1 Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature „Plötzlich wuchsen Schorsch Brüste“ Medikamententests an Männern mit geistiger Behinderung Autor: Charly Kowalczyk Regie: Heide Schwochow Redaktion: Karin Beindorff Produktion: DLF/SWR 2016 Erstsendung: Dienstag, 13.12.2016 , 19.15 Uhr Erzähler: Robert Glatzeder Zitator: Mirko Böttcher Sprecher: Joachim Schönfeld Sprecherin: Ilka Teichmüller Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © 1 2 Musik Erzähler 4. Februar 2015. Gebhard Stein hört im Radio die Ankündigung, dass am Abend mein Feature „Ich will ein Geständnis. Medikamentenversuche an Kindern in der Schweiz“ gesendet wird. Er schreibt sofort eine Mail, die der Sender an mich weiterleitet. Zitator Sehr geehrte Damen und Herren, seit vielen Jahren beschäftigt mich immer wieder, dass ich als Ersatzdienstleistender 1972 in einer deutschen Behinderteneinrichtung "experimentelle" Medikamente von CibaGeigy verteilen musste (…) Der Name des Medikaments ist mir bis heute präsent: SH 08714. Die Wirkung des Medikaments zielte nach Auskünften meiner damaligen Vorgesetzten darauf, bei jugendlichen Behinderten den "Sexualtrieb" zu reduzieren. Entsprechend wuchsen den Jungs mit 16 Jahren Brüste. Ich finde, man müsste der Sache nachgehen… Musik Ansage „Plötzlich wuchsen Schorsch Brüste“ Medikamententests an Männern mit geistiger Behinderung Ein Feature von Charly Kowalczyk Musik Erzähler Die von Gebhard Stein erwähnte Behinderten-Einrichtung liegt im südbadischen Kork. Hat man dort tatsächlich 1972 an Jugendlichen und jungen Männern mit geistiger Behinderung ein nicht zugelassenes Medikament getestet? In einer diakonischen Einrichtung? Atmo Lärm vor dem Bahnhof, Autos, Stimmen… Guten Morgen Guten Morgen 2 3 Hat ja geklappt! Ja, wunderbar, kalte Finger, sind Sie schon ein Weilchen draußen? Bin schon ein Weilchen draußen, Schritte, Reden, ins Auto steigen, es piept, fahren los, aussteigen… Erzähler Fünf Wochen, nachdem Gebhard Stein die Mail geschrieben hatte, holt er mich am Hechinger Bahnhof in Baden-Württemberg ab. Bei ihm zu Hause wollen wir in Ruhe miteinander über seine Erfahrungen als Ersatzdienstleistender in Kork reden. O-Ton Gebhard Stein Wir gehen jetzt zurück, Anfang 70er-Jahre, da hat es sich ja abgespielt, konkret 72. Ich stelle mir vor, diese Behinderteneinrichtung, die mit Kindern, Jugendlichen bis zu älteren Erwachsenen alles umfasst hat, die da waren, zum Beispiel, weil man von ihnen gesagt hat, das sie irgendwas mit Epilepsie zu tun hätten, also dass sie Epilepsie krank seien. Erzähler Der heute 64-jährige Stein ist Diplompädagoge und promovierter Sozialwissenschaftler. Mit der sexuellen Agilität von jungen Männern hatten sie in Kork große Probleme, erzählt er. Aber das sei in anderen Einrichtungen, in denen er ebenfalls gearbeitet hatte, genauso gewesen. O-Ton Gebhard Stein Ich kann mich an eine wunderschöne Situation erinnern. Da saß einer dieser Behinderten, dessen Körper war absolut verschoben und quer, der konnte nicht reden, der konnte nur bestimmte Laute von sich geben. Und der saß da auf seinem Stühlchen. Und da sehen wir wie dieser junge Erwachsene es tatsächlich hinkriegt zu onanieren. Und er zieht dann so langsam die Hose runter und dann tatsächlich spritzt das Ganze am Schluss auch noch wunderschön raus. Gottseidank hat das die Schwester nicht gesehen. Erzähler Gebhard Stein ging gleich nach dem Abitur nach Kork. Eine Welt, die ihm erstmal fremd war. Das machte ihn neugierig. Wochenlang wurde er zum Nachtdienst eingeteilt. Als einzige Pflegekraft. Für die Patienten stellte der junge Mann die Medikamente für den nächsten Tag zusammen. 3 4 O-Ton Gebhard Stein Dann fällt es natürlich auf, wenn ich immer die „Luminal“ und weiß der Teufel, also diese für die Epilepsie spezifisch zugerichteten Medikamente da irgendwo rausnehme und da reintüte und dann plötzlich da ein Medikament ist aus einer vollkommen weißen Schachtel rauskommt, wo nur drauf steht: SH 08714. Kann ich bis heute auswendig. Vielleicht ist da noch irgendwo ein Zahlendreher drin, aber vom Grundprinzip hieß das Ding so. Und hab mal Mediziner gefragt, also die jungen Assistenzärzte da: Ja, ja, das ist halt ein Erprobungsmedikament gegen den Trieb, Du weißt schon. Das war´s dann. Erzähler Wie viele Jugendliche oder junge Männer in Kork das triebhemmende Medikament einnehmen mussten, weiß er nicht. O-Ton Gebhard Stein Wir sind dann mit den Jungs oder mit den Erwachsenen, wo da ein paar Jüngere dabei waren, schwimmen gegangen. Da konnte man ganz klipp und klar sehen: Also der eine Junge, dieser Schorsch, der hatte natürlich Brüste, die