strong procedural
safeguards“) greifen, um die aus der Beweiszulassung resultierenden Verteidigungsdefizite auszugleichen und sicherzustellen, dass das Verfahren als Ganzes fair war.34
Als Reaktion auf die erhebliche Kritik seitens des Supreme Courts des Vereinigten Königreichs vor allem in der
Sache „R v. Horncastle and others“35, verzichtet dieses Prüfungsschema auf eine absolute „sole or decisive rule“, wie sie
insbesondere noch in Lucà v. Italien gefestigt worden war. 36
Seine primäre Aufgabe sieht der EGMR demnach – wie auch
in „Schatschaschwili“ betont wird – darin, die Fairness des
Verfahrens in seiner Gesamtheit zu prüfen. Er betrachte das
gesamte Verfahrensgeschehen unter Berücksichtigung sowohl der Verteidigungsrechte als auch der Interessen der
Allgemeinheit sowie des Opfers an einer wirksamen Strafverfolgung und, sofern erforderlich, auch die der Zeugen. 37
ordnung, GVG und EMRK, Bd. 10, 4. Aufl. 2010, Art. 6
EMRK Rn. 156; Renzikowski, in: Hiebl/Kassebohm/Lilie
(Hrsg.), Festschrift für Volkmar Mehle zum 65. Geburtstag
am 1.1.2009, 2009, S. 529 (540); Demko (Fn. 18), Rn. 710.
34
Die Prüfung der zweiten und dritten Stufe aus der Zeit vor
Al-Khawaja u. Tahery erfolgt somit in umgekehrter Reihenfolge. Hierzu auch Esser, in: Sieber/Satzger/v. HeintschelHeinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2014, § 56
Rn. 47; du Bois-Pedain, HRRS 2012, 120 (132 f.).
35
R. v. Horncastle [2009] UKSC 14 (Rn. 55 ff., 79 ff.),
[2010] 2 WLR 47 (Rn. 67 ff., 74), siehe speziell Lord Phillips
of Worth Matravers PSC unter [2009] UKSC 14 (Rn. 91 ff.),
[2010] 2 WLR 47 (Rn. 119 ff.). Nun auch entschieden vom
EGMR, Urt. v. 16.12.2014 – 4184/10 (Horncastle u.a. v. das
Vereinigte Königreich).
36
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 126 ff., 147; kritisch etwa Esser/Gaede/
Tsambikakis, NStZ 2012, 619 (621); Meyer, HRRS 2012, 117
(119 f.); Alcácer Guirao, in: Zöller/Hilger/Küper (Fn. 28),
S. 833 (841 ff.); vgl. noch EGMR, Urt. v. 27.2.2001 –
33354/96 (Lucà v. Italien), Rn. 40; daher auch als „LucàTest“ bezeichnet, siehe Jung, GA 2009, 235 (238 ff.);
du Bois-Pedain, HRRS 2012, 120 (126 ff.).
37
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 101; bereits EGMR, Urt. v. 15.12.2011 –
26766/05, 22228/06 (Al-Khawaja u. Tahery v. das Vereinigte
Königreich), Rn. 118, 146; EGMR, Urt. v. 19.7.2012 –
26171/07 (Hümmer v. Deutschland), Rn. 37 = NJW 2013,
3225 (3226); EGMR, Urt. v. 19.7.2012 – 29881/07 (Sievert
v. Deutschland), Rn. 58 = JR 2013, 170 (174), m. krit. Anm.
Schroeder; EGMR, Urt. v. 18.12.2014 – 14212/10 (Scholer v.
Deutschland), Rn. 44.
b) Präzisierung der Stufenprüfung durch die Große Kammer
Auch auf Aufforderung der tschechischen Regierung 38 sah
sich die Große Kammer veranlasst, den „Al-Khawaja Test“
insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses der Prüfungsstufen zueinander zu präzisieren.
Da sowohl die deutsche als auch die tschechische Regierung vorgetragen hatten, dass die in „Al-Khawaja u. Tahery“
im Kontext eines Common Law Rechtssystems entwickelten
Grundsätze nur bedingt auch für kontinental-europäische
Rechtssysteme Anwendung finden könnten, 39 stellt der Gerichtshof klar, dass er ganz unabhängig von der jeweiligen
Rechtsordnung denselben Standard zur Überprüfung des
Art. 6 Abs. 1, 3 lit. d EMRK anwendet. Dabei betont er, dass
er die Unterschiede in den Rechtssystemen und Verfahrensweisen der Vertragsstaaten beachten werde.40 Die Prüfungsreihenfolge solle grundsätzlich („as a rule“) beibehalten werden.41
aa) Verletzung bereits bei Fehlen eines sachlichen Grundes?
Die Anwendung der Stufenprüfung hatte insbesondere zu der
Frage geführt, ob allein das Fehlen eines legitimen Grundes
für die Nichtverfügbarkeit des Zeugen in der Hauptverhandlung zu einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1, 3 lit. d EMRK
führt, selbst wenn die Zeugenaussage nicht die einzige oder
entscheidende ist. Auf Basis der Rechtsprechung in „AlKhawaja u. Tahery“42 hat der EGMR dies in mehreren Ent-
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 96 ff. Siehe Art. 36 Abs. 2 EMRK.
39
Siehe EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10
(Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 84 (dt. Regierung),
Rn. 96 (tschech. Regierung). Die deutsche Regierung folgerte
aus den Unterschieden zwischen der deutschen Strafprozessordnung und dem Common Law-System, dass der Beurteilungsspielraum für Ausnahmen in kontinental-europäischen
Systemen größer sein müsse. Das deutsche Strafprozesssystem basiere anders als der Common Law-Prozess mit Juryentscheidung in einem viel größeren Umfang auf der professionellen Erfahrung von Richtern. Vor allem sei die Beweiswürdigung auch transparenter als im Common Law
System, da der Richter im Urteil detailliert ausführen müsse,
auf welchen Beweisen die Verurteilung beruht und wie sie
bewertet wurden. Hierzu auch Weigend, in: Zöller/
Hilger/Küper (Fn. 28), S. 1145 (1147 f.).
40
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 108 f.
41
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 117 f. Gegebenenfalls könne es im Hinblick auf die Betrachtung der Fairness des Verfahrens in
seiner Gesamtheit aber zweckmäßig sein, die Prüfungsschritte in einer anderen Reihenfolge vorzunehmen. Zustimmend
die Richter Hirvelä, Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney
und Kūris in ihrer joint dissenting opinion, Rn. 7.
42
Siehe EGMR, Urt. v. 15.12.2011 – 26766/05, 22228/06
(Al-Khawaja u. Tahery v. das Vereinigte Königreich),
Rn. 120.
38
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com
43
Diana Thörnich
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scheidungen bejaht.43 Begründet wurde dies damit, dass Zeugen grundsätzlich während des Gerichtsverfahrens vernommen werden müssten und alle verhältnismäßigen Anstrengungen zu unternehmen seien, um ihre Anwesenheit sicherzustellen.44 In anderen Verfahren wurde dagegen festgestellt,
dass es sich um offensichtlich nicht entscheidende Beweise
handelte, mit der Folge, dass das Fehlen eines sachlichen
Grundes nicht weiter geprüft werden musste.45
Mit Blick auf die Maßgabe, die Fairness des Verfahrens
in seiner Gesamtheit zu betrachten, entschied sich die Mehrheit der Richter nunmehr für eine flexiblere Handhabung.
Denn es würde eine neue ausnahmslose Regel kreiert, wenn
das Verfahren bereits allein wegen des Fehlens eines sachlichen Grundes auf erster Stufe als unfair anzusehen sei, obwohl der nicht konfrontierte Beweis weder der einzige noch
der entscheidende oder für das Verfahrensergebnis sogar
irrelevant war.46 Das Scheitern einer Rechtfertigung auf der
EGMR, Urt. v. 11.7.2013 – 2775/07 (Rudnichenko v. die
Ukraine), Rn. 104 ff.; ebenso in EGMR, Urt. v. 6.10.2015 –
30582/04, 32152/04 (Karpyuk u.a. v. die Urkaine), Rn. 108,
123. Teilweise stand bereits fest, dass die betroffene Zeugenaussage entscheidend war (siehe etwa EGMR, Urt. v.
13.3.2012 – 5605/04 [Karpenko v. Russland], Rn. 70 ff.); in
anderen Fällen wurde dies in der weiteren Stufenprüfung
ergänzend geprüft (so bei EGMR, Urt. v. 3.7.2014 –
63117/09 [Nikolitsas v. Griechenland], Rn. 35 ff.). Zum Teil
wurde eine Verletzung bei Fehlen eines sachlichen Grundes
auch bei Zeugenaussagen angenommen, die „inter alia“ dem
Nachweis der Schuld dienten, ohne dass näher untersucht
wurde, ob sie „decisive“ waren (siehe EGMR, Urt. v.
10.4.2012 – 8088/05 [Gabrielyan v. Armenien], Rn. 80 ff.).
44
EGMR, Urt. v. 11.7.2013 – 2775/07 (Rudnichenko v. die
Ukraine), Rn. 104
45
Hierzu EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10
(Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 113 m.w.N., u.a.
EGMR, Urt. v. 16.10.2014 – 20077/04 (Suldin v. Russland),
Rn. 56: „They fell rather into the category of corroborative
evidence, as the guilty verdict on the theft charges was
reached on the basis of testimony taken during the trial and of
other evidence […]. The Court therefore concludes that the
evidence of these absent witnesses cannot be considered
relevant for the conviction of the applicant. It is accordingly
not required to establish whether there were good reasons for
their non-attendance.” (Hervorhebungen durch Verf.); enger
dagegen EGMR, Urt, v. 23.9.2014 – 17362/03 (Cevat Soysal
v. die Türkei), § 7: „[…] if the prosecution decides that a
particular person is a relevant source of information and
relies on his or her testimony at the trial and if the testimony
of that witness is used by the court to support a guilty verdict,
it must be presumed that the personal appearance and questioning of that witness are necessary, unless his or her testimony is manifestly irrelevant or redundant.“ (Hervorhebungen durch Verf.).
46
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 112. Dem folgten die Richter Hirvelä,
Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris in ihrer
joint dissenting opinion, Rn. 5.
43
ersten Prüfungsstufe stelle daher (nur) einen sehr gewichtigen
Gesichtspunkt i.R.d. Würdigung der Fairness des Verfahrens
in seiner Gesamtheit dar, der den Ausschlag für eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1, 3 lit. d EMRK geben könnte. 47
Diese Präzisierung hat weitreichende Bedeutung für die
Anforderungen an den Beweistransfer in die Hauptverhandlung. Mit der Lockerung der ersten Prüfungsstufe entfernt
sich der EGMR von der strengen Forderung nach einer idealen Konfrontation eines jeden Zeugen in öffentlicher (Haupt-)
Verhandlung. Dies trägt den nationalen Unterschieden in der
Ausgestaltung der Beweisgewinnung Rechnung und steht in
Einklang mit der Tendenz, vor allem auch aus Gründen der
Verfahrensökonomie auf die erneute unmittelbare Zeugenvernehmung verzichten zu können, wenn eine solche zur
Wahrheitsfindung nicht für erforderlich erachtet wird. 48
Ob damit aber mehr Klarheit in der Stufenprüfung erreicht wird, ist mit der „joint concurring opinion“ 49 der Richter Spielmann, Karakaş, Sajó, und Keller zu bezweifeln.
Nach Ansicht dieser Richter soll – nicht nur aus logischen
Gründen, sondern auch im Hinblick auf eine effiziente und
prozessökonomische Arbeit des Gerichtshofs – beim Fehlen
eines sachlichen Grundes für die Abwesenheit des Zeugen in
der Hauptverhandlung eine Verletzung auch dann anzunehmen sein, wenn dessen Aussage von irgendeiner, d.h. auch
nur untergeordneter Bedeutung für das Verfahren ist.50
Die Verlagerung der Entscheidung auf die letzte Ebene
einer Gesamtbetrachtung schmälert die Vorhersehbarkeit des
Ergebnisses und führt zu einer Verwässerung der Prüfung.
Damit nimmt der EGMR dem Stufentest die einzig feste
Hürde auf der ersten Stufe. Sie schränkt die Durchsetzungskraft des Teilhaberechts vor allem gegenüber solchen Zeugen
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 113.
48
Vgl. AE-Beweisaufnahme, GA 2014, 1, (3 ff., 11, 50);
hierzu auch Jahn, StV 2015, 778 (779 ff.); kritisch hierzu
etwa Ignor, in: Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Hrsg.), Bericht der Expertenkommission zur
effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, 2015, Anlagenband I – Gutachten, S. 426, 428 ff.; Effizienzerwägungen sind ein zentraler Grund dafür, dass in
einigen ausländischen Rechtsordnungen in verstärktem Maße
auf eine doppelte Beweiserhebung verzichtet wird, siehe zur
Rechtslage in der Schweiz Wohlers, ZStrR 2014, 424 (429
ff., 435 ff.); ders., ZStrR 2013, 318 (324); Riklin, ZStW 126
(2014), 173 (176 ff.); für die Niederlande Groenhuijsen/
Selcuk, ZStW 126 (2014), 248 (258 ff., 276).
49
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), joint concurring opinion of judges Spielmann,
Karakaş, Sajó, and Keller, Rn. 17 ff.
50
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), joint concurring opinion of judges Spielmann,
Karakaş, Sajó, and Keller, Rn. 6 f. Kritisch auch Richter
Kjølbro (dissenting opinion von Richter Kjølbro, Rn. 5 ff.)
Im Ergebnis stimmt er der Mehrheit allerdings darin zu, dass
das Fehlen eines guten Grundes nicht zwangsläufig und automatisch die Unfairness des Verfahrens begründet.
47
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ZIS 1/2017
44
Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge
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ein, deren Aussagen nicht als entscheidend angesehen werden. Denn nur bei einer Einstufung als einziger oder entscheidender Beweis kommt es nach dem „Al-Khawaja Test“
überhaupt zu einer Forderung nach Ausgleichsmaßnahmen.
Das Fehlen eines sachlichen Grundes hat damit bei Zeugen,
die den „sole or decisive“-Test nicht bestehen, keine Auswirkungen. Dies scheint angesichts der Tatsache, dass Art. 6
Abs. 3 lit. d EMRK das Konfrontationsrecht gegenüber jedem
Belastungszeugen gewährt,51 unhaltbar. Was ein Zeuge aussagen und ob er seine Angaben in der Hauptverhandlung
ändern wird, kann nicht sicher vorhergesagt werden. Außerdem wird jede in die Hauptverhandlung eingeführte Zeugenaussage als möglicherweise bedeutend für die Entscheidung
befunden, vgl. § 244 Abs. 2 StPO. Der Beschuldigte muss
auch eine auf den ersten Blick nur nebensächliche Zeugenaussage in Zweifel ziehen und damit das gesamte Beweisgebäude zum Einsturz bringen können.
Mit diesen Erwägungen ist aber noch nicht die letztlich
auch mit der Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
verbundene Entscheidung getroffen, dass jeder Zeuge für
eine konfrontative Befragung persönlich in der Hauptverhandlung erscheinen muss. Hierfür sprechen die bekannten
Gefahren des Beweistransfers, insbesondere bei einem Rückgriff auf das fehleranfällige Vernehmungsprotokoll, sowie die
weiteren Vorzüge einer konfrontativen Vernehmung vor den
Augen des zur Entscheidung berufenen Gerichts mit dem Ziel
einer zuverlässigen Beweiswürdigung. 52 Allerdings ist die
Entscheidung über die Ausgestaltung des Beweisverfahrens
eine nationale, rechtspolitische Entscheidung. Gegen einen
strengen Unmittelbarkeitsgrundsatz werden nicht unberechtigte Einwände geltend gemacht.53 Und sofern dem Beschuldigten eine effektive Befragungsmöglichkeit des Belastungszeugen im Verlauf des Strafverfahrens gewährt wird, ist das
Konfrontationsrecht in seinem Kern gewahrt. Die Annahme,
dass nicht automatisch eine Verletzung vorliegt, wenn es
bereits an einem sachlichen Grund für die Abwesenheit des
Zeugen in der Hauptverhandlung mangelt, trägt damit den
rechtspolitischen Entscheidungsspielräumen der Konventionsstaaten in flexibler Weise Rechnung. In Anbetracht der
unterschiedlichen Anforderungen an einen Beweistransfer in
den Strafprozessordnungen der Konventionsstaaten erscheint
die Präzisierung des EGMR somit bei solchen Zeugen, die
nicht als „sole or decisive“ eingestuft werden, als eine akzeptable Ausgestaltung der Konventionsgarantie durch den
EGMR.
Bei dem einzigen oder entscheidenden Zeugen darf das
Fehlen eines sachlichen Grundes für seine Abwesenheit in
der Hauptverhandlung dagegen nicht erst im Rahmen einer
abschließenden Würdigung der Verfahrensfairness Beach51
Vgl. Esser, JR 2005, 248 (252).
Vgl. zu Funktionen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes BVerfGE 57, 250 (276, 278); Velten, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, GVG und
EMRK, Bd. 5, 5. Aufl. 2016, Vor §§ 250 ff. Rn. 7 ff.;
Weigend (Fn. 25), S. 660.
53
Siehe etwa Wohlers, ZStrR 2014, 424 (438 ff.); Weigend
(Fn. 25), S. 663; AE-Beweisaufnahme, GA 2014, 1, (3).
52
tung finden. Gerade bei für wichtig erachteten Zeugen muss
das Fehlen eines die Abwesenheit rechtfertigenden Grundes
zu einer direkten Verletzung der Verfahrensfairness bereits
auf erster Stufe führen. Kann die Abwesenheit nicht, etwa
durch den Nachweis ausreichender Bemühungen zur Beibringung des Zeugen, begründet werden, darf ein Beweistransfer nicht erlaubt sein, es sei denn, der Angeklagte hat
wirksam hierauf verzichtet. Dies muss selbst dann gelten,
wenn zuvor bereits Gelegenheit zur Befragung des Zeugen
durch den Beschuldigten oder den Verteidiger gewährt wurde. Dieser Umstand kann erst auf einer späteren Stufe zur
Rechtfertigung der Einschränkung des Idealfalls führen. Mit
einer solch strengen Forderung würde der EGMR zwar – wie
bisher auch – eine unmittelbare Beweisaufnahme vor dem
erkennenden Gericht fordern und das nationale Beweisrecht
damit in einem wesentlichen Punkt prägen. Für einen solchen
menschenrechtlichen Mindeststandard sprechen aber die
Vorzüge einer idealen konfrontativen Vernehmung vor den
Augen des zur Entscheidung berufenen Gerichts mit dem Ziel
einer zuverlässigen Beweiswürdigung sowie die Gefahren
des Beweistransfers.
Ob es sich bei der Lockerung der ersten Prüfungsstufe um
eine merkliche Schwächung des Konfrontationsrechts handelt, wird die weitere Rechtsprechungsentwicklung zeigen. 54
Um einer Aushöhlung des Konfrontationsrechts bei nicht als
entscheidend eingestuften Zeugen vorzubeugen, bedarf es vor
allem auf nationaler Ebene einer starken Ausgestaltung der
Verteidigungsrechte. Daher ist es weiterhin geboten, eine
bestmögliche Gewährleistung der Konfrontationsmöglichkeit
gegenüber jedem Zeugen anzustreben, dessen Aussage Teil
der Entscheidungsgrundlage ist.55
bb) Fortgeltung des Grundsatzes „impossibilium nulla est
obligatio“?
Aus den Feststellungen der Großen Kammer wird zudem
deutlich, dass der Grundsatz „impossibilum nulla es obligatio“
seine Geltung beibehält. Im Zuge der Anwendung des „AlKhawaja Tests“ auf den konkreten Fall stellt die Große
Kammer nämlich fest, dass den deutschen Behörden die Abwesenheit der Zeuginnen in der Hauptverhandlung in Einklang mit diesem Prinzip nicht vorgeworfen werden kann. 56
Das LG habe im Rahmen des rechtlich Möglichen alle ver54
Dieser Rechtsprechung ist der EGMR etwa gefolgt in
EGMR, Urt. v. 24.11.2016 – 35688/11 (Manucharyan v.
Armenien), Rn. 52, wo die Tatsache allein, dass nicht die
nötigen Ermittlungen unternommen worden waren, um die
Abwesenheit der einzigen Augenzeugin sicherzustellen bzw.
die Behauptung, sie halte sich im Ausland auf, aufzuklären,
als ein sehr wichtiger Faktor i.R.d. Bewertung der Fairness
des Verfahrens in seiner Gesamtheit angesehen wurde. Da die
Zeugenaussage als entscheidend einzustufen war und es an
ausreichenden ausgleichenden Faktoren fehlte, stellte der
EGMR aber eine Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK
fest.
55
Vgl. Demko (Fn. 18), Rn. 762 f. m.w.N.
56
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 139.
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nünftigen Anstrengungen unternommen, um die Anwesenheit
der Zeuginnen sicherzustellen.57 Damit kommt der EGMR
zumindest implizit der Bitte der tschechischen Regierung
nach, zur Fortgeltung des Grundsatzes Stellung zu beziehen.58 Diese hatte zutreffend darauf hingewiesen, dass das
Festhalten an „impossibilium nulla est obligatio“ infolge der
grundsätzlich fehlenden Zwangsmöglichkeiten im Ausland
gerade bei Verfahren mit Auslandszeugen wichtig sei. Der
Grundsatz begrenzt die prinzipiell hohen Anforderungen an
die – auch nachzuweisenden – Bemühungen des Gerichts und
der nationalen Strafverfolgungsbehörden, die Anwesenheit
des Zeugen in der Hauptverhandlung sicherzustellen. Diese
Anforderungen, die zugleich Voraussetzung dafür sind, dass
der sachliche Grund der Unerreichbarkeit eines (Auslands-)
Zeugen auf erster Stufe bejaht werden kann, fasst der EGMR
in Schatschaschwili anschaulich zusammen. 59
cc) Erfordernis ausgleichender Faktoren nur bei dem
einzigen oder entscheidenden Zeugen?
Zu begrüßen ist die Klarstellung des EGMR, dass er das
Vorliegen genügender ausgleichender Faktoren auch dann
prüft – und somit auch dann fordert –, wenn aus der Einstufung des Beweiswerts durch das nationale Gericht unklar
bleibt, ob der Beweis der einzige oder entscheidende war,
sofern der Gerichtshof überzeugt ist, dass der Beweis von
signifikantem Gewicht („significant weight“) war und seine
Zulässigkeit die Verteidigungsrechte beschränkt haben könnte.60
Eine starke inhaltliche Erweiterung der „sole or decisive
rule“ in Form einer neuen, erweiterten Kategorie geht mit
dieser Klarstellung aber nicht einher.61 Diese betrifft vielmehr die Befugnis des Gerichtshofs zur Überprüfung der
nationalen Beweiswertbestimmung. Die Mehrheitsentscheidung enthält daher auch eine Erläuterung zur Herangehensweise des EGMR bei der Prüfung der zweiten Stufe. Ausgangspunkt für die Frage, ob die Aussage des abwesenden
Zeugen der einzige oder entscheidende Beweis ist, sei die
diesbezügliche Einschätzung der nationalen Gerichte. Diese
müsse der Gerichtshof dahingehend überprüfen, ob die Bewertung inakzeptabel oder willkürlich erfolgt sei. Eine eigene
Beweiswürdigung müsse er außerdem vornehmen, wenn die
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 136 ff.
58
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 97.
59
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 120 ff.; siehe auch Krausbeck (Fn. 16),
S. 244 ff.
60
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 116; zustimmend die Richter Hirvelä,
Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris in ihrer
joint dissenting opinion, Rn. 6.
61
Dies folgt auch aus dem Sondervotum von Richter Kjølbro
(dissenting opinion, Rn. 12 f.), in dem er klarstellt, dass die
Bezeichnung „significant weight“ nicht als Loslösung von
der „sole or decisive rule“ zu verstehen sei.
57
Position der nationalen Gerichte unklar bleibe. 62 Durch diese
Präzisierung seiner Überprüfungsdichte auf zweiter Stufe ist
der EGMR um einen Ausgleich zwischen der Achtung nationaler Beurteilungsspielräume und der notwendigen menschenrechtlichen Überprüfung bemüht. Eine Überprüfung der
Beweiseinschätzung der nationalen Gerichte ist auch deshalb
wichtig, weil die nationalen Gerichte und Regierungen, wie
auch im Fall „Schatschaschwili“, entscheidende Beweise
nicht notwendig als solche bezeichnen. 63 Mit der Präzisierung
des EGMR kann daher eine Stärkung der Verteidigungsrechte
verbunden sein, sofern zwischen Verteidigung und Gericht
Uneinigkeit darin besteht, ob der Beweis für die Verurteilung
entscheidend ist.64 Zugleich wird deutlich, dass der Gerichtshof trotz seiner beständig betonten Zurückhaltung in eine
Beweisprüfung und Kontrolle der richterlichen Beweiswürdigung und damit in nichts anderes als eine eigene Beweiswürdigung eintreten muss.65
Zur Präzisierung der dritten Prüfungsstufe enthält das Urteil eine Zusammenstellung wichtiger Faktoren, die dem
Ausgleich des Verteidigungsdefizits dienen und eine faire
und verlässliche Beurteilung des Beweiswerts gestatten müssen.66 Je bedeutender die Zeugenaussage, desto gewichtiger
müssen die ausgleichenden Faktoren sein. 67 Als wichtige
Schutzmechanismen zu nennen sind insbesondere die Möglichkeit, auch außerhalb der Hauptverhandlung zumindest
indirekt, etwa schriftlich Fragen an den Zeugen zu stellen, die
Vorführung einer Videoaufzeichnung der früheren Zeugenvernehmung, das Vorliegen weiterer, die Zeugenaussage
bestätigender Beweise, aber auch eine vorsichtige und sorg-
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 124.
63
Vgl. EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10
(Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 49, 88. Der Generalbundesanwalt und ihm folgend auch der BGH hatten vertreten, dass die Beweise weder die einzigen noch die entscheidenden gewesen seien. Die Regierung hat darauf hingewiesen, dass sie maßgeblich waren, aber durch gewichtige weitere Beweise erhärtet wurden. Dass die nationalen Richter
vermeiden wollen, den Beweis als „sole or decisive“ zu charakterisieren, bemerken auch die Richter Spielmann, Karakaş,
Sajó, und Keller in ihrer „joint concurring opinion“, Rn. 8.
64
Kritisch aber gegenüber dieser Zurücknahme der Bedeutung des zweiten Prüfungsschritts und für eine stärkere Überprüfungsmöglichkeit der nationalen Beweiswürdigung die
Richter Spielmann, Karakaş, Sajó, und Keller in ihrer „joint
concurring opinion“, Rn. 8. Daher weisen sie auf die Notwendigkeit hin, dass der Gerichtshof über die nationalen
Formulierungen hinaus schaut.
65
Vgl. Esser/Gaede/Tsambikakis, NStZ 2012, 619 (622 f.);
Renzikowski (Fn. 33), S. 543; Jackson/Summers, The Internationalisation of Criminal Evidence, 2012, S. 339, 365; Gaede,
Fairness als Teilhabe, 2007, S. 844 f.
66
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 125 ff.
67
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 116.
62
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Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge
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fältige sowie ausführlich begründete Beweiswürdigung. 68
Schließlich stellt der EGMR die Anforderung auf, dem Angeklagten müsse Gelegenheit gegeben werden, seine eigene
Version der Geschehnisse zu präsentieren und die Aussagen
der abwesenden Zeugen durch Hinweise auf Ungereimtheiten
in Zweifel zu ziehen. Bei Kenntnis der Identität des Zeugen
sei der Angeklagte in der Lage, etwaige Motive für eine Lüge
zu identifizieren, und deshalb auch die Glaubhaftigkeit zu
bestreiten.69 Vor allem dieser letzte Gesichtspunkt belegt die
Gefahr, dass das individuelle Teilhaberecht als ein Mittel zur
zuverlässigen Beweiswürdigung herabgestuft und dementsprechend ausgestaltet wird.70 Das nachträgliche Infragestellen der Zeugenaussage wirkt nur reaktiv, gewährt also gerade
keine aktive Befragungsmöglichkeit und steht einem Angeklagten schon unabhängig vom Konfrontationsrecht zu. Gleiches gilt für die sorgfältige Beweiswürdigung. 71 Diese Faktoren als wichtige Kompensationsmaßnahmen anzusehen, kann
grundsätzlich nur in solchen Fällen überzeugen, in denen der
Angeklagte auch durch aktive Einwirkungsmöglichkeiten in
der Beweiserhebungsphase, insbesondere auch durch die
Erhebung der von ihm beantragten Entlastungsbeweise auf
die Bewertung der Glaubhaftigkeit der Aussage Einfluss
nehmen konnte.72 Umso wichtiger ist, dass der EGMR die
jedenfalls indirekte Fragemöglichkeit, etwa durch Einreichung eines Fragekatalogs oder über eine Audioverbindung73
mit der Vernehmungsperson, sowie das Vorliegen weiterer
(Indizien-)Beweise als Ausgleichsmaßnahmen beachtet.
c) Fazit
Nicht nur im Schrifttum74 wurde die Modifikation aus „AlKhawaja u. Tahery“ überwiegend als Schwächung des KonEGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 126 ff.
69
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 131 m.w.N.
70
Treffend Meyer, HRRS 2012, 117 (120): „Aus einem ehemals zwingenden subjektiven Recht wird de facto eine bloße
Beweismethode, die im Prozess der Wahrheitsfindung nicht
alternativlos ist.“ (Hervorhebungen im Original). Siehe auch
Weigend (Fn. 39), S. 1163 f. zu verschiedenen Denkansätzen.
71
Siehe Dehne-Niemann, HRRS 2010, 189 (201 f.) m.w.N.
72
Vgl. Demko (Fn. 18) Rn. 730: „Anzulegen ist mithin ein
materieller Bewertungsmassstab […], anhand dessen in dem
konkreten Einzelfall zu prüfen ist, ob dem Angeklagten […]
dennoch in der Sache eine materiell wirksame antithetische
Einflussnahme auf den Wahrheitsermittlungsprozess des
belastenden Zeugenbeweises eingeräumt ist.“ (Hervorhebungen im Original). Siehe zum Zusammenhang zwischen der
versagten Konfrontation des Belastungszeugen und der Notwendigkeit der Erhebung beantragter Entlastungsbeweise
zutreffend bereits Esser, JR 2005, 248 (255 f.).
73
Vgl. EGMR, Urt. v. 6.12.2012 – 25088/07 (Pesukic v. die
Schweiz), Rn. 8, 12 f., 46, 50 ff.
74
Kritisch äußern sich etwa Meyer, HRRS 2012, 117 (119 f.);
Alcácer Guirao (Fn. 36), S. 841 ff.; Esser/Gaede/Tsambikakis, NStZ 2012, 619 (622 f.); aus Sicht von du Bois-Pedain,
68
frontationsrechts betrachtet. Auch unter den Richtern des
EGMR war sie umstritten. So ließen die Richter Sajó und
Karakaş verlauten: „Today the last line of protection of the
right to defence is being abandoned in the name of an overall
examination of fairness.“75 Die Forderung des Gerichtshofs
nach starken prozessualen Absicherungen kommentierten sie
mit der – inhaltlich auch im deutschen Schrifttum gegen die
Beweiswürdigungslösung vorgetragenen – Bemerkung:
„While the Court calls for ‚extreme‘ care in the treatment of
untested evidence, the reality is that either evidence is used or
it is not.“76 Auch in „Schatschaschwili“ geben u.a. die Richter Sajó und Karakaş die Besorgnis kund, dass eine zu flexible, auf eine Gesamtbetrachtung der Verfahrensfairness gerichtete Herangehensweise den nationalen Behörden zu viel
Freiraum lasse.77
Gerade bei der internationalen Beweisrechtshilfe muss die
EMRK zum Schutz des Beschuldigten als starkes „Verbindungsstück“78 zwischen den unterschiedlichen Rechtsordnungen und übergeordnetes „Referenzsystem“ 79 mit klaren
Vorgaben dienen. Überzeugen kann die im Grunde berechtigte, auch schon vor „Al-Khawaja u. Tahery“ geäußerte80 Sorge
vor einer Aufweichung und Verwässerung der Einzelgarantie
gleichwohl nicht. Durch die Betrachtung der Fairness des
Verfahrens in seiner Gesamtheit übt der Gerichtshof bewusst
Zurückhaltung („judicial self restraint“) aus und trägt den
Unterschieden der nationalen Rechtsordnungen Rechnung. 81
Die flexiblere Handhabung durch den EGMR beachtet die
Notwendigkeit von Einzelfallgerechtigkeit und sorgt durch
die Einräumung eines größeren nationalen Beurteilungsspielraums hinsichtlich der Umsetzung der menschenrechtlichen
HRRS 2012, 120 (138), war die „Modifikation des LucàTests“ dagegen „die bessere Lösung“.
75
Hierzu die „joint partly dissenting and partly concurring
opinion“ der Richter Sajó und Karakaş auf S. 61, 62 f. des
Urteils der Großen Kammer (EGMR, Urt. v. 15.12.2015 –
9154/10 [Schatschaschwili v. Deutschland]).
76
Richter Sajó und Karakaş in ihrer „joint partly dissenting
and partly concurring opinion“, auf S. 64 des Urteils der
Großen Kammer (EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10
[Schatschaschwili v. Deutschland]).
77
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), joint concurring opinion of judges Spielmann,
Karakaş, Sajó, and Keller, Rn. 17. Dies sei kein Schritt in
Richtung einer Stärkung des Konfrontationsrechts (Rn. 19).
78
Anschaulich Gless (Fn. 28), S. 1369.
79
Gless, Beweisrechtsgrundsätze einer grenzüberschreitenden Strafverfolgung, 2006, S. 182 ff., 415 f.; Schuster, StV
2008, 396 (398); vgl. Schomburg/Lagodny, NJW 2012, 348
(353).
80
Kritisch gegenüber der Gesamtbetrachtung etwa bereits
Rzepka, Zur Fairneß im deutschen Strafverfahren, 2000,
S. 102 ff.; siehe auch Dehne-Niemann, HRRS 2010, 189
(193).
81
Hierzu Krausbeck (Fn. 16), S. 54; Renzikowski, in:
Hellmann/Schröder (Hrsg.), Festschrift für Hans Achenbach,
2011, S. 373 (378); Dehne-Niemann, HRRS 2010, 189 (192 f.);
Gaede, JR 2006, 292 (293).
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Vorgaben auch für größere Akzeptanz in den Konventionsstaaten.82 Gerade „Al-Khawaja u. Tahery“ und der Vortrag
der deutschen Regierung in „Schatschaschwili“ zeigen, dass
die Achtung der „national margin of appreciation“ von den
Vertragsstaaten der Konvention eingefordert wird. Schließlich ist es nicht Aufgabe des EGMR, als eine Art „Superrevisisonsinstanz“ die Details des nationalen Beweisrechts zu
überprüfen, sondern einen effektiven Menschenrechtsschutz
zu gewährleisten und die Konventionskonformität der nationalen Verfahrensweise zu überprüfen. 83 Dem kann er in geeigneter Weise durch eine globale Perspektive der Fairness
des Verfahrens in seiner Gesamtheit nachkommen. Erforderlich ist dabei nichtsdestotrotz, dass sich aus seinem Prüfungsmaßstab konkrete inhaltliche Anforderungen an eine
effektive Rechtsgewährung ableiten lassen.
