Hintergrund Tages-Anzeiger – Mittwoch, 4. Januar 2017 3 so zum Ersatz fürs Handeln» und dem Grauen. Und warum er der Instant-Empathie im Internet so misstraut. eine Zeichnung schaffen, deren Ausdruck stark ist – und die zugleich die Widersprüchlichkeit des Betrachters thematisiert. Je mehr sich die Leute ihrer Facebook-Gefühle versichern, desto wichtiger wird es für mich und meine Kollegen, unsere Arbeit gut zu machen. Zeichnen heisst Auslassen – Karikaturisten sehen das Offensichtliche zuerst. Das merke ich vor allem dann, wenn ich nicht einzelne Zeichnungen anfertige, sondern ganze Bandes dessinées, gezeichnete Geschichten. Ich habe über 30 davon erzählt, aus Gaza zum Beispiel oder Mittelamerika. Mein letztes Projekt habe ich mit meiner Frau, Anne-Frédérique, gestaltet, sie arbeitet als Journalistin beim welschen Fernsehen. Wir haben Häftlinge in den Todestrakten amerikanischer Gefängnisse besucht und sie gebeten, uns ihre Geschichte zu erzählen und zu zeichnen. Hat die Karikatur eine kathartische Wirkung? Ja, aber das liegt nicht an der Zeichnung, sondern am Humor, den sie transportiert. Der Humor hilft uns, die Dummheit und das Grauen in der Welt zu ertragen. Und er findet immer neue Wege. «Karikaturen bieten eine Abkürzung zu Gefühlen»: Chappatte. Foto: Olivier Vogelsang «Eine Zeichnung ist heute global, Humor funktioniert aber lokal.» Patrick Chappatte Der weltweit tätige Karikaturist Zeichnen zu verbieten, das kann es ja nicht sein. Man muss beim Zeichnen im Reinen mit sich selber sein, nur das zählt. Karikaturen bieten sublimierte Gewalt, gezeichnete Brutalität. Was hat das mit Ihnen zu tun? Ich kann bestätigen: Der Bub in mir liebt Panzer. Bitte sagen Sie das nur Ihren Lesern weiter. Aber ich zeichne Kampfpanzer für mein Leben gern. Und andere Maschinen. Machthaber fühlen sich auffallend schnell von Karikaturen bedroht. Ihr Kollege Plantu von «Le Monde», hat einen Dokumentarfilm zum Thema gemacht. Der Film zeigt, wie drakonisch die Macht auf Humor reagiert. Ich kenne Plantu gut, er hat vor zehn Jahren die Organisation Cartooning for Peace gegründet, vor sechs Jahren haben wir einen Schweizer Ableger installiert. Cartooning for Peace ist so weit weg vom Zynismus wie nur irgend denkbar. Alle zwei Jahre ehren wir Zeichner mit einem Preis – nicht nur für ihr Talent, sondern für ihren Mut, was automatisch heisst: für die Umstände, unter denen sie ihre Arbeit machen. In diesem Jahr haben wir Gado aus Kenia und Zunar aus Malaysia ausgezeichnet. Zunar wurde vor kurzem wieder einmal verhaftet und wartet auf seinen Prozess. Ihm drohen über 40 Jahre Gefängnis. Was wirft man ihm denn vor? Das ist nicht die entscheidende Frage, sondern: Was wirft Zunar dem Premierminister Najib Razak vor? Dass er total korrupt ist, verbandelt im Milliardenskandal um eine staatliche Investmentfirma, von der er Gelder abgezweigt hat. Die Schweizer Banken haben dabei mitgespielt. Zunar hat den Premier in seinen Karikaturen attackiert. Als er in Genf den Preis entgegennahm, sagte er, der von sich immer in der dritten Person spricht: Entweder geht Zunar für 43 Jahre ins Gefängnis – oder der Premierminister. Warum lösen Karikaturen immer wieder so heftige Reaktionen aus, dass es zu Attentaten oder Massendemonstrationen kommt? Karikaturen wirken so unmittelbar, weil sie so einfach sind. Ihnen geht die Komplexität von Filmen und Texten ab. Dafür versteht man sie auf Anhieb. Karikaturen bieten eine Abkürzung zu den Gefühlen. Gerade deshalb eignen sie sich Sein Vater war ein jurassischer Unternehmer, seine Mutter eine libanesische Lehrerin. Patrick Chappatte selber kam in Afghanistan zur Welt, verbrachte danach mehrere Jahre in Singapur, bevor seine Eltern nach Genf zogen. Etwas von dieser Weltläufigkeit scheint an ihm hängen geblieben zu sein. Denn Patrick Chappatte ist ein wahrhaft internationaler Karikaturist. Der 49-Jährige zeichnet für die «New York Times», die «NZZ am Sonntag» und «Le Temps», und seine Karikaturen werden in über 60 Ländern publiziert. Chappatte hat die Organisation