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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen/Aula
Kaltes Leben
Über die Renaissance des Begriffs "Verdinglichung"
Gespräch mit Axel Honneth
Erst-Sendung: Sonntag, 17. Januar 2016, 8.30 Uhr
Wiederholung: Sonntag, 8. Januar 2017, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2015
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MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: "Kaltes Leben – Über die Renaissance des Begriffs 'Verdinglichung'.
In den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts war "Verdinglichung" ein
Leitmotiv der Sozial- und Kulturkritik. Verbunden waren damit zugleich folgende
Diagnosen: Menschliche Beziehungen werden dominiert vom nüchternpragmatischen Zweckdenken, die Liebe zu den Dingen macht einer kalten
Verfügbarkeitsideologie Platz.
Der Begriff "Verdinglichung" hat in den letzten Jahren eine Aktualisierung erfahren,
vor allem von Professor Axel Honneth, Direktor des Frankfurter Instituts für
Sozialforschung. Er hat Verdinglichung in Zusammenhang gebracht mit einer
bestimmten Form der Anerkennungsphilosophie. Ich begrüße Axel Honneth zum
SWR2 Aula-Gespräch.
INTERVIEW:
Caspary:
Guten Morgen, Herr Honneth. Was meinen Sie genau mit dem Begriff
"Verdinglichung"? Das ist ja ein bekannter Begriff, z.B. aus der kritischen Theorie von
Adorno und gehörte zum Basis-Vokabular der kritischen Linken.
Honneth:
Das ist richtig. Der Begriff "Verdinglichung" ist in sich ziemlich mehrdeutig. Man kann
darunter etwas, was ich versuche, im ganz strikten Sinn verstehen, nämlich eine Art
von "zum Ding machen", sei es von Menschen, Personen, überhaupt aller
Sachverhalte. Man kann darunter aber auch in einem weniger strikten Sinn so etwas
verstehen wie Instrumentalisierung, etwas als ein Ding behandeln – was weniger ist,
glaube ich. Ich denke, man nimmt den Begriff dann ernst, wenn man tatsächlich
davon ausgeht, dass er meint, etwas, was nicht-dingliche Qualitäten besitzt, zu
einem Ding zu machen, sei es in der Wahrnehmung oder im Verhalten.
Caspary:
Etwas zu einer Sache, zu einem Objekt zu machen – betrifft das unser
Naturverhältnis, unser Verhältnis zu anderen Menschen, auch unser Verhältnis
unseres Ichs zu uns selbst?
Honneth:
Die beiden letzten von Ihnen genannten Beziehungen in jedem Fall, denke ich. Es ist
schwer, sich vorzustellen, dass etwas, was bereits in einer gewissen Weise Ding ist,
obwohl auch das bestimmte Philosophen bezweifeln, nämlich Naturgegenstände,
dass wir das noch einmal zum Ding machen können. Wir können es natürlich
reduzieren in seiner Bedeutungsvielfalt. Wir können, ganz trivial gesprochen, den
Baum, der für uns vielleicht eine symbolische Bedeutung besitzt, als das, was uns
bestimmte Erinnerungen erlaubt, als das, was Früchte trägt, all dieser Bedeutungen
entreißen und damit zu einem bloßen Objekt machen. Das ist vorstellbar. Viel
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konkreter wird die Verdinglichung aber dann, wenn wir von Menschen sprechen, von
Beziehungen zwischen Menschen, bei denen es ja durchaus möglich ist, andere zum
Ding zu machen. Zumindest können wir uns in gewisser Weise etwas darunter
vorstellen. Wir können uns auch vielleicht etwas darunter vorstellen, wenn wir sagen,
wir können uns selbst zu Dingen machen, obwohl das auch erläuterungsbedürftig ist,
was das eigentlich im Einzelnen bedeuten soll.