Zwar erfordert die Stufenprüfung, vor allem auf der letzten Stufe, eine Abwägung der Einzelfallumstände, deren
Ergebnis häufig kaum eindeutig berechenbar ist. Kritikwürdig ist auch die Qualifizierung einer vorsichtigen Beweiswürdigung oder der Berücksichtigung der sonstigen „reaktiven“ Einwirkungsmöglichkeiten als Ausgleichsfaktoren. Wie
u.a. Esser, Gaede und Dehne-Niemann schon überzeugend
dargelegt haben, können diese ein Defizit bei der aktiven
Befragung auf der früheren Beweiserhebungsphase nicht
ausgleichen.84 Der auf eine ergebnisorientierte Einzelfallentscheidung zielende „Al-Khawaja Test“ ermöglicht aber letztlich den nötigen Ausgleich zwischen der Gewährung rechtsstaatlich erforderlicher, effektiver Verteidigungsrechte, dem
Erfordernis einer „funktionstüchtigen“ Strafverfolgung mit
dem Ziel der Wahrheitsfindung und schutzwürdigen Zeugeninteressen. Insgesamt qualifiziert sich die Ausformung des
Konfrontationsrechts durch den EGMR als ausreichend individualschützend. Gerade die von der Mehrheit getragenen
Klarstellungen in „Schatschaschwili“ führen durchaus zu
einer Präzisierung des „Al-Khawaja Tests“. Wenn hiermit
auch keine grundsätzliche Stärkung des Konfrontationsrechts
einhergeht, ermöglicht dieser doch jedenfalls eine gerechte,
im Einzelfall auch strenge Beurteilung der Konventionskonformität der nationalen Verfahrensweise und weist dem Konfrontationsrecht einen festen Kerngehalt zu. Diesen weiter
auszubauen, ist vor allem auch Aufgabe der nationalen
Rechtsordnung, der es frei steht, über den menschenrechtlichen Mindeststandard hinauszugehen. Sowohl den nationalen
82
Renzikowski (Fn. 81), S. 378.
Hierzu Krausbeck (Fn. 16), S. 53 f.; Zöller, ZJS 2010, 442
(443 f.); siehe auch Gless, ZStW 125 (2013), 573 (586 f.):
„Mindeststandards an sich schaffen kein zwischenstaatlich
harmonisiertes Beweisrecht.“
84
Eingehend Dehne-Niemann, HRRS 2010, 189 (195 f.,
199 ff.) m.w.N.; Esser, NStZ 2007, 106; Gaede (Fn. 65),
S. 733, 843 ff.; Demko (Fn. 18), Rn. 741 ff., 768 ff;
Gerdemann, Die Verwertbarkeit belastender Zeugenaussagen
bei Beeinträchtigungen des Fragerechts des Beschuldigten,
2010, S. 394 f.; Sommer, in: Krekeler/Löffelmann/Sommer
(Hrsg.), Anwaltkommentar Strafprozessordnung, 2. Aufl.
2010, Art. 6 EMRK Rn. 108, 110; speziell zu gesperrten
Zeugen Wohlers, StV 2014, 563 (564 f., 566).
83
Gerichten als auch dem EGMR obliegt es zukünftig, einen
strengen Maßstab anzulegen und den Kerngehalt des Konfrontationsrechts als Recht auf aktive Teilhabe an der Festschreibung der Urteilsgrundlage zu stärken. Die Entscheidung der Großen Kammer ist ein wichtiger Schritt in diese
Richtung.
IV. Zur Entscheidung des EGMR im konkreten Fall
1. Die Anwendung des „Al-Khawaja Tests“ auf den
konkreten Fall
Der EGMR befand auch in den Sondervoten die vom LG
Göttingen unternommenen Anstrengungen bis hin zur Annahme des sachlichen Grundes der Unerreichbarkeit der
Zeuginnen für ausreichend.85 Weitere verhältnismäßige Mittel hätten innerhalb der Hoheitsgewalt auf deutschem Territorium nicht zur Verfügung gestanden. Es habe insbesondere
nichts dafür gesprochen, dass bilaterale Verhandlungen mit
Lettland auf politischer Ebene innerhalb einer vernünftigen
Zeit zu einer Zeugenvernehmung geführt hätten.86
Auf der zweiten Prüfungsstufe wendet die Große Kammer
ihr nunmehr präzisiertes Schema an und kommt zu dem Ergebnis, dass die Aussagen der Zeuginnen für die Verurteilung
entscheidend waren.87
Im Rahmen der darauffolgenden Prüfung auf dritter Stufe
hebt sie die vorsichtige Beweiswürdigung durch das LG
hervor. Dabei bemerkt sie auch, dass das LG keine Videoaufzeichnung in Augenschein nehmen konnte, da die Zeugenvernehmungen nicht derart konserviert worden waren. Berücksichtigung findet überdies, dass weitere belastende Beweise vom Hörensagen und Indizienbeweise in die Entscheidungsfindung einbezogen wurden. Wesentliche Defizite
werden im Gegensatz zur Kammerentscheidung aber bei den
prozessualen Kompensationsmaßnahmen festgestellt. Zwar
habe der Beschwerdeführer die Möglichkeit gehabt, seine
Version des Geschehens vorzutragen und die Glaubwürdigkeit der ihm bekannten Zeuginnen auch bei der Konfrontation
der Zeugen vom Hörensagen in Frage zu stellen. 88 Es seien
aber weder die Möglichkeit, schriftlich Fragen an die Zeu-
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 133 ff.; siehe auch in der joint concurring
opinion der Richter Spielmann, Karakaş, Sajó, und Keller,
Rn. 11; die joint dissenting opinion der Richter Hirvelä, Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris, Rn. 9; die
dissenting opinion von Richter Kjølbro, Rn. 17, sowie die
Kammerentscheidung, Rn. 67 ff.
86
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 139. Die Kammerentscheidung (Rn. 71)
hatte darüber hinaus angenommen, dass angesichts der bereits länger andauernden Untersuchungshaft des Angeklagten
auch die Erwägungen des Gerichts zum Beschleunigungsgebot nicht unerheblich gewesen seien.
87
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 141 ff.
88
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 152.
85
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ginnen zu stellen, noch die Gelegenheit, sie im Ermittlungsverfahren zu befragen, gewährt worden. 89
Zwar sieht der EGMR unter Hinweis auf seine Gesamtbetrachtungsperspektive davon ab, die nationale Entscheidung,
keinen Verteidiger zu bestellen, zu überprüfen. Er bemerkt
aber, dass die Strafverfolgungsbehörden nach den Vorschriften der StPO, namentlich §§ 141 Abs. 3, 140 Abs. 1 StPO,
und deren Interpretation durch den BGH einen Verteidiger
hätten bestellen können, dem dann ein Anwesenheitsrecht
nach § 168c Abs. 2, 5 StPO zugestanden hätte. 90 Die Befragungsweise von Belastungszeugen im Ermittlungsverfahren
sei von großer Bedeutung und prägend für die Fairness des
Gerichtsverfahrens, wenn zentrale Belastungszeugen in der
Hauptverhandlung nicht gehört werden könnten und dafür
Beweise aus dem Ermittlungsverfahren eingeführt würden. 91
Unter solchen Umständen sei die Fairness des Verfahrens in
seiner Gesamtheit entscheidend davon abhängig, ob die
Strafverfolgungsbehörden zum Zeitpunkt der Zeugenbefragung im Ermittlungsverfahren in der Annahme handelten,
dass der Zeuge in der Gerichtsverhandlung nicht mehr gehört
werden könne. In einem solchen Fall, sei es zur Sicherung
der Verteidigungsrechte essentiell, dann bereits die Möglichkeit zu erhalten, Fragen an den Zeugen zu stellen. 92 Die
Mehrheit der Großen Kammer ist davon überzeugt, dass die
Befragung durch den Richter zur Beweissicherung und daher
gerade in der Annahme stattfand, dass die Zeuginnen möglicherweise nicht in der Verhandlung in Deutschland erscheinen würden und das Protokoll einer richterlichen Vernehmung gem. § 251 Abs. 2 StPO leichter als das der nichtrichterlichen Vernehmung als Beweissurrogat eingeführt werden
könnte. Diese Überzeugung stützt sie auch auf den Umstand,
dass die Zeuginnen Angst vor Racheakten der Täter sowie
Problemen mit der Polizei hatten und sie die Tat deshalb auch
nicht direkt selbst zur Anzeige gebracht hatten. 93 Die Strafverfolgungsbehörden hätten das sich später auch realisierte
Risiko in Kauf genommen, dass weder dem Angeklagten
noch dem Verteidiger zu irgendeinem Zeitpunkt eine Konfrontationsmöglichkeit gewährt werden würde.94 Im Rahmen
der Betrachtung der Fairness des Verfahrens in seiner Gesamtheit kommt die Mehrheit zu dem Schluss, dass kaum
prozessuale Schutzmechanismen ergriffen wurden, um das
Verteidigungsdefizit aus dem Ermittlungsverfahren in der
Hauptverhandlung zu kompensieren. Das Fehlen einer Möglichkeit, die Zeuginnen zu irgendeinem Zeitpunkt im Verlaufe des Verfahrens zu befragen, mache das Verfahren – trotz
89
EGMR, Urt. v. 15.12.2015
Deutschland), Rn. 153.
90
EGMR, Urt. v. 15.12.2015
Deutschland), Rn. 155.
91
EGMR, Urt. v. 15.12.2015
Deutschland), Rn. 156.
92
EGMR, Urt. v. 15.12.2015
Deutschland), Rn. 157, 162.
93
EGMR, Urt. v. 15.12.2015
Deutschland), Rn. 158 f.
94
EGMR, Urt. v. 15.12.2015
Deutschland), Rn. 160.
– 9154/10 (Schatschaschwili v.
– 9154/10 (Schatschaschwili v.
– 9154/10 (Schatschaschwili v.
– 9154/10 (Schatschaschwili v.
– 9154/10 (Schatschaschwili v.
– 9154/10 (Schatschaschwili v.
zusätzlicher belastender Beweise und einer sorgfältigen,
begründeten Beweiswürdigung – insgesamt unfair.95
Die Sondervoten, wie auch die Kammerentscheidung, 96
messen den Ausgleichsmaßnahmen dagegen größeres Gewicht bei und billigen die Verfahrensweise im Ermittlungsverfahren, sodass sie eine ausreichende Kompensation des
Verteidigungsdefizits annehmen.97 Insbesondere gehen die
abweichenden Stimmen davon aus, dass die Strafverfolgungsbehörde im Ermittlungsverfahren nicht in der Annahme
verfahren ist, die Zeuginnen würden in der Hauptverhandlung
nicht mehr gehört werden können. Zwar sei die richterliche
Vernehmung aufgrund der vorherzusehenden Rückreise der
Zeuginnen nach Lettland zur Beweissicherung vorgenommen
worden. Die Tatsache, dass die Rückkehr ins Ausland vorhersehbar gewesen sei, könne aber nicht mit der Annahme
gleichgestellt werden, dass es unmöglich sein würde, diese
etwa audiovisuell in der Hauptverhandlung vernehmen zu
können.98 Lettland sei an internationale Verträge gebunden,
um Rechtshilfe in Strafsachen, etwa bei der audiovisuellen
Vernehmung von Zeugen, zu leisten. 99 Richter Kjølbro ist
daher der Meinung, dass die Mehrheit der Großen Kammer
die Bedeutung des Ermittlungsverfahrens und die Entscheidung, keinen Verteidiger zu bestellen und diesen sowie den
Beschuldigten nicht zu unterrichten, überbewertet. Die
Mehrheit beachte den Sinn und Zweck der Kompensationsmaßnahmen zu wenig, der darin liege, eine faire und verlässliche Würdigung der Zuverlässigkeit der Beweise zu ermög-
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 162 ff.
96
Siehe das Urteil der Kammer in EGMR, 17.4.2014 –
9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 75, 77 f.;
vgl. Lohse, JR 2015, 60 (62).
97
Siehe die joint dissenting opinion der Richter Hirvelä,
Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris, in:
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 10 ff., die dissenting opinion von Richter
Kjølbro, in: EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10
(Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 21 ff. sowie die
Kammerentscheidung EGMR, Urt. v. 17.4.2014 – 9154/10
(Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 75 ff.
98
Joint dissenting opinion der Richter Hirvelä, Popović,
Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris, in: EGMR, Urt. v.
15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn.
14 f.; dissenting opinion von Richter Kjølbro, in: EGMR,
Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 28.
99
Joint dissenting opinion der Richter Hirvelä, Popović,
Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris, in: EGMR, Urt. v.
15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland), Rn.
15. Zur Untermauerung ihrer Argumentation verweisen sie
auf den Vortrag des Beschwerdeführers, dass er eine erneute
Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren nicht beantragt
habe, weil er davon ausging, die Zeuginnen in der Hauptverhandlung befragen zu können.
95
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lichen.100 Dies sei aufgrund des gesamten Beweisspektrums
im Rahmen der detaillierten und begründeten Beweiswürdigung geschehen. Die Mehrheitsentscheidung sei ein Beispiel
für eine eher formale Herangehensweise an die Bedeutung
prozessualer Garantien, bei der das Versagen bestimmter
prozessualer Garantien im Vorverfahren den gewonnenen
Beweis illegal werden ließe, obwohl die Verwendung dieses
Beweises das Verfahren als Ganzes bei einer Gesamtbetrachtung nicht unfair werden lasse.101
2. Bewertung der Entscheidung
Dass die Kammer und die Große Kammer unter Anwendung
desselben Prüfungsschemas in dem zentralen Streitpunkt um
eine ausreichende Kompensation zu unterschiedlichen Ergebnissen mit jeweils abweichenden Meinungen gelangen,
belegt, wie schwierig die Entscheidung in dieser Sache fällt.
Das Votum von Richter Kjølbro ist bezeichnend für die
globale Perspektive des EGMR. Durch seine Zurückhaltung
bei der Beurteilung der Verfahrensfairness unter Achtung
nationaler Beurteilungsspielräume bei beweisrechtlichen
Entscheidungen bestätigte das Kammerurteil aus dem Jahr
2014 diesen Standpunkt.
Das Urteil der Großen Kammer übermittelt dagegen die
eindringliche Botschaft, dass eine sorgfältige Beweiswürdigung sowie Indizienbeweise allein als Kompensationsmaßnahmen nicht genügen können, wenn theoretisch vorhandene
Schutzmechanismen praktisch nicht effektiv genutzt wurden.
Es appelliert an eine Stärkung des Konfrontationsrechts im
Ermittlungsverfahren, wenn dort die Gefahr gesehen wird,
dass der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht mehr für eine
konfrontative Befragung zur Verfügung stehen wird. Damit
konstituiert die Entscheidung ein Handlungsgebot für die
Strafverfolgungsbehörden und Ermittlungsrichter, dessen
Missachtung bei unzureichenden Ausgleichsfaktoren eine
Konfrontationsrechtsverletzung begründet. Konsequent wird
hiermit auch die strenge Linie des EGMR aus der Sache
Hümmer v. Deutschland102 fortgeführt. Bereits in diesem
Urteil aus dem Jahr 2012 hat der EGMR ein erhebliches
Defizit in dem Umstand gesehen, dass dem Beschuldigten
entgegen der von der deutschen Rechtsprechung geforderten
konventionskonformen Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO
kein Verteidiger in den ermittlungsrichterlichen Vernehmungen zentraler zeugnisverweigerungsberechtigter Zeugen bestellt worden war.
Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Bereits im Ermittlungsverfahren werden bekanntlich die entscheidenden Wei-
100
Dissenting opinion von Richter Kjølbro, in: EGMR, Urt.
v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland),
Rn. 29 f.
101
Dissenting opinion von Richter Kjølbro, in: EGMR, Urt.
v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v. Deutschland),
Rn. 34.
102
EGMR, Urt. v. 19.7.2012 – 26171/07 (Hümmer v.
Deutschland), Rn. 43, 47 f., 52 f. = NJW 2013, 3225 (3227 f.)
m. Anm. Pauly, StV 2014, 456.
chen für den weiteren Verfahrensverlauf gestellt. 103 Eine
zentrale Bedeutung nehmen Ermittlungshandlungen des Vorverfahrens erst Recht ein, wenn auf die dort erhobenen Beweise in der Hauptverhandlung zurückgegriffen wird und sie
in die Urteilsgrundlage einfließen. Ein Verfahrensfehler im
Ermittlungsverfahren schlägt sich dann in nicht wiedergutzumachender Weise im späteren Hauptverfahren nieder.
Bereits dann eine Befragungsmöglichkeit für den Beschuldigten oder den Verteidiger einzuräumen, wenn vermutet wird,
der Zeuge werde in der Hauptverhandlung nicht mehr für
eine konfrontative Befragung zur Verfügung stehen, ist
zwingende Voraussetzung zur Gewährleistung eines fairen,
auf Waffengleichheit zielenden Verfahrens. 104 Es gilt zu
verhindern, dass im Ermittlungsverfahren unter Verletzung
des Anspruchs des Beschuldigten auf rechtliches Gehör aus
Art. 103 Abs. 1 GG ein für den Schuldnachweis möglicherweise entscheidendes Beweisergebnis herbeigeführt wird,
ohne dass der Beschuldigte und/oder sein Verteidiger Gelegenheit hatten, hierauf Einfluss zu nehmen.105 Wird die entscheidungsrelevante Beweisaufnahme vorverlagert, müssen
im Grunde die auch in der Hauptverhandlung geltenden Verteidigungsrechte eingeräumt werden. 106 Es ist somit nicht nur
das Konfrontationsrecht, sondern eine umfassende wirksame
Verteidigung sicherzustellen.107
a) Zu den Anforderungen an die Prognose der Unmöglichkeit
der Zeugenkonfrontation in der Hauptverhandlung
Näherer Betrachtung bedarf allerdings, ob die Mehrheit der
Richter hier zu Recht davon ausgeht, dass im Ermittlungsverfahren in der Annahme verfahren wurde, die zukünftigen
Auslandszeuginnen würden für eine spätere konfrontative
Befragung in der Hauptverhandlung nicht mehr verfügbar
sein. Immerhin stand nicht sicher fest, dass sie ihre weitere
Mitwirkung verweigern würden.
Nach ständiger Rechtsprechung – sowohl der nationalen
Gerichte als auch des EGMR – begründet allein der Auslandsaufenthalt noch nicht die Unerreichbarkeit des Zeugen.108 Vielmehr müssen alle möglichen und vernünftigen
103
Vgl. nur Zöller (Fn. 25), S. 400; Krüger, Unmittelbarkeit
und materielles Recht, 2014, S. 58 m.w.N.; Krausbeck
(Fn. 16), S. 98; Esser, in: Esser/Jäger/Günther/Mylonopoulos/Öztürk (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heiner Kühne zum
70. Geburtstag, 2013, S. 539 (543).
104
Vgl. Wohlers/Albrecht, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer
Kommentar zur Strafprozessordnung, GVG und EMRK, Bd.
3, 5. Aufl. 2016, § 168c Rn. 18, 29, 30.
105
Vgl. BVerfG NJW 2006, 672 (673); BGHSt 26, 332
(335); Zöller, in: Gercke/Julius/Temming/Zöller (Hrsg.),
Heidelberger Kommentar zur Strafprozessordnung, 5. Aufl.,
2012, § 168c Rn. 1.
106
v. Stetten (Fn. 19), S. 1060.
107
Siehe Fezer, JZ 2001, 363 (364); Schlothauer, StV 2001,
127 (128 f.); Endriss, in: Hanack/Hilger/Mehle/Widmaier
(Fn. 28), S. 65 (74 f.); Mehle (Fn. 19), S. 286 m.w.N.; v.
Stetten (Fn. 19), S. 1059 f.
108
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 120 f. m.w.N.; siehe auch EGMR, Urt. v.
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ZIS 1/2017
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Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge
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Bemühungen („all reasonable efforts“) angestrengt worden
sein, um die Anwesenheit des Zeugen sicherzustellen. Bei
Zeugen im Ausland ist hierzu insbesondere erforderlich, dass
die verfügbare internationale Rechtshilfe in Anspruch genommen wurde.109 Insoweit verweisen die Sondervoten zutreffend auf bestehende völkerrechtliche Rechtshilfeverpflichtungen. Besonders im EU-Rechtsraum hat sich die
traditionelle Beweisrechtshilfe durch verschiedene Rechtsinstrumente mit dem Ziel der Effektivierung der grenzüberschreitenden Beweissammlung hin zu einer justiziellen Zusammenarbeit auf Basis des Grundsatzes der gegenseitigen
Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen, vgl.
Art. 82 Abs. 1 AEUV, weiterentwickelt. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zeichnet sich in vielen Bereichen
durch Akzeptanz ausländischer (Justiz-)Entscheidungen, wie
Europäischen Ermittlungsanordnungen110, und Toleranz gegenüber fremden Rechtsgebieten aus.111 Es würde dem auf
10.4.2012 – 8088/05 (Gabrielyan v. Armenien), Rn. 81 ff.;
EGMR, Urt. v. 17.11.2005 – 73047/01 (Haas v. Deutschland)
= NStZ 2007, 103 (104 f.); EGMR, Urt. v. 14.12.1999 –
37019/97 (A.M. v. Italien), Rn. 27; BGH NJW 1953, 1522;
BGH NJW 2000, 443 (447); Rose, Der Auslandszeuge im
Beweisrecht des deutschen Strafprozesses, 1999, S. 162 ff.,
294 ff., 448 ff. mit umfangreichen Nachweisen zu Rechtsprechung und Literatur; Sander/Cirener, in: Erb u.a. (Hrsg.),
Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 6/1, 26. Aufl., 2010, § 251 Rn. 30, 65;
Velten (Fn. 52), § 251 Rn. 20, 35; Jäger, in: Erb u.a. (a.a.O),
§ 223 Rn. 11; Schuster, Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweise im deutschen Strafprozess, 2006, S. 164 ff.
109
Siehe die vorigen Nachweise sowie EGMR, Urt. v.
3.3.2011 – 31240/03 (Kzukovskiy v. die Ukraine), Rn. 45;
siehe auch Vogler, in: Ruggeri (Hrsg.), Transnational Inquiries and the Protection of Fundamental Rights in Criminal
Proceedings, 2013, S. 27, 32, 38; Klip, Buitenlandse getuigen
in strafzaken, 1994, S. 354, 367 f.
110
Siehe die Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3.4.2014 über die Europäische
Ermittlungsanordnung in Strafsachen, Abl. EU 2014 Nr. L
130 v. 1.5.2014, S. 1 ff. (RL EEA).
111
Vgl. hierzu Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl.,
2015, Kap. 2 Rn. 64 ff.; Gleß/Schomburg, in: Schomburg/
Lagodny/Gleß/Hackner (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in
Strafsachen, 5. Aufl. 2012, Kap. III B 1 Rn. 9 ff.;
Hackner/Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 2. Aufl., 2012, Rn. 17. Letzteres wird insbesondere
durch die Etablierung des Grundsatzes „forum regit actum“
in Regelungen des EU-RhÜbk (Übereinkommen vom
29.5.2000 – gemäß Art. 34 des Vertrags über die Europäische
Union vom Rat erstellt – über die Rechtshilfe in Strafsachen
zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Abl.
EG 2000 Nr. C 197 v. 12.7.2000, S. 3 ff.) sowie der RL EEA
belegt. Vgl. Art. 4 Abs. 1 EU-RhÜbk, Art. 9 Abs. 2 RL-EEA;
speziell für die audiovisuelle Vernehmung Art. 10 Abs. 5
lit. c EU-RhÜbk, Art. 24 Abs. 5 lit. c RL. Ganz ähnliche
Vorschriften gelten sogar auf Ebene des Europarats, vgl. Art.
9 2. ZP-EuRhÜbk (Zweites Zusatzprotokoll vom 8.11.2001
gegenseitigem Vertrauen aufbauenden Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung widersprechen, ohne weitere Anhaltspunkte bereits im Ermittlungsverfahren anzunehmen, dass der
später im Ausland verweilende Zeuge für eine konfrontative
Befragung in der Hauptverhandlung nicht mehr verfügbar
sein wird, und darüber hinaus eine generelle Skepsis gegenüber der Verlässlichkeit der grenzüberschreitenden Beweisrechtshilfe zum Ausdruck bringen. Paradox erschiene dies
gerade auch deshalb, weil die auf EU-Ebene angenommene
Basis gegenseitigen Vertrauens vor allem auf der Idee gründet, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Werte teilen und
sich zur effektiven Gewährung von Grund- und Menschenrechten verpflichtet haben, vgl. Art. 6 EUV.
Zu Recht wird daher angenommen, dass eine Pflicht zur
Ermöglichung einer konfrontativen Befragung (erst) dann
besteht, wenn konkrete Anhaltspunkte für den späteren Ausfall in der Hauptverhandlung sprechen. 112 Zu erwähnen ist in
diesem Zusammenhang, dass die erforderliche Prognoseentscheidung der StPO nicht fremd ist. Die Besorgnis, dass der
Zeuge in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden
kann, ist Voraussetzung des § 58a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO,
nach dem die Vernehmung eines Zeugen – bei Hinzutreten
der Erforderlichkeit zur Erforschung der Wahrheit – aufgezeichnet werden und als richterliche erfolgen soll. Auch diese
Besorgnis muss anhand objektiver Anhaltspunkte oder nach
kriminalistischer Erfahrung vorhersehbar sein. 113 Eine ähnliche Voraussage hat die Staatsanwaltschaft überdies zu treffen, um ihrer Verpflichtung zur Beweissicherung aus § 160
Abs. 2 StPO nachzukommen – nach Möglichkeit durch die
Veranlassung einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung.114
Als typischer Anwendungsfall, in dem zu besorgen ist, dass
der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden
kann, und der eine Beweissicherung erfordert, ist gerade ein
bevorstehender (längerer) Auslandsaufenthalt, welcher für
ein Erscheinen in der Hauptverhandlung nicht unterbrochen
werden kann oder es zweifelhaft erscheinen lässt, ob der
Zeuge für die Hauptverhandlung verfügbar sein wird, anerkannt.115 Konkret wäre die Prognose der Unverfügbarkeit des
zum Europäischen Übereinkommen vom 20.4.1959 über die
Rechtshilfe in Strafsachen) für die audiovisuelle Vernehmung, Art. 8 2. ZP-EuRhÜbk für die Einhaltung der ausdrücklich vom ersuchenden Staat angegebenen Formvorschriften und Verfahren.
112
Krausbeck (Fn. 16), S. 249; Esser, in: Erb u.a. (Hrsg.),
Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 11, 26. Aufl., 2012, Art. 6 EMRK
Rn. 795; siehe auch den AE-Beweisaufnahme, GA 2014, 1
(12, 64).
113
Siehe Senge, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar
zur Strafprozessordnung, 7. Aufl., 2013, § 58a Rn. 7; Huber,
in: Graf (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, Strafprozeßordnung, Stand: 1.10.2016, § 58a Rn. 9.
114
Zöller (Fn. 1055), § 160 Rn. 9.
115
Vgl. BT-Drs. 13/7165, S. 6: „Auch bei Zeugen, deren
Rückkehr ins Ausland bevorsteht, bei denen zweifelhaft erscheint, ob sie den Hauptverhandlungstermin wahrnehmen
können, deren Aussage jedoch von erheblicher Bedeutung ist,
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Zeugen in der Hauptverhandlung etwa zu bejahen, wenn der
Zeuge vor einer Abschiebung steht und er seine weitere Kooperation ausdrücklich verweigert oder er sich, etwa als Tatbeteiligter, einer erneuten Aussage durch eine Flucht ins
Ausland entziehen will.116 Gerade wenn sich die Ausreise des
Zeugen ankündigt und dieser in die Tat verwickelt ist, sich
vor Repressalien fürchtet oder ihm ein Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrecht zusteht, bedarf es einer beweissichernden Vernehmung unter Einräumung einer Befragungsmöglichkeit.117 Im Fall „Schatschaschwili“ sprachen zwar
keine zwingenden Belege für die spätere Unverfügbarkeit
von O und P. Aus dem Verfahrensgeschehen und der konkreten Situation der Zeuginnen ergaben sich aber hinreichende
Anhaltspunkte, die die spätere Unerreichbarkeit in der
Hauptverhandlung befürchten ließen. 118 Die Mehrheitsentscheidung stützt ihre Annahme daher richtigerweise nicht nur
auf die Ankündigung der Zeuginnen, baldmöglichst nach
Lettland zurückzukehren, sondern berücksichtigt darüber
hinaus ihre besondere Situation, insbesondere die späte Anzeigeerstattung aus Angst vor Problemen mit der Polizei und
Racheakten der Beschuldigten.119 O und P wollten ihren –
aus ihrer Sicht wohl illegalen – Aufenthalt und ihre Tätigkeit
nicht öffentlich machen.120 Gerade bei Opfern von Gewalttaten ist schließlich nicht untypisch, dass sie das Erlebte nicht
oder nur ungern noch einmal nachvollziehen wollen. Die
Sondervoten schenken diesen besonderen Fallumständen zu
geringe Beachtung, indem sie lediglich auf die vorhersehbare
Rückkehr der Zeuginnen nach Lettland abstellen.121 Bei der
gegebenen Sachlage können theoretische Rechtsverpflichtungen nicht ausreichen, um auf eine vorsorgliche Gewährung
des Konfrontationsrechts verzichten zu dürfen. Beachtenswert ist insoweit auch, dass der EGMR vornehmlich die Vorhersehbarkeit einer künftigen Befragung des Zeugen in einer
Verhandlung vor Gericht in Deutschland, also den Idealfall
einer Konfrontation, in den Blick nimmt. 122 Eine mögliche
(kommissarische, konsularische oder sonstige) Vernehmung
im Ausland in Anwesenheit des Angeklagten bzw. des Verteidigers oder die Gelegenheit, schriftlich Fragen an den
Auslandszeugen zu stellen, würde das Prognoseergebnis
folglich nicht ändern, wenngleich eine solche zweifellos als
wichtiger Ausgleichsfaktor zum Tragen kommen würde. 123
Siehe EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10
(Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 159.
120
Vgl. EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10
(Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 11, 25, und Rn. 2 der
dissenting opinion von judge Power-Forde. Hier wird noch
ein illegaler Aufenthalt angenommen.
121
Siehe die joint dissenting opinion der Richter Hirvelä,
Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris, in:
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 15.
122
Siehe EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10
(Schatschaschwili v. Deutschland), Rn. 157 („In such circumstances, it is vital for the determination of the fairness of
the trial as a whole to ascertain whether the authorities, at the
time of the witness hearing at the investigation stage, proceeded on the assumption that the witness would not be heard
at the trial. Where the investigating authorities took the reasonable view that the witness concerned would not be examined at the hearing of the trial court […]“ (Hervorhebungen
durch Verf.). In Rn. 160 stellt der EGMR dagegen auf das
Risiko des Ausfalls der Konfrontations-möglichkeit während
des gesamten Verfahrens ab („By proceeding in that manner,
they took the foreseeable risk, which subsequently materialised, that neither the accused nor his counsel would be able to
question O. and P. at any stage of the proceedings […].“
[Hervorhebungen durch Verf.]).
123
Hierfür spricht, dass die Zeugenkonfrontation idealerweise
in öffentlicher Verhandlung auch vor den Augen des zur
Entscheidung berufenen Gerichts stattfinden sollte (siehe
EGMR, Urt. v. 13.3.2012 – 5605/04 [Karpenko v. Russland],
Rn. 70, zitiert bereits in Fn. 28). Eine spätere Vernehmung im
Ausland mag außerdem trotz der gebotenen Einhaltung inländischer Verfahrensregeln nicht immer eine gleich effektive Konfrontationsmöglichkeit eröffnen. Die Ermittlungsbehörden im Inland sind mit den Einzelheiten des Verfahrens in
der Regel vertrauter und noch näher am Tatgeschehen, sodass
119
wird es sich in der Regel als zweckmäßig erweisen von der
Vernehmung eine Bild-Ton-Aufzeichnung herzustellen.“;
Gercke, in: Gercke/Julius/Temming/Zöller (Fn. 106), § 58a
Rn. 9; Vogel, Erfahrungen mit dem Zeugenschutzgesetz,
2003, S. 30; Senge (Fn. 113), § 58a Rn. 3; Wohlers/Albrecht
(Fn. 104), § 160 Rn. 26.
116
Vgl. Krausbeck (Fn. 16), S. 250 m.w.N.
117
Siehe Esser (Fn. 112), Art. 6 EMRK Rn. 795; zum auskunftsverweigerungsberechtigten Mitbeschuldigten siehe
ders., JR 2005, 248 (252 f.); demgegenüber eine stärkere
Vorhersehbarkeit der Aussageverweigerung fordernd
Krausbeck (Fn. 16), S. 249 Fn. 53; siehe auch BVerfG NJW
2007, 204 (205 ff.), einen Verstoß gegen das Konfrontationsrecht bei Unmöglichkeit der Befragung des in der Hauptverhandlung die Auskunft verweigernden, lediglich im Ermittlungsverfahren polizeilich vernommenen Mitbeschuldigten
ablehnend; siehe auch BGH NStZ 2009, 581.
118
Da auch die Erforderlichkeit der Aufzeichnung zur Erforschung der Wahrheit i.S.d. § 58a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO zu
bejahen gewesen wäre, ist ein Verfahrensfehler auch in der
unterbliebenen Videoaufzeichnung zu sehen. Eine solche
dient als wichtiger Kompensationsfaktor. Ob sie zu einem
anderen Gesamturteil der Großen Kammer geführt hätte,
muss aber bezweifelt werden. In den überwiegenden Fällen
hat der EGMR bisher – zu Recht – auch bei Vorliegen einer
Videoaufzeichnung eine aktive Befragungsmöglichkeit verlangt. Siehe etwa EGMR, Urt. v. 28.9.2010 – 40156/07 (A.S.
v. Finnland), Rn. 62 ff. = NJOZ 2011, 1739, 1741; EGMR,
Urt. v. 19.12.2013 – 26540/08 (Rosin v. Estland), Rn. 62.
Anders dagegen EGMR, Urt. v. 2.4.2013 – 25307/10 (D.T. v.
die Niederlande), Rn. 17 ff., 47 ff, wo die Gefahr einer Schädigung des Kindeswohls die Verteidigungsinteressen überwog. Die Glaubhaftigkeit der Aussage des Kindes war außerdem von vier Sachverständigen untersucht worden, die selbst
konfrontativ befragt wurden.
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Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge
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Möchte der Zeuge im Ausland bleiben, kann lediglich die
audiovisuelle Vernehmung gem. § 247a StPO als eine Vernehmung in der Hauptverhandlung qualifiziert werden. 124
Allerdings ist auch im heutigen Medienzeitalter kaum sicher
vorhersehbar, ob eine solche tatsächlich und in guter Qualität
stattfinden wird.125
Dass die Staatsanwaltschaft selbst von dem späteren Beweisverlust ausgegangen ist, wird schließlich durch die Veranlassung einer beweissichernden, ermittlungsrichterlichen
Vernehmung dokumentiert, vgl. §§ 160 Abs. 2, 162 StPO,
Nr. 10 RiStBV. Insoweit kann die Argumentation der Mehrheitsentscheidung überzeugen. Zu befürworten ist daher auch
die Forderung, in jedem Fall einer (ermittlungsrichterlichen)
Zeugenvernehmung zur Beweissicherung einen Verteidiger
zu bestellen.126 Schärfen die Ermittlungsbehörden aufgrund
der Besorgnis eines Beweisverlusts ihre Waffen in Form
einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung, bedarf es zur
Sicherung der Waffengleichheit zugleich zwingend einer
Stärkung des Verteidigungsrechts.
eine intensivere Überprüfung der Zeugenaussage möglich
sein mag. Der bei der ausländischen Vernehmung mit anwesende deutsche Staatsanwalt, Richter und Verteidiger kann
zudem möglicherweise nicht so intensiv wie gewünscht auf
Verfahrensablauf und -inhalt sowie die Protokollierung einwirken (vgl. Schuster [Fn. 108], S. 197). Eine persönliche
Befragung des Zeugen im Ermittlungsverfahren ist zudem
effektiver als die Formulierung und Übersendung eines starren Fragenkatalogs.
