1 - Brd-schwindel

Verlag
Volk und Welt Berlin
Erster Band
Kriegstagebücher
Simonow
1941
1. Auflage
© Verlag Volk und Welt, Berlin 1979
(deutschsprachige Ausgabe)
L. N. 302, 410/20/79
Printed in the German Democratic Republic
Alle Rechte für die Deutsche Demokratische Republik vorbehalten
Redakteur: Hannelore Freter
Einbandentwurf: Axel Bertram Gruppe 4
Satz, Druck und Einband: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30
LSV 7203
Bestell-Nr. 647 525 ;
DDR 22,20 M (2 Bände)
Titel der Originalausgabe: Paзниe войы, том I
© Издательство „Молодая гвардия“, Москва 1977
Aus dem Russischen
von Corrinna und Gottfried Wojtek (Kapitel 1-12)
und Günter Löffler (Kapitel 13-21)
Militärische Beratung Egon Krenz
Der Titel dieses jetzt in zwei Bänden vorliegenden Buches bestimmt seinen Charakter. Es sind nicht die Memoiren eines
Berufssoldaten und ist auch nicht die Arbeit eines Historikers,
sondern es ist das Tagebuch eines Schriftstellers, der mit eigenen Augen einen Bruchteil des Geschehens im Großen Vaterländischen Krieg gesehen hat. Dieses Geschehen war von gewaltigem Ausmaß, der Bereich meiner persönlichen Beobachtungen hingegen sehr begrenzt, ich bin mir dessen sehr wohl
bewußt und erhebe keinen Anspruch auf ihre Vollständigkeit.
Es ist noch hinzuzufügen, daß meine Tätigkeit in jenen Jahren
über den Rahmen der Pflichten eines Frontkorrespondenten der
„Krasnaja Swesda“ hinausging, weshalb in dem Buch nicht nur
von den Fahrten an die Front die Rede sein wird, sondern auch
von meiner Arbeit als Schriftsteller.
Meine ausführlichsten Aufzeichnungen beziehen sich auf den
Kriegsbeginn und auf das Kriegsende, auf die Jahre 1941 und
1945. Die Aufzeichnungen aus den Jahren 1942, 1943 und
1944 sind teils recht ausführlich, teils nur bruchstückhaft. Die
Spuren mancher Fahrten an die Front sind lediglich in den Korrespondentenberichten der „Krasnaja Swesda“ und der „Prawda“ erhalten geblieben, ferner in den Reportagekopien, die ich
über das Sowjetische Informationsbüro nach Amerika sandte,
und in den stenographischen Aufzeichnungen meiner Frontnotizbücher.
Ich hatte sehr wohl begriffen, wie wichtig es für einen Schriftsteller ist, ein Kriegstagebuch zu führen, wenn ich dessen Bedeutung wohl auch ein wenig übertrieb, als ich im Krieg auf
die Fragen einer amerikanischen Telegraphenagentur schrieb:
„Was die Schriftsteller angeht, so werden sie meiner Meinung
nach unmittelbar nach Kriegsende ihre Tagebücher in Ordnung
bringen müssen. Was immer sie während des Krieges geschrieben haben und so hoch das Lob der Leser dafür auch ge-
wesen sein mag, so werden sich doch gleich nach Kriegsende
ihre Tagebücher als das Wesentlichste erweisen, was sie im
Krieg für den Krieg getan haben.“
Diese Worte aber waren nicht ganz zutreffend. Ich hatte zwar
begriffen, wie wichtig Tagebuchaufzeichnungen waren, doch
fehlte oft die Zeit, sie systematisch zu führen. In der Zeit zwischen den Fahrten an die Front und der Arbeit als Berichterstatter schrieb ich in jenen Jahren zwei Gedichtbände, drei Theaterstücke und den Roman „Tage und Nächte“. Tat ich das eine,
blieb das andere liegen, und das lag nicht nur am Zeitmangel,
sondern auch an einem Mangel an innerer Kraft. In den
„Kriegstagebüchern“ wird der Leser begegnen erstens jenen
Seiten meiner Kriegsaufzeichnungen, die zwischen den Fahrten
an die Front diktiert oder – was weitaus seltener der Fall war –
kurz nach dem Krieg aus dem Gedächtnis niedergeschrieben
wurden; ihren Wortlaut habe ich hauptsächlich um belanglose
Einzelheiten des Berichterstatterlebens gekürzt und um einige
Stellen, die persönlicher Natur waren;
zweitens Seiten, die ich den Frontnotizbüchern, meiner Korrespondenz aus der Kriegszeit, mitunter aber auch aus der Nachkriegszeit, und in einigen Fällen meinen Kriegsberichten entnommen habe;
drittens schließlich meinen heutigen Erinnerungen und Gedanken, die vorwiegend auf der Kenntnis von Archivmaterial
basieren. Vielleicht wird manch ein Leser mitunter den Eindruck haben, ich hätte in diesem Buch der Klärung biographischer Fakten und des ferneren Schicksals von Menschen, denen
ich an der Front mitunter nur flüchtig begegnete, zuviel Platz
eingeräumt. Ich möchte jedoch daran erinnern, daß das Abreißen von Menschenschicksalen zu den tragischsten Wesenszügen eines Krieges gehört. Das Gefühl, eine Schuld nicht beglichen zu haben, ergreift mich heute immer stärker, immer dring-
licher mache ich es mir zur Pflicht, überall, wo dies angeht, die
von mir ermittelten Namen der Menschen zu nennen, die im
Krieg gekämpft haben, im komplizierten Auf und Ab des Krieges ihre Schicksalsfäden zu verfolgen, die manchmal unwiderruflich abrissen, uns manchmal aber auch nicht restlos bekannt
sind, darunter auch die Geschicke der am Leben Gebliebenen,
die durch einen Irrtum oder einen Fehler in den Unterlagen für
tot erklärt wurden.