Caspary:
Mir würde es prinzipiell schwer fallen, Sie zu verdinglichen. Wir sitzen uns
gegenüber, und ich weiß genau, dass Sie kein Ding sind, sondern ein menschliches
Wesen mit Emotionen, Gedanken, Würde, Selbstbestimmung. In welchen
Situationen wäre das außer Kraft gesetzt, dieses Modell, das ich an Sie herantrage?
Honneth:
Das ist die Herausforderung für die Verwendung des Begriffs Verdinglichung, wenn
man ihn nicht ganz locker verwenden möchte. Ich kann ihn ganz locker verwenden,
wenn ich behaupte, Verdinglichung ist schon gegeben, wenn ich Sie
instrumentalisiere. Ich sage Ihnen also: Bitte holen Sie mir doch ein Glas Wasser.
Das ist instrumentalisieren. Ich verwende Sie als Mittel für einen Zweck, den ich mir
selber gesetzt habe. Das ist aber nicht die tatsächliche Bedeutung des Begriffs der
Verdinglichung, glaube ich, die ja viel stärker ist und genau das beinhaltet, was Sie
gesagt haben. Ich muss mir dann vorstellen können, dass es Situationen gibt, in
denen ich Sie zum Ding mache, Ihnen also all die Eigenschaften oder Qualitäten
nehme, die zum Menschsein normalerweise, auch in unserer ganz alltäglichen
Wahrnehmung, gehören. Und dann stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen
soll das überhaupt möglich sein. Lukács, Gründer der Idee der Verdinglichung,
dessen berühmter Aufsatz über die Verdinglichung ein klassisches Werk und
sicherlich eine Geburtsurkunde des westlichen Marxismus und der kritischen Theorie
ist, war der Überzeugung, dass die kapitalistischen Verhältnisse solche
Verdinglichungen bereits produzieren. Das halte ich für problematisch und irgendwie
auch kontra-intuitiv. Nehmen wir mal einen Unternehmer, der einen Arbeiter einstellt,
warum sollte ich diesen Arbeiter zum Ding machen, wenn ich ihn doch deswegen
einstelle, weil er bestimmte menschliche Qualitäten besitzt. Ich mache ihn zum
Arbeitnehmer oder Arbeiter mit Hilfe eines Vertrages, der gezwungen oder nicht
gezwungen sein kann, weil ich voraussetze, dass er über nur menschliche
Fähigkeiten verfügt. Also mache ihn auch nicht zur Sache. Die problematische
Verwendung des Begriffs lag daran, dass Lukács da nach meiner Auffassung ein
bisschen willkürlich verfahren ist und in seiner Begriffsverwendung geschwankt hat
zwischen dem, was ich vorher Instrumentalisierung genannt habe, und dem, was im
strikten Sinn Verdinglichung heißt. Also muss man die Situation doch viel genauer
benennen, unter denen tatsächlich so etwas stattfindet wie Verdinglichung im strikten
Sinn.
Caspary:
Sie würden das also nicht wie Lukács auf das kapitalistische System zurückführen?
Honneth:
Nein.
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Caspary:
Lukacs hat ja gesagt, das kapitalistische System führt dazu, dass wir nicht mehr
zwischen Person und Ding, zwischen jemand und etwas unterscheiden können. Das
würden Sie weiter fassen – und gleichzeitig strikter? In welcher Hinsicht?
Honneth:
Weil es bedeutet, den anderen tatsächlich als ein Ding, wie ein Ding wahrzunehmen.