124
Vgl. die joint dissenting opinion der Richter Hirvelä,
Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris, in:
EGMR, Urt. v. 15.12.2015 – 9154/10 (Schatschaschwili v.
Deutschland), Rn. 15, die vor allem auf die rechtshilferechtliche Verpflichtung bei der Vernehmung per Videokonferenz
hinweisen.
125
Die Auffassungen zur videokonferenztechnischen Infrastruktur der gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Praxis
sowie zum technischen Funktionieren divergieren. Während
teilweise darauf verwiesen wird, dass die Ausrüstung im Inund Ausland flächendeckend einwandfrei ist (Kretschmer, JR
2006, 453 [456]; zu den Erfahrungen mit der Videotechnik
im Ausland siehe auch Swoboda, Videotechnik im Strafverfahren, 2002, S. 90 ff.), wird an anderer Stelle die meist noch
fehlende technische Ausstattung als Grund für den geringen
Einsatz in der gerichtlichen Praxis angeführt (vgl. den Gesetzentwurf des Bundesrates zum Gesetz zur Intensivierung
des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen
und staatsanwaltschaftlichen Verfahren vom 24.3.2010, BTDrs. 17/1224, S. 1, 10, 12; Groenhuijsen/Selçuk, ZStW 126
[2014], 248 [262]). Angaben zu Standorten von Videokonferenzanlagen, Ansprechpartnern sowie zu den technischen
Gegebenheiten im EU-Rechtsraum finden sich unter:
https://e-justice.europa.eu/content_videoconferencing-69de.do (1.1.2017).
126
So auch Mehle (Fn. 19), S. 253 f., 286 (jedenfalls bei
gleichzeitiger Annahme einer notwendigen Verteidigung).
b) Reichweite der vorsorglichen Gewährung des Konfrontationsrechts
Wenn es sich im vorliegenden Fall auch um die – auch in
BGHSt 46, 93 einschlägige – Konstellation einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung zentraler Belastungszeugen in
einem Fall notwendiger Verteidigung handelt, beschränkt
sich die Pflicht zur Gewährleistung des Verteidigungsrechts
allerdings nicht auf diese. Das Konfrontationsrecht gilt bei
jedem Tatvorwurf gegenüber jedem Zeugen, unabhängig vom
Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 141, 140 StPO, von
dem prognostizierten Gewicht des Belastungsbeweises und
auch von der die Vernehmung durchführenden Person (Polizeibeamter, Staatsanwalt oder Richter).127
Um eine umfassende vorsorgliche Konfrontation auch
unabhängig von der Notwendigkeit der Verteidigung zu ermöglichen, scheint ein gangbarer Weg zunächst eine konventionskonforme Auslegung des § 141 Abs. 3 S. 1 StPO.128
Beachtlich ist allerdings, dass der Staatsanwaltschaft als
Herrin des Ermittlungsverfahrens nach vom BGH 129 bestätigter Rechtsprechung ein Antragsmonopol130 zukommt. Der für
die Bestellung gem. § 141 Abs. 4 StPO zuständige Richter
darf demnach erst auf Antrag der Staatsanwaltschaft tätig
werden, welcher gem. § 141 Abs. 3 S. 2 StPO wiederum an
die Voraussetzungen des § 140 StPO anknüpft. Denkbar wäre
daher allenfalls, bei der Vernehmung eines zukünftig voraussichtlich unerreichbaren Zeugen in Abwesenheit des Beschuldigten, die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage
oder das Unvermögen des Beschuldigten, sich selbst zu ver127
Krausbeck (Fn. 16), S. 251, 253, 255 ff., 270; Esser, JR
2005, 248 (252); Gerdemann (Fn. 84), S. 154 ff., 368; Erb,
in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 5, 26. Aufl.
2008, § 168c Rn. 9a; a.A. wohl Mehle (Fn. 19), S. 289. Mehle
begründet dies damit, dass dem Verteidiger lediglich im
Rahmen einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung eines
Zeugen ein Anwesenheitsrecht zusteht. Die Justiz sei insofern
nicht verpflichtet, eine Verfahrenslage auszugleichen. Es sei
lediglich Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK verletzt, ohne dass eine
Verteidigerbestellung nach der Rechtsprechung des Senats
erforderlich wäre. Damit verkennt er aber die Bedeutung
gerade des Konfrontationsrechts, welches in jedem Fall eines
Ausgleichs bedarf.
128
Krausbeck (Fn. 16), S. 256 f.
129
BGH NJW 2015, 3383 (3384), m. abl. Anm. MüllerJacobsen, NJW 2015, 3385.
130
Siehe Zöller (Fn. 25), S. 399 (410 ff.), auch zu der v.a. mit
Blick auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK überzeugenden Annahme, dem Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren das
Recht einzuräumen, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers
zu beantragen. Für ein solches Antragsrecht mit der Folge
einer gerichtlichen Entscheidung hierüber auch der Bericht
der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und
des jugendgerichtlichen Verfahrens, 2015, S. 43 ff. Zu Kritikpunkten der derzeitigen Ausgestaltung des § 141 Abs. 3,
insbesondere Satz 2 StPO siehe auch Esser (Fn. 103), S. 545
ff.
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Diana Thörnich
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teidigen, i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO anzunehmen. 131 Auch um
die Vorgaben aus Straßburg erkennbar umzusetzen, erscheint
daher eine Regelung in § 141 StPO zur erforderlichen Verteidigerbestellung bereits im Ermittlungsverfahren zur Sicherung des Verteidigungsrechts auch unabhängig von den Voraussetzungen des § 140 StPO wünschenswert.132
Der EGMR wird angesichts des auf den „sole or decisive“-Beweis beschränkten Überprüfungsmaßstabs zwar nur
die vorsorgliche Gewährleistung gegenüber wichtigen Zeugen überwachen. Um das gegenüber jedem Belastungszeugen
bestehende Konfrontationsrecht stark auszugestalten, verbietet sich eine solche Beschränkung aber auf nationaler Ebene.
Häufig offenbart erst eine kritische Durchleuchtung durch
den Beschuldigten bzw. seinen Verteidiger, wie glaubhaft die
belastende Aussage tatsächlich ist. Kommt es bei der begründeten Annahme eines künftigen Beweisverlusts auch regelmäßig zur Vernehmung durch einen Ermittlungsrichter, dürfen außerdem auch die nichtrichterlichen Vernehmungen
nicht ausgeschlossen werden. Schließlich können auch die
Ergebnisse einer „nur“ polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Vernehmung ins Hauptverfahren transferiert werden.
Beachtlich ist insoweit auch, dass der bei Auslandszeugen
meist einschlägige § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO aufgrund der
häufig nur eingeschränkten Möglichkeiten zur Beibringung
des Zeugen im Ausland letztlich kaum größere Voraussetzungen aufstellt als § 251 Abs. 2 Nr. 1 StPO.133
c) Beachtliches Verschuldensmaß und Folge der Rechtsverletzung im nationalen Strafverfahren
Deutlich wird, dass der EGMR die staatliche Verantwortlichkeit in die Prüfung der Rechtsverletzung einfließen lässt,
auch wenn er im Ausgangspunkt nicht die Forderung nach
Ausgleichsmechanismen hiervon abhängig macht. 134 Be131
Siehe Esser, JR 2005, 248 (251 Fn. 45), der bereits darauf
hinweist, dass Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK § 140 Abs. 2 StPO
konkretisiert.
132
Wie bereits BGHSt 46, 93 (99), feststellte, sollte auch der
Ermittlungsrichter nicht von der Verantwortung entbunden
sein, für ein konventionsgerechtes Verfahren mit Sorge zu
tragen. Überzeugen kann daher die Forderung von Erb
(Fn. 127), § 168c Rn. 9a, auch dem Ermittlungsrichter die
Befugnis zuzubilligen, von sich aus einen Verteidiger zu
bestellen. Befürwortend auch Gerdemann (Fn. 84), S. 159.
Zu begrüßen ist daher § 141 Abs. 3 S. 4 StPO-E des Regierungsentwurfs eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens, wonach das
Gericht, bei dem eine richterliche Vernehmung durchzuführen ist, dem Beschuldigten auf Antrag der Staatsanwaltschaft
oder wenn die Mitwirkung eines Verteidigers aufgrund der
Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des
Beschuldigten geboten erscheint, einen Verteidiger bestellt.
133
Siehe Schuster (Fn. 108), S. 170 f.; Sander/Cirener
(Fn. 108), § 251 Rn. 30, 65.
134
Siehe Warnking, Strafprozessuale Beweisverbote in der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Auswirkungen auf das deutsche Recht,
2009, S. 54 ff. zur Berücksichtigung der Rechtmäßigkeit der
kanntlich berücksichtigt auch der BGH i.R.d. Gesamtbetrachtung der Verfahrensfairness das Verschulden von Polizei und
Justiz an der unterbliebenen Zeugenkonfrontation; ein Verwertungsverbot hat er selbst bei Rechtsverstößen mit der
vorhersehbaren Folge eines Konfrontationsrechtsausfalls
bisher allerdings nicht angenommen.135 Diskussionswürdig
bleibt damit die – hier nicht näher zu vertiefende – Frage, bei
welchem Maß an staatlicher Verantwortlichkeit für die Konfrontationsrechtsbeschränkung bzw. Nichtgewährung im
deutschen Strafverfahren ein Beweisverwertungsverbot geboten ist und ob das staatliche Verschulden überhaupt ein überzeugender Faktor bei dieser Entscheidung sein darf. In der
Literatur reichen die Maßstäbe für die Begründung eines
Verwertungsverbots von der Irrelevanz staatlichen Verschuldens für die Rechtseinschränkung136 über die Verantwortlichkeit staatlicher Organe insbesondere bei Vorhersehbarkeit137 der späteren Unmöglichkeit sowie der Forderung nach
einem erheblichen Verstoß gegen das Optimierungsverbot138
bis hin zu einer der Justiz oder den Ermittlungsbehörden
zuzurechnenden „(aktive[n]) ‚Befragungsblockade‘, die
(un)wertmäßig einer ‚Aufklärungsblockade‘ durch die Exekutive entspricht“.139 Jedenfalls für die hier vorliegende
Konstellation, in der aufgrund konkreter Anhaltspunkte die
Gefahr angenommen worden war, dass die Zeuginnen nicht
mehr zur Verfügung stehen würden, und tatsächlich keine
spätere Befragungsmöglichkeit bestand, überzeugt die Annahme der Unverwertbarkeit der Zeugenaussagen. Trotz des
Bewusstseins der Gefahr des Beweisverlusts haben es die
Behörden pflichtwidrig unterlassen, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um eine Konfrontationsmöglichkeit zu sichern.
Beweiserlangung durch den EGMR für die Konventionsmäßigkeit der Beweisverwertung.
135
Vgl. BGHSt 51, 150 (155); BGHSt 46, 93 (103); BGH
NStZ 2009, 581; BGH NStZ 2005, 224 (225) m.w.N. aus der
Rspr., siehe auch BVerfG NJW 2010, 925 (926). Dies ist
auch deshalb interessant, weil das BVerfG bei einem Verstoß
gegen die Pflicht zur Benachrichtigung des Verteidigers aus
§ 168c Abs. 5 StPO von der Vernehmung gerade kein bestimmtes Verschuldensmaß fordert, siehe BVerfG NJW
2006, 672 (674).
136
Siehe Dehne-Niemann, HRRS 2010, 189 (195 ff., 197 f.);
wohl auch Gerdemann (Fn. 844), S. 397; gegen die Berücksichtigung staatlichen Verschuldens argumentiert auch
Weigend (Fn. 39), S. 1159 ff., 1163, zugleich aber gegen ein
Beweisverwertungsverbot.
137
Esser, JR 2005, 248 (251 ff.), vgl. ders. (Fn. 1177), Art. 6
EMRK Rn. 795 f., bei der „Verantwortlichkeit staatlicher
Stellen für ein insgesamt nicht oder nicht (mehr) effektive
Gewährleistung des Konfrontationsrechts“ (Hervorhebungen
im Original).
138
Krausbeck (Fn. 16), S. 227 ff., 236. Ein solcher liege –
wie hier – dann vor, wenn die Justiz keinerlei Ausgleichsmaßnahmen ergriffen hat, obwohl ihr dies möglich gewesen
wäre.
139
Widmaier, in: Griesbaum/Schnarr/Hannich (Hrsg.), Strafrecht und Justizgewährung, Festschrift für Kay Nehm zum
65. Geburtstag, 2006, S. 357 (370).
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ZIS 1/2017
54
Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und der unerreichbare (Auslands-)Zeuge
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Da sie – wie der EGMR treffend feststellt – das Risiko der
unzureichenden Verteidigungsmöglichkeit in Kauf genommen haben, tragen sie konsequenterweise auch das Risiko der
Unverwertbarkeit der Zeugenaussagen.140 Die Annahme eines
Verwertungsverbots als Steigerung zur Beweiswürdigungslösung ist unter diesen Umständen eine konsequente und gerechte Folge.141
als mustergültig angesehen werden kann, 145 konsequent zu
einem Beweisverwertungsverbot greifen, sofern theoretisch
existierende Sicherungsmechanismen praktisch nicht zur
Anwendung kamen und dem Beschuldigten nicht zumindest
einmal im Verlaufe des Verfahrens die Gelegenheit gewährt
wurde, die Zeugenaussage effektiv in Zweifel zu ziehen.
V. Fazit
Das Urteil der Großen Kammer in „Schatschaschwili“ gibt
Anlass, sich in Praxis und Lehre mit Reichweite und Ausgestaltung des Konfrontationsrechts bei (voraussichtlich) unerreichbaren Zeugen auseinander zu setzen. Jedenfalls für diese
Fallkonstellation führt das Urteil wieder einen Schritt weg
von „einem gelockerten Umgang mit Verstößen gegen das
Konfrontationsrecht“142 und hin zu klareren Strukturen bei
der Betrachtung der Fairness des Verfahrens in seiner Gesamtheit. Während der EGMR betont, dass er den nationalen
Beurteilungsspielraum besonders im Beweisrecht achtet,
zeigt er zugleich, dass essentielle Teilhaberechte der Verteidigung nicht im Interesse der Strafverfolgung ausgehöhlt
werden dürfen.
Die Rüge des EGMR wirft letztlich ein Licht auf die
schon mehrfach aufgekommene Forderung nach einer weitergehenden Stärkung der Verteidigung im Ermittlungsverfahren.143 Diese ist jedenfalls erforderlich, wenn, wie teilweise vorgeschlagen, ein erweiterter Transfer von Beweisergebnissen aus dem Ermittlungsverfahren in die Hauptverhandlung erlaubt sein soll. Bereits ohne eine solche Entwicklung
wird sich der Appell aus Straßburg aber auf die zukünftige
Ausgestaltung der Vernehmung von (voraussichtlichen Auslands-)Zeugen insbesondere durch den Ermittlungsrichter zur
Beweissicherung auswirken. Der Entscheidung der Großen
Kammer kann entnommen werden, dass an die Rechtfertigung eines fehlenden bzw. nur eingeschränkten Konfrontationsrechts bei vorausgegangener Annahme der späteren Unerreichbarkeit des Zeugen für eine konfrontative Vernehmung
in der Hauptverhandlung jedenfalls sehr strenge Anforderungen gestellt werden. Infolgedessen muss die deutsche Rechtsprechung,144 die im Hinblick auf die menschenrechtlichen
Mindestanforderungen des „Al-Khawaja Tests“ grundsätzlich
140
Esser, JR 2005, 248 (252).
Vgl. AG Hamburg StV 2004, 11; Esser, JR 2005, 248
(251 f.); Krausbeck (Fn. 16), S. 184 f.; Gerdemann (Fn. 84),
S. 162 ff., 366 ff.; Mehle (Fn. 19), S. 324 ff. (hier verstärkt
auf die Verletzung der Benachrichtigungspflicht nach § 168c
Abs. 5 StPO abstellend), 338 ff.; Wohlers/Albrecht (Fn.
1044), § 168c Rn. 41 ff.; Paeffgen (Fn. 33), Art. 6 EMRK
Rn. 139; Erb (Fn. 1277), § 168c Rn. 54, 56c, 59 f.; Zöller
(Fn. 1055), § 168c Rn. 10; Endriss (Fn. 1077), S. 74 f.; Fezer, JZ 2001, 363 (364); Kunert, NStZ 2001, 217; Sowada,
NStZ 2005, 1 (6); v. Stetten (Fn. 19), S. 1059 f., 1062 f.
142
Die Frage danach aufwerfend Lohse, JR 2015, 60 (63).
143
Vgl. zur Diskussion Endriss (Fn. 107), S. 65 (66 ff.); eingehend Krausbeck (Fn. 16), S. 98 ff.; Beulke (Fn. 28), S. 18.
144
Siehe nur BVerfG NJW 2010, 925 (926); BGHSt 51, 150
(154 ff.); BGHSt 46, 93 (106); BGH NStZ-RR 2009, 212 f.
141
145
Vgl. Meyer, HRRS 2012, 117 (120), der feststellt, dass der
Stufentheorie der deutschen Rechtsprechung „durch die Große Kammer indirekt Absolution erteilt“ wird.
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55
Kompensation der unzulässigen staatlichen Tatprovokation
Zu den Auswirkungen der Rechtsprechung des EGMR in Deutschland und Österreich
Von Dr. Carolin Schmidt, Frankfurt (Oder)
Im viel beachteten1 Urteil Furcht gegen Deutschland2 entschied der EGMR erstmals ausdrücklich, dass ein Verstoß
gegen Art. 6 EMRK bei unzulässiger staatlicher Tatprovokation durch die Gewährung einer bloßen Strafmilderung nicht
hinreichend kompensiert wird. Er erteilte hiermit der bis
dahin vertretenen Strafmilderungslösung eine deutliche Absage. In Reaktion auf die Verurteilung Deutschlands erkennt
der zweite Senat des BGH in einer aktuellen Entscheidung
nunmehr für einen Fall unzulässiger Tatprovokation ein
Verfahrenshindernis (von Verfassungs wegen) an.3 Diese
Entwicklung wird im Schrifttum allgemein begrüßt;4 teilweise
wird – angesichts der Empfehlungen im Bericht der StPOExpertenkommission5 – eine entsprechende Kodifizierung
angeregt.6
Eine Neuorientierung ist auch für Österreich zu erwarten;7 auch dort wurde bei unzulässiger Tatprovokation bislang lediglich eine Strafmilderung gewährt. Eine eindeutige
Positionierung des OGH steht noch aus.8 Zur Herstellung
einer konventionskonformen Rechtslage sollte nach dem
Entwurf eines Strafprozessrechtsänderungsgesetzes 2015 ein
Beweisverwertungsverbot für Erkenntnisse eingeführt werden, welche aufgrund unzulässiger Tatprovokation gewonnen
wurden.9 Dieser Vorschlag stieß in den Stellungnahmen zum
Gesetzesentwurf vielfach auf Kritik.10 Vereinzelt wurde alternativ für die Anerkennung eines materiellen Strafausschließungsgrundes plädiert.11 Vor diesem Hintergrund wurde im
Gesetzgebungsverfahren von der Kompensationsmethode
eines Beweisverwertungsverbots abgerückt. Die Regierungsvorlage sieht nunmehr die Einführung eines (einfachgesetzlichen) Verfahrenshindernisses als Folge einer unzulässigen
Tatprovokation vor.12
Der vorliegende Beitrag fasst zunächst die aus der EMRK
abzuleitenden Anforderungen an die Rechtsfolgen von unzulässiger staatlicher Tatprovokation (I.) sowie die Argumentationslinien für die in Deutschland und Österreich vorgeschlagenen Kompensationsmethoden (Verfahrenshindernis,
Beweisverwertungsverbot oder materieller Strafausschlie-
1
Vgl. die zahlreichen Anmerkungen: Hauer, NJ 2015, 203;
Meyer/Wohlers, JZ 2015, 761; Pauly, StV 2014, 411;
Petzsche, JR 2015, 88; Satzger, Jura 2015, 660; Sinn/Maly,
NStZ 2015, 379; Sommer, StraFo 2014, 508.
2
EGMR, Urt. v. 23.10.2014 – 54648/09 (Furcht v. Deutschland) = NJW 2015, 3631.
3
BGH, Urt. v. 10.06.2015 − 2 StR 97/14 = NStZ 2016, 52.
4
Jahn/Kudlich, JR 2016, 60; Lochmann, StraFo 2015, 500;
Mitsch, NStZ 2016, 57; vgl. auch Eisenberg, NJW 2015, 98,
der die Frage nach der konkreten Kompensationsmethode
zwar explizit ausklammert, das Urteil aber als „einer gewissen Transparenz und damit Rechtssicherheit förderlich“ bewertet.
5
Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, S. 85 (abrufbar
unter:
https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF/Absc
hlussbericht_Reform_StPO_Kommission.pdf?__blob=public
ationFile&v=2 [5.1.2017]): „Die Expertenkommission
empfiehlt, die rechtsstaatswidrige Tatprovokation gesetzlich
zu verbieten. Hierfür sollte auf einer ersten Stufe definiert
werden, wann eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation
vorliegt. Auf einer zweiten Stufe sollten die Konsequenzen
einer verbotenen rechtsstaatswidrigen Tatprovokation
geregelt werden.“
6
Lochmann, StraFo 2015, 500; vgl. auch Jahn/Kudlich, JR
2016, 64.
7
Vgl. Machac/Mohnl, JSt 2015, 442.
8
Zunächst schien der OGH auch nach dem Furcht-Urteil an
der Strafmilderungslösung festzuhalten: „Mit dem […] Vorwurf unterbliebener Konstatierungen zum Vorliegen allfälliger Tatprovokation erstattet der Beschwerdeführer bloß ein
Berufungsvorbringen ([st. Rspr.]; vgl allerdings zuletzt
EGMR, Urt. v. 23.10.2014 – 54648/09 [Furcht v. Deutsch-
land])“; OGH, Beschl. v. 9.4.2015 – 12 Os 39/15z. In der
Folge ließ er die Behandlung der unzulässigen Tatprovokation allerdings explizit offen: „Einer Auseinandersetzung mit
der Frage allfälliger Rechtsfolgen unzulässiger Tatprovokation bedurfte es daher nicht (vgl. dazu […] EGMR, Urt. v.
23.10.2014 – 54648/09 [Furcht v. Deutschland]).“; OGH,
Urt. v. 7.10.2015 – 15 Os 89/15z.
9
Nach Art. 1 Z. 26 des Ministerialentwurfs 171/ME (XXV.
GP) eines Bundesgesetzes, mit dem die Strafprozessordnung
1975, das Strafvollzugsgesetz und das Verbandsverantwortlichkeitsgesetz geändert werden (Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2015), sollte in § 133 öStPO folgender Absatz 5
eingefügt werden: „(5) Aufgrund eines Verstoßes gegen § 5
Abs. 3 gewonnene Erkenntnisse dürfen bei sonstiger Nichtigkeit nicht als Beweismittel verwendet werden.“ Vgl. auch
Erläuterungen zum Ministerialentwurf 171/ME (XXV. GP),
S. 15.
10
Vgl. z.B. Cernusca, Stellungnahme 45/SN-171/ME, S. 2 f.;
Flora, Stellungnahme 30/SN-171/ME, S. 3; Venier, Stellungnahme 41/SN-171/ME, S. 3.
11
Cernusca, Stellungnahme 45/SN-171/ME, S. 3.
12
Nach Art. 1 Z. 30 der Regierungsvorlage (1058 BlgNR,
XXV. GP) für ein Bundesgesetz, mit dem die Strafprozessordnung 1975, das Strafvollzugsgesetz und das Verbandsverantwortlichkeitsgesetz geändert werden (Strafprozessrechtsänderungsgesetz I 2016), soll in § 133 öStPO folgender Absatz 5 eingefügt werden: „(5) Von der Verfolgung eines Beschuldigten wegen der strafbaren Handlung, zu deren Begehung er nach § 5 Abs. 3 verleitet wurde, hat die Staatsanwaltschaft abzusehen […]“.Das Strafprozessrechtsänderungsgesetz I 2016 wurde am 20.5.2016 im österreichischen Bundesgesetzblatt I Nr. 26/2016 veröffentlicht; § 133 Abs. 5 öStPO
n.F. trat am 1.6.2016 in Kraft. Zum Wortlaut von § 5 Abs. 3
öStPO siehe Fn. 49.
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ZIS 1/2017
56
Kompensation der unzulässigen staatlichen Tatprovokation
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ßungsgrund) zusammen (II.). Auf dieser Grundlage soll die
vom BGH favorisierte Lösung eines Verfahrenshindernisses
von Verfassungs wegen auf ihre Systemkompatibilität und
EMRK-Konformität überprüft werden. Gegebenenfalls sind
Alternativen aufzuzeigen (III.).
I. Aus der EMRK abzuleitende Vorgaben
1. Zusammenfassung der EGMR-Rechtsprechung
Nach der Rechtsprechung des EGMR liegt eine unzulässige
Tatprovokation vor, wenn sich die Strafverfolgungsbehörden
nicht darauf beschränken, kriminelle Aktivitäten in einer im
Wesentlichen passiven Art und Weise aufzuklären, sondern
die Zielperson zur Begehung einer Straftat provozieren, die
andernfalls nicht begangen worden wäre. 13 Insbesondere sind
hierbei Anlass und Intensität der Einflussnahme maßgeblich.14 Die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 EMRK
hängt zudem von einem prozeduralen Aspekt ab: Der EGMR
beurteilt insoweit die Art und Weise der Auseinandersetzung
des nationalen Gerichts mit einer möglichen unzulässigen
Tatprovokation. Er fordert ein umfassendes Verfahren, das
Anlass und Ausmaß der staatlichen Tatbeteiligung vollständig aufklärt. Die plausible Behauptung einer unzulässigen
staatlichen Tatprovokation muss einen Straffreistellungsgrund („substantive defence“) begründen, zum Beweisausschluss („exclusion of evidence“) oder ähnlichen Konsequenzen („similar consequences“) führen.15
„Substantive defences“ sind Gründe, die eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters für eine Tat trotz Erfüllens
der objektiven (actus reus) und subjektiven Tatseite (mens
rea) ausschließen.16 Sie beziehen sich auf spezifische Aspekte
des fraglichen Verhaltens, die das konkrete tatbestandsmäßige Handeln im Einzelfall als erlaubt oder nicht schuldhaft
qualifizieren, beispielsweise im Fall von Notwehr oder bei
Vorliegen einer Geisteskrankheit.17 Die Anerkennung eines
solchen Straffreistellungsgrunds im Fall unzulässiger Tatprovokation führt dazu, dass der Täter für die provozierte Tat
EGMR, Urt. v. 9.6.1998 – 25829/94 (Teixeira de Castro v.
Portugal), Rn. 39 = NStZ 1999, 47.
14
Vgl. hierzu und zum Folgenden EGMR, Urt. v. 4.11.2010
– 18757/06 (Bannikova v. Russland), Rn. 38, 57; siehe bereits EGMR (Große Kammer), Urt. v. 5.2.2008 – 74420/01
(Ramanauskas v. Litauen), Rn. 67, 71 = NJW 2009, 3565.
15
EGMR, Urt. v. 4.11.10 – 18757/06 (Bannikova v. Russland), Rn. 54; siehe auch Esser/Gaede/Tsambikakis, NStZ
2012, 620.
16
Weißer, Täterschaft in Europa, 2011, S. 178 Fn. 169; vgl.
auch Simester/Spencer/Sullivan/Virgo, Criminal Law,
5. Aufl. 2014, § 17.1. Im Gegensatz zu „substantive defences“ betreffen „procedural defences“ die Gerichtsbarkeit
und die Befugnis eines Gerichts zur Strafverfolgung. Hierzu
zählen u.a. das Gesetzlichkeitsprinzip „nullum crimen sine
lege“, der Grundsatz „ne bis in idem“, Immunitäten, das
Verjährungsregime, Amnestien, Verhandlungsunfähigkeit
oder ein Verfahrensmissbrauch; siehe Ambos, Treatise on
International Criminal Law, Vol. 1, 2013, S. 302 f.
17
Ambos (Fn. 16), S. 302.
13
nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.
Die Möglichkeit ähnlicher Konsequenzen lässt darauf schließen, dass der EGMR eine ähnliche Wirkungsweise von „substantive defence“ und „exclusion of evidence“ zugrunde legt.
„Exclusion of evidence“ bedeutet demnach, dass ein Beweis
(und damit der Schuldnachweis) für die provozierte Tat nicht
geführt werden darf.18 Die Verfahrensfairness erfordert, dass
alle Beweise ausgeschlossen werden, die durch unzulässige
polizeiliche Tatprovokation gewonnen wurden. 19 Der EGMR
lehnt eine Verwendung also stets ab, ohne – wie in Fällen des
heimlichen Aushorchens von Beschuldigten – zur Bewertung
eines Verstoßes gegen den Fairnessgrundsatz auch auf die
jeweilige Beweiskraft (insb. auf Zweifel an der Verlässlichkeit oder Genauigkeit eines Beweises) abzustellen.20 Umgekehrt dürfte die Rechtsprechung des EGMR (in Anlehnung
an die Wirkungen von Straffreistellungsgründen) einer Beweisverwertung grundsätzlich nicht entgegenstehen, wenn im
Wege unzulässiger Tatprovokation auch Beweise für andere
Straftaten (Zufallsfunde) erlangt werden. In der Zusammenschau sind ähnliche Konsequenzen also solche, die zum Ausschluss einer Nutzung der durch unzulässige Provokation
erlangten Erkenntnisse im Strafverfahren wegen der provozierten Tat21 zur Begründung des Schuldspruchs führen; zu
denken ist insbesondere an ein Verfahrenshindernis.
18
Ebenso Meyer/Wohlers, JZ 2015, 765, die angesichts des
Erfordernisses einer Ähnlichkeit zum „substantive defence“
ein umfassendes Beweisverwertungsverbot ableiten: „Auch
der Hinweis auf einen alternativ möglichen Straffreistellungsgrund zeigt unzweideutig an, dass nach Auffassung des
EGMR am Ende einer durch unzulässige Provokation ausgelösten Strafverfolgung keine Bestrafung stehen darf.“ Vgl.
auch Fischer, NStZ 1992, 13: „Aus der Unzulässigkeit der
polizeilichen Tatprovokation folgt ein umfassendes Beweisverwertungsverbot […].“
19
EGMR, Urt. v. 23.10.2014 – 54648/09 (Furcht v. Deutschland), Rn. 64: „For the trial to be fair within the meaning of
Article 6 § 1 of the Convention, all evidence obtained as a
result of police incitement must be excluded […]“ (Hervorhebungen der Verf.); vgl. auch EGMR, Urt. v. 24.4.2014 –
6228/09 u.a. (Lagutin u.a. v. Russland), Rn. 116; EGMR, Urt.
v. 4.11.2010 – 18757/06 (Bannikova v. Russland), Rn. 56;
EGMR (Große Kammer), Urt. v. 5.2.2008 – 74420/01 (Ramanauskas v. Litauen), Rn. 60.
20
EGMR, Urt. v. 10.3.2009 – 4378/02 (Bykov v. Russland),
Rn. 90 = NJW 2010, 213; EGMR, Urt. v. 5.11.2002 –
48539/99 (Allan v. Vereinigtes Königreich), Rn. 43; EGMR,
Urt. v. 12.5.2000 – 35394/97 (Khan v. Vereinigtes Königreich), Rn. 35, 37. Vgl. auch Meyer/Wohlers, JZ 2015, 765.
21
Vgl. EGMR, Urt. v. 9.6.1998 – 25829/94 (Teixeira de
Castro v. Portugal), Rn. 39= NStZ 1999, 47: „That intervention and its use in the impugned criminal proceedings meant
that, right from the outset, the applicant was definitively
deprived of a fair trial.“ (Hervorhebungen der Verf.).
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Carolin Schmidt
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2. Berücksichtigung des aus der EMRK abzuleitenden
Verfolgungszwangs
Bislang wurde kaum beachtet, dass sich diese Vorgaben auf
staatlicherseits provozierte Straftaten ohne individuellen
Opferbezug (z.B. Drogen- oder Korruptionsdelikte)22 beschränken dürften. Sie beziehen sich dagegen nicht auf Delikte, die gegen hochrangige Individualrechtsgüter gerichtet
sind.23 Der EGMR hat wiederholt bestätigt, dass der Charakter der Konvention als Schutzinstrument eine Auslegung und
Anwendung voraussetzt, die ihre Gewährleistungen zweckmäßig und wirksam werden lässt. Die Konventionsgarantien
müssen als Teil eines Ganzen verstanden und in einer Weise
interpretiert werden, die innere Konsistenz gewährleistet. 24
Im Zusammenhang mit der generellen Verpflichtung der
Konventionsstaaten, jedermann innerhalb ihrer Jurisdiktion
die in der EMRK niedergelegten Rechte und Freiheiten zu
sichern (Art. 1 EMRK), setzen einzelne Konventionsgarantien, wie Art. 2, 3 und 8 EMRK, implizit auch eine effektive
Strafverfolgung von Rechtsgutsverletzungen voraus. Andernfalls würde der Schutzzweck der EMRK reduziert und ihr
Gewährleistungsgehalt illusorisch.25
Der EGMR hat entschieden, dass durch die Verpflichtung
zu einer wirksamen Strafverfolgung andere Konventionsga22
In einigen Urteilen betreffend unzulässiger Tatprovokation
bezieht sich der EGMR explizit auf diesen Bereich; vgl.
EGMR, Urt. v. 4.11.2010 – 18757/06 (Bannikova v.
Russland), Rn. 34: „In the specific context of investigative
techniques used to combat drug trafficking and corruption,
the Court’s longstanding view has been that the public interest cannot justify the use of evidence obtained as a result of
police incitement.“ (Hervorhebungen der Verf.).
23
Aus der Praxis sind entsprechende Fälle bisher nicht bekannt geworden; auch erscheint die praktische Relevanz von
Provokationen zu Gewalttaten, etwa Tötungsdelikten, gering,
da wegen des individuellen Opferbezugs der Anlasstat regelmäßig andere Beweismittel verfügbar sind und kein Bedarf
an einer weiteren (mit geringem Aufwand aufzuklärenden)
Tat besteht. Es dürfte sich hierbei aber nicht um ein bloßes
Gedankenspiel handeln; ein solches Vorgehen käme beispielsweise gegenüber einem (mutmaßlichen) Ring von Auftragsmördern in Betracht: Sofern lediglich der unmittelbare
Täter einer Anlasstat überführt, nicht aber die etwaige Beteiligung eines Hintermanns nachgewiesen werden kann, erscheint die Kontaktaufnahme gegenüber ersterem durch einen
staatlichen Provokateur erfolgversprechend, um auch die
Ergreifung des Hintermanns zu ermöglichen.
24
Vgl. z.B. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.3.2012 –
39692/09 u.a. (Austin u.a. v. Vereinigtes Königreich), Rn. 54
= NVwZ-RR 2013, 785; EGMR (Große Kammer), Urt. v.