Als ich das Buch für den Druck vorbereitete, war es mein
Bestreben, dem Leser unbedingt klarzumachen, womit er es zu
tun hat: mit meinen Aufzeichnungen jener Jahre oder mit meinen heutigen Erinnerungen.
Es ist dies ein dokumentarisches Buch, es gibt in ihm keine
erfundenen Gestalten, und überall, wo ich mich dazu für berechtigt hielt, nenne ich die wahren Vor- und Familiennamen.
In einem Buch wie diesem kann einen das Gedächtnis schon
mal im Stich lassen, und ich werde jedem dankbar sein, der
mich auf Irrtümer hinweist. Bleibt noch, diejenigen Leser, die
den Roman „Die Lebenden und die Toten“ und die sich an diesen Roman anlehnenden Erzählungen „Im Süden“ kennen, ehrlich darauf hinzuweisen, daß sie hier, in diesem Tagebuch, ihnen zum Teil bereits bekannten Personen und ähnlichen Situationen und Einzelheiten begegnen werden.
Dies erklärt sich daraus, daß, schreibt man eine Erzählung
oder einen Roman über ein so schwieriges Thema wie den
Krieg, es einen nicht sonderlich drängt, zu phantasieren oder
Fakten aus der Luft zu greifen. Im Gegenteil, überall, wo es
einem die eigene Lebenserfahrung gestattet, ist man bemüht,
sich möglichst eng an das zu halten, was man im Krieg mit
eigenen Augen gesehen hat.
Bei aller Unterschiedlichkeit der literarischen Genres haben
„Die Lebenden und die Toten“ im großen und ganzen dasselbe
zum Inhalt wie das Tagebuch. Das Tagebuch war die Grundlage des Romans und ging ihm zeitlich voraus, obwohl viele Leser heute, wenn sie im Tagebuch dem wieder begegnen, was
sie bereits im Roman gelesen haben, meinen werden, es sei
genau umgekehrt.
Im weiteren Verlauf des Buches werde ich nur dort, wo dies
unbedingt notwendig ist, an diesen Zusammenhang mit anderem erinnern, doch hier, am Beginn, möchte ich in aller Offenheit aussprechen, daß dieser Zusammenhang für mich selbst,
für den Schriftsteller, grundsätzlich wichtig ist.
Konstantin Simonow
1
Am 21. Juni wurde ich ins Rundfunkkomitee gerufen und beauftragt, zwei antifaschistische Lieder zu schreiben. Daraus
schloß ich, daß der Krieg, mit dem wir alle im Grunde genommen rechneten, sehr nahe war.
Daß der Krieg bereits ausgebrochen war, erfuhr ich anderntags erst um vierzehn Uhr. Den ganzen Vormittag des 22. Juni
hatte ich an Gedichten gearbeitet und war nicht ans Telephon
gegangen. Als ich dann den Hörer abhob, war das erste, was
ich hörte: „Es ist Krieg.“ Ich rief unverzüglich in der Politverwaltung an. Mir wurde gesagt, ich solle gegen fünf noch einmal anrufen.
Ich ging durch die Stadt. Die Menschen hasteten vorbei, dem
äußeren Anschein nach jedoch war alles ruhig.
Im Schriftstellerverband fand ein Meeting statt. Eine Menschenmenge hatte sich im Hof eingefunden. Darunter viele, die
so wie ich erst vor ein paar Tagen aus Ausbildungslagern zurückgekehrt waren, wo sie an einem Lehrgang für Militärkorrespondenten teilgenommen hatten. Jetzt wurde hier im Hof verabredet, gemeinsam an die Front zu fahren, sich nicht zu trennen. In der Folgezeit stellten sich alle diese Abmachungen natürlich als naiv heraus, und wir fuhren nicht an einen bestimmten Ort und auch nicht auf die Weise, wie wir es uns vorgestellt
hatten. Am nächsten Tag wurden wir – die erste Gruppe, dreißig Mann – zur Politverwaltung beordert und den Zeitungen
zugeteilt. Zu den Frontzeitungen kamen jeweils zwei Mann, zu
den Armeezeitungen immer nur einer. Ich sollte zu einer Armeezeitung fahren. Die vor mir liegende Einsamkeit kam für
mich etwas unerwartet. Selbstverständlich meine ich die Einsamkeit als Schriftsteller.
Hinterher war ich zusammen mit Dolmatowski im Rayonko-
mitee der Partei. Vor Abfahrt an die Front wurde ich Kandidat
der Partei – der Sekretär des Rayonkomitees überreichte mir
die Kandidatenkarte, Dolmatowski erhielt das Parteidokument.
Danach waren wir wieder bis zum Abend im Volkskommissariat für Verteidigung. Dort wurden unsere Dokumente ausgefertigt: Ich erhielt den Marschbefehl zur Armeezeitung der 3.
Armee nach Grodno. Papiere und Uniform wurden uns ausgehändigt. Waffen gab man uns nicht, die bekämen wir an der
Front. In der Kleiderkammer sah ich viele von denen zum letztenmal, die zur gleichen Zeit an die Front fuhren.