Mir kommen in den Sinn, und ich versuche, das auch zu erläutern, bestimmte
Zustände der Massenvernichtung im Krieg, die wir uns vielleicht nur so erklären
können, dass die Ausführenden durch die Routinisierung und Wiederholung
bestimmter Verhaltensformen es regelrecht verlernen, an anderen noch die
menschlichen Eigenschaften wahrzunehmen. Auf jeden Fall kann ich mir kaum
anders erklären, wie es möglich sein soll, sein sollte oder gewesen ist, dass junge
Soldaten mit der Zeit den "Job", könnte man ja beinahe zynisch sagen, der
massenhaften Tötung bis hin zu kleinen Kindern am Ende scheinbar ohne größere
psychische Belastung ausüben. Das heißt, da muss so etwas stattfinden wie eine
durch Routinisierung zustande gekommene Verlernung der Wahrnehmung der
menschlichen Eigenschaften. Wenn ich in dem Menschen vor mir, der Mutter, dem
Kind noch die menschlichen Eigenschaften sehe, wie uns das in der normalen
Wahrnehmung gegeben ist, dann ist es sehr schwer verständlich, finde ich, dass so
etwas stattfinden kann. Also ist vielleicht die aus bestimmten Kriegszuständen
resultierende Massenvernichtung, die wir ja nicht nur aus dem Holocaust kennen,
sondern die wir auch in anderen Formen längst kennengelernt haben, vielleicht eine
Form oder eine Folge von Verdinglichung, eine bis ins Verhalten, eine in
Wahrnehmungsschemata eingesickerten Routinen.
Caspary:
Das ist eine Extremsituation, über die wir hier sprechen. Wie ist es mit Folter?
Honneth:
Möglicherweise so: Ich muss mich als Folterer einüben in die Abschirmung der
menschlichen Eigenschaften dessen, den ich foltere. Das glaube ich schon. Ich
wüsste nicht, wie sonst der Folterer seinen Job ausüben kann, ohne mit der Zeit zu
lernen, den anderen bloß noch als ein behandelbares Objekt wahrzunehmen, aus
dem bestimmte Wahrheiten herauszupressen sind. Das scheint mir auch so ein Fall
zu sein. Sicherlich sollte man sich klar machen, dass der Kapitalismus Züge
annehmen kann, die vielleicht auch so etwas mit befördern. Das will ich gar nicht
ausschließen. Denken Sie an Frauenhandel. Das finde ich ein moralisch zutiefst
verwerfliches Phänomen. Aber auch da kann ich mir nur vorstellen, dass diejenigen,
mit denen „gehandelt“ wird, natürlich in Eigenschaften gehandelt wird, die wiederum
menschlicher Natur sind, wo ich aber gewissermaßen das Menschliche an diesen
Eigenschaften mir selber nicht zu stark vor Augen führen darf, um diesen Handel
betreiben zu können. Die junge Prostituierte aus Osteuropa, die zur Prostitution
gezwungen wird, wir alle kennen diese Fälle, an der müssen die, die handeln – so
zynische das klingt – auf der einen Seite die Eigenschaften vor Augen haben, die sie
zu diesen Objekten werden lassen. Bestimmte menschliche Eigenschaften der
Sexualitätsfähigkeit z.B. Auf der anderen Seite müssen sie sie auch wieder
abschotten, um das Geschäft überhaupt durchführen zu können. Insofern lädt der
Kapitalismus sicherlich dazu ein, solche Phänomene immer auch mit abzuschotten,
um sich nicht des Ungeheuren bewusst zu werden. Aber ich würde sagen, im
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Allgemeinen haben Sie vollkommen recht mit der Behauptung, dass
Verdinglichungen eigentlich zu Extremsituationen gehören und Randphänomene,
erschreckende, aber sehr ernst zu nehmende Phänomene unserer gegenwärtigen
Gesellschaft darstellen.
Caspary:
Hat der Begriff Verdinglichung für Sie bestimmte graduelle Stärken?
Honneth:
Das ist eine interessante Frage, die ich mir nicht gestellt habe. Bisher rede ich so, als
sei etwas Verdinglichung oder nicht. Aber wenn ich mir andererseits klar mache,
dass es vielleicht Grade der Abschottung menschlicher Eigenschaften gibt, sollte
man vielleicht auch solche Graduierungen zulassen. Das wäre sogar interessant.
Vielleicht wäre es fruchtbar, sich zu fragen, welche Praktiken laden ein zu welchen
Graden der Abschottung. Eine produktive Frage, finde ich.