27.5.2014 – 4455/10 (Marguš v. Kroatien), Rn. 128.
25
Vgl. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 27.5.2014 – 4455/10
(Marguš v. Kroatien), Rn. 125 ff. Vgl. zum aus Art. 8 EMRK
abzuleitenden Verfolgungszwang bei (schweren) Straftaten
gegen die sexuelle Selbstbestimmung EGMR (Große Kammer), Urt. v. 12.11.2013 – 5786/08 (Söderman v. Schweden),
Rn. 80, 82 f. = NJW 2014, 607; EGMR, Urt. v. 4.12.2003 –
39272/98 (M.C. v. Bulgarien), Rn. 152 f.
rantien in ihrer Anwendbarkeit verdrängt werden können. 26
Art. 2, 3 und 8 EMRK verkörpern fundamentale Werte; zur
Abschreckung potenzieller Täter27 muss der Eindruck unbedingt vermieden werden, Verhalten, das den Schutzgehalt
dieser Garantien berührt, bliebe ungesühnt. 28 Zu berücksichtigen ist, dass es sich hier nicht um eine nur zweiseitige
Konstellation (Verhältnis zwischen Staat und Provoziertem)
handelt. Vielmehr muss auch spezifischen Opferinteressen
Rechnung getragen werden. Der Staat kann sich – schon
wegen des staatlichen Gewaltmonopols29 – nicht zulasten des
Opfers seines Strafanspruchs begeben. Andernfalls wäre ein
effektiver Individualrechtsgüterschutz, wie ihn die EMRK
verlangt, nicht mehr gewährleistet. Wenn der Staat Straftaten
veranlasst, die das Recht auf Leben oder auf sexuelle Selbstbestimmung bzw. das Folterverbot beeinträchtigen, kommt
ein Ausschluss der Verwendung von durch staatliche Tatprovokation gewonnenen Beweisen also nicht in Betracht. Diese
Ausprägung des Fairnessgrundsatzes findet insoweit keine
(oder nur eingeschränkte30) Anwendung.31 Da die Verfolgungspflicht im Sinne wirksamer Prävention grundsätzlich
bereits im Fall des bloßen Versuchs greift, 32 muss dies auch
26
So erklärte der EGMR das Doppelverfolgungsverbot nach
Art. 4 Abs. 1 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK bei erneuter
Strafverfolgung von Kriegsverbrechen nach einer staatlicherseits gewährten Amnestie für nicht anwendbar; EGMR (Große Kammer), Urt. v. 27.5.2014 – 4455/10 (Marguš v. Kroatien), Rn. 140 f.
27
EGMR (Große Kammer), Urt. v. 28.10.1998 – 23452/94
(Osman v. Vereinigtes Königreich), Rn. 115.
28
EGMR, Urt. v. 21.12.2000 – 30873/96 (Egmez v. Zypern),
Rn. 71: „Under no circumstances should [the domestic authorities] give the impression that they are prepared to allow
such treatment to go unpunished.“; vgl. auch EGMR, Urt. v.
10.3.2009 – 44256/06 (Turan Cakir v. Belgien), Rn. 69.
29
Korioth, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, 75.
Lfg., Stand: September 2015, Art. 30 Rn. 12.
30
Die Berücksichtigung der unzulässigen Tatprovokation
könnte im Rahmen einer Auslegung, die allen Konventionsgarantien zu möglichst weitreichender praktischer Wirksamkeit verhilft, auf Strafzumessungsebene erfolgen. Vgl. zum
Ganzen Schmidt, Grenzen des Lockspitzeleinsatzes, 2016,
insb. Teil IV, A. III. und D. III.
31
Andere Teilgarantien von Art. 6 EMRK, wie das Recht auf
ein unabhängiges Gericht, bleiben selbstverständlich anwendbar.
32
Esser, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 11,
26. Aufl. 2012, Art. 2 EMRK u. Art. 6 IPBRR Rn. 33; vgl.
auch EGMR, Urt. v. 2.9.1998 – 22495/93 (Yaşa v. Türkei),
Rn. 100. Zur „Vorwirkung“ der genannten Konventionsgarantien bei Gefährdungslagen für das jeweils geschützte
Rechtsgut siehe auch EGMR (Große Kammer), Urt. v.
20.12.2004 – 50385/99 (Makaratzis v. Griechenland), Rn. 55
= NJW 2005, 3405; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 20 Rn. 3, § 22 Rn. 1.
Anderes könnte für den untauglichen Versuch gelten, da es
hier bereits an einer tatsächlichen Gefährdung mangelt. Al-
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ZIS 1/2017
58
Kompensation der unzulässigen staatlichen Tatprovokation
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für provozierte Taten gelten, die im Versuchsstadium stecken
bleiben.
II. Überblick über die vorgeschlagenen Kompensationsmethoden
1. Stand der deutschen Rechtsprechung: Wende zum Verfahrenshindernis
Eine erste Auseinandersetzung mit dem „Furcht“-Urteil des
EGMR vom 23.10.2014 erfolgte im Rahmen eines Beschlusses des BVerfG vom 18.12.2014, mit dem die Verfassungsbeschwerden von drei Beschwerdeführern, die sich gegen
ihre Verurteilung zu mehrjährigen Haftstrafen wegen (staatlicherseits provozierten) Betäubungsmitteldelikten wandten,
nicht zur Entscheidung angenommen wurden.33 Die Frage, ob
die Strafmilderungslösung den Anforderungen des EGMR in
jedem Einzelfall gerecht wird, ließ das BVerfG ausdrücklich
offen.34 Es verwies insbesondere darauf, dass die Fachgerichte die Rechtsprechung des EGMR durch „möglichst schonend[e]“ Einpassung in das überkommene und ausdifferenzierte nationale Rechtssystem hinreichend berücksichtigt
hätten, sodass die Strafmilderungslösung „jedenfalls in ihrer
Anwendung […] auf den vorliegenden Fall“ auch vor dem
Hintergrund der Anforderungen von Art. 6 EMRK nicht
gegen das verfassungsrechtlich verankerte Recht auf ein
faires Verfahren verstoße.35 Eine Verfahrenseinstellung könne nur in einem – hier nicht vorliegenden – extremen Ausnahmefall aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet werden, da
dieses auch das Interesse an einer der materiellen Gerechtigkeit dienenden Strafverfolgung schützt.36 Als Prozessentscheidung entfaltete der genannte Nichtannahmebeschluss
keine Bindungswirkung.37
Mit einem im schriftlichen Verfahren nach § 349 Abs. 2
StPO gefassten Beschluss vom 19.5.2015 bekräftigte der
lerdings kann bei Tatprovokation trotz polizeilicher Überwachung wohl kaum von einem von vornherein untauglichen
Versuch gesprochen werden.
33
BVerfG, Beschl. v. 18.12.2014 – 2 BvR 209/14, 2 BvR
240/14, 2 BvR 262/14 = NJW 2015, 1083 m. Anm. Jäger, JA
2015, 473. Die Ausgangsentscheidung des BGH (Urt. v.
11.12.2013 − 5 StR 240/13) ist abgedruckt in NStZ 2014,
277.
34
BVerfG, Beschl. v 18.12.2014 – 2 BvR 209/14, 2 BvR
240/14, 2 BvR 262/14 = NJW 2015, 1083 (1085).
35
BVerfG, Beschl. v 18.12.2014 – 2 BvR 209/14, 2 BvR
240/14, 2 BvR 262/14 = NJW 2015, 1083 (1086).
36
BVerfG, Beschl. v 18.12.2014 – 2 BvR 209/14, 2 BvR
240/14, 2 BvR 262/14 = NJW 2015, 1083 (1084 f.). Weiterhin wäre zukünftig zu erwägen, „in vergleichbaren Fällen
ausdrücklich ein Verwertungsverbot bezüglich der unmittelbar durch die rechtsstaatswidrige Tatprovokation gewonnenen Beweise, also insbesondere bezüglich der unmittelbar in
die rechtsstaatswidrige Tatprovokation verstrickten Tatzeugen, auszusprechen“; vgl. BVerfG, NJW 2015, 1083 (1086).
37
Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.),
Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, 47. Lfg.,
Stand: August 2015, § 31 Rn. 83.
1. Strafsenat des BGH diese Leitlinien des BVerfG: Allenfalls in einem Extremfall, etwa bei tatprovozierendem Verhalten von Ermittlungsbehörden gegen einen (bis dahin)
gänzlich Unverdächtigen, der lediglich „als Objekt der staatlichen Ermittlungsbehörden einen vorgefertigten Tatplan
ohne eigenen Antrieb ausgeführt hätte“, käme ein aus dem
Rechtsstaatsprinzip abgeleitetes Verfahrenshindernis in Betracht.38 In casu fehle es bereits an einer unzulässigen staatlichen Tatprovokation, da die Beschuldigten zu sämtlichen
Betäubungsmittelstraftaten bereits vor der polizeilichen Intervention entschlossen waren.39
Am 10.6.2015 wies der 2. Strafsenat des BGH, dem der
genannte Beschluss des 1. Senats im Zeitpunkt der Urteilsverkündung unbekannt war,40 die Strafmilderungslösung als
mit der Rechtsprechung des EGMR in der Rechtssache
Furcht unvereinbar zurück. Im Rahmen der demnach gebotenen Neubewertung der staatlichen Tatprovokation sprach sich
der 2. Strafsenat erstmals ausdrücklich für die Annahme
eines Verfahrenshindernisses (von Verfassungs wegen) aus
und kehrte überdies das in der BVerfG-Rechtsprechung angelegte Regel-Ausnahme-Verhältnis um: Die unzulässige Provokation einer Straftat durch Angehörige von Strafverfolgungsbehörden oder von ihnen gelenkte Dritte habe regelmäßig (nicht nur in Extremfällen) ein Verfahrenshindernis zur
Folge.41
Ein Verfahrenshindernis passe sich – im Gegensatz zur
Anerkennung eines Beweisverwertungsverbots oder eines
materiellen Strafausschließungsgrunds – „schonend“ in das
vorhandene nationale Rechtssystem ein: Obwohl die Rechtsfigur des Verfahrenshindernisses in der Strafprozessordnung
nicht allgemein definiert werde, handle es sich – anders als
etwa die Annahme eines gesetzlich nicht geregelten Strafausschließungsgrunds – um eine anerkannte dogmatische Kategorie.42 Zudem knüpfe ein Verfahrenshindernis an die provozierte Tat selbst an, während ein Beweisverwertungsverbot
nur einzelne Ermittlungshandlungen erfassen könnte. Gegen
eine Lösung auf Beweisebene spreche vor allem, dass eine
Beweiserhebung im Strafverfahren regelmäßig geboten sei,
um die tatsächlichen Umstände einer behaupteten Tatprovo-
BGH, Beschl. v. 19.5.2015 − 1 StR 128/15 = NStZ 2015,
541 (542 f.).
39
BGH, Beschl. v. 19.5.2015 − 1 StR 128/15 = NStZ 2015,
541 (543).
40
Zur Notwendigkeit einer Divergenzvorlage nach § 132
Abs. 2 GVG siehe Eisenberg, NJW 2016, 98; Jahn/Kudlich,
JR 2016, 62.
41
BGH, Urt. v. 10.6.2015 − 2 StR 97/14 = NStZ 2016, 52
(amtl. Ls.).
42
BGH, Urt. v. 10.6.2015 − 2 StR 97/14, Rn. 48, 55; die in
NStZ 2016, 52 nicht abgedruckten Entscheidungsgründe
können über:
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr72875&pos=0&anz=
1 (5.1.2017) abgerufen werden.
38
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com
59
Carolin Schmidt
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kation aufklären zu können.43 Auch liefe die umfassende
Nichtverwendung der durch Tatprovokation erlangten Beweismittel – wie sie die Rechtsprechung des EGMR verlangt
– faktisch gerade auf ein Verfahrenshindernis hinaus. 44
Demgegenüber griffen die Bedenken gegen die Annahme
eines Verfahrenshindernisses nicht durch: Insbesondere stehe
nicht entgegen, dass im Fall behaupteter unzulässiger Tatprovokation regelmäßig eine umfangreiche Beweisaufnahme und
-würdigung notwendig ist, sodass – für Verfahrenshindernisse atypisch – eine Einstellung erst im Rahmen der Hauptverhandlung erfolgen kann. Denn diese Notwendigkeit könne
sich auch bei der Prüfung anderer Verfahrenshindernisse
ergeben, beispielsweise in Fällen des Strafklageverbrauchs. 45
Obgleich Verfahrenshindernisse typischerweise aus bestimmten Tatsachen folgen, könnten sie auch auf Werturteilen beruhen, wie dies etwa bei einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung der Fall ist.46 Zudem müsse der „Gesichtspunkt, dass Verfahrenshindernisse […] in der Regel nicht
Ergebnis wertender Abwägungen sind“, zurücktreten, „wenn
feststeht, dass für eine solche Abwägung aufgrund des Gewichts des Verstoßes kein Raum bleibt, wie sich aus den
Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
ergibt“.47
2. Die Reformdiskussion in Österreich
Der österreichische Ministerialentwurf sprach sich für die
Einführung eines Beweisverwertungsverbots in Bezug auf
Erkenntnisse aus, „welche aufgrund unzulässiger Tatprovokation gewonnen wurden.“ Hierunter würden insbesondere
die Vernehmung des Lockspitzels, eine Ton- und/oder Bildaufnahme von seinem Kontakt mit dem Betroffenen und die
Verlesung der Bezug habenden Teile der jeweiligen Polizeiberichte fallen.48 Zur Begründung wurde zunächst auf die
wirksame Vorbeugung von Verstößen gegen das in § 5
Abs. 3 öStPO49 verankerte Lockspitzelverbot verwiesen, da
der Anreiz hierzu bei Anerkennung eines Beweisverwertungsverbots weitgehend entfiele. Ein wesentlicher Vorteil
gegenüber einem „prozessualen Verfolgungshindernis“ (wie
es der 2. Strafsenat des BGH befürwortet) liegt nach den
BGH, Urt. v. 10.6.2015 − 2 StR 97/14, Rn. 52 = NStZ
2016, 52; vgl. bereits BGH, Urt. v. 18.11.1999 – 1 StR
221/99 = BGHSt 45, 321 (355).
44
BGH, Urt. v. 10.6.2015 − 2 StR 97/14 Rn. 53 = NStZ
2016, 52.
45
Vgl. BGH, Urt. v. 10.6.2015 − 2 StR 97/14, Rn. 55; vgl.
auch BGH, Beschl. v. 30.3.2001 – StB 4, 5/01 = NJW 2001,
1734.
46
Vgl. BGH, Urt. v. 10.6.2015 − 2 StR 97/14, Rn. 55; vgl.
auch Hillenkamp, NJW 1989, 2846; Waßmer, ZStW 115
(2006), 187.
47
Vgl. BGH, Urt. v. 10.6.2015 − 2 StR 97/14, Rn. 55.
48
Erläuterungen zum Ministerialentwurf 171/ME (XXV.
GP), S. 15.
49
§ 5 Abs. 3 öStPO lautet: „Beschuldigte oder andere Personen zur Unternehmung, Fortsetzung oder Vollendung einer
Straftat zu verleiten oder durch heimlich bestellte Personen
zu einem Geständnis zu verlocken, ist unzulässig.“
43
Erläuterungen zum Ministerialentwurf darin, dass auf diese
Weise auch ein Schuldspruch möglich bliebe, „sofern abgesehen von Beweismitteln, welche als Ergebnis polizeilicher
Provokation gewonnen wurden, weitere gewichtige Beweisergebnisse vorliegen.“50
In den Stellungnahmen zum Ministerialentwurf wurde
insbesondere diese fortbestehende Möglichkeit eines Schuldspruchs als mit der Rechtsprechung des EGMR unvereinbar
gerügt.51 Teilweise wurde die Lösung auf Beweisebene insgesamt als systematisch verfehlt angegriffen: Zwar dürfte auf
Grundlage der durch unzulässige Tatprovokation gewonnenen Beweismittel keine Verurteilung mehr erfolgen; systemkonform könnte umgekehrt aber auch ein Freispruch nicht
auf die unzulässig gewonnenen Beweismittel gestützt werden. Eine Tat, die (bspw. durch Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen) zweifelsfrei nachgewiesen werden kann
und die der Beschuldigte gegebenenfalls sogar eingesteht,
müsse demnach trotz Provokation zur Verurteilung führen, da
die gewünschte entlastende Wirkung gerade wegen des Beweisverwertungsverbots nicht eingreife. Stattdessen wurde
die Anerkennung eines materiellen Strafausschließungsgrunds befürwortet, die durch Ergänzung von § 5 Abs. 3
öStPO umgesetzt werden könnte. Denn die unzulässige Tatprovokation bewirke, dass die konkrete Tat per se nicht mehr
strafwürdig ist, während ein prozessuales Verfahrenshindernis nicht den rechtlichen Gehalt der Tat, sondern nur den
staatlichen Verfolgungsanspruch adressiere.52
Die in den Stellungnahmen kritisierte problematische Abgrenzung, „welche Ergebnisse dem ursprünglich vorgeschlagenen Beweisverwertungsverbot unterliegen würden und
welche nicht“, bildete nach den Erläuternden Bemerkungen
zur Regierungsvorlage ein wesentliches Argument für den
Wechsel zu einem Verfahrenshindernis als Folge unzulässiger Tatprovokation. Die Bemerkungen verweisen zudem auf
die Entwicklung der Rechtsprechung in Deutschland. 53
III. Kritische Würdigung der vorgeschlagenen Kompensationsmethoden
1. Systemkompatibilität der prozessualen Lösungswege:
Beweisverwertungsverbot und Verfahrenshindernis
a) Pattsituation der herkömmlich ausgetauschten Argumente
Die wiedergegebenen Argumente gegen eine Lösung auf
Beweisebene54 können die Vorzugswürdigkeit eines Verfahrenshindernisses bei unzulässiger Tatprovokation nicht letzt-
50
Erläuterungen zum Ministerialentwurf 171/ME (XXV.
GP), S. 15.
51
Vgl. Flora, Stellungnahme zum Entwurf eines Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2015, 30/SN-171/ME, S. 2 f.;
Venier, Stellungnahme zum Entwurf eines Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2015, 41/SN-171/ME, S. 3.
52
Cernusca, Stellungnahme 45/SN-171/ME, S. 2 f.
53
Vgl. EB RV, 1058 BlgNR, XXV. GP, S. 7.
54
Vgl. oben bei Fn. 43 f. und 51.
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ZIS 1/2017
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Kompensation der unzulässigen staatlichen Tatprovokation
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gültig belegen:55 Ein Beweisverwertungsverbot bezieht sich
zugegebenermaßen nicht auf die Beweisaufnahme insgesamt.
Denn Beweisgegenstand ist nicht die Tat als solche, sondern
all jenes, was ihre Durchführung beweisen kann, z.B. Aussagen der Beteiligten, eventuelle Schriftstücke über den Verlauf
des Lockspitzeleinsatzes oder eine Dokumentation mittels
Foto- bzw. Videoaufnahmen sowie etwaig sichergestellte
Drogen.56 Im Fall unzulässiger Tatprovokation muss (grundsätzlich57) hinsichtlich sämtlicher hieraus herrührender Beweise für die jeweilige Straftat ein Beweisverwertungsverbot
greifen.58 Ein solches „zusammengesetztes“ Beweisverwertungsverbot schließt eine Verurteilung wegen der provozierten Tat – entsprechend der Rechtsprechung des EGMR – im
Ergebnis aus.59 Umfassende Beweisverwertungsverbote, die
alle auf unzulässigem Vorgehen beruhenden Beweise einbeziehen, sind der Strafprozessordnung nicht gänzlich fremd.
Beispielsweise erfasst die beweisgegenständliche Schutzwirkung von § 136a Abs. 3 StPO alle Aussageinhalte, die auf
verbotenen Vernehmungsmethoden beruhen: 60 Das Beweis-
Für eine intensivere Auseinandersetzung mit dem „Verhältnis von Verwertungsverbot und Verfahrenshindernis“
plädiert Jäger, JA 2016, 311.
56
Hierzu zählt gerade auch die Aufzeichnung einer provozierten Tat im Rahmen der Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen. In Bezug auf ein Geständnis des Provozierten,
das „bedingt durch die erlangten Ermittlungsergebnisse“
abgelegt wurde (vgl. BGH, Urt. v. 10.6.2015 − 2 StR 97/14,
Rn. 52 = NStZ 2016, 52), kommt ein Beweisverwertungsverbot in Betracht, wenn der Beschuldigte nicht zuvor auf die
Unverwertbarkeit der Beweise für die provozierte Tat hingewiesen worden ist (sog. qualifizierte Belehrung). Vgl. EGMR
(Große Kammer), Urt. v. 1.6.2010 – 22978/05 (Gäfgen v.
Deutschland), Rn. 181 ff. = NJW 2010, 3145: Es kann gegen
das Recht auf ein faires Verfahren verstoßen, ein Geständnis
zu verwerten, das nur angesichts erdrückender Beweise abgegeben wurde, die ihrerseits durch Verletzung von Konventionsgarantien (in casu: Art. 3 EMRK) gewonnen worden
waren.
57
Vgl. unter I. 2.
58
Andere Beweise sind kaum denkbar (so auch Tyszkiewicz,
Tatprovokation als Ermittlungsmaßnahme, 2014, S. 223;
Esser [Fn. 32], Art. 6 EMRK u. Art. 14 IPBRR Rn. 264. Vgl.
auch Vereinigung der österreichischen Richterinnen und
Richter, Bundesvertretung Richter und Staatsanwälte in der
Gewerkschaft Öffentlicher Dienst [Hrsg.], Stellungnahme
zum Entwurf eines Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2015,
29/SN-171/ME, S. 4), zumal die Straftat ohne staatliche Veranlassung nicht begangen worden wäre. Verwertbar bleiben
nur zufällig miterlangte Beweise für andere Taten; vgl. oben
bei Fn. 2020.
59
Tyszkiewicz (Fn. 58), S. 223.
60
Jäger, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Handkommentar, Gesamtes Strafrecht, 3. Aufl. 2013, § 136a StPO Rn. 42
m.w.N. (vgl. auch a.a.O.: „das Gesetz selbst [schreibt] in
§ 136 a Abs. 3 ein umfassendes Beweisverwertungsverbot für
die durch verbotene Vernehmungsmethoden erlangten Aus55
verwertungsverbot erstreckt sich auch auf drittbelastende
Aussagen61 oder den Klang der Stimme. 62 Während das
„Produkt“ der verbotenen Vernehmungsmethode eine Aussage ist, die in all ihren Einzelaspekten nicht verwertbar ist,
bildet „Produkt“ der unzulässigen Tatprovokation gerade die
Tat als solche, für die keinerlei Beweis geführt werden darf. 63
Jeweils sind alle „bemakelten“ Beweise auszuschließen. Die
Wirkung eines derart umfassend verstandenen Beweisverwertungsverbots entspricht zwar – wie der 2. Strafsenat des BGH
zutreffend feststellt64 – derjenigen eines Verfahrenshindernisses.65 Dieser „Gleichklang“ kann aber nicht als Argument in
die eine oder andere Richtung herangezogen werden, sondern
ist logische Konsequenz des vom EGMR formulierten Ähnlichkeits-Erfordernisses.
Auch der vom 2. Senat angeführte Umstand, dass eine
spätere Beweiserhebung im Strafverfahren zur Klärung der
tatsächlichen Umstände einer behaupteten Tatprovokation
geboten (und gerade nicht als rechtswidrig) erscheine, 66
spricht nicht zwingend gegen die Annahme eines Beweisverwertungsverbots. Erstens stellen Beweiserhebungsverbote
und die Unverwertbarkeit von Beweismitteln verschiedene
prozessuale Phänomene dar und sind als solche gedanklich
voneinander zu trennen.67 Weder folgt aus einem Verstoß
gegen ein Beweiserhebungsverbot zwangsläufig die Unverwertbarkeit der erlangten Beweise, noch muss umgekehrt der
Grund für die Unverwertbarkeit eines Beweismittels stets in
einer rechtswidrigen Beweiserhebung liegen.68 Zweitens
treten ähnliche Schwierigkeiten auch bei Annahme eines
Verfahrenshindernisses auf:69 Denn typischerweise knüpfen
sagen vor […]“; ein umfassendes Beweisverwertungsverbot
bejaht auch Heinrich, ZStW 112 [2000], 419 m.w.N.).
61
Für Differenzierungen nach dem „Rechtskreis“ (zur
Rechtskreistheorie: Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht,
28. Aufl. 2014, § 24 Rn. 24 m.w.N.) verbleibt kein Raum;
vgl. BGH, Urt. v. 14.10.1970 – 2 StR 239/70 = JurionRS
1970, 12172, Rn. 6.
62
Jäger (Fn. 60), § 136a Rn. 44.
63
Vgl. auch Jäger, JA 2016, 310: „Damit zeigt sich aber
doch, dass es Verwertungsverbote gibt, die den gesamten
Tatvorgang erfassen […] können.“
64
Vgl. oben bei Fn. 44.
65
Da beide prozessualen Lösungen im Ergebnis einer Verurteilung wegen der provozierten Tat grundsätzlich (siehe aber
zu Differenzierungsmöglichkeiten bei Anerkennung eines
Beweisverwertungsverbots unter III. 3.) entgegenstehen,
während eine Strafverfolgung von anderen Taten möglich
bleibt, besteht der in den Erläuterungen zum österreichischen
Ministerialentwurf behauptete Vorteil, dass ein Beweisverwertungsverbot – anders als ein Verfahrenshindernis – in
bestimmten Fällen auch einen Schuldspruch ermögliche (vgl.
oben bei Fn. 50), regelmäßig nicht (siehe aber unter IV.).
66
Vgl. oben bei Fn. 43.
67
Beulke, Strafprozessrecht, 13. Aufl. 2016, Rn. 455.
68
Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 9. Aufl. 2015, Rn. 362.
69
So die Argumentation in Österreich; vgl. OGH, Urt. v.
11.1.2005 – 11 Os 126/04 = JBl 2005, 531: „Die Bestimmung [Art. 6 EMRK] verbietet demnach nicht das Hören der
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61
Carolin Schmidt
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Verfahrenshindernisse an unproblematisch festzustellende
Tatsachen, wie den Tod des Beschuldigten, seine Verhandlungsunfähigkeit oder die Verjährung der zu verfolgenden
Straftat,70 an und bewirken daher regelmäßig bereits vor
Durchführung einer Hauptverhandlung die Einstellung des
Verfahrens. Das Vorliegen unzulässiger staatlicher Tatprovokation kann dagegen wohl erst im Rahmen einer Hauptverhandlung aufgeklärt werden.71
Beiden prozessualen Lösungswegen kommt zudem die in
den Erläuterungen zum Ministerialentwurf geforderte Disziplinierungswirkung72 zu. Die Aussicht, im Rahmen einer
unzulässigen Provokation neben den nicht verwertbaren Beweisen für die provozierte Tat zufällig auch verwertbare
Beweise für andere Taten zu gewinnen, nimmt den Strafverfolgungsbehörden weitgehend den Anreiz zu einem systematischen Einsatz unzulässiger Praktiken. Ebenso werden die
Strafverfolgungsbehörden von unzulässiger Tatprovokation
absehen, wenn ihr Zweck, die Überführung des Täters in
einem Strafverfahren, wegen des Eingreifens eines Verfahrenshindernisses vereitelt wird.73
Insgesamt erweisen sich die jeweils angeführten Argumente damit als austauschbar und demnach unergiebig; sie
sprechen zwingend weder für die Annahme eines Beweisverwertungsverbots noch für die Anerkennung eines Verfahrenshindernisses.
sätzlich sind der Strafprozessordnung – wie der 2. Strafsenat
des BGH zu Recht betont74 – unmittelbar aus der Verfassung
abgeleitete Verfahrenshindernisse nicht fremd. 75 Ein Rückgriff hierauf muss möglich sein, wenn eine Fortsetzung des
Verfahrens entgegen dem Rechtstaatsprinzip allein zu einer
Vertiefung von Grundrechtsverstößen führen würde 76 und das
Strafverfahrensrecht in solchen extrem gelagerten Fällen
keine Möglichkeit zur Verfahrensbeendigung zur Verfügung
stellt.77 Aus dem „ultima ratio“-Gedanken folgt auch, dass
ein solches Verfahrenshindernis nur bei irreparablen Rechtsverletzungen eingreifen kann.78 Vorrangig sind die Einsatzmöglichkeiten einfachrechtlicher Institute zu prüfen. 79
Das bedeutet, dass die Herleitung eines Verfahrenshindernisses von Verfassungs wegen scheitert, wenn das Strafverfahrensrecht wirksame Mechanismen bereithält, die einen
Rechtsverstoß kompensieren. Zu berücksichtigen ist, dass der
Strafprozessordnung zahlreiche nicht explizit normierte Beweisverwertungsverbote zu entnehmen sind. 80 Positivierte
Beweisverwertungsverbote sind dagegen die Ausnahme. 81
Die „ultima ratio“ eines Verfahrenshindernisses von Verfassungs wegen käme demnach nur in Betracht, wenn der Anerkennung eines Beweisverwertungsverbots bei unzulässiger
staatlicher Tatprovokation zwingende Hindernisse entgegenstünden. Ein umfassendes Beweisverwertungsverbot wird
74
b) Grenzen der Herleitung von Verfahrenshindernissen von
Verfassungs wegen
Zur Beantwortung der Frage, ob sich die prozessuale Lösung
eines Verfahrenshindernisses (von Verfassungs wegen) schonend in das bestehende deutsche System einpasst, ist also ein
weiterer, bislang kaum berücksichtigter Aspekt einzubeziehen: Er betrifft systemimmanente Grenzen der Herleitung
von Verfahrenshindernissen von Verfassungs wegen. GrundSache, verlangt vielmehr umgekehrt, dass die Sache gehört,
mithin eine Verhandlung über die der Anklage zugrunde
liegende Straftat abgeführt wird. Da aber ein Verfolgungshindernis just dies verhindern würde, erscheint es als Ausgleich für eine in der Bestimmung eines Straftäters durch
verdeckte Ermittler gelegene, dem Staat zurechenbare Unfairness nicht sachgerecht.“
70
Vgl. Roxin/Schünemann (Fn. 61), § 21 Rn. 9 ff.
71
Vgl. Senge, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar
zur Strafprozessordnung, 7. Aufl. 2013, Vorb. zu §§ 48 ff.
Rn. 80. Zuzugeben ist allerdings, dass sich ein Verfahrenshindernis von Verfassungs wegen bereits seiner Natur
nach von den einfachrechtlichen Verfahrenshindernissen
unterscheidet, sodass die Forderung nach formaler Gleichheit
aller Verfahrenshindernisse ohne Rücksicht auf ihre Herkunft
nicht überzeugen kann; Hillenkamp, NJW 1989, 2846; vgl.
auch Waßmer, ZStW 115 (2006), 187.
72
Vgl. oben bei Fn. 49.
73
So ausdrücklich auch EB RV, 1058 BlgNR, XXV. GP,
S. 7: „Es kann davon ausgegangen werden, dass ein solches
Verfolgungshindernis Verstößen gegen § 5 Abs. 3 StPO
vorbeugt, weil der Anreiz [Überführung des Verleiteten]
weitgehend entfallen würde.“
Vgl. oben bei Fn. 42.
Z.B. bei überlanger Verfahrensdauer; vgl. BVerfG, Beschl.
v. 29.9.2000 – 2 BvL 6/00 = NStZ 2001, 261; BVerfG, Beschl. v. 5.2.2003 – 2 BvR 327/02 u.a. = NJW 2003, 2228;
BGH, Urt. v. 25.10.2000 – 2 StR 232/00 = NJW 2001, 1146.
76
BVerfG, Beschl. v. 24.11.1983 – 2 BvR 121/83 = NStZ
1984, 128: „[…] in [bestimmten] Fällen [kann] eine so erhebliche Verletzung des Rechtsstaatsgebots im Strafverfahren
festzustellen sein, daß […] eine Fortsetzung des Verfahrens
rechtsstaatlich nicht mehr hinnehmbar ist“; BGH, Urt. v.
25.10.2000 – 2 StR 232/00 = NJW 2001, 1146 (1148); vgl.
auch Hillenkamp, NJW 1989, 2841 (2846).
77
BVerfG, Beschl. v. 24.11.1983 – 2 BvR 121/83 = NStZ
1984, 128; Hillenkamp, NJW 1989, 2841 (2847), spricht von
einer „Subsidiarität gegenüber in ihren sachlichen Voraussetzungen gegebenen und verfassungsrechtlich ausreichenden
einfachrechtlichen Reaktionsformen geringeren Wirkungsgrades“.
78
Hillenkamp, NJW 1989, 2841 (2847); Scheffler, JZ 1992,
137; Waßmer, ZStW 115 (2006), 188.
79
Beispielsweise kann auf eine Ausspähung der Verteidigung
mit einer Befangenheitsablehnung gegen die Richter und der
Auswechslung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft
reagiert werden; durch eine großzügige Anwendung des
Grundsatzes „in dubio pro reo“ könnte Beweismanipulationen wirksam begegnet werden; die Anwendung von unzulässigen Vernehmungsmethoden zieht ein Beweisverwertungsverbot (§ 136a Abs. 3 StPO) nach sich; vgl. LG Berlin, Urt.
v. 28.1.1991 – (518) 2 P KLs 8/75 (35/89) = StV 1991, 371
(391 ff.); vgl. auch Scheffler, JZ 1992, 137.
80
Vgl. Beulke (Fn. 67), Rn. 457; vgl. auch Roxin/
Schünemann (Fn. 61), § 24 Rn. 22.
81
Vgl. z.B. § 136a Abs. 3 StPO.
75
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ZIS 1/2017
62
Kompensation der unzulässigen staatlichen Tatprovokation
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jedoch erstens den Vorgaben des EGMR gerecht. Zweitens
greifen die hiergegen eingewandten Bedenken (wie dargestellt)82 im Ergebnis nicht durch. Es spricht damit vieles dafür, dass die Rückgriffsmöglichkeit auf ein Verfahrenshindernis von Verfassungs wegen aus rechtssystematischer Sicht
versperrt ist.83 Jedenfalls de lege lata dürfte für Deutschland
von den vorgeschlagenen prozessualen Kompensationsmethoden nur der Lösungsweg über ein Beweisverwertungsverbot gangbar sein.
2. Systemkompatibilität des materiellen Lösungswegs:
Anerkennung eines Strafausschließungsgrunds
Alternativ erscheint auf Ebene des materiellen Rechts die
Annahme eines Strafausschließungsgrunds bei unzulässiger
staatlicher Tatprovokation denkbar, die in Deutschland – im
Gegensatz zu Österreich84 – allerdings kaum noch diskutiert
wird.85 Der 2. Strafsenat des BGH verwirft sie mit der knappen Bemerkung, dass die Annahme eines gesetzlich nicht
geregelten Strafausschließungsgrunds keine anerkannte dogmatische Kategorie darstelle.86 Allerdings dürfte sich eine
solche Konstruktion im Grundsatz nicht weiter vom Gesetzestext entfernen als die Annahme eines nicht positivierten
Verfahrenshindernisses bzw. eines ungeschriebenen Beweisverwertungsverbots. Der „nullum crimen“-Grundsatz zwingt
nur dazu, die Voraussetzungen der Strafbarkeit gesetzlich
niederzulegen; er lässt ungeschriebene Ausschlussgründe zu,
die einer Strafbarkeit entgegenstehen. Eine abschließende
Regelung im Strafgesetz, unter welchen Voraussetzungen ein
Täter straffrei bleibt, erscheint demnach nicht unbedingt
notwendig.87
Auch in Bezug auf materielle Strafausschließungsgründe
sind die rechtstheoretischen Grundlagen noch weitgehend
82
Vgl. oben unter III. 1. a).