Beim Anpassen der Uniformen ging es recht turbulent zu. Wir
waren sehr lebhaft, möglicherweise zu lebhaft, wir waren eben
nervös.
Der Mantel, den ich in aller Eile gegriffen hatte, paßte mir
nicht richtig, und so mußte ich ihn am nächsten Morgen, am
24. umtauschen. Dolmatowski kaufte sich dort Rhomben für
die Kragenspiegel. Mitten im Laden verabschiedeten wir uns
voneinander.
In der Nacht vom 23. zum 24. gab es den ersten Fliegeralarm
– nur eine Übung, wie sich später herausstellte. Obwohl das
alles natürlich nur Spielerei war, schleppte ich doch Kinder aus
dem fünften Stock nach unten in den Luftschutzkeller und
nahm alles außerordentlich ernst.
Am 24. noch im Morgengrauen, fuhr ich zum Bahnhof, um
mir einen Militärfahrschein nach Minsk ausstellen zu lassen.
Eine Platzkarte bekam ich nicht, konnte lediglich die Abfahrtszeit des Zuges in Erfahrung bringen. Ich erhielt die Auskunft,
irgendwie würde ich schon mitkommen. Ich war in einer solchen Verfassung, daß ich noch am gleichen Tag von Moskau
Abschied nahm und die Abfahrt nicht auf den nächsten Tag
verschob.
Am Abend war es in Moskau stockdunkel. Der Wagen, mit
dem ich zum Bahnhof fuhr, wurde angehalten, weil der Fahrer
nicht die vorschriftsmäßigen Verdunkelungskappen über die
Scheinwerfer gezogen hatte. Zum Glück nahm mich ein anderer Wagen mit, und ich erreichte den Zug nach Minsk in allerletzter Minute. Richtiger, ich meinte, es sei die allerletzte Minute, denn der Zug fuhr dann doch erst zwei Stunden später.
Auf dem Bahnhof brannten hier und da blaue Lämpchen. Der
finstere Bahnhof, sich drängende Menschen, niemand wußte,
wann und wohin welcher Zug abging, irgendwelche Gitter, die
den Weg versperrten. Ich warf meinen Koffer hinüber und kletterte hinterher. Der Mantel saß gut, das Koppelzeug knirschte,
und mir schien, so werde es nun immer sein. Ich weiß nicht,
wie es anderen ging, ich jedenfalls war trotz Chalchyn Gol in
diesen ersten beiden Tagen des jetzigen Krieges naiv wie ein
kleiner Junge.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Aus unerfindlichem Grund
bestand er aus Wagen, die eigentlich nur im Vorortverkehr
eingesetzt wurden, sie hatten keine Liegepritschen, obwohl der
Zug bis Minsk fahren sollte.
Ich hatte mich bei der Politverwaltung der Front in Minsk zu
melden und von dort zur Armeezeitung der 3. Armee zu fahren.
Meine Reisegefährten waren in der Mehrzahl Kommandeure,
die aus dem Urlaub zurückkehrten. Die Stimmung war eigenartig gedrückt. Unserem Wagen nach zu urteilen, mußte die Hälfte des Bestandes des Westlichen Besonderen Militärbezirks in
Urlaub gewesen sein. Ich konnte nicht begreifen, wie das möglich war.
Wir fuhren die ganze Nacht vom 24. zum 25. und noch den
ganzen Tag. Am Abend wurde Orscha bombardiert, die Bomben schlugen unweit unseres Zuges ein. Am 26. richtiger in der
Nacht zum 26. erreichte der Zug Borissow. Die Nachrichten
wurden von Stunde zu Stunde alarmierender. Es muß gesagt
werden, daß wir uns schnell daran gewöhnten, obwohl wir sie
kaum glauben wollten. Neben mir saßen ein Panzeroberst und
dessen Sohn, ein Bursche von etwa sechzehn Jahren. Der Vater
hatte die Genehmigung bekommen, ihn mit zur Armee zu
nehmen. Außer ihnen war noch ein Artilleriehauptmann im
Abteil, ein äußerlich ruhig wirkender Mann. Um sechs Uhr
morgens stiegen wir in Borissow aus. Weiter fuhren die Züge
nicht. Es wurde erzählt, die Strecke nach Minsk sei bombardiert und von einer Luftlandeabteilung besetzt worden. Später
hieß es, die Deutschen hätten schon am 26. Minsk umgangen
und die Eisenbahnstrecke Minsk-Borissow erreicht. Uns aber
wollte das nicht in den Kopf, wir glaubten, es handle sich um
Fallschirmjäger. Unmittelbar am Bahnhof stiegen wir aus, legten die Koffer auf einen Haufen. Der Sohn des Obersten war
den Älteren beim Essenherrichten sorgsam behilflich. Jeder
brachte, was er hatte, und alle aßen gemeinsam. Plötzlich
schleppte einer ein Fäßchen Sahne an. Die Sahne wurde mit
Tellern, Bechern und sogar mit Stahlhelmen herausgeschöpft.
Es war bedrückend. Es schien nichts Besonderes daran zu sein,
und doch bedeutete es: Pfeif drauf, komme, was da wolle!
Nach dem Essen irrten wir drei Stunden durch die Stadt auf
der Suche nach einer Dienststelle. Weder der Bahnhofskommandant noch der Stadtkommandant konnten etwas sagen. Mal
sollte sich der Garnisonschef, Korpskommissar Sussaikow, in
der Stadt aufhalten, dann wieder zwölf Kilometer außerhalb
der Stadt, in der von ihm geleiteten Panzerschule.