da nicht hingehört hätten. Das war relativ klar, dass das irgendwie mit medikamentösen Geschichten zusammenhängt. Erzähler Manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, ließ Gebhard Stein die Pillen mit der Versuchsnummer SH 08714 einfach verschwinden. Er war misstrauisch geworden, erzählt er, und traute den Ärzten in Kork einiges zu. 44 Jahre sind seit dieser Zeit vergangen. Bis heute wird Gebhard Stein den Gedanken nicht los, dass in Kork an wehrlosen Menschen Medikamente ohne Einwilligung getestet wurden. Dass dort ein Unrecht geschehen ist. Ich frage ihn, ob er sich an die Namen der Jugendlichen und jungen Männer erinnern könne. Vielleicht an den Nachnamen von Schorsch? Nein, sagt er. O-Ton Gebhard Stein Es wird kaum welche geben, die sagen können, man hat mir Medikamente verabreicht, man hat mit mir ohne mein Einverständnis Experimente gemacht. Es gibt niemand, der das erzählen kann und es gibt wahrscheinlich auch niemand, der anklagt, dass das passiert ist. 4 5 Musik Erzähler Im Oktober 2015 fahre ich in einen kleinen Ort in der Nähe von Freiburg im Breisgau. Ich habe mich mit Joachim Walter verabredet. Er ist Theologe und Professor für Psychologie und trat schon Ende der 70er-Jahre in Deutschland für die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung ein. Als einer der Ersten. O-Ton Joachim Walter Das Schlimmste war mal in Augsburg ein Vortrag, wo mich katholische Nonnen ausgebuht haben, richtig gebuht. Hätte ich nie gedacht, dass die das hinkriegen (lacht), so dass ich dann gesagt habe, okay, wenn Ihr nicht wollt, dann gehe ich halt wieder, hab zusammengepackt und bin verschwunden. Wahrscheinlich haben die gedacht, da kommt jetzt ein evangelischer Theologe, der das wahrscheinlich in ihrem Sinne bringt, nämlich verdrängend, verleugnend, tabuisierend und das war nun gar nicht der Fall, denn ich habe immer meine Vorträge begonnen, normalerweise mit so einem meditativem Einstieg: Jeder soll mal die Augen schließen, sich überlegen, was denn für ihn im Sexualitätsbereich das schönste Erlebnis war. Und dann …, ob das denn alles bei behinderten Menschen anders oder gleich ist. Dann hätte ich beginnen können. Es gibt nicht die Sexualität, sondern so viele Formen wie wir im Raum sind. Und es gibt nicht die Sexualität behinderter Menschen, der Behinderten, sondern es gibt auch dort je individuelle Ausprägungen. Erzähler Joachim Walter kennt die Einrichtung gut, in der Gebhard Stein damals seinen Ersatzdienst leistete. 30 Jahre später, von 2002 bis 2010, war Walter selbst Vorstandsvorsitzender der Diakonie Kork. O-Ton Joachim Walter Jetzt wussten die Korker behinderten Menschen teilweise aus Berichten, dass ich schon einzelne Paare kirchlich getraut hatte. Behindertenpaare. Und kaum war ich dort… kamen viele an und wollten jetzt auch getraut werden. Jetzt ist Walter da, jetzt geht´s aufwärts. (lacht) Also die durften alle nicht zusammen sein, das war noch bis zu meiner Zeit streng untersagt. Sie hatten dann in der Werkstatt, weil sie da teilweise Externe hatten, sich auf dem Klo versammelt oder sonst wo versucht, also ganz ekelhafte, so richtig auch sexualfeindliche Verhaltensmuster und Hausgebote und Heimgebote gab´s da, die ich alle außer Kraft setzte… 5 6 Erzähler Der Theologe berief gleich 2002 eine Arbeitsgruppe ein. Sie sollte ein Konzept entwerfen, nach dem in Zukunft alle Bewohnerinnen und Bewohner die Möglichkeit bekämen, auch ihre Sexualität zu leben. Nur sexuelle Übergriffe sollten verhindert werden. O-Ton Joachim Walter Je schwerer ein Mensch behindert ist, umso weniger hat er ja die Möglichkeit als Paar Sexualität zu erleben, sondern es bleibt nur der Bezug auf den eigenen Körper normalerweise, so dass also Selbstbefriedigung das große Feld ist. Die meisten schwerer behinderten Menschen checken gar nicht, wie man das richtig macht. Die drücken sich auf dem Boden herum, drücken sich an Heizungsröhren herum, aber kommen nicht zum Erfolg. Gut, es gibt auch so eine Art fehlende Sensibilität bei bestimmten Behinderungszusammenhängen, aber das ist nicht generell der Fall, so dass man ihnen richtig behutsam zeigen muss, wie das denn geht, richtig Selbstbefriedigung durchzuführen. Ich hab es eingeführt, dass das nicht jetzt Mitarbeiter machen sollten, denn dann haben wir sofort die Übergriffsituation, sondern dass es hauptsächlich Brüder oder Väter zeigen sollten, in dem sie jetzt nicht die Hand anlegen, sondern bei sich das vorführen und dann wurde mir oft rückgemeldet: jetzt klappt´s. Erzähler Ich will von Joachim Walter wissen, ob er über den Einsatz triebhemmender Medikamente in Kork weiß: O-Ton Joachim Walter Ich weiß, dass die Schwestern triebhemmende Medikationen oder ähnliche Mittel gegeben haben, das aber jetzt nicht mit der Gießkanne allen gegeben haben, sondern bei denen, wo sie merkten, da ist ein größerer Wunsch. Also dass da ein Versuch lief, ganz konkret, das kann schon sein, kann ich mir nicht denken, aber ist vorstellbar in der Tradition von Kork, dass die aus der Klinik heraus von den Ärzten her entsprechende Medikationsversuche gemacht hatten und wenn dann das dann so mit ner Nummer bezeichnet war, dann war es vielleicht so schon. Atmo Schritte in Kork Erzähler Ende Oktober 2015. Ich bin in Kork, das zur nahe gelegenen Stadt Kehl am Rhein gehört, an der Grenze zu Frankreich. Gegründet wurde die Einrichtung 1892 als "Heil- und Pflegeanstalt für 6 7 epileptische Kinder". Fünf Tage werde ich hier bleiben und herauszufinden versuchen, ob in dieser evangelischen Einrichtung tatsächlich unerlaubte Medikamentenversuche stattgefunden haben. Atmo Gebhard Stein: Also wir stehen jetzt da vor dem sog. früheren Hauptgebäude und es ist ein symmetrisches Gebäude, ganz genau, Gott der Herr ist Sonne und Schild. Die rechte Seite waren die Männer, links die Frauen, erster Stock Männer eins, zweiter Stock Männer zwei… Erzähler Gebhard Stein begleitet mich für einen Tag in Kork. Auch er ist gespannt, ob die heutige Diakonie-Leitung zur Aufklärung beitragen wird. Atmo Gebhard Stein: Ich war von abends um sieben oder acht bis morgens um sieben war ich für die 80, die da drin waren, allein zuständig und hab geguckt, dass morgens noch alle leben. Erzähler Klaus Freudenberger ist Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der Diakonie Kork. Er nimmt sich Zeit für uns. Atmo Schritte… Pförtner: Sie könnten ja da drüben warten, ja… Morgen, Kowalczyk Stein: Grüß Gott, guten Morgen Freudenberger: Auf Spurensuche? Stein: Ja, ich hab schon Flashbags. Manches ist noch gleich, vieles nicht … Erzähler Die Einrichtung ist wie ein eigenes kleines Dorf. Klaus Freudenberger zeigt uns die Behindertenwerkstätten, die Epilepsiekliniken für Kinder und Erwachsene, und dann erklärt er uns die fast 125-jährige Geschichte von Kork, führt uns zur Gedenkstätte am Korker Schloss. Atmo Stein: Wir haben z. B. die Berta Rottweiler, 05.04.1903 geboren Die Anna Scheuermann, 21.01.1908 Wir haben die Beate Schönemann, 02.11.1894 Hier hinten ist der Wilhelm Fritsch, 19.07.1922 Und der August Müller, 26.08.1884 7 8 Freudenberger: Wir haben dann auf diesem rausgestellten Stein… die beiden Deportationsdaten benannt: 28. Mai und 23. Oktober 1940 und haben rückblickend in Stein gemeißelt: 113 Menschen, Erwachsene und Kinder wurden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft weggeholt und umgebracht, weil sie behindert waren… Erzähler 1940 hätten sie die Deportationen nicht verhindern. Das präge die diakonische Einrichtung bis heute, höre ich immer wieder. Atmo Schritte, Stimmen, Türenschlagen… Erzähler Die Diakonie Kork ist der größte Arbeitgeber in Kehl. 1.370 Beschäftigte, allein 900 davon in Vollzeit. Nachfolger von Joachim Walter als Vorstandsvorsitzender ist Frank Stefan. Wir sind miteinander verabredet. Klaus Freudenberger ist auch mit dabei. O-Ton Frank Stefan Kork ist eins der Epilepsiezentren in Deutschland. Hier kommen Betroffene wirklich von ganz weit her. Jetzt ist Epilepsie ja eine sehr verbreitete Krankheit oder ein Sammelbegriff für Erkrankungen des Gehirns, die sich in sehr unterschiedlicher Weise manifestieren. Da gibt´s Menschen, die leben mit Epilepsien völlig unerkannt zwischen uns, die sind medikamentös eingestellt bis hin zu jenen, die schwerst mehrfach behindert sind, die den ganzen Tag auf Assistenz und Unterstützung angewiesen sind und für diese Menschen da bieten wir hier 350 Wohnplätze an. Erzähler Frank Stefan schwärmt von der Arbeit der Diakonie Kork. 2017 wird die Einrichtung ihren 125. Geburtstag feiern. Da soll es keine negativen Schlagzeilen geben. Aber er bittet dann doch Volker Blankenhorn, ehemals leitender Arzt der Erwachsenenklinik im Epilepsiezentrum, im Archiv mal nachzusehen, ob er vielleicht Akten zu einer Versuchsreihe mit SH 08714 findet, jenem Medikament, welches Gebhard Stein vor über 40 Jahren an Patienten verteilen musste, wie er mir sagte. O-Ton Frank Stefan Es gibt ja nichts auf der Welt, was es nicht gibt. Aber nach allem, 8 9 was ich auch an Berichten über die damals Verantwortlichen, die inzwischen leider verstorben sind, auch über deren Haltung, über deren Motivation usw. kenne, bleibt es für mich nach wie vor unvorstellbar. Wir haben ja auch hier die Situation, dass unsere Klinik, also die Kinderklinik, die es damals schon gab, und die Erwachsenenklinik, die dann ja auch erst später dazu kam, auch sehr junge Kliniken sind, also dass auch dort historisch jetzt keine Wurzeln sozusagen bis in braune Zeit und ne personelle Kontinuität war. Ich kann es mir wirklich nicht vorstellen. Nein. Autor: Wo ist Schorsch abgeblieben? Lebt er noch? Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Wir wissen, dass er irgendwann Kork verlassen hat, in eine andere Einrichtung damals gewechselt ist. Das ist aber auch schon sehr lange her, und danach verliert sich für uns die Spur. Erzähler Nachdem ich das Mikrofon schon eingepackt habe, stehen wir noch zusammen herum. Frank Stefan, Klaus Freudenberger und ich. Vermutlich hätten sich damals die Ärzte mit dem jungen Ersatzdienstleistenden einen Scherz erlaubt, sagt der eine. Sie hätten ihn ein wenig hoch nehmen wollen, den noch unbedarften Schwarzwaldjungen Gebhard Stein. Ja, fügt der andere hinzu, so könnte es gewesen sein. Musik Erzähler Volker Blankenhorn wohnt mit seiner Frau um die Ecke des Epilepsiezentrums. Seit 2000 ist er im Ruhestand, früher leitete er die Erwachsenenklinik. Wenn man den Einsatz triebhemmender Arzneimittel in den 1970er-Jahren und auch davor verstehen wolle, müsse man sich in die Zeit hineinversetzen, erklärt er Gebhard Stein und mir. Der Umgang mit Menschen mit sehr schweren Behinderungen und ihrer Sexualität sei nicht leicht gewesen. Außerdem fehlten Psychologen, Sozialarbeiter, Pflegepersonal… O-Ton Autor/Blankenhorn/Stein Autor: Könnte es jetzt auch sein, dass dieses Medikament SH und so weiter, könnte das auch eine Erprobungsphase gewesen sein von einem antiepileptischen Medikament? Blankenhorn: Es kann durchaus sein. Also ich persönlich würde 9 10 jetzt mal grad Triebhemmung und solche Geschichten und ich mein, wir mussten es auch manchmal machen, bevor wir den Menschen noch mehr in seiner Aktivität eingeschränkt haben. Da gab es Psychopharmaka, die zugelassen waren. Erzähler Wenn man den Sexualtrieb auch mit zugelassenen Psychopharmaka oder Antiepileptika hemmen konnte... warum sollte man dann noch ein Versuchsmedikament testen? Volker Blankenhorn weiß es nicht. Immer wenn es um die Ereignisse Anfang der 70er-Jahre geht, dreht sich unser Gespräch im Kreis. Auch wie Schorsch mit Nachnamen heißt, der Jugendliche, dem Brüste gewachsen waren und an den sich Gebhard Stein noch erinnert, verrät mir in Kork niemand. Datenschutz. Manchmal glaube ich schon, dass ich einem Phantom hinterher jage. SH 08714, SH 08714, SH 08714… Dokumente aus dieser Zeit gibt es in Kork nicht mehr, sagt man mir. Gab es damals klinische Prüfungen? Oder Beobachtungen zu SH 08714, die Ärzte über erwünschte- und unerwünschte Wirkungen des Versuchsmedikaments notierten? Wie lange müssen überhaupt Dokumente von klinischen Studien aufgehoben werden? O-Ton Volker Blankenhorn Also bei uns sind es 20 Jahre. Es ist natürlich schad, wenn man dem jetzt nachgehen will, aber manchmal kriegt man es doch raus. (lacht) O-Ton Bernhard Steinhoff Wir machen klinische Studien hier in Kork, heutzutage nennen sie dies "Good clinicle practise". Es gibt eine Deklaration von Helsinki, es gibt eine Ethikkommission in Freiburg, alles, was wir hier klinisch-wissenschaftlich machen, muss natürlich diesen ethischen Voraussetzungen entsprechen, sonst geht das überhaupt nicht. Erzähler Bernhard Steinhoff ist Professor für Neurologie und klinische Neurophysiologie und der ärztliche Direktor des Epilepsiezentrums. 10 11 O-Ton Erzähler Bernhard Steinhoff Ich will das auch so, weil wir 30 Prozent Patienten immer noch haben, denen wir nicht helfen können. Also sind wir, finde ich, als Epilepsiezentrum auch verpflichtet, in die Richtung weiter zu forschen. Wie konnte es dazu kommen, frage ich Steinhoff, dass jungen Männern Brüste wuchsen? Könnte es eine Folgewirkung durch die Einnahme von Antiepileptika sein? O-Ton Bernhard Steinhoff Ich könnte mir vorstellen, dass es vielleicht ein Neuroleptikum gewesen ist, das noch in der klinischen Prüfung war, muss ja so sein, sonst hätte es einen zugelassenen Namen gehabt. Ich weiß es ehrlich nicht. Auf jeden Fall ist mir jetzt kein Antiepileptikum bekannt, bei dem das typischerweise bei mehreren Patienten eine Folgeerscheinung wäre. Kenn ich nicht. Musik Erzähler In der Nacht schlafe ich unruhig, wache immer wieder auf. Nun ist fast ein Jahr vergangen, seit ich von Gebhard Stein über den Einsatz des triebhemmenden Arzneimittels an wehrlosen Patienten erfuhr. Bin bisher über einen begründeten Verdacht kaum hinausgekommen. Soll ich aufgeben? Dann schreibt mir auch