Vgl. auch Scheffler, JZ 1992, 137 (138), der allerdings
ausdrücklich ein Beweisverwertungsverbot mit Fernwirkung
fordert, dass auch die Verwertung von Zufallsfunden ausschließen würde: „Sofern man ein Beweisverwertungsverbot
mit Fernwirkung beim unzulässigen Lockspitzeleinsatz anerkennt, wäre […] kaum noch Raum für die Annahme eines
Prozeßhindernisses.“
84
Vgl. Cernusca, Stellungnahme 45/SN-171/ME, S. 2 f.;
El-Ghazi/Zerbes, HRRS 2014, 215; vgl. auch Wiederin, in:
Fuchs/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zur Strafprozessordnung, 205. Lfg., Stand: 2014, § 5 Rn. 134 m.w.N.
85
Zuletzt v. Danwitz, Staatliche Straftatbeteiligung, 2005,
S. 222 ff.; I. Roxin, Die Rechtsfolgen schwerwiegender
Rechtsstaatsverstöße, 4. Aufl. 2004, S. 223.
86
Vgl. oben bei Fn. 42.
87
Dementsprechend sind ungeschriebene Rechtfertigungs(z.B. die rechtfertigende Pflichtenkollision) und Entschuldigungsgründe (z.B. der übergesetzliche entschuldigende Notstand) anerkannt; vgl. Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, Vorb. zu §§ 32 ff. Rn. 2 und 31. Im
materiellen Strafrecht wird zudem eine verfassungskonforme
teleologische Reduktion akzeptiert; vgl. BVerfG, Urt. v.
30.3.2004 – 2 BvR 1520/01 und 2 BvR 1521/01 = NJW
2004, 1305.
83
ungeklärt. Die positivierten Strafausschließungsgründe tragen
teilweise besonderen Konfliktlagen Rechnung (so bei §§ 139
Abs. 3, 173 Abs. 3, 258 Abs. 5, 6 StGB; sog. entschuldigungsnahe Strafausschließungsgründe).88 In diesem Sinne
wird zur Begründung eines materiellen Strafausschließungsgrunds bei unzulässiger Tatprovokation in der Literatur vereinzelt auf das Fehlen eines realen Entscheidungsfreiraums
verwiesen:89 Da staatlicher Verführer und der Verlockte als
Privatperson in ihrem Status abweichen, sei letzterer „nicht
Subjekt einer strafbaren Handlung, sondern Figur in einem
wegen der Initiierung des staatlichen Provokateurs künstlichen Kontakt“.90 Tatsächlich dürfte eine strukturelle Unterlegenheit des Provozierten zum einen aus der Zugehörigkeit
des Provokateurs zur staatlichen Sphäre wie auch aus dessen
überlegenem Wissen folgen. Diese Instrumentalisierung
bedeutet allerdings noch keine Unfreiheit; es besteht lediglich
ein faktisches Machtgefälle, jedoch kein Autonomieverlust
auf Seiten des Provozierten,91 da der bestehende staatliche
Auftrag gerade verheimlicht wird: Der Provokateur tritt wie
ein gleichrangiger „Partner“ auf, sodass sich der Provozierte
nicht „durch die Autorität“ des Provokateurs zur Tatbegehung „veranlaßt sehen kann“.92 Eine besondere Konfliktlage
dürfte demnach nicht vorliegen.
Neben die entschuldigungsnahen Strafausschließungsgründe treten solche, die aus einem außerstrafrechtlichen
Aspekt heraus straffrei stellen; hierzu zählt beispielsweise die
in Art. 46 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verankerte Indemnität.93 Auf dieser Linie liegen Begründungsansätze, die auf
das Fehlen der für eine Verurteilung erforderlichen Distanz
beim an der Straftatbegehung beteiligten Staat abheben:94
Eine unzulässige staatliche Tatprovokation bewirke a priori
einen Verstoß gegen den Grundsatz auf ein faires Verfahren.95 Da im Anschluss keine Möglichkeit mehr bestehe, das
Verfahren fair zu gestalten, seien gerade nicht prozessuale,
sondern materiell-rechtliche Aspekte betroffen; es fehle be-
88
Paeffgen in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 4. Aufl. 2013, Vorb. zu
§§ 32 ff. Rn. 299; vgl. auch Frister, Strafrecht, Allgemeiner
Teil, 7. Aufl. 2015, Kap. 21 Rn. 11 ff.
89
v. Danwitz (Fn. 85), S. 225.
90
v. Danwitz (Fn. 85), S. 223.
91
So auch Sinn/Maly, NStZ 2015, 382. Vgl. auch Dann,
Staatliche Tatprovokation, 2006, S. 285: „Tatprovokation
macht die Zielperson nicht unfrei, sich für oder gegen das
Recht zu entscheiden.“
92
Vgl. BGH, Beschl. v. 13.5.1996 – GSSt 1/96 = NJW 1996,
2941.
93
Zur Wahrung der Unabhängigkeit des Parlaments und
seiner Abgeordneten ist es grundsätzlich unmöglich, Abgeordnete wegen ihres parlamentarischen Verhaltens mit einem
strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zu überziehen (§ 36
StGB); vgl. Frister (Fn. 88), Kap. 21 Rn. 2.
94
So ausdrücklich El-Ghazi/Zerbes, HRRS 2014, 215.
95
EGMR, Urt. v. 9.6.1998 – 25829/94 (Teixeira de Castro v.
Portugal), Rn. 39: „[…] right from the outset, the applicant
was definitively deprived of a fair trial“.
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63
Carolin Schmidt
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reits an einem Bestrafungsrecht des Staates. 96 Dem kann
zunächst entgegengehalten werden, dass der EGMR selbst
auf die Möglichkeit prozessualer Kompensationsmethoden
(z.B. „exclusion of evidence“) hinweist. Seine Rechtsprechung zwingt nicht zu einer Lösung auf Ebene des materiellen Rechts; sie schließt eine solche allerdings auch nicht aus.
Gegen die Anerkennung eines materiellen Strafausschließungsgrunds wird zudem angeführt, dass der staatliche Strafanspruch nicht durch Nachlässigkeiten einzelner dem Staat
zurechenbarer Akteure verwirkbar sei. Insgesamt fuße die
Argumentation auf dem durch die zivilistische Begrifflichkeit
geprägten Missverständnis, beim Strafanspruch handele es
sich überhaupt um ein disponibles Recht. 97 Ob diese eher auf
formaler Ebene angesiedelten Einwände letztlich restlos
überzeugen können, erscheint fraglich, zumal der Verwirkungsgedanke als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und
Glauben einer Korrektur im Hinblick auf übergeordnete Wertungsgesichtspunkte zugänglich sein dürfte.98 Jedenfalls zeigt
die Existenz von materiellen Strafausschließungsgründen,
dass in bestimmten Konstellationen – trotz rechtswidriger
und schuldhafter Begehung einer Straftat – auf Bestrafung
verzichtet werden kann. Im Ergebnis kann mit systematischen Erwägungen die Lösung eines materiellen Strafausschließungsgrunds bei unzulässiger Tatprovokation also wohl
nicht zwingend abgelehnt werden.
3. Hinreichende Berücksichtigung des aus der EMRK
abzuleitenden Verfolgungszwangs
Gegen die Anerkennung eines materiellen Strafausschließungsgrunds (und im Übrigen auch eines Verfahrenshindernisses, unabhängig davon, ob es einfachgesetzlich geregelt
oder unmittelbar aus der Verfassung hergeleitet würde)
spricht aber Folgendes: Angesichts des aus der EMRK abzuleitenden Verfolgungszwangs99 ist im Fall provozierter Gewalttaten eine gewisse Flexibilität der Reaktionsform erforderlich. Dem genügt die starre Rechtsfolge eines Strafausschließungsgrunds oder eines Verfahrenshindernisses
nicht:100 Bei Vorliegen einer unzulässigen staatlichen Tatprovokation müsste ein materieller Strafausschließungsgrund
ungeachtet des Umstands eingreifen, dass die in Aussicht
genommene Straftat gegen hochrangige Individualrechtsgüter
gerichtet ist, da sich Strafausschließungsgründe durch einen
96
Fuchs, ÖJZ 2001, 497. Auch I. Roxin (Fn. 85), S. 223, ist
der Ansicht, dass in den Fällen unzulässiger Tatprovokation
ein staatlicher Strafanspruch niemals entstanden sei.
97
Vgl. BGH, Urt. v. 23.5.1984 – 1 StR 148/84 = NJW 1984,
2300 (2301); Foth, NJW 1984, 221.
98
Beispielsweise ist anerkannt, dass die bereicherungsrechtliche Saldotheorie „aus übergeordneten Gesichtspunkten der
Billigkeit“ nicht zulasten eines Minderjährigen Anwendung
finden darf. Insoweit scheitert die Berufung auf Treu und
Glauben am „Vorrang des Schutzes von Minderjährigen“,
vgl. OLG München BeckRS 2007, 00778; vgl. auch AG
Jena, NJW-RR 2001, 1469 (betr. Schwarzfahrt eines Minderjährigen).
99
Vgl. oben unter I. 2.
100
So auch Kinzig, StV 1999, 292.
„apodiktischen“ Gehalt auszeichnen. 101 Auch ein Verfahrenshindernis beendet den Prozess „ohne Wenn und Aber“.
Die Notwendigkeit einer Abwägung unterschiedlicher Gesichtspunkte ist den Verfahrenshindernissen wesensfremd. 102
Insoweit verfängt auch das Argument des 2. Strafsenats des
BGH nicht, dass die Abwägungsfeindlichkeit von Verfahrenshindernissen mangels Spielraums zurückstehen müsse. 103
Denn im Hinblick auf Gewaltdelikte belässt die EMRK nicht
nur Raum für eine Abwägung zwischen dem Gewicht des
Verstoßes und der Schwere des Delikts; zumindest bei
schweren Gefährdungen oder sogar Beeinträchtigungen des
Rechts auf Leben, der körperlichen Unversehrtheit und der
sexuellen Selbstbestimmung zwingt die EMRK sogar zu
einer angemessenen Strafverfolgung.
Dagegen kann die Verfolgungspflicht, wie sie der Konvention in Bezug auf Straftaten gegen die hochrangigen Individualrechtsgüter der Art. 2, 3 und 8 EMRK immanent ist,
mit Annahme eines Beweisverwertungsverbots im Rahmen
der Abwägungslehre104 konsequent nachvollzogen werden.
Insoweit ist gerade auch die Schwere des Tatvorwurfs zu
berücksichtigen. Bei schwerwiegenden Delikten besteht ein
Vorrang der Strafverfolgungsinteressen gegenüber den durch
die Beweisführung beeinträchtigten Interessen des Beschuldigten. In einer solchen Konstellation muss ein Beweisverwertungsverbot im Hinblick auf Beweismittel für die unzulässigerweise provozierte Straftat abgelehnt werden, um den
völkerrechtlichen Verpflichtungen zu genügen.
IV. Fazit
Mithilfe des flexiblen Instruments eines Beweisverwertungsverbots kann die Rechtsprechung des EGMR konsistent und
schonend in das nationale System integriert werden. Dies gilt
umso mehr, wenn entsprechend den Empfehlungen des Berichts der Expertenkommission105 das Verbot rechtsstaatswidriger Tatprovokation in Deutschland erstmals gesetzlich verankert werden sollte.106 Denn im Fall einer rechtswidrigen
Beweiserhebung wird grundsätzlich in erster Linie ein (unselbständiges) Beweisverwertungsverbot angedacht.107 Dementsprechend erscheint auch der Ansatz des österreichischen
101
Paeffgen (Fn. 88), Vorb. zu §§ 32 ff. Rn. 299b. A.A. wohl
Fuchs, ÖJZ 2001, 497, der im Fall der Provokation von Straftaten gegen „zentrale Rechtsgüter des Einzelnen“ keinen
materiellen Strafausschließungsgrund anerkennen will, freilich ohne die Grundlagen eines solchen „Strafausschließungsgrund[s] eigener Art“ näher zu erläutern.
102
Volk/Engländer, Grundkurs StPO, 8. Aufl. 2013, § 14
Rn. 25; Volk, StV 1986, 36.
103
Vgl. oben bei Fn. 47.
104
Vgl. zur Abwägungslösung BVerfG, Beschl. v. 14.9.1989
– 2 BvR 1062/87 = NJW 1990, 563 (564); Roxin/
Schünemann (Fn. 61), § 24 Rn. 30; vgl. für Österreich
Roeder, ÖJZ 1974, 345; Schmoller, in: Fuchs/Ratz (Fn. 84),
§ 3 Rn. 58.
105
Fn. 5.
106
Zu ersten Vorschlägen siehe Tyszkiewicz (Fn. 58), S. 210
und Schmidt (Fn. 30), Teil 3, D.
107
Vgl. Roxin/Schünemann (Fn. 61), § 24 Rn. 21.
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ZIS 1/2017
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Kompensation der unzulässigen staatlichen Tatprovokation
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Ministerialentwurfs gegenüber demjenigen der Regierungsvorlage als vorzugswürdig – allerdings mit der Maßgabe,
dass (da die Rechtsprechung des EGMR im Grundsatz ein
umfassendes Beweisverwertungsverbot verlangt) als „sonstige gewichtige Beweisergebnisse“, die einen Schuldspruch
auch bei unzulässiger Tatprovokation ermöglichen, nur solche in Betracht kommen, die eine gegen hochrangige Individualrechtsgüter gerichtete Straftat betreffen (bzw. Zufallsfunde für andere Straftaten darstellen).
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Das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ im Spannungsfeld zwischen
Europäisierung und nationalen Sicherheitsinteressen
Plädoyer für einen vermittelnden Standpunkt
Von Dr. Erik Duesberg, Münster
I. Einleitung
Im September 2014 wurde Zoran Spasic durch das AG Regensburg wegen Betrugs und versuchten Betrugs zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt, nachdem das Tribunale ordinario di Milano bereits
zwei Jahre zuvor wegen derselben Tat eine bis heute nicht
vollstreckte einjährige Freiheitsstrafe ausgesprochen hatte.
Im August 2009 verurteilte das LG München1 den damals 90jährigen Josef Scheungraber wegen im zweiten Weltkrieg
verübter rachsüchtiger Tötungen unschuldiger Zivilisten zu
lebenslanger Freiheitsstrafe, obwohl wegen derselben Tat
bereits ein – wiederum nie vollstrecktes – Urteil eines Militärgerichts im italienischen La Spezia ergangen war. Kurze
Zeit später sah sich auch das LG Aachen2 trotz einer vorangegangenen rechtskräftigen aber nie vollstreckten ausländischen Verurteilung durch den Sondergerichtshof zu Amsterdam nicht daran gehindert, den Naziverbrecher Heinrich
Boere wegen niederträchtiger Vergeltungsmorde zu lebenslanger Freiheitsstrafe zu verurteilen.
Doppelverurteilungen wie diese wirken in einem auf gegenseitigem Vertrauen in die nationalen Strafrechtspflegesysteme samt wechselseitiger Anerkennung nationaler justizieller Entscheidungen aufbauenden europäischen Freiheitsraum
äußerst deplatziert. Die Entscheidungen der deutschen Gerichte mögen insofern als von antiquiertem Souveränitätsstreben geleitete nationale Alleingänge zu Lasten bereits
verurteilter Straftäter erscheinen. Unter Sicherheitsgesichtspunkten mag man die Gerichtsentscheidungen hingegen –
zumindest ihrer grundlegenden Zielsetzung nach – begrüßen.
Denn die nochmaligen Verurteilungen Spasics, Scheungrabers und Boeres wurzelten in dem Bestreben, verurteilte
Straftäter im Interesse einer funktionsfähigen, abschreckenden und von den Normadressaten akzeptierten Strafrechtspflege einer Strafvollstreckung zuzuführen, die im Ersturteilsstaat unterblieben war.3
Dieser Konflikt zwischen Freiheits- und Sicherheitsbedürfnissen bildet den Anlass, die Zulässigkeit europäischer
LG München I, Urt. v. 11.8.2009 – 1 Ks 115 Js 10394/07.
LG Aachen, Urt. v. 23.3.2010 – 52 Ks 45 Js 18/83 – 10/09
= StraFo 2010, 190.
3
Im Fall Spasic hielt das AG Regensburg eine nochmalige
Verurteilung mit anschließender Strafvollstreckung für erforderlich, weil sich die italienische Justiz aufgrund eines haftbedingten Aufenthalts Spasics in Österreich nicht weiter um
eine Vollstreckung der zuvor verhängten Strafe bemüht hatte.
Mit den Verurteilungen Boeres und Scheungrabers wollten
die deutschen Landgerichte einen Vollstreckungstitel schaffen, um vor ausländischer Strafvollstreckung geflohene Naziverbrecher endlich einer gerechten Bestrafung zuführen zu
können.
1
2
Doppelbestrafungen, wie sie in den Rechtssachen Spasic,
Scheungraber und Boere ergingen, zu untersuchen.
II. Normative Ausgangslage
In der deutschen Rechtsordnung findet sich ein Doppelbestrafungsverbot in Art. 103 Abs. 3 GG. Die Norm bindet – ebenso wie nationale ne bis in idem-Vorschriften anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union – allein die nationale
Strafjustiz.4 Für ausländische Strafverfolgungsbehörden und
Gerichte vermag sie insofern keine Bindungswirkung zu
entfalten, als das völkerrechtlich anerkannte Prinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten verbietet, einem anderen
Staat eigenmächtig die Durchsetzung seines souveränitätsgetragenen Strafanspruchs zu untersagen.5 Völkerrechtlich
zulässig wäre hingegen eine Selbstbeschränkung der nationalen Jurisdiktion, indem ausländische Aburteilungen im Inland
als Verfolgungshindernis anerkannt werden. In Deutschland
entschied man sich gegen ein solches Erledigungsprinzip.
Seither normierte zunächst § 7 RStGB, dass bereits im Ausland verurteilte Straftäter grundsätzlich nochmals im Inland
abgeurteilt werden dürfen. Heute wird dieses Ergebnis aus
einem Gegenschluss zu § 51 Abs. 3 StGB hergeleitet. Im
Falle einer Verurteilung ist die ausländische Strafe allerdings
grundsätzlich auf die in Deutschland verhängte Sanktion
anzurechnen.6 Der Verfassungsgeber legte diese gesetzgeberische Entscheidung bei Erlass des offen formulierten
Art. 103 Abs. 3 GG zugrunde.7 Art. 25 GG, der allgemeinen
Regeln des Völkerrechts Vorrang vor den einfachen Gesetzen
zuschreibt,8 steht dieser Regelung schon insofern nicht entgegen, als ein zwischenstaatliches Erledigungsprinzip man4
BVerfGE 12, 62 (66); 75, 1 (18); BVerfG NJW 2012, 1202
(1203); Ambos, Internationales Strafrecht, 4. Aufl. 2014, § 4
Rn. 5; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht,
7. Aufl. 2015, § 10 Rn. 65; Weißer, in: Schulze/Zuleeg/
Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 3. Aufl. 2015, § 42 Rn. 125;
dies., ZJS 2014, 589.
5
Vgl. nur Weißer, ZJS 2014, 589.
6
Siehe auch § 153c Abs. 2 StPO sowie § 450a StPO. Das
Anrechnungsprinzip trägt dem Übermaßverbot Rechnung,
vgl. BVerfGE 29, 312 (316); 71, 1 (16); Eckstein, ZStW 124
(2012), 490 (497).
7
Vgl. Parlamentarischer Rat, Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland,
1948/1949, Drs. 850 und 854, S. 49; siehe auch BVerfG
HRRS 2008, Nr. 378, Rn. 18 f.; Merkel/Scheinfeld, ZIS 2012,
206 (207).
8
Näher zum Anwendungsvorrang allgemeiner Regeln des
Völkerrechts gem. Art. 25 GG, BVerfGE 23, 288 (316 f.); 36,
342 (365); Jarass/Pieroth, Kommentar, Grundgesetz,
14. Aufl. 2016, Art. 25 Rn. 14; Stein/v. Buttlar/Kotzur, Völkerrecht, 14. Aufl. 2017, Rn. 202.
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ZIS 1/2017
66
Das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ
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gels entsprechenden Konsenses der Staatengemeinschaft
keine allgemeine Regel des Völkerrechts darstellt.9
Im Gegensatz zur rein innerstaatlichen Ausrichtung der
deutschen ne bis in idem-Regelung finden sich auf europäischer Ebene mit Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) gleich zwei zwischenstaatliche Doppelbestrafungsverbote. Art. 54 SDÜ geht auf
eine Einigung zwischen Belgien, Deutschland, Frankreich,
den Niederlanden und Luxemburg aus dem Jahre 1990 zurück. Die Vertragsstaaten vereinbarten einen wechselseitigen
Verzicht auf die Ausübung souveränitätsgetragener Strafgewalt zum Zwecke einer Vermeidung freiheitsbeschränkender
Doppelbestrafungen.10 In einem Vertragsstaat bereits rechtskräftig abgeurteilte Personen sollten sich grundsätzlich darauf
verlassen können, nicht nochmals wegen derselben Sache in
einem anderen Vertragsstaat verfolgt und ggf. bestraft zu
werden. Zudem sollte einer Ressourcenverschwendung durch
mehrfache Verfolgungen ein und derselben Tat vorgebeugt
werden. Im Jahre 1999 wurde Art. 54 SDÜ im Zuge des
Amsterdamer Vertrages in den Rechtsbesitzstand der Europäischen Union überführt.11 Die Norm galt fortan in den Mitgliedstaaten der Union12 im Rang von EU-Sekundärrecht.
Art. 50 GRC normiert seit 2009 ein zwischenstaatliches
europäisches Doppelbestrafungsverbot als Justizgrundrecht
im Rang von Unionsprimärrecht, vgl. Art. 6 Abs. 1 EUV. 13
Die Norm trägt der fortgeschrittenen Europäisierung vor
allem im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen Rechnung. In einem auf Kooperation und gegenseitigem
Vertrauen aufbauenden einheitlichen Raum der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts i.S.d. Art. 3 Abs. 2 EUV sollten
Doppelbestrafungen fortan grundsätzlich ausgeschlossen
sein.
Sowohl Art. 50 GRC als auch Art. 54 SDÜ normieren –
unter Verwendung unterschiedlicher Terminologien – als
Voraussetzung eines europäischen Strafklageverbrauchs eine
rechtskräftige Aburteilung derselben Tat.14 Darüber hinaus
verlangt allein Art. 54 SDÜ, dass im Falle einer vorangegangenen Verurteilung die verhängte Sanktion bereits vollstreckt
worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des
Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann. In den
Rechtssachen Spasic, Boere und Scheungraber kam es entscheidend darauf an, ob dieses Vollstreckungselement mit
Inkrafttreten des ohne eine solche Voraussetzung formulierten Art. 50 GRC im Jahre 2009 entfallen ist oder aber als
9
13
BVerfGE 75, 1 (18); BVerfG NJW 2012, 1202; BGHSt 34,
334 (340); 46, 93 (106); 51, 150 (155 f.).
10
Vgl. EuGH, Urt. v. 11.2.2003 – Rs. C 187/01 und C385/01 (Gözütok und Brügge) = Slg. 2003, I-1345, Rn. 33;
Böse, GA 2003, 744 (752 f., 760).
11
Siehe das Protokoll zur Einbeziehung des SchengenBesitzstands in den Rahmen der Europäischen Union v.
2.10.1997, ABl. EG 1997 Nr. C 340, S. 93.
12
Im Vereinigten Königreich und Irland gilt das SDÜ nur
eingeschränkt. An Art. 54-58 SDÜ sind beide Staaten allerdings derzeit – zumindest bis zur Vollziehung des votierten
EU-Austritts – grundsätzlich gebunden, vgl. hinsichtlich des
Vereinigten Königreichs Art. 1 lit. a, lit. i des Beschlusses
2000/365/EG des Rates v. 29.5.2000 zum Antrag des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, einzelne
Bestimmungen des Schengen-Besitzstands auf sie anzuwenden, ABl. EG 2000 Nr. L 131, S. 44 i.d.F. des Beschlusses
2014/857/EU des Rates v. 1.12.2014, ABl. EU 2014 Nr. L
345, S. 3; Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses 2004/926/EG des
Rates v. 22.12.2004 über das Inkraftsetzen von Teilen des
Schengen-Besitzstands durch das Vereinigte Königreich
Großbritannien und Nordirland, ABl. EU 2004 Nr. L 395,
S. 70; hinsichtlich Irland Art. 1 lit. a, lit i Beschluss
2002/192/EG des Rates v. 28.2.2002 zum Antrag Irlands auf
Anwendung einzelner Bestimmungen des SchengenBesitzstands auf Irland, ABl. EG 2002 Nr. L 64, S. 21. Zu
Besonderheiten in Dänemark, Bulgarien, Rumänien, Kroatien
und Zypern vgl. Esser, Europäisches und Internationales
Strafrecht, 3. Aufl. 2016, § 4 Rn. 17; Röben, in:
Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen
Union, 57. Lfg., Stand: August 2015, Art. 67 AEUV Rn. 151;
Weißer (Fn. 4 – Europarecht), § 42 Fn. 32. Neben den EUStaaten sind auch Island, Liechtenstein, Norwegen und die
Schweiz am SDÜ beteiligt.
Art. 50 GRC bindet die Mitgliedstaaten der Union gem.
Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC, wenn sie „Unionsrecht durchführen“. Berufen sich nationale Strafverfolgungsbehörden oder
Gerichte aufgrund einer vorangegangenen Aburteilung in
einem EU-Mitgliedstaat auf das Prinzip ne bis in idem, praktizieren sie das Prinzip gegenseitiger Anerkennung i.S.d.
Art. 82 Abs. 1 AEUV, vgl. Satzger (Fn. 4), § 10 Rn. 70;
Weißer (Fn. 4 – Europarecht), § 42 Rn. 126, ebenso wie das –
im Falle mehrfacher Strafverfolgungen innerhalb der EU
beschränkte – Freizügigkeitsrecht i.S.d. Art. 21 AEUV, vgl.
Böse, in: Esser/Günther/Jäger/Mylonopoulos/Öztürk (Hrsg.),
Festschrift für Hans-Heiner Kühne zum 70. Geburtstag, 2013,
S. 519 (525); ders., GA 2011, 504 (505); Weißer (Fn. 4 –
Europarecht), § 42 Rn. 126; siehe auch BGH NJW 2014,
1025 (1027). Eine Durchführung von Unionsrecht i.S.d. Art.
51 Abs. 1 S. 1 GRC liegt dann vor. Zur innerstaatlichen sowie supranationalen Dimension des Art. 50 GRC vgl. Eser,
in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen
Union, 4. Aufl. 2014, Art. 50 GRC Rn. 5 ff.; Stalberg, Zum
Anwendungsbereich des Art. 50 der Charta der Grundrechte
der Europäischen Union, 2013, S. 41 ff., 213 ff., 295 ff.
14
Vgl. im Einzelnen zum Tatbegriff EuGH, Urt. v. 9.3.2006
– Rs. C-436/04 (van Esbroeck) = Slg. 2006, I-2333, Rn. 42;
Urt. v. 28.9.2006 – Rs. C-150/05 (van Straaten) = Slg. 2006,
I-9327, Rn. 53; Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-288/05 (Kretzinger)
= Slg. 2007, I-6441, Rn. 37; Urt. v. 18.7.2007 – Rs. C-367/05
(Kraaijenbrink) = Slg. 2007, I-6619, Rn. 36; Duesberg, Der
Tatbegriff in §§ 3 und 9 Abs. 1 StGB, 2016. Zum Merkmal
der „rechtskräftigen Aburteilung“ vgl. EuGH, Urt. v.
11.2.2003 – Rs. C 187/01 und C-385/01 (Gözütok und Brügge) = Slg. 2003, I-1345; Urt. v. 5.6.2014 – Rs. C-398/12
(M.); Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. 2015, § 13
Rn. 23 ff.; Mansdörfer, Das Prinzip des ne bis in idem im
europäischen Strafrecht, 2004, S. 171 ff.
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67
Erik Duesberg
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Voraussetzung europäischen zwischenstaatlichen Strafklageverbrauchs fortgilt.
III. Pauschale Fortgeltung des Vollstreckungselements
Die Landgerichte Aachen15 und München16 stellten sich in
den Rechtssachen Boere und Scheungraber auf den Standpunkt, das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ gelte
nach Inkrafttreten des Art. 50 GRC fort. Mangels Vollstreckung der – nach italienischem bzw. niederländischem Recht
vollstreckbaren – Urteile des italienischen Militärgerichts
bzw. des niederländischen Sondergerichtshofs sahen sie die
Voraussetzungen des europäischen Doppelbestrafungsverbots
als nicht erfüllt an. Der BGH17 bestätigte die Entscheidungen
der Landgerichte, ohne dem EuGH die Frage nach der Fortgeltung des Vollstreckungselements zur Vorabentscheidung
vorzulegen. Zu einem Vorabentscheidungsverfahren kam es
erst in der Rechtssache Spasic, nachdem das mit einer Haftbeschwerde befasste OLG Nürnberg18 an der Fortgeltung des
Vollstreckungselements zweifelte. Der EuGH 19 sprach sich
für eine Fortgeltung des Vollstreckungselements aus und
bekräftigte damit die allein den Aspekt der Sicherheit hervorhebende Vorgehensweise der nationalen Gerichte, verurteilte
Straftäter im Wege der Doppelbestrafung einer Strafvollstreckung zuzuführen. Teile des Schrifttums 20 teilen diese Auffassung.
Methodisch wird die Fortgeltung des Vollstreckungselements vor allem mit der Erwägung begründet, Art. 54 SDÜ
statuiere eine legitime Beschränkung des Justizgrundrechts
aus Art. 50 GRC i.S.d. Art. 52 Abs. 1 GRC. Demnach sind
Einschränkungen der Charta-Grundrechte zulässig, wenn sie
gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt des Grundrechts achten und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen.21 Das in Art. 54 SDÜ vorgesehene VollstreckungseleLG Aachen, Urt. v. 23.3.2010 – 52 Ks 45 Js 18/83 – 10/09
= StraFo 2010, 190.
16
LG München I, Urt. v. 11.8.2009 – 1 Ks 115 Js 10394/07.
17
BGHSt 56, 11 (14 f.) bzw. BGH, Beschl. v. 1.12.2010 – 2
StR 420/10.
18
OLG Nürnberg, Beschl. v. 19.3.2014 – 2 Ws 98/14.
19
EuGH (Große Kammer), Urt. v. 27.5.2014 – Rs. C-129/14
(Spasic), Rn. 74.
20
Ambos (Fn. 4), § 10 Rn. 132; Burchard/Brodowski, StraFo
2010, 179 (183); Eckstein, ZStW 124 (2012), 490 (523);
Esser (Fn. 12), § 7 Rn. 44; Hackner, NStZ 2011, 425 (429);
Hecker, JuS 2014, 845 (846 f.); Pauckstadt-Maihold, in:
Bockemühl/Gierhake/Müller/Walter/Knauer (Hrsg.), Festschrift für Bernd von Heintschel-Heinegg zum 70. Geburtstag, 2015, S. 359 (362); Radtke, in: Böse (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 9: Europäisches Strafrecht, 2013, § 12
Rn. 58; Rosbaud, StV 2013, 289 (294); Satzger (Fn. 4), § 10
Rn. 70; ders., in: Heinrich/Jäger/Achenbach/Amelung/Bottke/
Haffke/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Strafrecht als Scientia
Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag
am 15. Mai 2011, 2011, S. 1515 (1523 ff.).
21
EuGH (Große Kammer), Urt. v. 27.5.2014 – Rs. C-129/14
(Spasic), Rn. 58; BGHSt 56, 11 (14 f.); Ambos (Fn. 4), § 10
Rn. 119; Eckstein, ZStW 124 (2012), 490 (523); ders., JR
15
ment verfolge mit der Erwägung, Straftäter einer im Ersturteilsstaat unterbliebenen Strafvollstreckung zuführen zu können, eine verhältnismäßige Zielsetzung.22 Der Wesensgehalt
des europäischen Doppelbestrafungsverbots aus Art. 50 GRC
werde gewahrt, weil zwischenstaatliche Doppelaburteilungen
derselben Tat nach wie vor im Grundsatz verboten blieben.23
IV. Pauschaler Wegfall des Vollstreckungselements
Vor allem im neueren Schrifttum24 wird demgegenüber die
Meinung vertreten, das Erfordernis eines Vollstreckungselements sei mit Inkrafttreten des Art. 50 GRC entfallen. In den
Rechtssachen Boere, Scheungraber und Spasic wäre demnach
aufgrund der rechtskräftigen Urteile in den Niederlanden
bzw. in Italien europäischer transnationaler Strafklageverbrauch eingetreten. Boere, Scheungraber und Spasic hätten
somit in Deutschland infolge eines Verfahrenshindernisses
weder nochmals verfolgt, noch ein zweites Mal verurteilt
werden dürfen. Den Freiheitsinteressen der Täter an einmaliger Strafverfolgung wird damit pauschal der Vorrang vor
etwaig bestehenden Strafvollstreckungsinteressen eingeräumt.
Methodisch stützt sich diese Ansicht auf das Rangverhältnis zwischen Art. 50 GRC und Art. 54 SDÜ. Der primärrechtliche Art. 50 GRC verdränge den sekundärrechtlichen
Art. 54 SDÜ nach dem Grundsatz lex superior derogat legi
inferiori.25 Wenn demgegenüber teilweise zusätzlich mit dem
Grundsatz lex posterior derogat legi priori argumentiert
wird,26 vermag das insofern nicht gänzlich zu überzeugen, als
sich die zeitliche Geltung – d.h. das Außerkrafttreten – von
Unionsrecht nach Art. 9 des Protokolls Nr. 36 über die Übergangsbestimmungen zum Vertrag von Lissabon27 richtet.
Demnach sind „Übereinkommen, die auf Grundlage des
2015, 421 (428); Hackner, NStZ 2011, 425 (429); Hecker,
JuS 2014, 845 (847); ders., JuS 2012, 261 (262); Radtke
(Fn. 20), § 12 Rn. 58; Rosbaud, StV 2013, 289 (294); Satzger
(Fn. 4), § 10 Rn. 70; ders. (Fn. 20 – FS Roxin), S. 1523 ff.
22
EuGH (Große Kammer), Urt. v. 27.5.2014 – Rs. C-129/14
(Spasic), Rn. 64, 65, 73, 74; BGHSt 56, 11 (15); Ambos
(Fn. 4), § 10 Rn. 132; Hecker, JuS 2012, 261 (262); Eckstein,
JR 2015, 421 (428); Rosbaud, StV 2013, 289 (294).
23
EuGH (Große Kammer), Urt. v. 27.5.2014 – Rs. C-129/14
(Spasic), Rn. 58; BGHSt 56, 11 (15); Ambos (Fn. 4), § 10
Rn. 132; Hackner, NStZ 2011, 425 (429); Hecker, JuS 2012,
261 (262); Rosbaud, StV 2013, 289 (294).