Nach langem Umherirren erwischten der Artilleriehauptmann
und ich einen Fünftonner, dessen Fahrer ihn stehenlassen wollte, weil der Kraftstoff zu Ende ging, und fuhren damit auf der
Suche nach einer vorgesetzten Dienststelle die Minsker Chaussee entlang. Über der Stadt kreisten deutsche Flugzeuge. Es
war fürchterlich heiß und staubig. Am Stadtrand, in der Nähe
des Krankenhauses, sah ich die ersten Toten. Sie lagen auf
Tragen und auch einfach auf der bloßen Erde. Ich weiß nicht,
wie sie hierhergekommen waren. Wahrscheinlich nach einem
Bombenangriff.
Auf der Straße waren Truppen und Kraftfahrzeuge unterwegs.
Die einen fuhren in die Richtung, andere in die entgegengesetzte. Unmöglich, daraus schlau zu werden. Wir verließen die
Stadt, aber in der Panzerschule, richtiger dort, wo sie sein sollte
und sich unseren Berechnungen zufolge der Garnisonschef
aufhalten mußte, stand alles sperrangelweit offen und war keine Menschenseele zu sehen. Nur zwei Kleinpanzer standen
herum, in einer der Stuben saßen ihre Besatzungen in Erwartung des Befehls zur Abfahrt. Keiner wußte etwas. Der Garnisonschef sollte irgendwo an der Minsker Chaussee sein, die
Schule aber war bereits evakuiert.
Zurück in die Stadt. Die deutschen Flugzeuge machten Jagd
auf die Autos. Eines fegte mit ratterndem MG über uns hinweg.
Holz splitterte vom Wagenkasten des Lkw, doch wir blieben
unverletzt. Ich warf mich der Länge nach in den staubigen
Straßengraben. Wieder in der Kommandantur. Der Kommandant – ein Oberleutnant – schrie: „MGs eingraben!“ In den
zwei Stunden unserer Abwesenheit hatte sich viel verändert.
Menschen marschierten und liefen kreuz und quer durch die
Stadt.
Ich bat den Kommandanten um einen Nagant. Bekam aber
nur zur Antwort: „Bedaure! Sie hätten eine halbe Stunde eher
kommen sollen, jetzt ist nichts mehr da. Binnen einer Stunde
war alles weg. Sogar einfache Soldaten haben Mauserpistolen
gekriegt.“ Der Kraftstoff in unserem Wagen ging nun wirklich
zur Neige. Wir erkundigten uns nach einer Tankstelle – sie lag
etwa fünfzehn Kilometer außerhalb von Minsk – und fuhren
hin, um aufzutanken. Nahmen unterwegs einen Intendanten
und noch zwei oder drei Militärangehörige mit.
An der Tankstelle war alles ruhig, obwohl man uns unterwegs
hatte glauben machen wollen, dort wären schon die Deutschen.
Während wir den Wagen aus Eimern betankten, ging der
Hauptmann zum Leiter der Tankstelle, um etwas zu klären. Als
ich hinter ihm eintrat, bot sich mir ein seltsames Bild: Der
Hauptmann, mit dem ich hergefahren war, und ein Oberst hielten mit ihren Nagants zwei Kommandeure in Pionieruniform in
Schach. Einer von ihnen hatte Orden an der Brust. Beide waren
entwaffnet worden. Wie sich hinterher herausstellte, waren sie
hergeschickt worden, um die Bedingungen für eine Sprengung
der Tankstelle zu erkunden, und hatten entweder was durcheinandergebracht und sie gleich in die Luft jagen wollen, oder
man hatte sie nicht richtig verstanden, jedenfalls war es zu einem Mißverständnis gekommen, weshalb der Hauptmann und
der Oberst die beiden für Diversanten hielten und ihnen fünf
Minuten lang mit den Revolvermündungen vor der Nase herumfuchtelten. Nachdem sich schließlich alles aufgeklärt hatte,
begann der eine der Pioniere – ein schon älterer Major mit zwei
Orden – herumzubrüllen, so was sei ihm noch nie passiert, er
sei im Finnischen Krieg 1939/1940 dreimal verwundet worden,
und nach einer solchen Schmach bleibe ihm nur noch, sich zu
erschießen. Es kostete viel Mühe, ihn zu beruhigen. Nachdem
wir aufgetankt hatten, fuhren wir zurück. Auf dem Eisenbahnübergang versperrte ein langer Zug die Straße. Seine Lok stand
unmittelbar hinter dem letzten Wagen eines anderen Zuges, der
den nächsten Übergang versperrte. Endlos lang erschien die
Zugkette. Zwei der im Wagenkasten Sitzenden wurden wütend
und forderten, wir sollten den Lkw stehenlassen und zu Fuß
weiterziehen, weil die Züge sich nie mehr von der Stelle rühren
und die Deutschen uns hier erwischen würden. Der Hauptmann
und ich wetterten zurück. Aber wir mußten wirklich ungefähr
eine Stunde warten. Irgendwo donnerte Artillerie. Das Gefühl
der Ungewißheit war widerwärtig, und hinzu kam noch, daß
ich keine Waffe hatte. Die an meiner Hüfte baumelnde leere
Pistolentasche brachte mich nur auf. Als wir die Stadt wieder
erreicht hatten, wurde die Kommandantur verladen. Auf meine
Frage, was hier vorgehe, schrie der Kommandant mit heiserer
Stimme: „Befehl von Marschall Timoschenko, Borissow zu
räumen, auf die andere Seite der Beresina zu gehen und sich
dort bis zum letzten Blutstropfen gegen die Deutschen zu verteidigen!“
Wir verließen die Stadt. Auf der staubigen Straße fuhren Autos nach Osten, dazwischen ab und an mal ein Geschütz. Auch
zu Fuß hatten sich Menschen aufgemacht. Jetzt zogen alle nur
mehr in einer Richtung – nach Osten.