noch das Deutsche Patent- und Markenamt in München, dass sie SH 08714 nicht finden können. Die gleiche Antwort bekomme ich vom „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte“ in Köln, zuständig für die Zulassung von Medikamenten. Auch das Bundesgesundheitsministerium scheint ahnungslos. Musik Erzähler Einen Versuch will ich noch machen: Gebhard Stein glaubt, das Versuchsmedikament sei von der Ciba-Geigy AG gewesen. CibaGeigy und Sandoz fusionierten 1996 zu Novartis, dem weltgrößten Pharmakonzern. Ich schicke eine Mail mit der Bitte in die Schweiz, mir bei der Suche nach SH 08714 behilflich zu sein. Eine Woche 11 12 später… ein Anruf aus Basel. Patrick Barth, Director Global Media Relations der Novartis International AG ist am Telefon. „Wir haben in unseren Archiven nach SH 08714 geforscht, nichts gefunden.“ Seine Stimme klang erleichtert, und er fügte hinzu: „Das Versuchsmedikament ist ganz sicher nicht von uns gewesen.“ Außerdem hätte eine Mitarbeiterin von Novartis weiter recherchiert. SH könnte für Schering stehen. Musik Erzähler Schering forschte mit Östrogen und Gestagen, mit weiblichen Hormonen. Triebhemmende Medikamente und Hormone… Schering könnte passen, dachte ich. Seit 2006 gehört das Unternehmen zu BAYER. Also schrieb ich am 19. Januar 2016 eine Mail an die Presse- und Öffentlichkeitsabteilung des Pharmakonzerns. Acht Tage später kommt die Antwort: Sprecher Sehr geehrter Herr Kowalczyk, Nach umfangreicher interner Recherche in den Archiven der Schering AG hat sich ergeben, dass es mit derzeitigem Wissensstand keine Substanz oder Formulierung einer Substanz mit der Nummer SH-08714 gibt. Beste Grüße, Dr. Michael Diehl, Communications, Leverkusen. Erzähler Doch die Mail hat noch einen Anhang: dort finde ich die interne Kommunikation zu meiner Anfrage. Vermutlich, damit ich im Bilde bin. Sprecher 21. Januar 2016 Lieber Herr Johannsen, ich habe die SH-Nr. von Cyproteronacetat in der angehängten Publikation gefunden. Freundliche Grüße Arwed Cleve, Bayer Pharma Aktiengesellschaft 12 13 Zitator (…) Das dürfte die Angelegenheit klären und beenden. Die Nummer weicht allerdings etwas ab: Seite 4, Brief des Bundesjustizministers, nennt SH 8.0714. Das könnte evtl. Kerstin Crusius mit dem Anfragenden klären (…) Freundliche Grüße Dr. Lars Johannsen, Document Management Sprecherin Lieber Herr Johannsen, (…) Es bleibt aber noch die Frage, ob die erwähnten Studien damals so durchgeführt wurden. Das wüssten wir gern noch bevor wir an einer Antwort für den Journalisten arbeiten. Wir haben in der Zwischenzeit auch recherchiert und den Journalisten gefunden, hier seine Webseite, die auf kritische investigative Berichterstattung hindeutet. Freundliche Grüße Dr. Kerstin Crusius, Head of R&D Media and Partner Relations Sprecher 22. Januar 2016 Liebe Frau Crusius, (…) Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei der erwähnten Nummer um SH 8.0714 (Cyproterone Acetate/Androcur) handeln könnte, zumal dieses Präparat in den 70er Jahren zur Behandlung von Sexualdeviationen in klinischen Prüfungen verwendet wurde. (…) Aus einer Anzahl von 36 relevanten klinischen Studien (… zwischen dem 01.01.1970 und dem 31.12.1980) können wir keine Hinweise auf eine Durchführung einer Cyproterone Acetate / Androcur Studie an einem Epilepsiezentrum Kork und/oder verbunden mit einem Klinikum in Kehl finden… Freundlich Grüße Stefan Brügger, Head of Document Management Berlin Sprecherin 27. Januar 2016 Lieber Herr Diehl, 13 14 wie eben besprochen hier alle Informationen, die uns zur Zeit zur Verfügung stehen. Die angefragte Substanz gibt es nicht und in Absprache mit Herrn Renner sollten wir die Antwort zum jetzigen Zeitpunkt darauf beschränken. Freundliche Grüße / Best regards, Dr. Kerstin Crusius, Head of R&D Media and Partner Relations Erzähler Warum eigentlich will mir BAYER offiziell nicht mitteilen, dass sie das Medikament gefunden haben? Immerhin eines ist jetzt klar: Gebhard Stein kann sich auf sein Gedächtnis verlassen. Fast. Die Irritation entstand durch einen Zahlendreher. Statt SH 08714 muss es SH 8.0714 heißen. Unter dem Namen „Androcur“ wurde die Substanz 1973 zugelassen und wird heute noch angewendet. Wie SH 8.0714, also noch vor der Zulassung als Androcur, nach Kork gelangte und wer es unter welchen Bedingungen da eingesetzt hat, bleibt im Dunkeln. Am 21. September 2016 bitte ich Bayer um ein Interview. Niemand in dem Pharmakonzern reagiert darauf. Musik O-Ton Frank Stefan Die Akten aus dieser Zeit existieren nicht mehr. Das andere ist, die damals zuständigen Ärzte leben auch nicht mehr und die Mediziner, deren Dienstzeit historisch am weitesten zurückreicht kamen erst in den folgenden Jahren, in den 70er-Jahren. Ich hab mit denen gesprochen. Erzähler Es sei ziemlich alles korrekt abgelaufen, erzählt mir der Vorstandsvorsitzende der Diakonie Kork, Frank Stefan. O-Ton Frank Stefan Die haben über die konkreten Vorgänge natürlich keine Erinnerung, aber haben eine Erinnerung an ihre damaligen Vorgesetzten, an ihre Vorgänger, und sagten, sie können sich nicht vorstellen, dass dort im Grunde Versuche gemacht worden sind. Der therapeutische Einsatz von Androcur, der hat natürlich stattgefunden. 