24
Anagnostopoulos, in: Neumann/Herzog (Hrsg.), Festschrift
für Winfried Hassemer, 2010, S. 1121 (1135); Böse, GA
2011, 504 (508 ff.); Eser, in: Sieber/Satzger/v. HeintschelHeinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2014, § 36
Rn. 78; Heger, ZIS 2009, 406 (408); Merkel/Scheinfeld, ZIS
2012, 206 (208 ff.); Meyer, HRRS 2014, 269 (271 ff.);
Stalberg (Fn. 13), S. 174 ff., 179; Swoboda, JICJ 2011, 243
(262 f., 265); Weißer (Fn. 4 – Europarecht), § 42 Rn. 132 f.;
dies., ZJS 2014, 589 (592 f.)
25
Eser (Fn. 24), § 36 Rn. 78; Stalberg (Fn. 13), S. 174 ff.,
179.
26
So z.B. Merkel/Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (208).
27
ABl. EU 2008 Nr. C 115, S. 322.
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ZIS 1/2017
68
Das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ
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Vertrags über die Europäische Union zwischen Mitgliedstaaten“ vor Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages geschlossen
wurden, solange gültig, „bis sie in Anwendung der Verträge
aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert werden“. Eine
solche Aufhebung, Nichtigerklärung oder Änderung ist bis
heute – zumindest sofern man nicht das Inkrafttreten einer
höherrangigen Regelung als Aufhebung der niederrangigeren
einstuft28 – nicht erfolgt.
V. Vermittelnder Standpunkt
Die methodischen Begründungen beider Standpunkte erscheinen zwar auf den ersten Blick plausibel. Gerechte ne bis
in idem-Entscheidungen vermag allerdings keiner der Ansätze zu erzeugen. Eine pauschale Fortgeltung des Vollstreckungselements führte zu dem unbefriedigenden Ergebnis,
dass beispielsweise selbst Kleinkriminelle oder haftunfähige
Täter nach langwierigen freiheitsbeschränkenden Strafverfahren im Ersturteilsstaat eine erneute Verfolgung und Bestrafung über sich ergehen lassen müssten. Nicht weniger unbefriedigend wäre es, wenn selbst gefährliche Schwerstverbrecher infolge eines pauschalen Wegfalls des Vollstreckungselements im Einzelfall einer Strafvollstreckung entgehen
könnten. Es bedarf demzufolge einer flexibleren Lösung. Die
folgende Auslegung zeigt, dass die Art. 50 GRC, 54 SDÜ
hierfür offen sind.
1. Erläuterungen zu Art. 50 GRC
In entstehungsgeschichtlicher Hinsicht sind zunächst die
Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtekonvents zu
Art. 50 GRC von Interesse. Gem. Art. 52 Abs. 7 der GRC
sind diese „als Anleitung für die Auslegung der Charta […]
gebührend zu berücksichtigen“. Welches Gewicht den Erläuterungen zukommt, lässt sich dieser in sämtlichen Sprachfassungen allgemein gehaltenen Formulierung nicht eindeutig
entnehmen. Klar ist zumindest, dass die Erläuterungen keinen
rechtsverbindlichen Charakter aufweisen. Denn „gebührend
zu berücksichtigen“ heißt jedenfalls nicht „verbindlich anzuwenden“.29 Gleichwohl zeigt die Erwähnung der Erläuterungen sowohl in Art. 52 Abs. 7 GRC als auch in der Präambel
der GRC, dass dem Grundrechtekonvent eine Berücksichtigung der – zum Zwecke einer besseren Verständlichkeit der
Chartainhalte verfassten30 – Erläuterungen wichtig war. Darüber hinaus sah sich auch der Unionsgesetzgeber dazu veranlasst, den Charakter der Erläuterungen als Auslegungshilfe
nochmals an einer zentralen Stelle des EU-Vertrages in Art. 6
28
Vgl. hierzu Walther, ZJS 2013, 16 (18).
Ähnlich Burchard/Brodowski, StraFo 2010, 179 (183);
Eckstein, ZStW 124 (2012), 490 (522); Scheuing, EuR 2005,
162 (185). In den Erläuterungen heißt es außerdem ausdrücklich: „Diese Erläuterungen haben als solche keinen rechtlichen Status, stellen jedoch eine nützliche Interpretationshilfe
dar, die dazu dient, die Bestimmungen der Charta zu verdeutlichen.”, ABl. EU 2007 Nr. C 303, S. 17.
30
Vgl. ABl. EU 2007 Nr. C 303, S. 17.
29
Abs. 1 UAbs. 3 EUV hervorzuheben und sie den Normadressaten im Amtsblatt31 zugänglich zu machen.
In den Erläuterungen zu Art. 50 GRC heißt es: „Nach Artikel 50 findet die Regel „ne bis in idem“ […] auch zwischen
den Gerichtsbarkeiten mehrerer Mitgliedstaaten Anwendung.
Dies entspricht dem Rechtsbesitzstand der Union; siehe die
Artikel 54 bis 58 des Schengener Durchführungsübereinkommens […]. Die klar eingegrenzten Ausnahmen, in denen
die Mitgliedstaaten nach diesen Übereinkommen von der
Regel „ne bis in idem“ abweichen können, sind von der horizontalen Klausel des Artikels 52 Absatz 1 über die Einschränkungen abgedeckt.“32 Nach Meinung des BGH33 und
des EuGH34 nimmt der Passus „Die klar eingegrenzten Ausnahmen, in denen die Mitgliedstaaten nach diesen Übereinkommen von der Regel ne bis in idem abweichen können“
das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ in Bezug. Die
Gerichte lesen die Erläuterungen wie folgt: „Das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ ist von der horizontalen
Klausel des Artikels 52 Absatz 1 über die Einschränkungen
abgedeckt“. In der Rechtssache Scheungraber bezeichnete der
BGH diese Interpretation der Erläuterungen als „offenkundig
und unzweifelhaft“.35 Hinter dieser Formulierung verbirgt
sich das Bestreben des Senats, unter Berufung auf die acteclair-Doktrin des EuGH36 einem Vorabentscheidungsverfahren zu entgehen, das eine Beendigung des Hauptverfahrens
aufgrund des hohen Alters und kritischen Gesundheitszustands des damals 90-jährigen Scheungrabers gefährdet hätte.37 Angesichts der großen Bedeutung eines Verfahrensabschlusses für eine verspätete justizielle Aufarbeitung und
zumindest partielle Abgeltung der niederträchtigen nationalsozialistisch motivierten Taten Scheungrabers38 insbesondere
im Interesse des überlebenden Opfers Gino M. und der Angehörigen der 14 getöteten Opfer, ist das Vorgehen des Senats moralisch und rechtspolitisch nachvollziehbar.
31
ABl. EU 2007 Nr. C 303, S. 17 ff.
ABl. EU 2007 Nr. C 303, S. 31.
33
BGHSt 56, 11 (15).
34
EuGH (Große Kammer), Urt. v. 27.5.2014 – Rs. C-129/14
(Spasic), Rn. 54 f.
35
BGHSt 56, 11 (15). Eine gegen diese Vorgehensweise
gerichtete Verfassungsbeschwerde wegen einer Entziehung
des gesetzlichen Richters i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG
nahm das BVerfG nicht zur Entscheidung an, BVerfG NJW
2012, 1202, zur Kritik an dieser Entscheidung siehe V. 4.
36
EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 (C.I.L.F.I.T.) = Slg.
1982, 3415, Rn. 16; Urt. v. 6.12.2005 – Rs. C-461/03 (Gaston
Schul) = Slg. 2005, I-10513, Rn. 16.
37
Vgl. Merkel/Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (212 f.); Swoboda,
JICJ 2011, 243 (268).
38
Scheungraber gab im Jahre 1944 als Kommandant eines
Gebirgsbataillons seinen Soldaten den Befehl, zum Zwecke
der Vergeltung eines vorangegangen Partisanenangriffs willkürlich aufgegriffene Zivilisten in ein Bauernhaus einzusperren und das Haus anschließend zu sprengen. Nur der damals
fünfzehnjährige Junge Gino M. überlebte den Angriff schwer
verletzt.
32
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69
Erik Duesberg
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In der Sache lag ein acte clair allerdings nicht vor. Die
Fehlbeurteilung des BGH scheint in einer methodisch ungenauen Interpretation der Chartaerläuterungen zu wurzeln. Die
Ungenauigkeit liegt darin, dass der Senat – in Übereinstimmung mit dem Großteil des deutschen Schrifttums39 – wohl
allein die deutsche Sprachfassung der Erläuterungen heranzieht. Eine solche Vorgehensweise missachtet den Charakter
des Art. 50 GRC und seiner Erläuterungen als Ergebnis einer
Einigung zwischen europäischen Staaten. Um den Inhalt
dieser Einigung zu ermitteln, bedarf es – mangels vorrangig
zu berücksichtigender Sprachfassungen – einer Berücksichtigung sämtlicher Sprachfassungen. 40 Nimmt man verschiedene Sprachfassungen in den Blick, ergibt sich dann auch ein
ganz anderes Bild als bei alleiniger Betrachtung der deutschen Fassung. So heißt es beispielsweise in der englischen
Fassung der Erläuterungen anstelle von „Die klar eingegrenzten Ausnahmen“ „The very limited exceptions“. In der französischen Fassung ist von „Les exceptions très limitées“ die
Rede. Und die italienische Fassung spricht von „Lecessioni
molto limitate“. All diese Formulierungen lassen sich mit
„sehr enge Ausnahmen“ oder „sehr begrenzte Ausnahmen“
übersetzen. Das Vollstreckungselement ist damit jedenfalls
nicht gemeint. Denn dieses statuiert eine weitläufige Voraussetzung des in Art. 54 SDÜ normierten Doppelbestrafungsverbots: Das Vollstreckungselement ist weitläufig statt eng
oder sehr begrenzt, weil es den Eintritt europäischen Strafklageverbrauchs regelmäßig bis zum Vollstreckungsbeginn
hinauszögert. Es statuierte eine Voraussetzung statt eine Ausnahme, weil es in Art. 54 SDÜ nicht etwa „es sei denn“ oder
„außer“ heißt, sondern „vorausgesetzt, dass“. 41 Das letztgenannte Argument mag auf den ersten Blick insofern als wenig
bedeutsam erscheinen, als es in Art. 54 SDÜ statt „vorausgesetzt, dass die Strafe vollstreckt wird [usw.]“ etwa ebenso gut
hätte heißen können „es sei denn, die Strafe wurde noch nicht
vollstreckt [usw.]“. Ein solcher Einwand verkennt allerdings
den Bezugspunkt der Argumentation: Vorliegend geht es um
den Inhalt der Erläuterungen zu Art. 50 GRC. Wenn hier von
bestimmten in Art. 54-58 SDÜ normierten Ausnahmen die
Rede ist, wird die Art. 54-58 SDÜ zugrunde liegende Systematik und Terminologie in Bezug genommen. Und der in den
Erläuterungen enthaltene Passus „Ausnahmen, in denen die
Mitgliedstaaten […] von der Regel ,ne bis in idem‘ abweichen können“, hat in Art. 54-58 SDÜ einen klaren Bezugspunkt: Gemeint ist nicht das Vollstreckungselement, sondern
die in Art. 55 SDÜ angesprochenen Dispensierungsvorbehal-
39
Vgl. nur Burchard/Brodowski, StraFo 2010, 179 (183);
Merkel/Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (208 f.); Rosbaud, StV
2013, 289 (292); vorbildlich hingegen Böse, GA 2011, 504
(506), und Walther, ZJS 2013, 16 (21).
40
Zur Wortlautauslegung europarechtlicher Rechtsakte vgl.
EuGH, Urt. v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 (The Institute of
the Motor Industry) = Slg. 1998, I-7053, Rn. 16; Luttermann,
EuZW 1999, 401 (403 f.).
41
Ähnlich Böse, GA 2011, 504 (506); Merkel/Scheinfeld, ZIS
2012, 206 (209).
te.42 Hier sind ausdrücklich und mehrfach als „Ausnahmen“
bezeichnete Fallgruppen normiert, in denen Vertragsstaaten
von dem in Art. 54 SDÜ normierten ne bis in idemGrundsatz im Wege einer Vorbehaltserklärung „abweichen
können“.43
Im Ergebnis enthalten die Erläuterungen also keine konkreten Aussagen zur Fortgeltung des Vollstreckungselements
aus Art. 54 SDÜ. Sie bringen vielmehr zum Ausdruck, dass
die Ausnahmeregelung des Art. 55 SDÜ fortgelten sollte.
Jedenfalls eine in Teilen des Schrifttums44 als Argument für
einen gänzlichen Wegfall des Vollstreckungselements angeführte gänzliche Verdrängung der SDÜ-Regelungen nach
dem Grundsatz „lex superior derogat legi inferiori“ widerspräche daher dem Willen des Grundrechtekonvents.
2. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
Der europäischen Einigung auf Art. 50 GRC lag das Bestreben der Mitgliedstaaten zugrunde, die Entwicklung der Union
zu einem „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“
i.S.d. Art. 3 Abs. 2 EUV voranzutreiben. Ein Raum der Freiheit und des Rechts – verstanden als Rechtssicherheit – erfordert, dass sich Unionsbürger rechtssicher darauf verlassen
können, nach einer rechtskräftigen Aburteilung nicht nochmals wegen derselben Sache innerhalb der EU verfolgt und
abgeurteilt zu werden. Rechtskräftig abgeurteilte Unionsbürger könnten sich so frei in den Mitgliedstaaten der Union
aufhalten, ohne erneute Strafverfolgungen befürchten zu
müssen. Der Gesichtspunkt des Freiheits- und Rechtsraumes
spricht daher für eine einschränkungslose Geltung des zwischenstaatlichen Doppelbestrafungsverbots – ohne jegliches
Vollstreckungserfordernis.45
Ein Raum der Sicherheit setzt demgegenüber voraus, dass
verhängte Sanktionen vollstreckt werden können und dass
sich Straftäter einer Bestrafung nicht entziehen können. Das
kann aber ohne ein Vollstreckungselement als Voraussetzung
des europäischen transnationalen Strafklageverbrauchs nur
schwer realisiert werden, wenn sich verurteilte Straftäter nach
einer rechtskräftigen Verurteilung in einem anderen EUMitgliedstaat als dem Urteilsstaat aufhalten. Einer erneuten
42
So bereits zutreffend Böse, GA 2011, 504 (506);
Merkel/Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (209); dahin tendierend
auch Walther, ZJS 2013, 16 (21).
43
So können sich die Vertragsstaaten beispielsweise nach
Art. 55 Abs. 1 lit. a SDÜ für durch Art. 54 SDÜ ungebunden
erklären, „wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurde; im letzteren Fall gilt diese Ausnahme jedoch
nicht, wenn diese Tat teilweise im Hoheitsgebiet der Vertragspartei begangen wurde, in dem das Urteil ergangen ist“.
Zur deutschen Vorbehaltserklärung siehe BGBl. II 1994,
S. 631; kritisch hierzu Schomburg, in: Schomburg/Lagodny/
Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen,
5. Aufl. 2012, Art. 55 SDÜ Rn. 3.
44
Eser (Fn. 24), § 36 Rn. 78; Stalberg (Fn. 13), S. 174 ff.,
179.
45
So auch Böse, GA 2011, 504 (508 ff.); Merkel/Scheinfeld,
ZIS 2012, 206 (210); Weißer, ZJS 2014, 589 (593).
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ZIS 1/2017
70
Das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ
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Strafverfolgung und Bestrafung samt Strafvollstreckung in
diesem Staat könnten sie in diesem Fall ein einschränkungslos geltendes europäisches ne bis in idem entgegenhalten.
Dass verurteilte Straftäter durch einen Rückzug in einen
anderen EU-Mitgliedstaat einer Strafvollstreckung entgehen,
lässt sich allerdings durch die derzeit zur Verfügung stehenden Instrumente strafrechtlicher Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten weitgehend verhindern. So kann der Urteilsstaat
etwa durch die Ausstellung eines – in der europäischen Strafverfolgungspraxis bedeutsamen – Europäischen Haftbefehls46
vom Aufenthaltsstaat eine Überstellung des Verurteilten
verlangen, um dann die eigens verhängte Strafe im Inland
vollstrecken zu können.47 Nach derzeitiger Rechtslage greifen
die bestehenden Instrumentarien allerdings nicht einschränkungslos. Im Fall Boere scheiterte eine Auslieferung etwa
daran, dass das niederländische Urteil in Abwesenheit des
Angeklagten und ohne Hinzuziehung eines Pflichtverteidigers erging. In solchen Fällen verbietet § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG
eine Auslieferung des Täters zur Strafvollstreckung mit der
Erwägung, der Vollstreckungstitel sei unter Verletzung
rechtsstaatlicher Mindeststandards in Gestalt des Rechts auf
rechtliches Gehör und des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ergangen. Der Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl
i.V.m. einem Rahmenbeschluss zur gegenseitigen Anerkennung von Abwesenheitsurteilen48 sieht derartige Ausnahmetatbestände ausdrücklich vor. Eine Überstellung Scheungrabers an Italien kam – neben dem Umstand, dass auch hier ein
von § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG erfasstes Abwesenheitsurteil
erging – schon deshalb nicht in Betracht, weil Italien gar kein
Auslieferungsersuchen gestellt hatte. Und auch in der Rechtssache Spasic scheiterte eine Auslieferung an der fehlenden
Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls seitens der italienischen Behörden.
46
Rahmenbeschluss 2002/548/JI v. 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren durch die
Mitgliedstaaten, ABl. EG 2002 Nr. L 190, S. 1 i.d.F. des
Änderungsrahmenbeschlusses 2009/299/JI v. 26.2.2009 zur
Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen
Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine
Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person
nicht erschienen ist, ABl. EU 2009 Nr. L 81, S. 24. Zur praktisch weniger relevanten Vollstreckungsübernahme vgl. Böse,
GA 2011, 504 (508 ff.).
47
Vgl. Anagnostopoulos (Fn. 24), S. 1137; Böse, GA 2011,
504 (508); Merkel/Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (211); Weißer,
ZJS 2014, 589 (592 f.).
48
Rahmenbeschluss 2009/299/JI v. 26.2.2009 zur Änderung
der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI,
2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des
Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen
sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist, ABl.
EU 2009 Nr. L 81, S. 24, vgl. hierzu Hauck, JR 2009, 141;
Hecker (Fn. 14), § 12 Rn. 54; Klitsch, ZIS 2009, 11; Weißer
(Fn. 4 – Europarecht), § 42 Rn. 90.
Sähe man in solchen Fällen unter Berufung auf einen
gänzlichen Wegfall des Vollstreckungselements als Voraussetzung transnationalen europäischen Strafklageverbrauchs
pauschal von einer erneuten Verurteilung samt Strafvollstreckung ab, könnten verurteilte Straftäter einer Strafvollstreckung entgehen, indem sie sich nach Rechtskrafteintritt in
einem anderen Mitgliedstaat aufhalten. In Fällen nicht gestellter Auslieferungsersuchen profitierten sie von der Untätigkeit der Behörden des Urteilsstaats. Ein solcher Rechtszustand verhinderte nicht nur eine gerechte, abschreckende
Abgeltung des verwirklichten Unrechts und einen flächendeckenden Schutz der Gesellschaft vor verurteilten Straftätern.
Auch das Vertrauen der Bevölkerung in eine durchsetzungsstarke Strafrechtsordnung würde erheblich geschwächt, wenn
sich verurteilte Schwerstverbrecher durch Flucht in einen
anderen Mitgliedstaat oder infolge Nachlässigkeit nationaler
Behörden einer Inhaftierung entziehen könnten. Die Sicherheit und der Rechtsfrieden innerhalb Europas würden
dadurch erheblich gefährdet.
Ließe man in den in Rede stehenden Ausnahmefällen andererseits Doppelbestrafungen pauschal zu, müssten sich
etwa auch solche bereits verurteilten Straftäter einem nochmaligen Strafverfahren unterziehen, die wegen leichteren
Delikten eine längere freiheitsbeschränkende Strafverfolgung
im Urteilsstaat hinter sich gebracht haben. Im Falle von Abwesenheitsurteilen ohne Pflichtverteidigerbestellung fiele es
dem Verurteilten zur Last, dass ihm im Urteilsstaat rechtsstaatliche Mindeststandards verwehrt geblieben sind.49 Stellt
der Urteilsstaat kein Auslieferungsersuchen, würde dem
Verurteilten die Nachlässigkeit der nationalen Behörden des
Urteilsstaates zum Verhängnis.50 Zumindest in Fällen, in
denen der Täter die Strafvollstreckung nicht durch Flucht,
sondern beispielsweise – wie im Fall Spasic – aufgrund haftbedingter Abwesenheit verhindert, hinge die Doppelbestrafung damit von Umständen ab, die man dem Täter nicht zum
Vorwurf machen kann. Mit dem individualschützenden Charakter des Justizgrundrechts aus Art. 50 GRC lassen sich
derartige Ungerechtigkeiten schwerlich vereinbaren.
Gefragt ist vor diesem Hintergrund ein Mittelweg, der die
im jeweiligen Einzelfall tangierten Freiheits- und Sicherheitsbedürfnisse in bestmöglichen Ausgleich bringt. Dieser
Zielvorgabe werden einzelfallspezifische ne bis in idemEntscheidungen der nationalen Justizbehörden gerecht, die
sämtliche Freiheits- und Sicherheitsaspekte des Einzelfalles
angemessen gewichten und gegeneinander abwägen. Die
Dogmatik der GRC ist für ein solches Vorgehen offen: Es
korrespondiert mit einer Fortgeltung des Art. 54 SDÜ als
Schranke des Justizgrundrechts aus Art. 50 GRC i.S.d.
Art. 52 Abs. 1 GRC, die dem in Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRC
normierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur in solchen
Ausnahmefällen genügt, in denen das Sicherheitsinteresse an
einer Strafvollstreckung das Beschuldigteninteresse an einmaliger Strafverfolgung überwiegt. Nur dann handelt es sich
49
Vgl. auch Böse, GA 2011, 504 (510); Merkel/Scheinfeld,
ZIS 2012, 206 (211).
50
Vgl. Meyer, HRRS 2014, 269 (276 f.); Weißer, ZJS 2014,
589 (593).
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Erik Duesberg
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um eine angemessene Einschränkung des individualschützenden Justizgrundrechts aus Art. 50 GRC.
3. Rechtsunsicherheit und Rechtsschutzdefizite
Einzelfallspezifischen Entscheidungen haftet prinzipiell der
Vorwurf von Einzelfallwillkür und fehlender Vorhersehbarkeit für den Normadressaten an. Sowohl inner- als auch zwischenstaatlich könnten justizielle Abwägungen der tangierten
Freiheits- und Sicherheitsaspekte – abhängig von moralischen, kulturellen und politischen Überzeugungen der zur
Entscheidung berufenen Personen – unterschiedlich ausfallen. Man mag daher gegen einzelfallspezifische ne bis in
idem-Entscheidungen einwenden, sie führten zu einer der
Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union ebenso wie
rechtsstaatlichen Erfordernissen zu wider laufenden Rechtsunsicherheit für die Unionsbürger, die sich nicht sicher sein
könnten, nach einer rechtskräftigen Aburteilung möglicherweise nochmals verfolgt und verurteilt zu werden. Einzelfallspezifische Entscheidungen, einen Täter erneut zu verfolgen
und ggf. zu verurteilen, bedürfen vor diesem Hintergrund
einer besonderen Rechtfertigung. Sie kommen nur in Fällen
in Betracht, in denen gravierende Gemeinwohlbelange die
tangierten Freiheitsinteressen überwiegen. Das ist regelmäßig
der Fall, wenn Straftäter ohne eine erneute Verfolgung und
Bestrafung der Vollstreckung einer wegen eines schweren
Verbrechens verhängten Strafe entgehen würden. Das Freiheitsinteresse des Schwerverbrechers, rechtssicher auf die
Einmaligkeit seiner Verfolgung und Bestrafung vertrauen zu
können, ist in solchen Fällen regelmäßig angesichts der
Schwere des verwirklichten Unrechts und gravierender Interessen an der Wahrung von Sicherheit und Rechtsfrieden in
Europa abgemildert. Dies gilt umso mehr, wenn sich der
Täter absichtlich im Wege vorwerfbarer Flucht einer Strafvollstreckung im Ersturteilsstaat entzogen hat.
Auf Basis der derzeitigen Rechtslage wäre der EuGH gefragt, dem Rechtsanwender im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren entsprechend restriktive Vorgaben für die
einzelfallspezifische Abwägungsentscheidung zwischen
Freiheits- und Sicherheitsinteressen an die Hand zu geben.
Durch klare Kriterien, Fallgruppen und/oder Indizien müssten
justizielle Entscheidungen vorhersehbarer gemacht und das
Risiko willkürlicher Rechtsanwendung reduziert werden. Auf
Basis der obigen Überlegungen sollte eine Entscheidung für
eine erneute Verfolgung und Sanktionierung regelmäßig auf
Fälle besonders schwerwiegender Taten beschränkt sein. Die
besondere Schwere der Tat sollte anhand einer bestimmten
Höhe der im Ersturteilsstaat verhängten Sanktion quantifiziert werden. Eine vorwerfbare fluchtbedingte Vollstreckungsentziehung könnte als Indiz für ein überwiegendes
Sicherheitsbedürfnis fungieren. Fehlt es an einer besonderen
Schwere der Tat, sollte das justizielle Ermessen im Lichte des
individualschützenden Justizgrundrechts aus Art. 50 GRC
dahingehend reduziert sein, dass Doppelverfolgungen und
-bestrafungen unterbleiben. Eine erneute Verfolgung und
Bestrafung ausschließende überwiegende Freiheitsinteressen
des Täters sollten außerdem – selbst im Falle schwerer Straftaten – beispielsweise immer dann bejaht werden, wenn eine
Strafvollstreckung z.B. infolge dauernder Haftunfähigkeit des
Täters ohnehin unterbleiben müsste. Der mit einer Doppelbestrafung verfolgte Zweck, den Straftäter einer Strafvollstreckung zuzuführen, könnte in solchen Fällen nämlich ohnehin
nicht erreicht werden.
Nimmt man die derzeit bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten gegen nationale Doppelbestrafungen mit in den
Blick, mag man bezweifeln, ob derartigen EuGH-Vorgaben
eine effektive Präjudizwirkung zukäme: Nach derzeitigem
Rechtsstand können Verletzungen des Justizgrundrechts aus
Art. 50 GRC nicht mittels einer Individualbeschwerde gerügt
werden. Vielmehr muss das Grundrecht im nationalen Verfahren geltend gemacht werden. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts vor nationalem Recht51 müssen
sich nationale Entscheidungen an Art. 50 GRC messen lassen. Der EuGH erlangt unter den Voraussetzungen des
Art. 267 AEUV nur dann eine Entscheidungskompetenz,
wenn nationale Gerichte bei der Auslegung des Art. 50 GRC
Zweifel haben. Auf diese Weise soll einer uneinheitlichen
Auslegung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten vorgebeugt werden.52 Sollte die nationale Strafjustiz ein starkes
Interesse daran haben, einen bereits verurteilten Straftäter aus
Sicherheitsgründen zu sanktionieren, steht allerdings zu befürchten, dass der EuGH trotz einer tatsächlich bestehenden
Vorlagepflicht aus Art. 267 AEUV nicht mit der Sache befasst wird. Der Fall Boere demonstriert diese Problematik in
anschaulicher Weise: Der BGH schreckte hier nicht davor
zurück, sich mit fadenscheinigen Begründungen auf die acte
clair-Doktrin des EuGH zu berufen, um den Angeklagten
möglichst schnell einer Strafvollstreckung zuführen zu können (siehe hierzu oben unter IV. 1.). Eine gegen diese Entscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerde wegen einer
Entziehung des gesetzlichen Richters i.S.d. Art. 101 Abs. 1
S. 2 GG nahm das BVerfG nicht zur Entscheidung an. 53 Das
Gericht zog sich auf das Argument zurück, es müsse seinen
Prüfungsumfang auf Willkürverstöße beschränken, um nicht
zur „Superrevisionsinstanz“ zu werden. Ein solcher lasse sich
aber nicht feststellen, da der BGH vertretbar argumentiert
habe.54 Der Rechtsweg war damit erschöpft und das tatsächlich nicht vertretbare Vorgehen des BGH wurde bestandskräftig. Solchen Umgehungen der Vorlagepflicht aus Art. 267
AEUV muss nach derzeitigem Rechtsstand durch eine konsequente
Einleitung
von
Vertragsverletzungsverfahren
(Art. 258 ff. AEUV) gegen vertragsbrüchige Mitgliedstaaten
begegnet werden. Vor allem die Europäische Kommission ist
gefragt, auf diese Weise zukünftig intensiver dafür Sorge zu
tragen, rechtspolitisch oder moralisch motivierte Alleingänge
51
Siehe hierzu Hecker (Fn. 14), § 9 Rn. 10 ff.; Weißer (Fn. 4
– Europarecht), § 42 Rn. 52 ff.
52
Vgl. EuGH, Urt. v. 6.12.2005 – Rs. C-461/03 (Gaston
Schul) = Slg. 2005, I-10513, Rn. 21; Karpenstein, in:
Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 12), Art. 267 AEUV Rn. 2.
53
BVerfG NJW 2012, 1202. Kritisch hierzu Merkel/
Scheinfeld, ZIS 2012, 206 (212 f.); Radtke (Fn. 20), § 12
Rn. 58; Swoboda, JICJ 2011, 243 (264 ff.); Walther, ZJS
2013, 16 (22); Weißer (Fn. 4 – Europarecht), § 42 Rn. 132.
54
BVerfG NJW 2012, 1202 (1203 ff.).
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ZIS 1/2017
72
Das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ
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nationaler Strafjustizorgane zu Lasten der Unionsbürger zu
verhindern.
4. Anwendung auf die Fälle Spasic, Boere und Scheungraber
Legt man die oben entwickelten Maßstäbe für einzelfallspezifische ne bis in idem-Entscheidungen der Rechtssache Spasic
zugrunde, stellte sich die erneute Verfolgung und Verurteilung aufgrund überwiegender Freiheitsinteressen als unzulässig dar. Denn zum einen wurde der Angeklagte in Italien
infolge eines Geständnisses zu einer vergleichsweise geringen einjährigen Freiheitsstrafe samt Geldstrafe i.H.v. 800
Euro verurteilt. Zum anderen entging Spasic der italienischen
Strafvollstreckung nicht etwa durch Flucht, sondern weil er
sich wegen einer anderen Tat in österreichischer Haft befand.
Auch Scheungraber hätte nicht noch einmal verurteilt werden
dürfen. Zwar bestand wegen der außerordentlichen Schwere
seiner Taten ein generalpräventives Bedürfnis, der Bevölkerung nach langen Verfahrensverzögerungen und Rechtsprechungsänderungen endlich zu demonstrieren, dass die deutsche Strafjustiz schwerste nationalsozialistisch motivierte
Taten nicht unbestraft lässt. Vor allem dem überlebenden
Opfer Gino M. und den Angehörigen der 14 verstorbenen
Opfer demonstrierte die Verurteilung lang ersehnte Gerechtigkeit. Ein nochmaliger Strafprozess stellte für den Angeklagten jedoch insofern eine außerordentliche Härte dar, als
er sich aufgrund seines kritischen Gesundheitszustands und
hohen Alters bereits am Rande der Verhandlungsunfähigkeit
befand. Die Verfahrensbeteiligten gingen bereits bei Verfahrensbeginn zutreffend davon aus, dass Scheungraber ohnehin
infolge Haftunfähigkeit einer Strafvollstreckung entgehen
würde. Heinrich Boere hingegen wurde letztlich sowohl als
verhandlungs-55 als auch als haftfähig56 eingestuft. Ihm wird
man zwar zumindest nicht zum Vorwurf machen können,
dass er sich in der Nachkriegszeit durch einen Sprung aus
einem Gefangenentransporter der Vollstreckung einer zunächst57 verhängten Todesstrafe in den Niederlanden entzog.
Und auch die Tatsache, dass Boere über ein halbes Jahrhundert nach dem niederländischen Urteil bei Prozessbeginn
bereits ein hohes Alter erreicht hatte, mag man zu seinen
Gunsten werten. Die kaum zu überbietende außerordentliche
Schwere der Tat des bis Verfahrensende ohne Schuldbewusstsein auftretenden Angeklagten begründete allerdings
Das OLG Köln stellte mit Beschluss vom 1.7.2009 – 2 Ws
69/09 = BeckRS 2009, 19898 fest, dass Boere trotz einer
Herzerkrankung verhandlungsfähig sei. Eine hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde Boeres wegen einer Verletzung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nahm das BVerfG nicht zur
Entscheidung an, vgl. BVerfG EuGRZ 2009, 645.
56
Nach seiner Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe
trat Heinrich Boere am 15.11.2011 seine Haftstrafe an. Er
verbrachte den Rest seines Lebens in der Justizvollzugsanstalt Fröndenberg, wo er im Alter von 92 Jahren eines natürlichen Todes starb.
57
Fünf Jahre nach der Verurteilung wandelte sich die Todesstrafe nach niederländischem Recht in eine lebenslange Freiheitsstrafe.
55
ein überwiegendes Bedürfnis, den Täter unter dem Gesichtspunkt positiver Generalprävention insbesondere im Interesse
der Opferseite einer Strafvollstreckung zuzuführen.
5. Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten
Konflikte zwischen Freiheits- und Sicherheitsinteressen können auch außerhalb der bislang diskutierten Fälle auftreten, in
denen eine verfahrensgegenständliche Tat die Rechtsordnungen mindestens zweier EU-Mitgliedstaaten betrifft. Man
stelle sich etwa den folgenden fiktiven Beispielsfall vor:
Der deutsche Staatsbürger A wird wegen eines in
Deutschland und Polen verwirklichten schwerwiegenden
Drogendelikts in Polen zu einer Freiheitsstrafe von sieben
Jahren verurteilt. Um der Strafvollstreckung zu entgehen,
flieht er in die USA. Die amerikanischen Behörden verweigern eine Auslieferung des A an Polen, sind aber bereit, A
unter der Bedingung an Deutschland auszuliefern, dass dieser
für seine Tat nach deutschem Recht in Deutschland zur Verantwortung gezogen wird.
Ohne ein Vollstreckungselement als Voraussetzung europäischen Strafklageverbrauchs würde A einer Strafvollstreckung entgehen: Die USA könnten ihn mangels tauglichen
Anknüpfungspunktes der US-amerikanischen Strafgewalt
nicht verurteilen. Polen könnte die verhängte Strafe mangels
Erreichbarkeit des A nicht vollstrecken. Und Deutschland
wäre wegen des rechtskräftigen polnischen Urteils infolge
europäischen Strafklageverbrauchs an einer vollstreckbaren
Verurteilung gehindert. Die seitens der USA gestellten Auslieferungsbedingungen könnten also nicht erfüllt werden.
Auf Basis der hier vorgeschlagenen Einzelfallabwägungslösung könnte A demgegenüber – unter Berufung auf das
aktive Personalitätsprinzip gem. § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB –
nochmals in Deutschland verurteilt werden und die verhängte
Sanktion könnte vollstreckt werden. Die Abwägungsentscheidung fiele hier angesichts der Schwere des Drogendelikts und der fluchtbedingten Vollstreckungsentziehung zugunsten des Sicherheitsinteresses an einer Strafvollstreckung
aus. Deutschland könnte die seitens der USA gestellten Auslieferungsbedingungen somit erfüllen, ohne gegen das europäische Doppelbestrafungsverbot zu verstoßen.