An der Brückenauffahrt stand ein Mann mit zwei Nagants, einen hinterm Koppel, einen in der Hand. Er hielt die Menschen
und die Fahrzeuge an und drohte völlig außer sich, jeden zu
erschießen, schrie, er müsse die Armee hier zum Stehen bringen und er werde sie zum Stehen bringen und alle erschießen,
die auch nur den Versuch machten zurückzuweichen. Dieser
Mann war ehrlich verzweifelt, aber alles in allem war sein
Handeln unsinnig, und die Menschen fuhren oder gingen
gleichgültig an ihm vorüber. Er ließ sie passieren, packte die
nächsten an der Feldbluse und drohte auch ihnen, sie zu erschießen.
Nachdem wir über die Brücke waren, fuhren wir von der
Straße herunter und hielten an die sechshundert Meter vom
Fluß entfernt in einem kleinen, lichten Wald. Es wimmelte wie
in einem Ameisenhaufen. Die meisten Männer hier waren
Kommandeure und Rotarmisten, die, aus dem Urlaub kommend, zu ihrem Truppenteil unterwegs waren. Außer ihnen
aber sah man auch viele Mobilisierte, die hartnäckig nach We-
sten drängten, zu ihren Einberufungsorten. Es war bereits vier
Uhr nachmittags. Einige Oberste, unter ihnen auch jener Panzeroberst Lisjukow, der im Zug neben mir gesessen hatte, bemühten sich, in dieses Gewimmel im Wald Ordnung zu bringen. Sie erfaßten die Männer in Listen, stellten sie zu Kompanien und Bataillonen zusammen und setzten sie am Beresinaufer nach links und rechts in Marsch, wo sie Verteidigungsstellungen beziehen sollten. Eine Menge Gewehre waren da, ein
paar MGs und auch Geschütze. Der Artilleriehauptmann, der
mit mir hierhergekommen war, fuhr noch einmal zurück nach
Borissow, um Artilleriemunition und Kanonen aufzutreiben,
denn obgleich wir hier schon Kanonen und Granaten hatten,
entsprach das Kaliber der Granaten nicht dem Kaliber der Geschütze.
Ich schickte den Wagen in den Wald und ging mich in die Liste eintragen lassen. Nach der Eintragung stieß ich auf den Justizoffizier, der auch in unserem Lkw mitgefahren war. Er sagte mir, er hätte Befehl, hier Angelegenheiten der Staatsanwaltschaft nachzugehen, und riet mir, sich an ihn zu halten. „Hier
wird ohnehin keine Zeitung erscheinen“, meinte er. Wenige
Minuten später brachte er von irgendwoher ein Gewehr mit
aufgepflanztem Bajonett angeschleppt, aber ohne Riemen, so
daß ich es ständig in der Hand tragen mußte. Ungefähr eine
halbe Stunde nach meiner Ankunft hier entdeckten die Deutschen aus der Luft unsere Ansammlung und begannen den
Wald unter MG-Feuer zu nehmen. Im Abstand von etwa zwanzig Minuten folgte eine Flugzeugwelle auf die andere.
Wir warfen uns hin, preßten den Kopf an die dünnen Baumstämme. Der Wald war recht schütter, und so war ein Beschuß
aus der Luft nicht weiter schwierig. Keiner kannte den anderen,
und bei allem guten Willen brachten es die Menschen weder
fertig, vernünftige Befehle zu erteilen, noch sich unterzuord-
nen.
„Wenn es bloß bald dunkel wäre“, meinte der Militärstaatsanwalt zu mir.
Nach drei Stunden flog endlich eine Kette I-15 im Tiefflug
über den Wald. Glücklich darüber, daß endlich unsere Flugzeuge auftauchten, sprangen wir auf. Doch sie überschütteten
uns mit einer tüchtigen Portion Blei. Ein paar Mann in meiner
Nähe wurden verwundet – alle an den Beinen. So, wie sie nebeneinander gelegen hatten, war der MG-Feuerstoß über sie
hinweggefegt.
Wir glaubten, das wäre ein Zufall, ein Irrtum, aber die Flugzeuge machten kehrt und flogen ein zweites und ein drittes Mal
über den Wald. Ganz deutlich konnten wir die Sterne an ihren
Tragflächen erkennen. Als sie zum drittenmal über den Wald
flogen, gelang es einem, eines der Flugzeuge mit einem MG
abzuschießen. Viele rannten hinüber zum Waldrand, wo dieses
Flugzeug in Flammen aufgegangen war. Als sie zurückkamen,
erzählten sie, aus der Kanzel hätte man die Leiche eines halbverkohlten deutschen Fliegers gezogen. Mir ist unbegreiflich,
wie das geschehen konnte. Ich kann es mir nur so erklären, daß
die Deutschen gleich am ersten Tag ein paar Flugzeuge erbeutet und ihren Piloten das Fliegen beigebracht hatten. Der Eindruck auf uns war jedenfalls niederschmetternd. Bis in die späte Nacht hinein wurden die Angriffe fortgesetzt. Bei Einbruch
der Dunkelheit kehrte der Hauptmann zurück und brachte Granaten mit. Er war glücklich, sich als Artillerist betätigen zu
können, und kam sich nicht mehr vor wie ein Infanterist, der
einem unbekannten Ziel zustrebt.