Caspary:
Sie haben eine spezifische Anerkennungsphilosophie formuliert. Damit hängt der
Begriff Verdinglichung eng zusammen.
Wie sieht der Zusammenhang aus?
Honneth:
Richtig. Auch das ist mir erst in der Analyse vollständig klar geworden. Natürlich
wollte ich immer hinaus auf so etwas wie die Behauptung, dass Verdinglichung so
etwas wie das Gegenteil, also das Fehlen der Anerkennung, sei. Das Resultat der
Überlegungen war dann zunächst einmal die Behauptung, dass mit unserer
Sozialisation in die menschliche Lebensform – ich glaube, mit einer gewissen
Zwangsläufigkeit oder Notwendigkeit – die Wahrnehmung des anderen Menschen
als Menschen gehört. Vielleicht lernen wir überhaupt nur, in unsere Lebensform
hineinzuwachsen, indem wir schon als Kleinkind genau den anderen unwillkürlich als
Menschen wahrnehmen. Und ihn damit auch als Menschen zu behandeln. Wir
machen früh schon – das habe ich mir erst nachträglich klar gemacht – als kleine
Kinder Unterschiede zwischen verschiedenen Klassen von Objekten: zwischen
menschlichen Subjekten, Tieren, z.B. Haustieren als zweite Klasse und sachlichen
Objekten.
Caspary:
Das ist die erste Form der Kategorisierung...
Honneth:
Genau. Die erste Form der Kategorisierung der Welt ist, die Welt in solche Klassen
von Objekten zu zerlegen. Das heißt aber auch, menschliche Subjekte werden sehr
schnell, und zwar in einer Art und Weise, die, glaube ich, mit einer gewissen
elementaren Form der Anerkennung zusammengeht, als Menschen wahrgenommen
und dementsprechend in ihren menschlichen Eigenschaft wahrgenommen, die eine
bestimmte Verhaltensweise nahelegen. Und, sagen wir mal, von deren
Verhaltensweise wir auch in irgendeiner anderen Weise betroffen sind als vom Sein
der Dinge. Das klingt jetzt nach Heidegger.
Caspary:
Sie haben an der Stelle auch ganz viel von Heidegger aufgenommen.
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Honneth:
Vom frühen Heidegger, das ist richtig. Das hat auch z.B. Sartre gesagt: In dieser
ursprünglichen, elementaren Anerkennung, wie ich das gerade erwähnt habe, sind
wir vom Menschen, von denen, die wir als Menschen wahrnehmen, in einer anderen
stärkeren Weise betroffen. Wir können auf sie nicht neutral reagieren. Das ist etwa
der Befund von Sartre. Wenn uns ein Mensch begegnet, und das heißt ja, wir
nehmen ihn als Menschen wahr, so sagt uns das etwas im Hinblick darauf, dass und
wie wir reagieren müssen. Ich sage nicht, wir müssen darauf immer nur gut reagieren
– also moralisch zuvorkommend oder so etwas. Ich sage nur, wir können uns nicht
neutral verhalten. Und das macht die ursprüngliche Form von Anerkennung aus, die
mit der Wahrnehmung menschlicher Subjekte als menschliche Subjekte, glaube ich,
gegeben ist. Und das unterscheidet die Wahrnehmung von Dingen von der
Wahrnehmung von menschlichen Subjekten.
Caspary:
Würden Sie sagen, diese Anerkennung ist präreflexiv, sozusagen schon immer da
als sozialer Bezugsraum?