14 15 Erzähler Androcur ist in den USA nicht mehr zugelassen… O-Ton/Atmo Peter Schönhöfer Dieser Blocker Testosteron ist in den USA vor allen Dingen dadurch gefürchtet, dass er einmal Krebs auslöst, nachweislich, Leberkrebs, und zum zweiten, dass er die Schlaganfälle macht. Ich bin Pharmakologe, habe auch mal eine Zeitlang im Bundesgesundheitsamt gearbeitet, bin dort gefeuert worden von dem korrupten Präsidenten Überla, weil ich zu sehr gegen die Industrie argumentierte. Ich bin dann nach Bremen gegangen, habe hier an der Klinik eine klinische Pharmakologie aufgebaut und bin ungefähr seit der Zeit auch Mitherausgeber und Autor bei dem Arznei-Telegramm gewesen. Erzähler Zum Gespräch mit Prof. Peter Schönhöfer bringe ich eine klinische Studie zu Cyproteronacetat/Androcur von 1977, also aus der Zeit nach der Zulassung in Deutschland mit. Auch die hatte sich im Anhang der Mail der Presseabteilung von BAYER gefunden. Die Schering-Studie wurde unter der Leitung von Professor Volkmar Tilsner an der Hamburger Universitätsklinik Eppendorf, kurz UKE, durchgeführt. Tilsner galt damals als Fachmann für Blutgerinnung. O-Ton/Atmo Peter Schönhöfer (blättern zusammen in der Studie) Wann war denn das? 77… Autor: 77, ah ja. Ja, die haben nur die Gerinnungsfaktoren geprüft. Da haben sie nichts gefunden, ist doch klar. Welche haben sie denn gemacht? Das ist doch Unsinn. Das waren insgesamt elf Patienten. Autor: Genau. Schönhöfer: Quatsch. Damit können sie doch keine Gerinnungsanalyse machen… Erzähler An der klinischen Studie in der UKE waren nur elf Männer als Testpersonen beteiligt, die damals unter sog. „Hypersexualität" litten oder „sexuell gewalttätig“ gewesen sein sollen. O-Ton/Atmo Peter Schönhöfer Das ist eine völlig überflüssige Untersuchung, denn wir haben ja die Beobachtung am Menschen mit den Ereignissen. Die Ereignisse treten ein, und die sind nicht in den Messparametern abgebildet. Das heißt also, die Parameter sind nicht geeignet, die Aussage zu treffen, dass dann keine embolischen Ereignisse auftreten. Das war eine Untersuchung der typischen Art, wie getäuscht wird. Man hat eine Studie gemacht und nichts 15 16 gefunden, also kann das Ereignis, das aufgetreten ist, nicht mit dem Mittel zusammenhängen. Das ist eine Untersuchung zur Entlastung des Herstellers. Punkt. Erzähler Und Entlastung konnte Schering offenbar brauchen! Denn die Diskussion über das Medikament nahm kein Ende, nachdem der Konzern Androcur 1973 in den Handel gebracht hatte. Aber auch schon vor der Zulassung ging man mit den triebhemmenden Pillen hemmungslos um, wie DER SPIEGEL 1971 berichtete. Zitator Die Vermutung, das Mittel könnte gelegentlich leichtfertig angewandt werden, besteht zu Recht: In Berlin berichtete eine Ärztin, sie habe "Androcur" sogar Kindern - eines davon vier Jahre alt - verabfolgt. Das Kind sei, so die Ärztin, wegen "exzessiver Onanie" behandelt worden. Erzähler Damals war es möglich, dass Ärzte in Absprache mit dem Hersteller die Pillen bereits vor der Zulassung den Patienten verabreichten – wenn sie die Notwendigkeit zur ‚sofortigen medizinischen Anwendung‘ begründen konnten. Das ist heute auch noch möglich. Schering konnte also schon vor der Zulassung Androcur Ärzten „zum Kennenlernen“ zur Verfügung stellen. Solche Vorgehensweisen waren damals in Deutschland üblich und wurden vom Bundesgesundheitsministerium unkontrolliert zugelassen, erklärt mir Peter Schönhöfer. Anders war es in den USA und in England. Dort forderten die Zulassungsbehörden auch schon damals qualifizierte klinische Studien ein. Deshalb musste Schering weitere klinische Prüfungen unter dem Code SH 8.0714 durchführen, weil sie Androcur auch dort vermarkten wollten. In Deutschland wurde erst 1978 mit dem Inkrafttreten des neuen Arzneimittelgesetzes die Zulassung von Medikamenten von qualifizierten klinischen Studien abhängig gemacht. Mit dem Androcur-Wirkstoff Cyproteronacetat (CPA) haben 16 17 Schering-Wissenschaftler schon lange vor der Zulassung von Androcur in Deutschland experimentiert. Er wurde 1961 