Wir kauten etwas, es war wohl Zwieback. Aber trinken – wir
waren so müde, daß wir nicht einmal Wasser holen konnten.
Im Dunkeln machte ich mich neben den Rädern des Lkw lang,
schob mir den Mantel unter den Kopf, legte das Gewehr neben
mich. Ich war todmüde und völlig verwirrt von dem Durcheinander. Gleichzeitig aber glaubte ich fest daran, dies alles sei ein
Zufall, sei bloß ein Durchbruch der Deutschen, vor uns und
hinter uns stünden noch unsere Truppen, die kommen und
Ordnung schaffen würden. Ich war so müde, daß ich, als wir
nachts neuerlich aus der Luft angegriffen wurden, erst aufwachte, als unmittelbar neben mir geschossen und ein wütendes Feuer gegen den Himmel eröffnet wurde. Fahrzeuge fuhren
kreuz und quer durcheinander, stießen zwischen den Bäumen
zusammen, machten sich gegenseitig fahrunfähig. Am Horizont zischten hin und wieder Leuchtkugeln hoch, von fern waren Bombendetonationen zu vernehmen.
Unser Fahrer wollte den anderen folgen, aber ich hielt ihn zurück, entschlossen, den Wald nicht zu verlassen, bevor sich die
Panik gelegt hatte.
Eine halbe Stunde darauf war es im Wald wieder ruhig. Wir
stiegen in den Fünftonner und suchten einen Weg. Kamen an
einen Waldsaum. Dort ließ ich den Fahrer mit dem Wagen zurück und ging nach vorn zu einem Weg, wo ich auf eine Gruppe von vier oder fünf Mann stieß, die sich einen Zivilisten vorgeknöpft hatten und seine Papiere verlangten. Er antwortete, er
habe keine. Sie wurden nachdrücklicher; da schrie er mit bebender Stimme: „Euch soll ich meine Papiere zeigen? Alle
wollt ihr Hitler fangen! Werdet ihn sowieso nicht kriegen!“
Der Soldat, der neben mir stand, hob schweigend den Nagant
und drückte ab. Der Zivilist krümmte sich und fiel um. Kaum
war er umgefallen, flammte über unseren Köpfen eine blendendhelle Leuchtkugel auf, und im nächsten Moment detonierte etwa vierzig Schritt von uns eine Bombe. Ich fiel ins Gebüsch. Dann dröhnte es noch einmal und noch einmal – nun
schon weiter entfernt. Ich stand auf. Neben mir lag der Erschossene, bei ihm – fast auf ihm – ein von einem Bomben-
splitter getöteter Soldat, eben hatte er noch hier gestanden.
Sonst war niemand zu sehen.
Ich ging in den Wald zurück. Der Fahrer lag unter dem Wagen, den Kopf unter dem Motor. Während wir zum Weg vorfuhren, hörten wir von vorbeikommenden Soldaten, sie hätten
Befehl, sieben Kilometer zurückzugehen bis zu einer Waldschneise.
Der Waldweg war stockdunkel. Ich ging vor dem Wagen her,
um zu verhindern, daß er gegen einen Baum fuhr. Als es hell
wurde, erreichten wir den Waldrand, wo fast unter jedem
Baum Kraftfahrzeuge standen. Die Männer hoben Deckungsgräben und Schützenlöcher aus. Ich ließ den Wagen im Wald
bei den anderen Fahrzeugen stehen und machte mich auf die
Suche nach irgendeiner vorgesetzten Stelle. Ich wurde an
Korpskommissar Sussaikow verwiesen, den Dienstgradältesten
hier. Er stand am Waldweg – ein junger Mann, unrasiert, das
Käppi tief in die Stirn gerückt, einen Rotgardistenmantel über
die Schultern geworfen. Aus einem unerfindlichen Grund hielt
der Korpskommissar eine Schaufel in der Hand. Ich ging zu
ihm, und in meiner noch immer nicht verflogenen Naivität
fragte ich, wo eine Zeitungsredaktion sei, bei der ich arbeiten
könne, da ich Schriftsteller sei und zu einer Armeezeitung abkommandiert.
Mit einem abwesenden Blick sah er mich an und sagte gleichgültig: „Sehen Sie denn nicht, was hier los ist? Was für eine
Zeitung?!“ Ich sagte, ich hätte mich beim Frontstab, bei der
Politverwaltung zu melden. Er schüttelte den Kopf. Wußte
nicht, wo sich der Frontstab befand, wußte überhaupt so gut
wie nichts, genau wie alle anderen, die mit ihm in diesem Wald
waren.
Um sieben, als die Sonne schon hoch am Himmel stand, begannen die Deutschen diese Stelle erneut zu bombardieren und
zu beschießen. Wir mußten uns hinwerfen, aufstehen, wieder
hinwerfen, wieder aufstehen. Bei diesem ewigen Auf und Nieder sah ich den Staatsanwalt. Er lag direkt neben mir.
„Was wirst du jetzt anfangen?“ fragte er mich. Ich antwortete,
bis jetzt nichts.
„Na, dann wirst du eben bei uns arbeiten, einverstanden?“ Ich
sagte „Einverstanden“ und setzte mich zu der Handvoll Männer, die hier eine Militärstaatsanwaltschaft aufzustellen versuchten. Neben dem Staatsanwalt waren hier ein Politleiter mit
den Kragenspiegeln der Luftstreitkräfte und noch ein paar
Mann.