Honneth:
Ja, ich glaube, das ist ein richtiger Begriff an dieser Stelle. Das ist das Resultat einer
Reflexion. Dem Kleinkind wird das gewissermaßen „ein-sozialisiert“, mitgegeben,
dass der Bezug auf menschliche Subjekte ein anderer ist und zu sein hat als der auf
physische Objekte. Selbst der auf Tiere. Das mag sich im Übrigen in der Zukunft
ändern. Unsere Lebensform ist ja offen im Hinblick darauf, welche Objekte nun derart
wahrgenommen werden, dass sie wie menschliche Objekte von sich aus eine
bestimmte Intentionalität etwa besitzen. Da gibt es keine starren Grenzen, würde ich
sagen. Wir ziehen sicherlich die Haustiere immer mehr in diesen Bereich mit ein,
vielleicht in Zukunft auch andere Klassen von Tieren, denen wir Intentionalität
zuschreiben, damit die Eigenschaft, die den Kern des menschlichen Daseins oder
der menschlichen Subjektivität ausmacht.
Caspary:
Hat das auch etwas mit dem Willen, mit der Diskussion über den freien Willen zu
tun?
Honneth:
Ja, aber es hat natürlich damit zu tun. Der Mensch als ein sich selbst bestimmendes
Wesen.
Caspary:
Nehmen wir an, wir kennen keinen freien Willen, was würde das für unser Verhältnis
bedeuten?
Honneth:
Ein Ding der Unmöglichkeit für unsere Interaktion, denke ich. Ich muss immer
unterstellen, dass Sie die Intention haben, auf meine Intention zu reagieren und sie
zu verstehen. Und verstehen impliziert, den anderen als ein der Bedeutung
zugängliches, fähiges Subjekt wahrzunehmen.
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Caspary:
Wäre die Anerkennung dann auch so etwas wie ein Verstehens-Horizont?
Honneth:
Ja, das ist richtig. Wobei ich sagen würde, das ist aus meiner Sicht die elementarste
Form der Anerkennung. Es gibt ja andere Formen: Ich kann jemandem einen
rechtlichen Status zuschreiben. Dem Kind, wenn es 16 oder 18 Jahre alt geworden
ist, räumen wir den Status eines Erwachsenen ein und damit eine bestimmte
zusätzliche Qualifikation. Die elementare Anerkennung besteht genau in dem, was
Sie als Verstehens-Horizont bezeichnet haben.
Caspary:
Können Sie noch einmal erklären, inwieweit dieses Anerkennungskonzept ein
Instrument für Gesellschaftskritik sein könnte oder ist? Oder haben Sie das gar nicht
intendiert.
Honneth:
Doch, immer schon. Das geht allerdings der Verdinglichungsanalyse vorher.
Aber das ist eine komplexe Frage. Ich glaube, dass man verschiedene Formen
gerade der Anerkennung unterscheiden kann. Wir haben eben von der elementaren
Anerkennung gesprochen, dieser ganz grundsätzlichen, ohne die wir, glaube ich, die
menschliche Lebensform uns gar nicht angemessen vorstellen können. An sie lagern
sich aber, glaube ich, anspruchsvollere Formen der Anerkennung an. Eine habe ich
gerade schon genannt: die rechtliche Anerkennung, die in früheren Gesellschaften
als solche vielleicht noch gar nicht existierte. Ich erkenne den anderen wie alle
anderen als ein rechtsfähiges Subjekt an, wir sagen auch: als ein mündiges Subjekt.
Es gibt aber auch die Anerkennungsform der Liebe. Auch das ist eine besondere
Form der Anerkennung, die bereits aufbaut auf dieser elementaren Anerkennung.
Lieben kann ich nur den, der mich zurückliebt.
Caspary:
Ein Resonanzphänomen eigentlich.
Honneth:
Ja, auch. Das ist der Ansatz von Hartmut Rosa.
Caspary:
Ein Ansatz, der für Sie keine so große Tragfähigkeit hat. Aber er ist ähnlich. Rosa
kritisiert Entfremdungszustände in der modernen Gesellschaft als Resonanzverlust.
Und Herr Honneth analysiert Verdinglichungsphänomene als Anerkennungsverlust?
Honneth:
Richtig, oder sogar – das borge ich mir von Heidgger, vielleicht in problematischer
Weise – als Anerkennungsvergessenheit.