Cartooning for Peace mitinitiiert und für seine Arbeit mehrere Preise bekommen. Mit seiner Frau Anne-Frédérique Widmann hat er ein Buch publiziert, das in Zusammenarbeit mit amerikanischen Häftlingen in der Todeszelle entstand. Das Paar hat drei Kinder und lebt in Genf. (jmb) so hervorragend für die Propaganda. Das haben auch die Nazis gewusst, als sie den Stereotyp des gierigen, hässlichen Juden entwarfen. Eine Karikatur enthält auch ein Kompliment: Man muss unverkennbar und bekannt genug dafür sein. Da fällt mir der serbische Karikaturist Corax ein, mit dem ich einmal eine Ausstellung organisiert habe. Das war 2003, als es noch heikel war, von Belgrad aus satirisch auf die serbische Rolle in den Balkankriegen zu schauen. Corax hatte das Regime von Slobodan Milosevic dermassen scharf karikiert, dass er in seiner Heimat gefeiert wurde wie ein Held. Wie hat Milosevic auf ihn reagiert? Er hat ihn gewähren lassen, das war gerissen von ihm. Milosevic erkannte zu Recht, dass die Zeichnungen von Corax wie ein Ventil funktionierten. Erlaube den Leuten, sich über dich lustig zu machen, dann werden sie nicht gegen dich revoltieren. Milosevic hat die oppositionelle Presse in Serbien nicht verboten, er hat sie behindert. Und immer, wenn Leute aus dem Westen kamen, konnte er seine Pressefreiheit vorzeigen. Kommt es auch vor, dass die Karikatur sublimiert, was ein Bild drastisch zeigt? Dass sie das Grauen erträglich macht? (überlegt) Aber tut das ein Bild nicht auch? Nehmen wir die Aufnahme des fünfjährigen Omran in einem Spital von Aleppo, die Sie mir vorhin zeigten. Er ist verletzt, sein Gesicht ist voller Staub, aber er sieht nicht aus, als würde er gleich sterben. Das Bild von ihm ging auch deshalb um die Welt, weil es ein berührendes Bild war. Wie gehen Sie als Karikaturist vor, wenn Sie etwas zu Aleppo machen? Die Zerstörung von Aleppo ist ein Albtraum, den wir aus grosser Distanz miterleben. Gegen diese Indifferenz muss ich anzeichnen, also auch gegen meine eigene. Es ist schwierig, beim Zeichnen den richtigen Ausdruck hinzubekommen. Ich möchte in einem solchen Fall Sie haben innert kurzer Zeit zwei Kollegen verloren, Mix & Remix und Raymond Burki. Was hat die beiden als Zeichner ausgezeichnet? Mix & Remix war ein Genie des Gags mit seinem extrem vereinfachten Stil. Seine Figuren erinnerten mich an die Spraykunst von Keith Haring, sie gingen durch die Welt mit Augen wie Fischen, als wäre es ein Drama, auf der Welt zu sein. Raymond Burki war ein schweigsamer Typ wie viele Waadtländer. Am liebsten zeichnete er ohne Sprechblasen, er suchte einfache Lösungen, das absolute Bild, das sich von selber aufdrängt. Die Schweiz ist ärmer ohne sie, und ich habe zwei Freunde verloren. Wie reagieren die Leute eigentlich auf Ihre Arbeit? Ich glaube nicht, dass eine Pressekarikatur je einen Menschen dazu gebracht hat, seine Meinung zu ändern. Ich hoffe, dass die Leute lachen oder lächeln. Und dass sie manchmal ein paar Sekunden nachdenken. Das schönste Kompliment eines Lesers ging so: Er sagte, ich verstehe nicht viel von diesem Thema, aber als ich ihre Zeichnung sah, war mir alles viel klarer. U www.graphicjournalism.com Und jetzt? Gespräche zum Jahreswechsel ÜberWeihnachten und Neujahr unterhielt sich der «Tages-Anzeiger» mit acht Interviewpartnern über das,was die Schweiz und dieWelt bewegt.Zu Beginn der Gespräche stand immer ein Bild aus dem vergangenen Jahr.Und die Frage:Was wird jetzt daraus? Teil 1: Anne Applebaum über den Triumph der Populisten Teil 2: Valon Behrami über das Elend von Flüchtlingen Teil 3: Carlo Strenger über die Israelisierung Europas Teil 4: Sarah Diefenbach über die Generation Selfie Teil 5: Roger Köppel & Daniel Jositsch über die Linke und Rechte in der Schweiz Teil 6: Wolfram Eilenberger über die Politisierung des Sports Teil 7: Chappatte über das Bewältigen des Grauens 27.12. 28.12. 29.12. 30.12. 31.12. 3.1. heute Collection Alle Gespräche zum Jahreswechsel jahreswechsel.tagesanzeiger.ch
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