Um uns Jungwald und dünne Birken. Ich erinnerte mich meiner Mongoleierfahrung, und da ich die Nase voll davon hatte,
völlig hilflos platt auf dem Bauch zu liegen, schlug ich vor,
Schaufeln zu besorgen; wir schafften welche heran, und unter
meiner Leitung begannen die Mitarbeiter der neugebackenen
Staatsanwaltschaft Deckungsgräben auszuheben, wie wir sie in
der Mongolei ausgehoben hatten: In L-Form.
Zwei Stunden später – wir hatten in der Zwischenzeit zwei
Bombenangriffe völlig ungedeckt über uns ergehen lassen
müssen – hatten wir in dem Sandboden einen ausreichend tiefen, schmalen Deckungsgraben ausgehoben. Erst als wir damit
fertig waren, wurde mir bewußt, daß ich nun schon zwei Tage
fast nichts gegessen und getrunken hatte. Mir fielen die Augen
zu, sicher vor Müdigkeit und vor Hunger. An einen Birkenstrauch gelehnt, setzte ich mich an den Rand des Grabens und
nickte ein. Mein Gesicht wurde von der Sonne beschienen, und
wie es oft bei einem solchen kurzen und zufälligen Schlaf ist,
träumte ich etwas sehr Angenehmes.
Von neuerlichem MG-Geknatter wurde ich aus dem Schlaf
gerissen. Automatisch ließ ich mich in den Graben rutschen.
Im Tiefflug jagten Flugzeuge über den Wald. Ich war noch
nicht richtig zu mir gekommen, als mir etwas von beachtlichem
Gewicht auf den Kopf plumpste und sich eine Frauenstimme
erkundigte: „Bin ich Ihnen auch nicht zu schwer?“
„Läßt sich aushalten“, antwortete ich.
Die Frau saß mir immer noch im Genick, sie versuchte, irgendwie herunterzukommen, um mich zu entlasten, so daß
meine Wirbel knackten. Fünf Minuten später, nachdem die
Flugzeuge ein paar Kreise beschrieben hatten, verzogen sie
sich wieder, ich fühlte mich von der Last befreit und kletterte
aus dem Graben. Eine recht stämmige Sanitäterin hatte auf mir
gesessen. Nun stand sie vor mir und entschuldigte sich schüchtern; sie sagte, wir seien alle Menschen und jeder wolle am
Leben bleiben. Dem konnte ich nur beipflichten. Die Geschehnisse dieses Tages sind in meinem Kopf durcheinandergeraten.
Ich schlief ein, dann wurde geschossen, ich kletterte in den
Deckungsgraben. Schlief dann wieder ein. Ich weiß noch, wie
man mich mit irgendwelchen Leuten losschickte – einem Mann
und einer Frau –, wie wir auf eine freie Fläche kamen, wie ich
mit ihnen an einer Umzäunung stand, ihre Papiere überprüfte
und pedantisch wie ein Provinzuntersuchungsführer herauszubekommen suchte, woher sie kamen und wieso es sie hierher
verschlagen hatte. Währenddessen aber flogen wieder Flugzeuge über uns hinweg. Um uns warf sich alles auf die Erde
oder lief in den Wald. Ich hätte es am liebsten genauso gemacht, aber es war mir peinlich. So blieb ich stehen und verhörte die beiden – den Mann und die Frau – weiter, die durch
mein Verhör mehr erschreckt waren als durch die MGFeuerstöße aus der Luft.
Ganz in unserer Nähe, unmittelbar am Zaun, schlugen klatschend Geschosse ein, aber sie trafen uns nicht, alles ging gut
ab. Dann erinnere ich mich noch, daß ein Major mit verbundenem Hals – irgendein Kommandeur hatte ihn irrtümlich für
einen Diversanten gehalten und auf ihn geschossen – aufgeregt
und beleidigt herumbrüllte, aber das beeindruckte niemanden.
Ich ging zum Waldrand, wo der Waldweg auf die Minsker
Chaussee stieß. Auf einmal sprang fünf Schritte vor mir ein
Soldat mit irren, fast aus den Höhlen quellenden Augen, ein
Gewehr in der Hand, auf die Straße und kreischte mit gepreßter, stockender Stimme: „Haut ab! Die Deutschen haben uns
umzingelt. Wir sind verloren!“ Einer der Kommandeure, die in
meiner Nähe standen, schrie: „Leg ihn um, diesen Panikmacher!“, riß seinen Revolver heraus und drückte ab.
Auch ich hatte den Nagant gezogen, den ich vor einer Stunde
bekommen hatte, und auch ich schoß auf den Davonlaufenden.
Heute meine ich, daß dieser Mann wahrscheinlich ein
Wahnsinniger war, dessen Nerven den schrecklichen Prüfungen dieses Tages nicht standgehalten hatten. Damals aber waren mir solche Gedanken nicht gekommen, ich hatte einfach
auf ihn geschossen.
Offenbar hatten wir ihn nicht getroffen, denn er lief weiter.
Ein Hauptmann sprang ihm in den Weg, versuchte ihn aufzuhalten, packte das Gewehr. Nach kurzem Ringen riß der Rotarmist das Gewehr an sich. Ein Schuß ging los. Durch diesen
Schuß noch mehr erschreckt, blickte er sich wie gehetzt nach
allen Seiten um und ging mit dem Bajonett auf den Hauptmann
los. Der riß seinen Nagant heraus und schoß ihn nieder. Wortlos schleppten drei oder vier Mann die Leiche von der Straße.