Caspary:
Heidegger hat von Seinsvergessenheit gesprochen und Sie von
Anerkennungsvergessenheit.
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Honneth:
Ja, das heißt, um zu analysieren, wie es zu den Phänomenen kommen kann, das wir
vorhin als Extremsituation beschrieben haben, dass Menschen tatsächlich dazu in
der Lage sind, andere nur noch als Objekte, Dinge wahrzunehmen, muss man sich ja
klar machen, dass sie etwas, was sie zuvor gelernt haben, und zwar präreflexiv
gelernt haben, nämlich den anderen gerade als Menschen mit menschlichen
Qualitäten wahrzunehmen, wieder verloren haben. Und diesen Verlustprozess
beschreibe ich als Vergessenheit. Es ist schwer zu erklären, wie wir eigentlich dazu
in der Lage sein sollen, und ich habe vorhin schon ein Stichwort genannt, das
vielleicht helfen kann, das zu erklären: die Routinisierung. Durch die routinisierte
Ausübung bestimmter Arten von Vollzügen oder Tätigkeiten, Kriegshandlungen, kann
so etwas, glaube ich, in Gang gebracht werden wie der allmähliche Verlust meiner
selbstverständlichen Anerkennung des anderen.
Caspary:
Es gibt ja auch bestimmte Arten von Psychopathologien, die die
Anerkennungsvergessenheit beinhalten?
Honneth:
Das ist richtig. Das sind andere, häufig endogen verursachte Phänomene, die aus
bestimmten psychischen Störungen des Subjekts stammen. Aber mich interessieren
die möglicherweise sozial verursachten, also durch die Routinisierung bestimmter
Handlungstypen, Formen der Verdinglichung und damit der
Anerkennungsvergessenheit.
Caspary:
Sie waren Assistent bei Habermas, stehen in der Linie der kritischen Theorie – und
operieren dann mit Heidegger und solchen entwicklungspsychologischen Dingen.
Das finde ich interessiert. Haben Sie damit Kritiker auf den Plan gerufen?
Honneth:
Ich finde, die Verwendung entwicklungspsychologischer Annahmen ist nicht so
ungewöhnlich. Schon Habermas hat sich sehr mit Entwicklungspsychologie
beschäftigt, um bestimmte seiner Annahmen begründen zu können. Aber es finden
sich auch bei Adorno und Horkheimer, wenn man in die Dialektik der Aufklärung
schaut, bestimmte entwicklungspsychologische Hypothesen vertreten. Schwieriger
ist das Verhältnis zu Heidegger, das ist keine Frage. Ich war da vielleicht immer ein
weniger unbefangener als Habermas, der mein Vorgänger war und dessen Assistent
ich lange war, der aus einer Zeit stammte, in der es eine Errungenschaft war und für
ihn auch eine persönliche Herausforderung, an Heidegger das politisch Schreckliche
– den Antisemitismus, über den wir uns heute überhaupt keine Illusionen mehr
machen können – das war eine mühsame Arbeit gerade für die, die von Heidegger
noch in ihren Anfängen beeinflusst waren, und das war Habermas, sich davon zu
lösen und sich diesen ganzen Sachverhalt in aller Schärfe und Brutalität vor Augen
zu führen, dass das zu einer Haltung geführt hat, sich mit Heidegger nicht länger zu
beschäftigen. Da bin ich unbefangener. Ich finde "Sein und Zeit" ein wirklich
wichtiges Werk des 20. Jahrhunderts. Ich finde, da steckt eine Analyse drin, von der
wir weiterhin lernen können. Und deswegen habe ich anders als die Vorgänger in der
Tradition da keine Berührungsängste mehr. Adorno hat interessanterweise
Heidegger immer umgangen, hat ihm den Jargon der Eigentlichkeit vorgeworfen,
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auch das Raunen, und selbst da könnte man – und es gab Versuche- immer noch
zeigen, dass es vielleicht sogar bestimmte Berührungspunkte gibt.