Man mag sich in solchen Fällen die Frage stellen, wie
sich eine entsprechende deutsch-amerikanische Auslieferungsvereinbarung mit den europäischen Regelungen zum
Europäischen Haftbefehl und dem Gebot zwischenstaatlicher
Loyalität aus Art. 4 Abs. 3 EUV58 innerhalb der Europäischen Union verträgt. Würden nämlich im Beispielsfall polnische Behörden einen Europäischen Haftbefehl zum Zwecke
einer Vollstreckung der in Polen verhängten Strafe ausstellen,
könnte die Bundesrepublik Deutschland nach einer Ausliefe58
Zur zwischenstaatlichen Geltung des Loyalitätsgebots vgl.
EuGH, Urt. v. 22.3.1983 – Rs. C-42/82 (Kommission/Frankreich) = Slg. 1983, 1013, Rn. 36; Urt. v. 11.6.1991 –
Rs. C-251/89 (Athanasopoulos u.a.) = Slg. 1991, I-2797,
Rn. 57; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl.
2012, Art. 4 EUV Rn. 78 f.; Kahl, in: Callies/Ruffert (Hrsg.),
Kommentar, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 4 EUV
Rn. 111.
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73
Erik Duesberg
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rungsvereinbarung mit den USA ihrer nach dem Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl grundsätzlich bestehenden Auslieferungsverpflichtung nicht mehr nachkommen,
ohne gegenüber den USA vertragsbrüchig zu werden. Um
solche Konflikte auszuschließen, müssten die deutschen
Behörden vor Unterzeichnung einer Auslieferungsvereinbarung mit den USA das Einverständnis der polnischen Behörden einholen. Diese dürften sich der deutsch-amerikanischen
Auslieferungsvereinbarung im Interesse der nationalen und
europäischen Sicherheit höchstwahrscheinlich nicht in den
Weg stellen. Denn anderenfalls würden sie dem Schwerverbrecher A faktisch bei einer Vollstreckungsentziehung behilflich. Polens Souveränitätsinteressen, den A anhand polnischer Verhaltensanforderungen zur Verantwortung zu ziehen,
würde zumindest insofern Rechnung getragen, als die deutsche Bestrafung aufgrund des in § 7 StGB verankerten restriktiv zu interpretierenden Erfordernisses beiderseitiger
Strafbarkeit59 der polnischen ähneln wird.
Festzuhalten ist nach alledem, dass Einzelfallabwägungsentscheidungen auch im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten angemessene Ergebnisse herbeiführen.
VI. Fazit
Weder ein pauschaler Wegfall noch eine pauschale Fortgeltung des Vollstreckungselements aus Art. 54 SDÜ führt zu
angemessenen Ergebnissen. Beide Standpunkte haben sich
aufgrund einer einseitigen Hervorhebung entweder des Freiheits- oder des Sicherheitsaspekts als zu unflexibel erwiesen.
Derzeit bietet sich vielmehr eine vermittelnde Auslegung der
Art. 50 GRC, 54 SDÜ an, wonach transnationaler Strafklageverbrauch in einem Raum der Freiheit und der Rechtssicherheit grundsätzlich unabhängig von einer Vollstreckungsbedingung eintritt, es sei denn gewichtige Sicherheitsbedürfnisse überwiegen die Freiheitsinteressen des Täters an einer
einmaligen Strafverfolgung und Bestrafung. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hätte in den Rechtssachen Scheungraber, Boere und Spasic allein die doppelte Verurteilung
Boeres Bestand.
In Zukunft könnte die Erforderlichkeit eines Vollstreckungselements gänzlich entfallen, wenn sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union etwa darauf einigen würden,
den Europäischen Haftbefehl vorbehaltlos anzuwenden. In
einem Mitgliedstaat verurteilte Straftäter, die in einem anderen Mitgliedstaat ergriffen werden, könnten so ausnahmslos
an den Urteilsstaat überstellt werden, der die eigens verhängte Strafe dann vollstrecken könnte. Vor allem in Anbetracht
der mit Doppelbestrafungen und -verfolgungen einhergehen59
Vor allem im Verhältnis zu Mitgliedstaaten der Europäischen Union als einem auf grundsätzlichem gegenseitigem
Vertrauen in die nationalen Strafrechtsordnungen aufbauenden Rechtsraum ist das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit restriktiv auszulegen, vgl. hierzu Duesberg (Fn. 14),
S. 86 ff.; vgl. auch Vogel, in: Hoyer/Müller/Pawlik (Hrsg.),
Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag, 2006, S. 877 (893); Weißer, ZJS 2014, 589 (593);
siehe auch EuGH, Urt. v. 11.2.2003 – Rs. C-187/01 und
385/01 (Gözütok und Brügge) = Slg. 2003, I-1345, Rn. 33.
den gravierenden Freiheitsbeschränkungen wäre eine entsprechende Einigung erstrebenswert.
Zu begrüßen wäre darüber hinaus eine grundlegende europäische Einigung auf eine verbindliche Koordinierung
nationaler Strafverfolgungszuständigkeiten dahingehend,
dass immer nur ein Mitgliedstaat zur Verfolgung und Ahndung einer Tat berufen wäre.60 Europäische transnationale
Doppelbestrafungsverbote würden damit obsolet. Unionsbürger hätten ihr Verhalten von vornherein an nur einer Rechtsordnung auszurichten und müssten nur ein freiheitsbeschränkendes Strafverfahren innerhalb der EU befürchten. Wettläufe zwischen nationalen Strafverfolgungsbehörden um die
schnellste strafklageverbrauchende Entscheidung wären verfahrensökonomisch ausgeschlossen.
Aktuell besteht allerdings wenig Hoffnung, dass solche
Einigungen zeitnah zustande kommen werden. Im Gegenteil
symbolisieren etwa die Entwicklungen in der Flüchtlingskrise, dass viele Mitgliedstaaten Abschottungsstrategien wie die
autonome Schließung europäischer Binnengrenzen gemeinschaftlich loyalen europäischen Problemlösungen vorziehen.
Die Vorzeichen stehen insofern mehr denn je auf Rück- statt
auf Fortschritt. Das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ
dürfte vor diesem Hintergrund in den geschilderten Ausnahmefällen noch lange Bestand haben. Sollten sich nationale
Abschottungstendenzen zu Lasten der strafrechtlichen Zusammenarbeit im Bereich des Europäischen Haftbefehls
auswirken, dürfte die Bedeutung des Vollstreckungselements
sogar noch zunehmen. Solche Entwicklungen wirkten
zwangsläufig zum Nachteil der Normadressaten. Letztlich
verblieben dann nämlich zwei Szenarien: Entweder müssten
verurteilte Straftäter freiheitsbeschränkende Doppelbestrafungen über sich ergehen lassen. Oder Unionsbürger litten
unter einer ineffektiven europäischen Strafrechtspflege auf
Kosten der europäischen Sicherheit. Beide Szenarien stehen
in krassem Widerspruch zum Ziel eines rechtsstaatlichen
europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des
Rechts.
60
Wie derartige Regelungen ausgestaltet sein könnten, ist
Gegenstand zahlreicher Vorschläge und kontroverser Diskussionen, vgl. statt vieler Böse/Meyer/Schneider (Hrsg.), Conflicts of Jurisdiction in Criminal Matters in the European
Union, Vol. II: Rights, Principles and Model Rules, 2014,
passim; dies., GA 2014, 572; Zimmermann, Strafgewaltkonflikte in der Europäischen Union, 2015, S. 283 ff. Derzeit
besteht nach Art. 10 Abs. 1 des EU-Rahmenbeschlusses
2009/948/JI des Rates vom 30.11.2009 zur Vermeidung und
Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren ABl.
EU 2009 Nr. L 328, S. 46, lediglich eine Konsultationspflicht
zwischen den zur Strafverfolgung berufenen nationalen
Strafverfolgungsbehörden, „um zu einem Einvernehmen über
eine effiziente Lösung zu gelangen, bei der die nachteiligen
Folgen parallel geführter Verfahren vermieden werden“.
Können sich die Behörden nicht einigen, kann es bis zum
Eintritt zwischenstaatlichen Strafklageverbrauchs weiterhin
zu Parallelverfahren kommen. Näher hierzu Eckstein, ZStW
124 (2012), 490 (505 ff.); Eisele, ZStW 125 (2013), 1 (18).
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ZIS 1/2017
74
Kröger, Der Aufbau der Fahrlässigkeitsstraftat
Wachter
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B uc hre ze ns io n
Thomas Kröger, Der Aufbau der Fahrlässigkeitsstraftat.
Unrecht, Schuld, Strafwürdigkeit und deren Bezüge zur
Normentheorie, Duncker & Humblot, Berlin 2016, 526 S.,
€ 109,90.
Die Systematik strafrechtlichen Unrechts hat in den letzten
einhundert Jahren eine Vielzahl von Veränderungen durchlebt. Beinahe einer jeden philosophischen „Modeerscheinung“ kam dabei, stets mit einer gewissen Verzögerung behaftet, ein gewisser Einfluss auf die Frage nach dem zutreffenden Verbrechensaufbau zu. In aller Regelmäßigkeit führten diese Entwicklungsschübe zu einer Verlagerung von
Elementen innerhalb des Straftatsystems. Dem Finalismus
etwa verdankt die heute herrschende Lehre die Stellung des
Vorsatzes als Merkmal des Tatbestandes, während sich die
neukantianisch orientierten Strafrechtler um eine erste, noch
recht zaghafte „normative Aufladung“ der Systembegriffe
verdient gemacht haben. Bei all diesen Entwicklungen blieb
jedoch eine Strukturentscheidung de facto unangetastet: Die
Untergliederung der Straftat in die tragenden Deliktskategorien Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld.
Lediglich die präzise Umschreibung des materiellen Gehalts
dieser Axiome des Verbrechensaufbaus, der für die Frage
nach der Einordnung einzelner Straftatkonstituenten bedeutsam ist, unterlag im Laufe der Jahrzehnte vielfachen Wandlungen.
In Einklang mit diesem Credo setzt sich Thomas Kröger
in seiner von Winrich Langer betreuten Dissertation zum
Ziel, die für die Prüfung der Fahrlässigkeitstat relevanten
Elemente im Rahmen der überkommenen Deliktskategorien
neu zu justieren. Seine Herangehensweise erscheint dabei
äußerst vielversprechend: Zur Lösung des Problems verschreibt er sich einer am Telos der Verbrechensfolgen orientierten Ausrichtung der einzelnen Verbrechensmerkmale
(S. 45 ff.). Damit reiht sich Kröger in den stetig größer werdenden Chor derer ein, die nach einer strafzweckorientierten
Ausgestaltung der Allgemeinen Verbrechenslehre streben. 1
Die Berechtigung dieses Unterfangens stellt er in schlichter
Klarheit heraus: „[W]ollte man […] die Zweck- und Werterwägungen, die mit dem Begriff der Strafe verbunden sind,
ausblenden, wäre vollkommen offen, wie man die konkret in
Rede stehende Rechtsfolge, nämlich den Strafausspruch,
erklärbar machen sollte“ (S. 46).
Die Arbeit beginnt mit einem recht ausführlich gehaltenen
Aufriss der Entwicklung des Verbrechensaufbaus in den
letzten 150 Jahren, wobei der Fokus naturgemäß auf der
Lozierung der für die Fahrlässigkeitsstraftat relevanten Elemente liegt (S. 48-142). Dem Leser wird dabei die Verlagerung der die Fahrlässigkeit prägenden Sorgfaltspflichtverlet1
Aus neuerer Zeit etwa Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983,
S. 32; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991,
S. VII; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 17 ff.;
Kubiciel, Die Wissenschaft vom Besonderen Teil des Strafrechts, 2013, S. 138; Wachter, Das Unrecht der versuchten
Tat, 2015, S. 3 f.
zung von der Schuld hin zum Unrecht vor Augen geführt, die
ihrerseits zu einer „Wanderschaft“ subjektiver Merkmale in
das grundsätzlich objektiv zu bestimmende Unrecht führte.
Bezeichnenderweise endet die Übersicht mit der Darstellung
der Fahrlässigkeitsdogmatik Welzels als der auffälligsten
Frucht dieser Entwicklung (S. 128-138). Kröger legt dabei
den Finger in die durch die Verlagerung der Deliktsmerkmale
aufgerissene Wunde: Durch das Bemühen, Reststücke im
Bereich der Sorgfaltspflichtverletzung für die Schuld als der
ursprünglichen Domäne der Fahrlässigkeit aufrecht zu erhalten, kommt es unweigerlich zu einer Konfundierung von
Unrecht und Schuld. Die Sorgfaltspflichtverletzung verkommt zu einem wenig geglückten Komplexbegriff, der
Momente des Unrechts wie der Schuld in sich vereinigt
(S. 142).
In dem weitaus umfangreichsten dritten Kapitel der
Schrift (S. 143-389) geht Kröger den gegenwärtigen Lösungsansätzen nach. Zentral für seine Argumentation ist
jeweils die Rückführung der Meinungsstränge auf deren
normtheoretische Prämissen. Als Grundübel wird von ihm
dabei die Annahme der herrschenden Auffassung ausgemacht, nach der das Strafrecht mittels Verhaltensnormen
bestimmend auf die Vorstellungen und damit mittelbar auf
die Verhaltensweisen der Bürger einwirkt. Diesen dem
Rechtsgüterschutz geschuldeten Gedanken verwirft Kröger
unter Berufung auf zwei so unterschiedliche Denker wie Kant
und Kelsen (S. 339). An seine Stelle tritt ein von Schmidhäuser begründetes Modell, das „einzig den Rechtsstab als Adressaten der Rechtsnormen“ (S. 350) ansieht.
Der zweite Haupteinwand gegen die Dogmatik der herrschenden Lehre betrifft die Aufteilung der Straftatelemente
innerhalb des Unrechts. Kröger wendet sich gegen die derzeit
überwiegend vertretene Ansicht, die mithilfe der Lehre von
der objektiven Zurechnung bereits die Tatbestandsebene
normativ aufzuwerten versucht. Indem es hiernach schon auf
dieser ersten Prüfungsstufe um die Frage nach der Schaffung
eines unerlaubten Risikos geht, stellt sich in der Tat die Frage nach den spezifischen Unterschieden in den materiellen
Wertungen zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit; denn auch Letzterer geht es um die Ausfilterung
erlaubten Verhaltens (S. 222 ff., 316 f.). In seinem Bemühen
um eine klare Abschichtung der Prüfungsebenen innerhalb
des Unrechts bemängelt Kröger in erster Linie die Ausdünnung der Rechtswidrigkeit: Welche Aufgabe sollte der „mit
elementarer, eigenständiger Funktion versehenen Rechtswidrigkeit zugewiesen werden“, wenn die Tatbestandsmäßigkeit
den „bereits umfassend geprüften Verstoß gegen die [fahrlässige] Sollensnorm zum Inhalt“ (S. 216 f.) hat?
Den dritten grundlegenden Angriff führt Kröger gegen
die bei der Fahrlässigkeit evident gewordene Vermischung
objektiver und subjektiver Merkmale und Verhaltensmaßstäbe. Dieses durch die oben umschriebene Verlagerung von
subjektiven Elementen bedingte Problemfeld hat zu einem
bunten Strauß an Lösungsansätzen geführt, deren augenscheinlichster Diskussionspunkt die Frage nach der Berücksichtigung von Sonderwissen und Sonderkenntnissen betrifft.
Kröger legt erneut sehr sorgfältig die Insuffizienzen im herkömmlichen Denken offen (S. 359 ff.): So soll die Tatsa-
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Kröger, Der Aufbau der Fahrlässigkeitsstraftat
Wachter
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chenbasis für die Ermittlung eines Sorgfaltspflichtverstoßes
grundsätzlich objektiv sein, wohingegen jedenfalls bestimmte
Formen von Tatsachenwissen zu berücksichtigen seien – eine
Konsequenz, die zu Ende gedacht spätestens in der Versuchsdogmatik zu unüberwindbaren Brüchen führt. 2 Das
Ausmaß der Berücksichtigung von Kenntnissen bleibt regelmäßig nicht nur unklar, sondern wirft elementare Folgeprobleme für die Stellung und Konstituierung eines (potentiellen)
Unrechtsbewusstseins auf (S. 377 f.). Schließlich ist, um nur
noch eine weitere Inkonsistenz im überkommenen Straftatsystem anzusprechen, nicht einzusehen, inwiefern eine am
Rechtsgüterschutzdenken orientierte, auf die Vermeidung
gewisser unwerter Verhaltensweisen und Zustände abzielende Lehre unter Umständen Verhaltensnormen aufzustellen
vermag, deren Befolgung für den Bürger aufgrund individueller seelischer Defizite von vornherein nicht möglich ist.
Nach all diesen Mängeln im überkommenen Verbrechensaufbau hätte es nahe gelegen, ihn einer umfassenden Revision zu unterziehen. Kröger hingegen stellt in seiner eigenen
Grundlegung gleich zu Beginn klar, dass er die herkömmlichen Pfade im Grundsatz nicht verlassen will (S. 390). Dies
betrifft vorab die Aufteilung des Verbrechens in die Kategorien Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld, die
für ihn „aufgrund der klaren gesetzlichen Bestimmungen“
(S. 40 Fn. 146) bindend sind. Im Rahmen des Tatbestandes
soll es dabei lediglich um die Feststellung eines isolierten
Angriffs auf ein Rechtsgut gehen, während auf der Stufe des
Unrechtsausschlusses „sämtliche Forderungen des Rechts
[…] mittels einer umfassenden Güter- bzw. Interessenabwägung zur Rechtsgutsverletzung in Beziehung gesetzt“
(S. 391) werden. Kröger verortet den aus der modernen Zurechnungsdogmatik her bekannten Terminus der „unerlaubten
Risikoschaffung“ auf dieser zweiten Stufe. Damit gelingt es
ihm, den Rechtsgutangriff per se rein objektiv, „unabhängig
vom individuellen Täterwissen“ (S. 395 und explizit auf
S. 398) zu bestimmen. Entscheidend sei lediglich die Bejahung „einer realen Gefahr für ein Rechtsgutsobjekt“ (S. 395).
Gleichzeitig erteilt Kröger einer weitergehenden Normativierung des Tatbestandes eine Absage (S. 397).
Diese dem Bestreben nach einer klaren Abgrenzung innerhalb des Unrechts geschuldete Positionierung führt indessen dazu, dass die Tatbestandsmäßigkeit in einem ersten
Schritt seiner Fähigkeit beraubt wird, einen Sachverhalt zu
bewerten. Übrig bliebe die reine Kausalität als alleiniges
(objektives) Zurechnungsprinzip. Dies erkennt auch Kröger.
Seine Abhilfe wirft indessen zentrale Elemente seiner vorangegangenen Kritik über Bord: Nicht die Sorgfaltspflichtverletzung, sondern der den subjektiven Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts ausfüllende Prüfungspunkt der „potentiellen
Tatumstandskenntnis“, die Frage also, ob der Handelnde die
zuvor umschriebenen Merkmale des Tatbestandes erkennen
konnte, verleihe der Tat ihr entscheidendes Gepräge (S. 400
ff.). Dass es sich hierbei um einen zutiefst normativen Begriff
handelt, für dessen Feststellung ein Konglomerat an objektiven (vgl. insbesondere S. 404 f.) und subjektiven Elementen
notwendig ist, wird nun ohne Problembewusstsein hinge-
nommen. Auch der zweite Grundpfeiler des Krögerschen
Verbrechensverständnisses, die strikte Scheidung von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit, erweist sich hierbei
als großes Hindernis für die Bestimmung unrechten Verhaltens: Die potentielle Tatumstandskenntnis soll anhand bestimmter Warnsignale, d.h. risikorelevanter Faktoren, die den
Handelnden in der je konkreten Situation erreichen, bestimmt
werden (S. 404). Beispielhaft: Wer handelt, obwohl er „zureichende Anhaltspunkte zur Verfügung“ hat, „um auf die
Lebensgefährlichkeit“ seines Tuns „schließen zu können“
(S. 405), erfüllt die Voraussetzungen der Fahrlässigkeit.
Wann aber ein „Signalfaktor“ derart gewichtig ist, dass ein
Hinwegsetzen über seinen Impuls schon zu einem Fahrlässigkeitsverdikt führt, ist für Kröger schon deshalb nicht sinnvoll bestimmbar, weil er die Wertungen der objektiven Zurechnungslehre wie auch des Begriffs des Sorgfaltspflichtverstoßes, mit deren Hilfe sich seit Jahrzehnten um eine Trennlinie bemüht wird, aus dem Tatbestand verbannt hat. Übrig
bleibt das Anknüpfen an die wertungsarme, kausal zu bestimmende „Vermeidung von Rechtsgutverletzungen“. Der
Rechtstreue müsste sich dann aber in letzter Konsequenz von
allen potentiell zu Verletzungen führenden Verhaltensweisen
abgehalten sehen, mag die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts
auch noch so gering sein. Die aus der konsequenten Trennung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit resultierende
Wertungsarmut für die Bestimmung eines Rechtsgutangriffs
führt daher spätestens hier zu der Unmöglichkeit, eine sinnvolle Grenzlinie für die Annahme fahrlässigen Handelns zu
bestimmen.
Im Bereich der Schuldbegründung verbleibt Kröger auf
der Linie der herrschenden Meinung. Den Schuldvorwurf
kennzeichnet für ihn das Urteil der Vorwerfbarkeit als „unrechtliche Einzeltatgesinnung“ (S. 426), wobei Vorsatz und
Fahrlässigkeit auch hier klar voneinander zu scheiden sind.
Während es bei der Vorsatztat um ein aktuelles Bewusstsein
von der Unrechtmäßigkeit der Tat geht, handelt fahrlässig,
wer lediglich die „Möglichkeit hat, das Unerlaubte seines
unrechtstatbestandsmäßigen Verhaltens zu erkennen“ (S. 430).
Bemerkenswert ist an dieser Stelle lediglich die explizite
Absage an eine strafzweckorientierte Begründung des
Schuldbegriffs, wie sie sich beispielhaft in der Konzeption
Jakobs‘ findet. Entgegen seiner einleitenden Stellungnahme,
in der Kröger noch die Relevanz der sich aus dem Strafbegriff ergebenden Wertungen gerade für die „Unwertgehalte
von Unrecht und Schuld“ (S. 46) erkennt, erteilt er nun „den
Auffassungen eine deutliche Absage […], die Aspekte der
Prävention in den Schuldbegriff einbeziehen wollen“3
(S. 427).
Kröger sieht sich schlussendlich dazu veranlasst, eine
weitere Wertungsstufe der „Strafwürdigkeit“ im Anschluss
an die Schuld einzuführen (S. 451 ff.). Hier nun wird endlich
fündig, wer bisher vergebens nach einer Verbindung zu den
Straftheorien suchte. Ohne weitere Diskussion wird die in der
Schuld noch verschmähte positive Generalprävention zum
zentralen Wertungselement erhoben: Strafe sei als Reaktion
3
2
Zu Letzterem vgl. Wachter (Fn. 1), S. 188 ff.
Der Vergeltungsgedanke spielt in der Arbeit durchgehend
keine Rolle, vgl. nur S. 454.
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Wachter
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nur angemessen, soweit durch sie ein Angriff auf die „Grundlagen des Zusammenlebens in der Rechtsgemeinschaft […]
zu ihrer Restabilisierung“ (S. 455) zurückgedrängt werden
muss. Als limitierender Aspekt entfalte die Prüfung der
Strafwürdigkeit insbesondere in „Geringfügigkeitsfällen“
ihren Sinn, die von der herrschenden Meinung bereits auf der
Ebene der Tatbestandsmäßigkeit ausgesondert werden. Der
eigentliche Grund, weshalb Kröger die Stufe der „Strafwürdigkeit“ im Verbrechensaufbau einführt, tritt hier offen zu
Tage: Die „Bereinigung“ des Tatbestandes von normativen
Wertungen führt zu einer am Kausaldogma orientierten Weite, die nun wieder eingegrenzt wird. So überrascht es denn
auch nicht, wenn schließlich zentrale Prüfungspunkte der
objektiven Zurechnungslehre (Eigenverantwortung, rechtmäßiges Alternativverhalten, Überschreiten des erlaubten Risikos, S. 456 ff.) durch die Hintertür eingeführt werden. Welchen Fortschritt es darstellen sollte, erst jenseits des überkommenen Straftataufbaus mit einer normativ aufgeladenen
Verbrechenskategorie aufzuwarten, die sich in einer Korrektur des im Vorfeld zu weit gezogenen Unrechtsbegriffs erschöpft, ist nicht erkennbar.
Kröger gelingt es leider nicht, seine im Kern zutreffende
Kritik an der gegenwärtigen Fahrlässigkeitsdogmatik innerhalb der überkommenen Aufteilung in Tatbestandsmäßigkeit,
Rechtswidrigkeit und Schuld stringent umzusetzen. Man
hätte ihm von Anfang an den Mut gewünscht, sich dieses
faulig gewordenen Korsetts zu entledigen. Hier rächt sich
auch, dass Kröger allzu leichtfertig über Ansätze4 hinweggeht, die sich um ein alternatives Straftatsystem bemühen.
Dessen ungeachtet hat Kröger ein über weite Teile scharfsinniges, von analytischem Geschick und hohem Problembewusstsein geprägtes Werk vorgelegt. Durch seine präzise
Herausarbeitung der Ungereimtheiten im überkommenen
Verbrechenssystem wird er an dessen Zersetzung vermutlich
stärker mitgewirkt haben, als ihm lieb sein mag.
Dr. Matthias Wachter, Regensburg
4
Etwa T. Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006 (vgl. zu
diesem Werk S. 40 Rn. 146). Die Schrift von Pawlik (Fn. 1),
die ebenfalls eine Allgemeine Verbrechenslehre jenseits des
überkommenen Systems ausarbeitet, wird von Kröger leider
nicht ausgewertet, vgl. S. 324 f.
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Tagungsbericht: „The European Convention on Human Rights and the Crimes of the
Past” – ESIL European Court of Human Rights Conference am 26.2.2016 am EGMR
in Straßburg
Von stud. iur. Natascha Kersting, Köln und Paris
Am 26.2.2016 fanden sich namhafte Praktiker, wie Richter
internationaler Gerichtshöfe, Mitglieder der Völkerrechtskommission und Präsidenten verschiedener Menschenrechtsausschüsse sowie bedeutende Wissenschaftler im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zusammen,
um Relationen zwischen der Europäischen Menschenrechtskonvention und Verbrechen der Vergangenheit aus juristischen, philosophischen und historischen Winkeln zu beleuchten.
Die vom EGMR in Kooperation mit der European Society
of International Law (ESIL) ausgerichtete Konferenz, deren
Ziel die Förderung des Dialogs zwischen juristischer Praxis
und Wissenschaft auf dem Gebiet des internationalen Rechts
ist, schließt sich an die letztjährige Tagung zum Thema der
Anwendung allgemeinen Völkerrechts durch internationale
Gerichte an und dürfte abermals relevante Impulse in Bezug
auf Fragestellungen nicht allein des materiellen, sondern
auch des Prozessrechts gesetzt haben.
I. Tagungsablauf
Der Tagungsablauf gliederte sich in vier Sequenzen. Die
thematisch universelleren Auftakt- und Finalsitzungen fanden
jeweils im Plenum statt, während die beiden spezifischeren
Tagungsabschnitte in parallelen Expertenkreisen abliefen. Es
soll im Folgenden ein globales Bild der beiden Plenarsitzungen gegeben werden, wobei die Eindrücke aus dem Expertengremium zum Gesetzlichkeitsprinzip im Kontext internationaler Verbrechen in die anschließenden Gedanken zu Ansatz und Organisation der Tagung sowie zu den von dieser
ausgehenden Denkanstößen, miteinfließen sollen.
1. Plenarsitzung I – Gerichte als Historiker und
Geschichtsschreiber
Nach einer freundlichen Begrüßung und Einleitung durch die
Präsidenten des EGMR und der ESIL, Guido Raimondi und
André Nollkaemper, die jeweils die herausragende Bedeutung
der Tagung und die besondere Pertinenz des facettenreichen
Themas unterstrichen, schloss sich sogleich der erste und
wohl bemerkenswerteste Themenblock an. Dieser hatte die
Rolle der Gerichte als Interpreten der Geschichte, aber auch
als Geschichtsschreiber zum Gegenstand und wurde von der
Vize-Präsidentin des EGMR, Iʂil Karakaʂ, geleitet.
Ein eröffnender Beitrag der Mitinitiatorin und Organisatorin, Iulia Motoc, verdeutlichte die Probleme, vor die Gerichtshöfe im Umgang mit historischen Quellen gestellt sind.
Nach der Feststellung, dass Gerichte sich nicht ausreichend
mit geschichtlichen Fragestellungen befassen, zeichnete die
EGMR-Richterin das Spannungsfeld zwischen subjektiv
gefärbten historischen Aussagen und der Bemühung der
Gerichte um eine objektive Darstellung der Vergangenheit
auf. In diesem Zusammenhang bedauerte sie, dass geschichtliche Abhandlungen nie frei von subjektivem Gedankengut
des Autors und somit immer in gewisser Hinsicht tendenziös
seien. Entsprechend stelle sich das Problem, in welchem
Maße diese dennoch zur Wahrheitsfindung durch Gerichte
berücksichtigt werden sollten. Eine Lösung muss sich wohl
daran orientieren, ob es andere – objektivere – Möglichkeiten
gibt, als den Rückgriff auf historische Expertisen und Zeugenaussagen.
Schloss Motoc mit einer offenen Frage, so stellte Michel
de Salvia eine nicht minder anregende, inwiefern der EGMR
im Hinblick auf bisweilen zweifelhafte historische „Wahrheiten“ ein „Zeuge der Moralität“ sei, gleich an den Beginn
seiner Intervention, um das Auditorium im Anschluss an
seinen substantiierten Gedanken hierzu teilhaben zu lassen.
Ausgangspunkt seiner Darlegungen war die Feststellung,
dass das Verstreichen von Zeit die Schwere der begangenen
Taten in keinster Weise mindere. Sodann zeigte er die ZielRisiko-Relation des Umgangs mit Vergangenheitsverbrechen
internationaler Gerichte auf. Urteile, die in direkter oder
indirekter Weise an solch schwere Verbrechen rührten, würden das Ziel verfolgen, die Leiden der Geschichte zu lindern,
gleichzeitig aber auch die Gefahr bergen, Salz in die noch
nicht ausgeheilten Wunden zu streuen. An dieser Stelle wäre
es interessant gewesen zu erfahren, wie de Salvia zu der
Frage steht, ob denn das Rücken des Verbrechens von der
Gegenwart in eine fortschreitend entferntere Vergangenheit
in der Lage sein kann, die kollektiven oder individuellen
Wunden zu heilen. Eine pauschale Lösung dieser Problematik erscheint von vornherein ausgeschlossen, doch kann anhand verschiedener Parameter durchaus eine differenzierte
Betrachtung gewagt werden. Einen ersten Punkt könnten
Generationswechsel und der damit verbundene Grad der
direkten Betroffenheit darstellen. Des Weiteren – und hier in
besonderem Maße von Interesse – käme das Ausmaß der
Versöhnung oder Aussöhnung, des Gefühls der Betroffenen
einer Wiederherstellung von oder zumindest einer Annäherung an Gerechtigkeit in Betracht – ein Aspekt, der das erklärte Ziel aller Kriegsverbrecherprozesse, angefangen bei
Nürnberg und Tokyo, darstellt. De Salvia konzentrierte sich
sogleich auf substantielle juristische Aspekte. Während der
erste Teil seiner bereichernden Darstellung auf dem in diesem Zusammenhang elementaren prozessualen Punkt der
Kompetenz ratione temporis lag, der allein schon vom Gericht verlange, die ihm vorliegenden Fakten zeitlich zu lokalisieren1 und somit gewissermaßen historische Aussagen treffe,
widmete er sich folgend dem materiellen Recht und zwar
dem Spannungsfeld zwischen der durch Artikel 10 der Konvention geschützten Freiheit der Meinungsäußerung und dem
Leugnen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Seinem
Fazit zufolge, das er mit dem treffenden Zitat keines geringeren als Cesare Beccarias bereicherte, „Die Geschichte der
So auch EGMR (Große Kammer), Urt. v. 8.3.2006 –
59532/00 (Blečić v. Kroatien).
1
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Tagungsbericht: „The European Convention on Human Rights and the Crimes of the Past“
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Menschen stellet uns sein grenzenloses Meer vor, welches
starke Geschwadere von Irrtümern durchkreuzen; kaum das
hin und wieder etliche nur halb bekannte Wahrheiten, in
weiten Entfernungen von einander, herum schwimmen.“2, ist
es eine große Herausforderung und Schwierigkeit für Gerichte, im Rahmen der Konfrontation mit zeitlich weit zurück
liegenden Fakten, oftmals divergenten Zeugenaussagen und
historischen Befunden zum Trotz, kohärente Äußerungen zu
tätigen.
Der von de Salvia bereits berührte materielle Aspekt der
Meinungsfreiheit in Bezug auf die Leugnung von Verbrechen
gegen die Menschlichkeit wurde in einer anschließenden
minutiösen und pointierten Analyse der aktuellen Rechtsprechung des EGMR3 zur Anwendung des Artikels 10 der Konvention hinsichtlich nationaler (strafrechtlicher) Reaktionen
auf Hassreden durch Nicolas Hervieu detailliert beleuchtet.
Der junge Jurist verwies auf die herausragende Bedeutung
der Aussagen des Gerichtshofs im Zusammenhang mit der
Geschichte. Wie er nach George Orwell kundtat, habe die
Macht über Gegenwart und Zukunft derjenige, der sie auch
über die Vergangenheit habe.4 Umso bedauernswerter sei es,
dass es dem Gericht angesichts der Reflexe, von Negationismus geprägte Hassreden zu unterdrücken einerseits und der
Wahrung der individuellen Freiheit im Rahmen historischer
Debatte andererseits, nicht gelungen sei, eine klare Linie zu
entwickeln, sondern vielmehr zwischen einem formellen und
einem liberalen Demokratieverständnis und entsprechend
unterschiedlich weit reichender Bedeutung von Grundrechten
zu schwanken, was nicht zuletzt durch den mangelnden Konsens der Richter in diesem Punkt begründet sei.
Der folgende Referent Lauri Mälksoo widmete seinen
Beitrag dem Umgang des EGMR mit Sowjet-Verbrechen5
und in diesem Zusammenhang weiteren Gebieten des Völkerrechts insbesondere des humanitären Völkerrechts. Hier
machte er auf eine doppelte Problematik aufmerksam: Einerseits bekenne sich Russland keiner Kriegsverbrechen schuldig – und dies bestenfalls mit einer Argumentation in Richtung der diskriminierenden Anwendung humanitären Völkerrechts, häufiger aber mit der absoluten Tatbestandsnegierung.
Andererseits würden die baltischen Staaten in der Tendenz
ihrer nationalen Rechtsprechung zu einer sehr niedrigen
Schwelle, sowohl auf Tatbestands- als auch auf Vorsatzebene, für die Qualifikation zur Annahme eines Völkermords
neigen, was er mit der provokanten Erklärung untermauerte,
jeder Staat wolle derjenige sein, der am meisten gelitten habe.
2
Beccaria, Dei delitti et delle pene, 1764.
Ein Schwerpunkt lag dabei auf zwei Urteilen des vergangenen Jahres: EGMR (Große Kammer), Urt. v. 15.10.2015 –
27510/08 (Perinçek v. Schweiz) und EGMR (Große Kammer), Urt. v. 20.10.2015 – 25239/13 (M’Bala M’Bala v.
Frankreich), besser bekannt als „Dieudonné“-Entscheidung.
4
In George Orwells Roman „1984“.