entdeckt. O-Ton Peter Schönhöfer Damals suchte man die Pille für den Mann, das ist schief gegangen, weil eine Dosierung, die die Spermienproduktion beim Menschen unterdrückte, auch gleichzeitig die Libido, also den sexuellen Appetit blockierte. Das Nächste war, dass man nicht nur die Fertilität der Männer kontrollieren wollte, sondern auch die sexuelle Hyperaktivität bzw. abweichendes sexuelles Verhalten. Erzähler Auch das Bundesjustizministerium, sagt Schönhöfer, hatte großes Interesse an der Entwicklung von Androcur: O-Ton Peter Schönhöfer 1975 durfte die Firma Schering auf Veranlassung des Justizministeriums dieses Mittel zur Testung an erwachsenen Patienten mit sexualdevianten Verhalten einsetzen, und das wurde dann auch in den Gefängnissen angeboten, den Sexualtätern. Und wenn sie sich verpflichteten, regelmäßig das Androcur zu nehmen, dann kriegten sie Erleichterung, auch Hafterleichterung. Denn die Jahreskosten von einem Sexualtäter in dem Gefängnis waren damals rund 80.- 100.000 DM. Und die Schering-Leute sagten, wenn ihr unser Mittel nehmt, dann kostet das Euch nur 10.000 DM pro Jahr. So wurde das gemacht, und dann haben die Beamten im Justizministerium entsprechend gehandelt. Erzähler Die Nutzen-/Risikoabwägung von Androcur sei insgesamt negativ, meint Peter Schönhöfer, weil die „Anwendungen mit starken hormonellen und toxischen Störwirkungen“ belastet seien. Er nennt als Beispiele Depressionen, Thrombosen, Brustwachstum mit Spannungsschmerzen, gutartige- und bösartige Lebertumore… Musik Erzähler [Anm. der Redaktion: An dieser Stelle wurde eine Passage von der Redaktion gelöscht.] Nach bisherigen inoffiziellen Informationen von BAYER wurde im 17 18 Epilepsiezentrum Kork keine klinische Studie durchgeführt. Zweifel sind aber angebracht. Denn es stellt sich die Frage, warum der Ersatzdienstleistende Gebhard Stein in Kork ein Jahr vor der Zulassung das Medikament mit der Versuchsnummer SH 8.0714 an die Patienten verteilen musste. Medikamente ohne Namensangabe gibt es nur bei noch nicht zugelassenen Medikamenten in klinischen Prüfungen… Noch bleibt einiges ungeklärt. Auch, wie lange und wie hoch dosiert die Versuchssubstanz verabreicht wurde. [Anm. der Redaktion: An dieser Stelle wurde eine Passage von der Redaktion gelöscht.] O-Ton Gerd Glaeske Wenn das Mittel erst 1973 die Zulassung bekommen hat, eben auf dem Markt eben angeboten werden zu dürfen, dann funktioniert eigentlich eine Anwendung vorher nur im Rahmen einer klinischen Prüfung, die auch angemeldet sein musste. Auch das war seinerzeit schon notwendig, dass man zumindest eine Ethikkommission hatte, die das mitentscheiden musste. Es war notwendig, dass es auch einen Prüfplan gibt. Es war notwendig zu klären, wem soll dieses Mittel gegeben werden. Das heißt, wir haben eine Situation gehabt, wo man eigentlich wissen können musste, was man da tat. Erzähler Gerd Glaeske ist Professor an der Universität Bremen im Bereich „Public Health“, Schwerpunkt Arzneimittelversorgungsforschung und Arzneimittelmarkt. O-Ton Gerd Glaeske [Anm. der Redaktion: An dieser Stelle wurde eine Passage von der Redaktion gelöscht.] O-Ton Gerd Glaeske I[Anm. der Redaktion: An dieser Stelle wurde eine Passage von der Redaktion gelöscht.] Die Anwendung jedes Arzneimittels setzt eine intensive Aufklärung voraus, insbesondere dann, wenn es sich um ein nicht zugelassenes Arzneimittel handelt. Dann muss ich den Patienten aufklären darüber, welche Probleme mit diesem Mittel zusammenhängen können, wie die Wirkweise ist und ich muss eine Zustimmung haben. [Anm. der Redaktion: An dieser Stelle wurde eine Passage 18 19 von der Redaktion gelöscht.] Atmo Praxis Dr. Schuler, Berlin-Moabit, Tippen, Stimmen, Autoverkehr… Erzähler Ich möchte noch mehr über Androcur erfahren. Schorsch muss 16 gewesen sein, als man ihm die noch nicht zugelassene Substanz täglich verabreichte. Ich suche einen Mediziner, der Erfahrung mit dem Medikament hat. In Berlin verabrede ich mich mit dem Arzt Christoph Schuler, der seinen Patienten seit 17 Jahren Androcur verschreibt. O-Ton Christoph Schuler Ich setze das Medikament Androcur bei transidenten Menschen ein, bei ganz konkret, Mann zur Frau Transsexuellen und wende es an, um die Verweiblichung zu verbessern. Durch die Testosteron Blockade werden verweiblichende Effekte deutlicher. Und dazu gehört neben dem verminderten Bart- und Haarwachstum, neben dem Stopp der Glatzenbildung oder dem Ausfall der androgenetisch bedingten Haarverlustes auf dem Kopf, auch eine weichere Haut, auch eine veränderte Stimmungslage und vor allem auch das Brustwachstum, ja. Erzähler Christoph Schuler