Caspary:
Kritiker bemängeln immer wieder, das habe ich in mehreren Artikeln gelesen, Sie
würden mit dem Konzept der Anerkennung eine Art Rousseauschen Urzustand
idealisieren, also der Mensch ist von Natur aus gut und die Gesellschaft hat ihn böse
gemacht. Und er ist von Natur aus, das würde ich jetzt auf Sie ummünzen, zur
Anerkennung geradezu prädestiniert, und nachher kommt die Sozialisation oder das
Hineinwachsen in die Gesellschaft und macht alle schlecht. Herr Honneth ist
eigentlich ein Romantiker?
Honneth:
Ich glaube, dass das falsch ist. Das hängt natürlich sehr stark damit zusammen, was
man alles in die elementare Form der Anerkennung, über die wir gesprochen haben,
hineindenkt. Wenn ich mir diese elementare Form der Anerkennung, von der sowohl
bei Heidegger als auch bei Wittgenstein und bei vielen großen Philosophen des 20.
Jahrhunderts die Rede ist, wenn ich mir die so vorstelle, dass sie die moralische
Rücksichtnahme auf den anderen bereits beinhaltet, dann wäre es Rousseauismus,
dann wäre es eine Art optimistischer Anthropologie. Von Geburt an mit der
Sozialisation werden wir dazu angehalten, lernen präreflexiv den anderen moralisch
zu achten, und das geht dann irgendwie durch soziale Prozesse verloren. Das will ich
auf jeden Fall vermeiden. Mir scheint ein solcher Rousseauismus problematisch. Ich
glaube, wir haben keine guten Gründe anzunehmen, dass der Mensch von Natur aus
gut oder böse ist. Ich will das dadurch vermeiden, dass ich sage, was ich vorhin
versucht habe anzudeuten, dass diese elementare ursprüngliche Form der
Anerkennung gewissermaßen nur so etwas meint wie die Betroffenheit durch die
andere menschliche Existenz. Die Art der Betroffenheit ist aber damit gar nicht
festgelegt. Das heißt nur, wir können gar nicht umhin, am anderen Menschen die
menschlichen Eigenschaften anerkennend wahrzunehmen. Zu welchen Reaktionen
das dann jeweils in mir führt, ist vollkommen unausgemacht und hängt von vielen
anderen Umständen ab. Es ist in dem Sinn, würde ich mal sagen, zunächst mal eine
geradezu moralisch neutrale Grunderfahrung menschlichen Daseins.
Caspary:
Wir haben im Moment einen Trend in der Soziologie, zum Teil auch in der
Philosophie, nochmal eine Kritik an der Moderne vorzulegen: den beschleunigten
Kapitalismus, wir haben Hartmut Rosa mit seiner Resonanztheorie und der
Entfremdungskritik ins Feld geführt. Ich erinnere mich an den Philosophen ByungChul Han, der den Kapitalismus kritisiert, auch in Bezug auf die Tatsache, dass der
Kapitalismus unsere menschlichen Verhältnisse angeblich ökonomisiert, unter ganz
andere Werte stellt. Nochmal zum Schluss, Herr Honneth: Wäre dieses Konzept der
Anerkennung ein Instrument zur Kritik an der Moderne, nicht am Kapitalismus, aber
an bestimmten Phänomenen der modernen Gesellschaft? Oder wollen Sie das nicht
so festlegen?