5
Hierbei besprach er die Urteile EGMR (Große Kammer),
Urt. v.17.5.2010 – 36376 (Kononov v. Lettland) und EGMR
(Große Kammer), Urt. v. 20.10.2015 – 35343/05 (Vasilauskas v. Litauen).
3
Diese These wurde dann auch in der anschließenden Diskussion sogleich aufgegriffen und kontestiert.
Nach einer Kaffeepause, die weitere Gelegenheiten zu
vertieftem Austausch über die zahlreichen frischen Eindrücke
bot, schloss sich unter der Leitung von Jean-Paul Costa der
zweite Teil des ersten Themenblocks an. Dieser wurde durch
Christiane Chanets Gedanken zu „lois mémorielles“, also
solchen Gesetzen, die als Reaktion auf erschütternde Verbrechen entstünden, um deren Erinnerung zu wahren, eröffnet.
Entsprechende Normen würden zum einen die Gefahr einer
zu hohen Präzision bergen und dem Richter gewissermaßen
schon die Fakten des Falles aufzuzwingen als auch jene der
Impräzision, die vom Richter verlange, die Rolle eines Historikers zu übernehmen.
Anlass zu leidenschaftlicher Debatte gab der Vortrag von
Marko Milanović. Ihm zufolge ist die Aufgabe internationaler
Gerichte die Etablierung von Gerechtigkeit 6 und dies sei
durch Wahrheit zu erreichen. Diese „Wahrheit“ müsse aber –
und hier der umstrittene Punkt – von der Bevölkerung auch
als solche akzeptiert werden. Anhand verschiedener auf Meinungsumfragen basierender Graphen7 zeigte er, dass ein
großer Teil der serbischen und bosnischen Bevölkerung eine
Vorstellung von der Konfliktvergangenheit habe, die substantiell von den durch das Jugoslawien-Tribunal etablierten
Fakten abweiche. Er kritisierte dies im Hinblick darauf, dass
das Gericht hier seiner Funktion als Mediator nicht nachgekommen sei, gab aber offen zu, keinen Verbesserungsvorschlag einbringen zu können. Der ehemalige Ad-litemRichter des Jugoslawien-Tribunals, Albin Eser, fühlte sich an
dieser Stelle zu einer Verteidigung des Gerichtes berufen und
stellte vehement fest, dass es nicht die Aufgabe der Gerichte
sei, für Versöhnung zu sorgen. Wenngleich Milanović durch
seine emotionale Darstellung der Divergenz zwischen den
Feststellungen des Gerichts und der herrschenden Auffassung
der Bevölkerung sicher ein existentes Problem aufzeigte, so
scheint es für dies keine im Zuständigkeitsbereich des Gerichts liegende Lösung zu geben. Dieses muss – gerade im
Falle von Unstimmigkeiten in den Auffassungen unterschiedlicher Volksgruppen – eine objektive Darstellung der Fakten
gewährleisten und darf sich keinesfalls dazu verleiten lassen,
die Fakten nach politischen Überlegungen zu etablieren.
Insofern scheint die Kritik Milanovićs vielmehr eine Stärke
des Jugoslawien-Tribunals aufzuzeigen.
Für weniger heftige Reaktionen sorgend, aber deshalb
nicht weniger interessant war die anschließende Intervention
von Erik Møse, der aus seinem am Ruanda-Tribunal gewonnenen Erfahrungsschatz schöpfte und feststellte, dass er im
Hinblick auf die Perzeption der Faktendarstellung dieses
Gerichtshofs in der hiesigen Bevölkerung kein solches Spannungsfeld sehe. Er konkretisierte zudem die bereits von Iulia
Motoc angesprochene Idee des Gerichts als Geschichts6
Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern „Gerechtigkeit“ das einzige oder effektivste Mittel für
nachhaltigen Frieden ist siehe Schabas, Kein Frieden ohne
Gerechtigkeit?, 2013.
7
Im Internet abrufbar unter:
http://www.osce.org/serbia/40751?download=true (5.1.2017).
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Natascha Kersting
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schreiber, indem er in den Raum stellte, dass Historiker sich
auf Gerichtsurteile als Quellen ihrer Schriften berufen würden. Des Weiteren ging er auf die koinzidierende Relevanz
von Führungspersonen im internationalen Strafrecht und in
der Geschichte ein. Während sich diese in erst genanntem
Bereich durch das Ziel, die Hauptverantwortlichen zu verurteilen, erkläre, ließe sich für den letztgenannten historischen
Bereich feststellen, dass sich die Geschichte insbesondere um
Führungspersonen drehe, da diese naturgemäß großen Einfluss auf Ereignisse und Entwicklungen nähmen.
Ein Beitrag Larissa van den Heriks, die sich zu dem Zusammenspiel von Untersuchungskommissionen und Gerichten insbesondere unter Berücksichtigung der niederländischen Rechtsprechung äußerte, schloss den ersten Themenblock. Mit einer entscheidenden Frage, nämlich der, wo die
Vergangenheit – die Geschichte – aufhöre und die Gegenwart
beginne, wurden die Kongressteilnehmer dann in die Mittagspause entlassen.
2. Plenarsitzung II – Reflexionen über
Vergangenheitsverbrechen
Nach zwei aufschlussreichen Expertensitzungen zum Gesetzlichkeitsprinzip im Kontext internationaler Verbrechen sowie
zu Amnestien, Begnadigungen und Wahrheitskommissionen,
fanden sich die beiden durch weitere Vertiefung des jeweiligen Themenkomplexes und ausführlichem Gedankenaustausch in Diskussionen stimulierten Gruppen wieder zusammen, um sich nahtlos dem finalen Veranstaltungsblock zu
widmen. Unter dem offenen Titel „Reflections on the Crimes
of the Past“ stehend, wurden die einzelnen Beiträge durch die
gewandte Moderation der deutschen EGMR-Richterin
Angelika Nußberger jeweils so kontextualisiert, im aktuellen
Gerichtsgeschehen lokalisiert und thematisch verknüpft, dass
selbst bereits ermüdete Geister eine klare Struktur vorfanden.
Einen hochinteressanten Auftakt bot die passionierte Darstellung von Anja Seibert-Fohr, die den Bereich der Menschenrechte mit dem des internationalen Strafrechts durch
ihre These, dass erstere den Blick auf die Zukunft lenkten,
während letzteres eher vergangenheitsorientiert sei, kontrastierte. Eindringlich plädierte sie daher, unter näherer Betrachtung der Verpflichtung zur Verfolgung von Straftaten aus
menschenrechtlicher Perspektive, für eine stärkere Gewichtung dieses Rechtsgebiets.
Unter dem Titel „Réparer l’irréparable?“ – die Wiedergutmachung des Unwiedergutmachbaren? – verschaffte
Photini Pazartzis dem Auditorium sodann einen fundierten
Überblick über die Rechtsprechung internationaler Menschenrechtsgerichtshöfe und die Quasirechtsprechung internationaler Menschenrechtsausschüsse in Bezug auf den heiklen Bereich der Reparation. Auf diesen Beitrag folgte das
informative Referat des Vorsitzenden des VN-Ausschusses
für das gewaltsam verursachte Verschwinden von Personen,
Emmanuel Decaux, der am Beispiel des Schutzes aller Personen vor dem Verschwindenlassen die Rolle der Vereinten
Nationen im Kampf gegen Straflosigkeit von Vergangenheitsverbrechen und damit eines höheren Standards des Menschenrechtsschutzes, beleuchtete.
Eine Verbindung zur morgendlichen Plenarsitzung schuf
der erhellende Beitrag von Heike Krieger, die sich ebenso
wie bereits Hervieu der Pönalisierung der Negation von Vergangenheitsverbrechen und einer Analyse der einschlägigen
Rechtsprechung des EGMR zuwandte. Dass sie diese in einen
rechtsvergleichenden Kontext stellte, erwies sich als der
näheren Auseinandersetzung mit der Materie ausgesprochen
zuträglich. Ihr Fazit relativiert die von Hervieu geübte Kritik
an der inkohärenten Rechtsprechung des EGMR. Krieger
deduziert den Grundsatz des Gerichts, die in Artikel 7 der
Konvention verbürgte Freiheit der Meinungsäußerung nur
dann als in legitimer Weise eingeschränkt zu sehen, wenn
von der in Rede stehenden reprimierten Tätigkeit eine Gefahr
für die friedvolle Koexistenz ausgehe und erkennt überdies
einen kontextbasierten Ansatz, der nach unterschiedlichen
historisch-politischen Verbrechenskategorien, wie beispielsweise Kolonialverbrechen oder NS-Verbrechen, differenziert.
Den glänzenden Schlusspunkt der Tagung setzte schließlich das Referat des EGMR-Richters Fausto Pocar, der unter
dem bedeutungsvollen Titel „The Growing Role of International Criminal Law and the Violations of the Past“ nicht allein
auf die Reaktionen und Antworten internationalen Strafrechts
auf Vergangenheitsverbrechen einging, sondern auch aufzeigte, wie dessen Entwicklung potentiellen künftigen Verletzungen zuvorkommen könne. Nachdem seine konzise
Darstellung der Entwicklungen und Interpretationen bis hin
zu Lückenfüllungen von Vertrags- und Gewohnheitsrecht
wichtige Errungenschaften wie die Annäherung an eine
Gleichstellung der Behandlung von Rechtsverletzungen in
internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten hervorhob, schloss er mit Reflexionen über die Möglichkeit, durch Mechanismen opferorientierter Justiz wie
Reparationen und Wahrheitskommissionen ein im Hinblick
auf Vergangenheitsbewältigung sinnvolles Komplement zur
Rechtsprechung der Strafgerichtshöfe schaffen zu können, in
eindrucksvoller Weise den finalen Themenkreis der Veranstaltung.
II. Denkanstöße und Ausblick
Die Konzentration des Tagungsthemas auf Verbrechen der
Vergangenheit soll weder die Zukunftsrelevanz der Materie in
den Hintergrund treten lassen noch dazu verleiten, die Konferenz gewissermaßen als Ereignis der Vergangenheit abzustempeln ohne dabei die von ihr ausgehenden Impulse darzustellen und einen Ausblick zu wagen.
1. Impulse im Hinblick auf den Umgang des EGMR mit
Verbrechen der Vergangenheit
Von den vielen Denkanstößen, derer bereits einige in der
Skizzierung der beiden Plenarsitzungen angeklungen sind, sei
an dieser Stelle auf jene eingegangen, die in direktem Bezug
zum Kongressgegenstand – dem Umgang des EGMR mit
Verbrechen der Vergangenheit – stehen. Diese lassen sich
hier unter drei Hauptaspekte subsumieren.
Zunächst ist im Hinblick auf den Punkt der Kompetenz
ratione temporis des EGMR die Frage aufgeworfen und behandelt worden, ohne aber einen abschließenden Konsens
oder eine Klärung, sofern dies überhaupt in eindeutiger Wei-
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se möglich sein sollte, erfahren zu haben, inwieweit historische Quellen dem Gericht zur Lokalisierung der Fakten in der
Zeit und damit zur Beantwortung der Kardinalfrage der Jurisdiktionskompetenz dienen können und sollen. In umgekehrter Weise lässt sich ebenso fragen, welchen Wert Urteile
und weitere Dokumente des Gerichts als Quellen für die
Arbeit von Historikern haben.
Ein weiterer Punkt, der Anlass zu weiterführenden Gedanken gibt und mit dem sich der EGMR in seiner Rechtsprechung immer wieder zu befassen hat, ist das Spannungsverhältnis von der in Artikel 10 der Konvention verbürgten
Freiheit der Meinungsäußerung und der Negation von Vergangenheitsverbrechen. Neben der sich aufdrängenden Frage
danach, inwieweit Staaten zur Ahndung der Vergangenheitsleugnung in Grundrechte eingreifen dürfen, scheint auch der
über die Tagung hinausgehende Aspekt der konkreten Benennung der Gefahren, die von der Leugnung abgeurteilter
Verbrechen ausgehen, weiteren Untersuchungen würdig.
Neben den der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zweifelsohne gefährlichen Hassreden scheint die Betrachtung
gewissermaßen „friedlicher“ Leugnungen und der (eventuell)
von ihnen ausgehenden konkreten Gefahren bedenkenswert.
Trotz Schwierigkeiten in der Grenzziehung könnte eine Differenzierung zwischen individueller und kollektiver Leugnung hier einen beachtlichen Parameter ausmachen.
Eine große Fülle von Fragen wirft schließlich das von der
Europäischen Menschenrechtskonvention in Artikel 7 geschützte Gesetzlichkeitsprinzip auf. Unter dem Titel „Keine
Strafe ohne Gesetz“ verbietet dieser die Verurteilung wegen
einer Tat, die zur Zeit ihrer Begehung nicht strafbar war.
Scheint der Titel durch den Wortlaut „Gesetz“ auf geschriebenes Recht zu verweisen und so der Facette „nullum crimen
sine lege scripta“ Rechnung zu tragen, so erhellt aus einem
Blick in Absatz 2, dass eine Strafbarkeit nach „den von den
zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ ausreicht, damit eine Verurteilung nicht gegen das
Gesetzlichkeitsprinzip der EMRK verstößt. Albin Eser hielt
den Titel angesichts dessen für irreführend, wenn nicht gar
falsch und schlug die globalere Formulierung „nullum crimen
sine jure – Keine Strafe ohne Recht“ vor. Der jeweils unterschiedliche Gehalt des in 162 von 192 Staatsverfassungen,
sowie in zahlreichen internationalen Instrumenten vorhandenen Gesetzlichkeitsprinzips verdeutlicht zudem, dass nicht
nur eines, sondern eine Vielzahl verschieden weit gefasster
Gesetzlichkeitsprinzipien existiert. Dieser Befund gibt Anlass
zu Untersuchungen darüber, welche Facetten dieses fundamentalen Prinzips bereits zu Völkergewohnheitsrecht erstarkt
sind – ein Punkt, der auf der Konferenz leider nicht zur Sprache gekommen ist. Während jedenfalls dem Kerngehalt des
Gesetzlichkeitsprinzips im internationalen Strafrecht universelle Bedeutung zukommen dürfte, 8 hat die Frage, inwieweit
dieses Menschenrecht in weiteren Gebieten, wie beispiels8
So auch Kreß, Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Nulla poena nullum crimen sine lege; im Internet
abrufbar unter:
http://www.uni-koeln.de/jurfak/kress/NullumCrimen24082010.pdf (5.1.2017), dort Rn. 19.
weise Präventivmaßnahmen oder Maßregeln der Besserung
und Sicherung, Anwendung findet oder finden sollte keine
abschließende Klärung erfahren.
2. Gedanken zum Ansatz und zur Organisation der Tagung
Das begrüßenswerte Ziel der Konferenz, ein Forum für Dialog zwischen Praxis und Wissenschaft zu schaffen ist zweifelsohne erreicht worden und hat zu wertvollen Gewinnen auf
beiden Seiten geführt. Beachtenswert erscheint, dass zahlreiche Referenten nicht allein der einen oder anderen Kategorie
zugeordnet werden können, sondern gar in beiden Bereichen
tätig sind und somit die jeweils vorgestellten Themen aus
zwei Perspektiven beleuchten konnten. Der fruchttragenden
Ergebnisse dieser „interokkupativen“ Beleuchtung wegen,
wäre es insbesondere im Hinblick auf das Tagungsthema
wünschenswert gewesen, diesen Ansatz noch weiter – und
nach dem erfolgreichen Vorbild des Arbeitskreises Völkerstrafrecht9 – zu einem interdisziplinären auszudehnen. So
wäre ein Historiker oder gar ein Rechtshistoriker wie Andrej
Umansky, der gerade durch seine Expertise im Bereich der
NS-Verbrechen und damit des Ursprungs der Strafbarkeit des
Völkermordes – des Verbrechens, das sich als „the crime of
crimes“ wie ein roter Faden durch die Tagung zog – ein bereichernder Referent und Diskussionsteilnehmer gewesen.
Es darf resümierend festgehalten werden, dass die Konferenz nicht allein in sich geschlossene Einblicke in die Materie
bot, sondern überdies an Anregungen für weitere Recherche
und Reflexion sowohl mit Blick auf prozedurale als auch auf
materiell rechtliche Aspekte nicht zu wünschen übrig ließ
und so die künftige wissenschaftliche wie praktische Arbeit
zu bereichern vermag. Weiteren Tagungen dieser Art darf mit
Spannung entgegengesehen werden.
9
Siehe hierzu insbesondere den Tagungsbericht von Berster
(ZIS 2012, 312), der den interdisziplinären Ansatz der Arbeitskreissitzung lobt. Nähere Informationen zum genannten
Arbeitskreis sind abrufbar unter:
https://www.jura.uni-hamburg.de/ueber-diefakultaet/professuren/professur-jessberger/arbeitskreis.html
(5.1.2017).
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Tagungsbericht „Mapping the challenges in economic and financial criminal law:
a comparative analysis of Europe and the US” vom 17.3.2016 an der Universität
Luxemburg
Von Wiss. Mitarbeiter Julian Dust, Wiss. Mitarbeiterin Özlem Kayadibi, Köln*
Seit einigen Jahrzehnten sind die Strafrechtssysteme weltweit
mit globalen Herausforderungen und fundamentalen Veränderungen in dem Bereich der Wirtschafts- und Finanzkriminalität konfrontiert. Die Finanzkrise im Jahr 2008 und die
anschließende Dämpfung der Konjunktur haben diese Herausforderungen in vielerlei Hinsicht spürbar gemacht. Bestehende Grundsätze, Normen und Praktiken sind vor diesem
Hintergrund nicht immer ausreichend, weshalb Legislative
und Exekutive unter Handlungsdruck geraten. Den hieraus
resultierenden kriminalpolitischen Fragen war die Tagung
„Mapping the challenges in economic and financial criminal
law: a comparative analysis of Europe and the US“ gewidmet, die unter Leitung von Prof. Katalin Ligeti am 17.3.2016
an der Fakultät für Recht, Wirtschaft und Finanzen der Universität Luxemburg abgehalten wurde. Das geltende und
künftige Sanktionenrecht der Nationalstaaten sollte dabei in
den europäischen und transnationalen Kontext gesetzt werden. Zu Wort kamen neben renommierten Vertretern aus
Justiz und Wissenschaft auch Nachwuchswissenschaftler
verschiedener europäischer Länder. Die auf der Tagung
angesprochenen Fragen sind für die deutsche kriminalpolitische Diskussion von besonderer Relevanz. In Deutschland
wird derzeit noch über eine Änderung des Sanktionenregimes
für Unternehmen diskutiert, die andere europäische Länder
bereits vollzogen haben.
I. Kriminalsysteme im Vergleich
Die erste von vier Sitzungen leitete in die Herausforderungen
des Wirtschafts- und Finanzstrafrechts ein. Prof. Stefan
Braum, Dekan der Universität Luxemburg, eröffnete das
Panel. Die Tagung solle, so Braum in seinen einführenden
Worten, neue Legitimations- und Organisationsfragen des
europäischen Strafrechts diskutieren. Diese seien entstanden,
weil die klassischen Strafrechtsprinzipien (Schuldprinzip,
Legalitätsprinzip und Verhältnismäßigkeitsprinzip) heute
nicht mehr ohne weiteres das dogmatische Fundament der
Rechtsentwicklung darstellten. Begriffe wie „compliance“
und „private enforcement“ seien Rechtsinstitute, die nicht
klassischen horizontalen und vertikalen Organisationsstrukturen zuzuordnen seien. Deutlich wird dies bei der Zurechnung
von Strafe, die horizontale (gleichrangig-arbeitsteiliges Vorgehen von Beteiligten wie bei der Mittäterschaft) und vertikale Verhältnisse (Fälle der Organisationsherrschaft, wie bei
der mittelbaren Täterschaft) unterscheidet.1 Das Strafrecht im
* Die Autoren Julian Dust, LL.B und Özlem Kayadibi, Ass.
iur, sind wissenschaftliche Mitarbeiter der von der Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsgruppe Verbandsstrafrecht an der Universität zu Köln (Prof. Dr. Dr. h.c. Michael
Kubiciel, Jun.-Prof. Dr. Elisa Hoven, Prof. Dr. Thomas
Weigend, Prof. Dr. Martin Henssler), zur Forschungsgruppe:
http://www.verbandsstrafrecht.jura.uni-koeln.de (5.1.2017).
europäischen Kontext könne – dies zeigte die Tagung in der
Tat sehr deutlich – nur als Sanktionenrecht verstanden werden, mit dem die Politik eigene Ziele durchsetzen wolle.
Lars Bay Larsen, Richter am EuGH, befasste sich mit der
Natur der durch das europäische Recht möglichen Sanktionen. Dabei ging es ihm insbesondere um die Klarstellung,
dass die Nationalstaaten im Gegensatz zu den USA sehr
unterschiedliche Strafrechtstraditionen mitbrächten, die EU
aber in ihrer Diversität vereint sei. Auf EU-Ebene gäbe es
bisher kein Strafrecht im engeren Sinne, es entstünden aber
alternative Sanktionsmöglichkeiten wie z.B. im europäischen
Wettbewerbsrecht. Deren Qualität als „Strafe“ sei unter anderem in dem Verfahren „Bonda“2 untersucht worden, in dem
der EuGH jeweils nur eine Bußgeldqualität feststellte. Das
Prinzip „ne bis in idem“ fand daher keine Anwendung.
Grundlage dieser Feststellung seien die sog. „EngelKriterien“,3 auf welche auch weitere Redner noch eingegangen sind.
Prof. Katalin Ligeti befasste sich in ihrem Beitrag mit den
allgemeinen Perspektiven und Tendenzen im europäischen
Finanz- und Wirtschaftsrecht. Dieses reagiere auf die Entwicklungen der Gesellschaft (Finanzwelt, Umwelt, Internet
etc.). Zu beobachten sei eine Europäisierung des nationalen
Rechts, eine Ausweitung des EU-Bußgeldrechts („judicialization“), verbunden mit einem Bedeutungsverlust des nationalen Strafrechts („moving away“-Effekt) sowie eine Verstärkung des Grundrechtsschutzes (ne bis in idem, Verhältnismäßigkeitsprinzip, prozessuale Rechte). Die langfristige Konsequenz sei ihrer Ansicht nach, dass die Europäische Union
eine eigene Strafrechtsordnung etablieren werde.
II. Grund und Grenzen individualstrafrechtlicher
Systeme
Die zweite Sitzung widmete sich der persönlichen Haftung,
die Individuen aufgrund von Fehlverhalten im wirtschaftlichen und finanziellen Bereich auferlegt werden kann. Eingeleitet wurde das Panel von Dr. Jan Inghelram, Mitarbeiter
Der Autor Dust promoviert zu materiell-rechtlichen Fragen
des Unternehmensstrafrechts bei Prof. Dr. Dr. h.c. Michael
Kubiciel. Die Autorin Kayadibi promoviert zu kriminologischen Fragen des Unternehmensstrafrechts bei Jun.-Prof.
Dr. Elisa Hoven.
1
Vgl. Eidam, Der Organisationsgedanke im Strafrecht, 2015,
S. 313 ff.; Krämer, Individuelle und kollektive Zurechnung
im Strafrecht, 2015, S. 102 ff.
2
EuGH, Urt. v. 5. 6. 2012 – C-489/10, Rn. 28 ff.
3
Benannt nach EGMR, Urt. v. 8.6.1976 – 5100/71, 5101/71,
5102/71, 5354/72, 5370/72 (Engel und andere gegen die
Niederlande), Rn. 80 ff., wonach maßgeblich sind (a.) die
Zuordnung der Vorschrift im nationalen Recht, (b.) die Natur
des Vergehens sowie (c.) die Art und Schwere der Sanktion.
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ZIS 1/2017
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Tagungsbericht „Mapping the challenges in economic and financial criminal law”
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des EuGH. In dem ersten Vortrag führte Prof. Martin Böse
von der Universität Bonn in das deutsche Kriminalstrafrecht
und Bestrafungsmöglichkeiten von Managern und Unternehmensmitarbeitern ein. Hervorgehoben wurden insbesondere
dogmatische Besonderheiten des deutschen Rechts (Tun und
Unterlassen, Garantenpflichten, Unterschiede von Sonderund Allgemeindelikten) sowie das doppelte System des Ordnungswidrigkeiten- (insbesondere §§ 30, 130 OWiG) und
allgemeinen Strafrechts. Besonders hob Prof. Böse hervor,
dass das Strafrecht einen Ausgleich zwischen wirtschaftlichen Freiheiten und korrespondierenden Pflichten schaffen
müsse.
Dr. Stanislaw Tosza von der Universität Luxemburg stellte seine Doktorarbeit vor, die sich mit der individualstrafrechtlichen Verantwortung von Managern auseinandersetzt.
Hervorzuheben ist Dr. Toszas Feststellung, dass die wirtschaftliche Betätigung allgemein von Risiken bestimmt sei,
was auch die Finanzkrise gezeigt habe. Die Bestrafung von
Managern, bei denen unter anderem diese Risiken zu Straftaten führten, habe deshalb immer zugleich Einfluss auf das
Wirtschaftssystem. Dr. Tosza sprach sich für ein Unternehmensstrafrecht aus, das bei der Bestrafung von „Missmanagement“ ansetzen solle, weil letzteres zu „erheblichen
Risiken“ führe. Insgesamt vertrat er somit das Konzept eines
starken Strafrechts.
Prof. Iain MacNeil von der Universität Glasgow setzte
den Schwerpunkt hingegen mehr auf die Regulation von
Märkten und weniger auf Strafe. Das Strafrecht habe sich
seiner Ansicht nach bisher nicht bewährt und habe vergangene Krisen nicht verhindern können. Sofern eine Ausweitung
erfolge, solle diese jedenfalls das Individualstrafrecht und
nicht das Unternehmensstrafrecht betreffen. Denn letzteres
verursache zugleich Kosten für die Gesellschafter, die nicht
zwingend mit den Taten in Verbindung stünden.
Besonders hervorzuheben ist der Vortrag von Prof. Sara
Sun Beale von der Duke University, in dem sie die amerikanische Sicht darstellte. Sie erinnerte zunächst daran, dass das
Unternehmensstrafecht in den USA seit langem existiere und
skizzierte die Hintergründe der bekannten Entscheidung des
U.S. Supreme Court, „New York Central & Hudson River
Railroad Co. v. United States“, 212 U.S. 481, 495 f. (1909).
Der Supreme Court hat in dieser Entscheidung schon vor
mehr als einhundert Jahren die Strafbarkeit juristischer Personen anerkannt: „If, for example, the invisible, intangible
essence or air which we term a corporation can level mountains, fill up valleys, law down iron tracks, and run railroad
cars on them, it can intend to do it, an can act therein as well
viciously and virtuously.“4 Unternehmensstrafe sei nach
Meinung von Prof. Beale ein pragmatisches und utilitaristisches „tool“, deren Notwendigkeit sich als Ergänzung des
amerikanischen Individualstrafrechts in der Geschichte herausgestellt habe. Gründe für Unternehmensstrafe seien insbesondere die enorme Macht von Unternehmen, die weite Verbreitung von Unternehmensdelinquenz und dass letztere
bekämpft werden müsse, damit der Satz „crime pays“ nicht
4
U.S. Supreme Court, New York Central & Hudson River
Railroad Co. v. United States, 212 U.S. 481, 495 f. (1909).
gelte. Dogmatisch bediene sich das amerikanische Recht
einer Zurechnung der Taten der Individuen an das Unternehmen. Anschaulich zeigte Prof. Beale anhand der jüngeren
Geschichte der USA, dass die Gewichtung von Individualund Verbandsstrafrecht sich zyklisch verändere und mit der
gesellschaftlichen Rahmensituation verbunden sei. Die Veränderungen um die Jahrtausendwende (z.B. Anschläge auf
das World-Trade-Center, Worldcom-Skandal, EnronSkandal) hätten Ängste in der Bevölkerung ausgelöst, die das
Bedürfnis nach Unternehmensstrafe steigerten. Dies ließe
sich anhand einer Analyse der eröffneten Verfahren nachweisen. Die aktuelle Entwicklung zeige, dass Unternehmen mehr
in die Strafverfolgung eingebunden werden, was aber nicht
dazu führen dürfe, dass sie zum „Teil der Staatsanwaltschaft“
aufschwingen. Inzwischen werde Kritik laut, dass die Unternehmensstrafe die Bestrafung von Privaten faktisch verhindere. Derzeit sei ihrer Meinung nach – anders als dies teilweise
in Deutschland wahrgenommen wird 5 – aber nicht zu erkennen, dass das Individualstrafrecht wieder mehr Bedeutung
erlange.
III. Alternative Sanktionsmöglichkeiten
Die dritte Sitzung widmete sich neuen Sanktionsmöglichkeiten im Finanz- und Wirtschaftsstrafrecht und wurde von Prof.
Braum eingeleitet.
Associate-Prof. Maria Bergström von der Universität aus
Uppsala gab einen Überblick über das schwedische Umweltstrafrecht. Sie stellte das nationale Recht in den Kontext zum
internationalen Recht, zu Basel III (Europäisches Sekundärrecht) und der umweltrechtlichen Kriminalprävention. In
einem nächsten Schritt sprach sie Verbesserungsmöglichkeiten in den Bereichen der Aufdeckung, der Anpassung von
Strafrahmen und umweltrechtlichen Sanktionsgebühren („environmental sanction charges“) an. Letztlich warf sie die
Frage auf, ob die Unternehmensstrafe im umweltrechtlichen
Bereich mit der Individualstrafe in anderen Bereichen vergleichbar sei. Sie deutete damit die Kardinalfrage im Unternehmensstrafrecht an, die (nach Auffassung der Autoren)
innerhalb der Tagung leider nur als Randproblem angesprochen und nicht weiter vertieft wurde.
Das Verhältnis von Kronzeugenregelungen („leniency
programs“) und der Durchsetzung von Strafe („criminal enforcement“) war Gegenstand des Vortrages von Prof.
Vladimir Bastidas, ein Experte der Universität Uppsala.
Kronzeugenregelungen sollten vor allem die Möglichkeiten
der Aufdeckung von Straftaten erhöhen und damit zugleich
die Abschreckungseffekte der Strafe verbessern. In prozessualer Hinsicht problematisch sei die Doppelstellung als Kronzeuge und Beschuldigter. Diese könne durch die Gewährung
von Immunität gelöst werden, was aber mit schwedischem
Recht nicht vereinbar sei.
Dr. Witold Zontek von der Universität Krakau beendete
das dritte Panel mit seinem Vortrag über das Nebeneinander
5
Vgl. nur Schünemann, in: Sieber/Dannecker/Kindhäuser/
Vogel/Walter (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht,
Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen, Festschrift für
Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, 2008, S. 429 (443).
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Julian Dust/Özlem Kayadibi
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von Zivil-, Verwaltungs- und Strafrechtssanktionen im Finanzmarkt. Für die Finanzmärkte sei bedeutsam, wie das
Sanktionenrecht ausgestaltet sei, weil die jeweiligen Rechtsfolgen unterschiedlich wären. Hinsichtlich der Konkurrenz
von Verwaltungs- und Strafrecht befürwortete Dr. Zontek
eine Priorität des Verwaltungsrechts, weil dieses effektiver
sei. Jedenfalls aber sei ein Hauptsystem festzulegen. Er stellte
außerdem die Frage in den Raum, ob die Verfolgung von
Straftaten, zumal von Finanzmarktdelikten, spezialisierter
Gerichte und Staatsanwaltschaften bedürfe.
IV. Aktuelle und künftige Rechtsschutzmöglichkeiten
Die vierte und letzte Sitzung handelte von den Möglichkeiten
des Schutzes vor Strafe („safeguard systems“) und von der
Rolle neuer Strafsysteme („new enforcement systems“). In
dem durch Prof. Pierre-Henri Conac von der Universität
Luxemburg eingeleiteten Panel konnte damit auf zuvor Besprochenes aus neuer Perspektive eingegangen werden.
Prof. Silvia Allegrezza von der Universität Luxemburg
stellte in ihrem Vortrag das verwaltungsrechtliche Sanktionenrecht („single supervisory mechanism“) der Europäischen
Union dar und wies insbesondere auf das z.T. ungeklärte
Verhältnis zum Europäischen Grundrechtsschutz (Art. 6-8,
13, 41, 47-49 der Charta der Grundrechte der EU) hin. Letzterem käme als höchster Rechtsquelle der EU insgesamt die
Aufgabe zu, die europäische Politik zu bremsen.
Stijn Lamberigts, Doktorand an der Universität Luxemburg, stellte Zwischenergebnisse seiner Forschung zu den
Aussageverweigerungsrechten von angeklagten Mitarbeitern
einer Gesellschaft („corporate defendants“) vor. Rechtliche
Probleme ergäben sich insbesondere aus der Doppelstellung,
Individuum und Mitarbeiter der Gesellschaft zu sein. Das
US-Recht, welches kein „corporate right to silence“ in der
Verfassung vorsehe, solle Modell für das luxemburgische
Recht sein. Demnach könne das Schweigerecht nur dem
Individuum als solchem, losgelöst von der gesellschaftlichen
Stellung zukommen, nicht aber dem Unternehmen, vertreten
durch das Individuum. Lamberigts befürwortete ein relatives
Schweigerecht, das unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zwecks effektiver Strafverfolgung eingeschränkt werden könne.
Prof. Juliette Tricot von der Université Paris-Ouest Nanterre La Défence trug zum Grundsatz ne bis in idem, sowohl
hinsichtlich dessen Geltung im Verwaltungs- als auch im
Strafrecht, vor. Für das französische Recht sei festzustellen,
dass zwar nicht de jure aber de facto Verwaltungs- und Strafverfahren nicht nebeneinander eingeleitet würden, was eine
gewisse „hidden order“ im französischen Rechtssystem darstellen würde. Dieser von Prof. Tricot offenbar befürwortete
Ansatz solle indes positiv-rechtlich normiert werden, damit
der Gesetzgeber handlungsfähig bleibe.
V. Fazit und Ausblick
Den Abschluss fand die Tagung mit resümierenden Worten
von Prof. John Vervaele von der Universität Utrecht. Prof.
Vervaele zufolge sei es angesichts der fließenden Entwicklungen auf der europäischen Ebene nicht verwunderlich, dass
die Forschung sich bisher überwiegend auf theoretische Fra-
gen konzentriert habe („law in the books“). Nun müsse sich
die Wissenschaft aber konkreten Anwendungsfragen stellen
(„law in action“), die bislang noch wenig erforscht seien. Die
Herausforderung dabei sei die Diversität der Kompetenzordnungen in der Europäischen Union, womit Prof. Vervaele
einen Bezug zur Äußerung von Richter Lars Bay Larsen
(siehe oben) herstellte, dass Europa in Vielfalt vereint sei.
Dies zeigt sich insbesondere in Deutschland. Hier hat man
sich jahrzehntelang mit der Frage beschäftigt, ob Verbände
(schuldhaft) handeln können, nicht aber mit der Ausgestaltung und den Folgen eines Verbandsstrafrechts. 6
Dem von Prof. Stefan Braum gesetzten Tagesziel, Legitimations- und Ordnungsfragen des europäischen Sanktionenrechts zu erörtern, wurde die Tagung durch die vielseitigen
und ansprechenden Vorträge gerecht. Nicht zuletzt konnte
hierzu eine interessierte Hörerschaft beitragen, die am Ende
jeder der vier Sitzungen Fragen an die Referenten stellte und
auch den Einblick in die Belange der Rechtsanwaltschaft
verschiedener Länder zuließ.
6
Vogel, StV 2012, 427 (428); Kubiciel, ZRP 2014, 133 (134).
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ZIS 1/2017
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