geht meinen Fragen nicht aus dem Weg. Er weiß, dass Androcur ein umstrittenes Medikament ist. Vor allem wegen seiner Nebenwirkungen. O-Ton Christoph Schuler Was sind die Hauptnebenwirkungen, die gefürchteten Nebenwirkungen, zum einen die psychischen, sprich Depressionsauslösung, Stimmungsveränderungen, die sind in der Tat häufig. Hier ist allerdings zu überlegen, ob nicht auch einfach ein schneller Abfall des körpereigenen Testosteronspiegels Depressionen auslöst. Ich mach, bevor ich Androcur einsetze, bevor ich überhaupt Hormone gebe, einen Ultraschall der Leber, kontrolliere die Leberwerte während der Behandlung regelmäßig, und mache auch seriell im Behandlungsverlauf Folgeuntersuchungen, Ultraschall der Leber und hab noch keinen einzigen Lebertumor entdeckt. Das ist eine sehr seltene Nebenwirkung, die dokumentiert ist, darf man nicht aus dem Auge verlieren, aber die nicht sehr häufig ist. Einzelne Thrombose-Fälle hatte ich in den letzten Jahren schon auch mal gehabt. 19 20 Erzähler In der klinischen Studie der Hamburger Universitätsklinik Eppendorf von 1977 im Auftrag der Schering AG, gab man Studienteilnehmern 300 mg Androcur wöchentlich, den meisten Männern sogar 100 mg täglich. O-Ton Christoph Schuler Die Dosierungen für die sog. chemische Kastraktion liegen bei 300 mg und höher pro Woche. Wir reden in der Transitionsbehandlung von Dosierungen zwischen 5 und 10 mg derzeit. Auch wenn es 25, 50 oder 100 werden, ist da immer noch eine gewisse Diskrepanz. Und mit der 10 mg Dosierung ist das sexuelle Verlangen und die sexuelle Funktionsfähigkeit nicht aufgehoben, sie ist vermindert, aber ein Sexualleben ist noch möglich, was für viele Frauen auch wichtig ist und weiterhin wichtig bleibt. Musik Erzähler Frank Stefan, der Vorstandsvorsitzende der Diakonie Kork, weilt auf Dienstreise in Berlin. Ich möchte nochmal mit ihm sprechen und er kommt in mein Büro. Die Fragen hatte ich ihm auf Wunsch zur Vorbereitung per E-Mail zugeschickt. Bevor ich das Mikrofon einschalte, sagt er mir, die Geschichte mit Androcur sei nun wirklich belanglos und keinen Skandal wert. O-Ton Frank Stefan Ich gehe aber davon aus, dass Androcur an dieser Stelle tatsächlich zwar vor seiner Zulassung, aber wenn man weiß, wie lange so ein Medikament braucht, bis es zugelassen wird, ist, sage ich mal ein Jahr vor Zulassung oder so schon vergleichsweise weit. Ich weiß von damals wirklich auch nicht, dass es mehr Patienten gegeben hätte, die das in Kork bekommen hätten. Ich kann das weder ausschließen noch definitiv sagen, auch zu der Frage, ob es dafür irgendeine Aufwandsentschädigung oder Vergünstigung oder sonst was gegeben hätte, habe ich keine Informationen finden können. Erzähler [Anm. der Redaktion: An dieser Stelle wurde eine Passage von der Redaktion gelöscht.] Frank Stefan plagen keine Zweifel, ob die Vergabe richtig war. 20 21 [Anm. der Redaktion: An dieser Stelle wurde eine Passage von der Redaktion gelöscht.] O-Ton Frank Stefan Wir haben aber als ein Haus der Spitzenversorgung für Menschen mit sehr schweren Behinderungen, immer wieder auch mit Fällen zu tun, wo sie mit den handelsüblichen Wald- und Wiesenpräparaten eben nichts ausrichten. Also es ist immer eine Abwägungsfrage. Erzähler Schorsch und die anderen jungen Männer werden vermutlich nicht in der Lage sein, Aufklärung einzufordern. [Anm. der Redaktion: An dieser Stelle wurde eine Passage von der Redaktion gelöscht.] O-Ton Frank Stefan Ja, aber ich sag mal, entschuldigen könnte mich ja nur der Patient, ich kann ja bestenfalls um Entschuldigung bitten. Aber auch an dieser Stelle muss ich sagen, dazu sehe ich aufgrund der mir heute bekannten Fakten keinen Anlass. Denn es stellt sich mir wirklich so dar, dass jedem Menschen, der als Patient nach Kork gekommen ist, versucht wurde, bestmöglich nach dem Interesse des betroffenen Patienten zu helfen. Dass dabei Menschen auch irren können, unbestritten, aber dass bewusst gesagt wurde, ach, da ist jetzt mal jemand, den nützen wir jetzt mal für unsere anderen Interessenlagen, davon gehe ich nicht aus, und deshalb sehe ich an dieser Stelle im Moment auch tatsächlich keinen Grund, um Entschuldigung zu bitten. Musik Absage „Plötzlich wuchsen Schorsch Brüste“ Medikamententests an Männern mit geistiger Behinderung Ein Feature von Charly Kowalczyk Sie hörten eine Co-Produktion des Deutschlandfunks mit dem Südwestrundfunk 2016. Es sprachen: Robert Glatzeder, Mirko Böttcher, Joachim Schönfeld und Ilka Teichmüller 21 22 Ton und Technik: Jean Szymczak Regie: Heide Schwochow Redaktion: Karin Beindorff 22
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