Honneth:
Zunächst mal habe ich, glaube ich, ein positiveres Verhältnis zum Grundentwurf der
Moderne, zu den normativen Versprechen der Moderne. Ich würde sagen, da bin ich
sehr stark Schüler von Habermas, dass die Moderne Institutionen hervorgebracht
hat, die das Versprechen bestimmter Formen der wechselseitigen Anerkennung
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eigentlich enthalten und damit auch Versprechungen von Freiheit beinhalten. Ich
würde die Entwicklung moderner Gesellschaften daher viel stärker so kritisieren oder
in den Augenschein nehmen, dass ich mich frage, durch welche Prozesse wird
eigentlich verhindert, dass diese Versprechen sich erfüllen können. Das wäre meine
Perspektive. Ich würde nicht eine jenseitige Perspektive nehmen, nicht aus dem
Projekt der Moderne als Ganzes aussteigen, sondern eher immanent fragen, welche
sozialen Bedingungen verhindern eigentlich die Realisierung bestimmter, im Ganzen
doch zukunftsträchtiger Versprechungen dieser modernen Institutionen. Dass die
Liebe auf freie, wechselseitige Zuneigung gestellt sein soll, dass die Demokratie alle
von den Entscheidungen betroffenen Personen gleichmäßig einbeziehen soll, dass
der Markt – das ist ja auch ein Versprechen – die daran Beteiligten zu freien
Marktteilnehmern machen soll: Das sind Versprechen, die weitgehend nicht erfüllt
sind, aber die uns weiterhin als Maßstab einer immanenten Kritik dieser modernen
Gesellschaften dienen kann.
Caspary:
Darf ich Sie zum Schluss fragen, was Sie zur Flüchtlingskrise sagen? Oder würde ich
Sie festlegen auf die politische Aktualität? Haben wir es mit einem
Anerkennungsproblem zu tun, spielt das mit rein?
Honneth:
Mit Sicherheit. Der Asyl-Paragraph, den wir in unserem Grundgesetz haben, schreibt
zwingend vor, dass wir diejenigen, die aus nicht verschuldeten Ursachen in Not sind,
Asyl gewähren müssen. Das heißt, wir müssen sie als unverschuldet in Not geratene
Subjekte anerkennen. An der Stelle hat, glaube ich, Frau Merkel unbedingt recht. Die
Idee von Obergrenzen scheint mir mit unserem Grundgesetz prinzipiell nicht
vereinbar zu sein. Natürlich sieht die Anwendung des Asyl-Paragraphen gerade mit
seiner Offenheit gegenüber allen, die in Not geraten sind, unglaubliche und vielleicht
von uns weitgehend noch unterschätzte Integrationsprobleme nach sich. Das heißt,
wir müssen, glaube ich, erst institutionelle Fantasie entwickeln, um uns über all das
klar zu werden, was es bedeutet, diese Flüchtlinge hier in unser eigenes
Gesellschaftssystem so zu integrieren, dass sie zukünftig vielleicht zu gleichen
Mitbürgerinnen und Mitbürgern werden können. Da bedarf es Einrichtungen,
Integrationsmaßnahmen, eben nicht nur schulische Prozesse, der Sozialisation, es
bedarf vielleicht Kommunikationszentren. Da ist unglaublich viel zu tun. Und da
neigen wir sicherlich dazu, die ganzen Herausforderungen zu unterschätzen.
Caspary:
Wir werden sehen, wo das hingeht. Herr Honneth, vielen Dank.
Honneth:
Ich bedanke mich.
*****
Prof. Axel Honneth, geb. 1949, studierte Philosophie, Soziologie und Germanistik in
Bonn und Bochum, danach an der FU Berlin; 1982 - 83 Forschungsstipendium durch
Prof. Habermas, Max-Planck-Institut für Sozialwissenschaften in München; 1983
Hochschulassistent am Fachbereich Philosophie an der Goethe-Universität, 1990
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Habilitation im Fach Philosophie. Seit 1996 ist Honneth C 4-Professor für
Sozialphilosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und seit 2001
geschäftsführender Direktor des renommierten Instituts für Sozialforschung.
Forschungsschwerpunkte u. a.: Theorie der Anerkennung, Fortentwicklung einer
kritischen Gesellschaftstheorie, Reaktualisierung des Begriffs "Verdinglichung".
Bücher (Auswahl):
– Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung. Berlin: Suhrkamp. 2015.
– Vivisektionen eines Zeitalters. Porträts zur Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts.
Edition Suhrkamp. 2014.
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