Wieder tauchten deutsche Flugzeuge über der Chaussee auf,
und wieder warfen sich alle auf die Erde oder sprangen in die
Deckungsgräben.
Des weiteren erinnere ich mich an zwei Männer – einen Regimentskommissar und einen Brigadearzt –, die an die hundertfünfzig Absolventen der Militärmedizinischen Akademie durch
den Wald führten. Ich hatte nicht richtig mitbekommen, ob sie
nun in Minsk ein Praktikum absolviert hatten oder nach Minsk
abkommandiert gewesen waren, jedenfalls marschierten sie
jetzt, nachdem sie durch Bombenangriffe und Fliegerbeschuß
unterwegs schon zwanzig Mann verloren hatten, zurück nach
Orscha. Sie suchten eine Dienststelle, baten, ihnen weiterzuhelfen, aber wer konnte ihnen hier schon helfen und womit?
Man sagte ihnen einfach, sie sollten weitermarschieren. Und
das taten sie auch – sie marschierten.
Dann kam eine Stunde später der Militärjurist zu mir und sagte: „Sie sind doch Schriftsteller? Helfen Sie uns, einen Mann
zu identifizieren. Wenn er nicht lügt, ist er aus Ihrer Branche.
In seiner Angst hat er sämtliche Papiere und das Soldbuch zerrissen, sagt aber, er hätte im Schriftstellerverband in Minsk
gearbeitet. Vielleicht stimmt das wirklich?“
Ich ging zu dem Mann. Er war so stoppelig, schmutzig und
erschöpft, daß man auf den ersten Blick sein Alter nicht erkennen konnte – war er dreißig oder fünfzig. Ich fragte ihn aus.
Dabei stellte sich heraus, daß er Mitarbeiter des Schriftstellerverbandes in Minsk gewesen war, und zwar war er der Mann,
der in Friedenszeiten Eisenbahnfahrkarten besorgte und Hotelzimmer bestellte.
Um ein reines Gewissen zu haben – obwohl ich ihm aufs
Wort glaubte – versuchte ich, ein paar Einzelheiten über Kondrat Krapiwa herauszubekommen: Wann war Kondrat Krapiwa
nach Moskau gefahren? Ich kannte Kondrat Krapiwa nicht persönlich, aber ich wußte noch das Datum, an dem er im Frühjahr
zur Dramatikerkonferenz nach Moskau hatte kommen sollen.
Der Mann beantwortete meine Fragen so präzise, daß ich keine
Zweifel mehr hatte: Er war wirklich der, für den er sich ausgab.
Plötzlich mußte ich an etwas völlig Absurdes und Unsinniges
denken, und zwar an die Besprechung meines Schauspiels „Ein
Bursche aus unserer Stadt“. Erst unlängst war auf einer Konfe-
renz im Schriftstellerklub ein Vortrag darüber gehalten worden,
hatte es Diskussionen gegeben, Streitgespräche. Das alles war
jetzt und hier schier unglaublich.
Da die Identität dieses Mitarbeiters des Schriftstellerverbandes in Minsk geklärt war, ließ man ihn in Ruhe, obwohl er keine Papiere hatte, und beschloß, ihn zu einem noch aufzustellenden Truppenteil zu schicken.
So saß er denn hier bei uns, zuerst mit seinen Bewachern, die
ihn hergebracht hatten, und später einfach so, weil ihn alle
schon vergessen hatten.
Der nächste, mit dem ich mich befassen mußte, war ein neunzehnjähriges Bürschlein – mager, unrasiert, mit spärlich am
Kinn sprießenden Stoppeln, einem feingeschnittenen, aber bösartigen Gesicht, das bald sehr intelligent wirkte, bald wie das
Gesicht eines Irren. Bis zum Schluß war ich mir nicht klar, was
er für einer war. Man hatte ihn von einer Kompanie hergebracht, die im benachbarten Wald lag. Als deutsche Flugzeuge
über das Gehölz hinwegflogen, war er, den Befehl „Tarnen!“
mißachtend, mitten auf die Lichtung gerannt, wo er sich für
alle und jeden deutlich sichtbar aufbaute und mit den Armen
fuchtelte. Weder Anschnauzer noch gutes Zureden halfen. Er
ließ sich nicht davon abbringen. Als man ihn zu uns brachte,
behauptete er mit der Beharrlichkeit eines Wahnsinnigen, er sei
den Deutschen in die Hände gefallen und wir alle wären Deutsche.
Der Militärjurist kam mit ihm zu mir und fragte ihn: „Was ist
der Mann, der vor Ihnen steht, Ihrer Meinung nach? Ist er Bataillonskommissar oder nicht?“
„Nein, das ist ein deutscher Offizier“, antwortete der Bursche.
„Aber er hat doch Dienstgradabzeichen, sehen Sie das denn
nicht? Hier“, der Militärjurist tippte auf meine Rhomben.
„Oder halten Sie das etwa für Schulterstücke?“
„Es sind Schulterstücke“, meinte der Bursche mit der Starrsinnigkeit eines Geisteskranken.
„Wissen Sie, wo Sie sind?“ fragte der Militärjurist. „Bei den
Deutschen. Ihr seid alle Deutsche“, sagte der Bursche. Mehr
war aus ihm nicht herauszubringen.
Auch er wurde an den Waldrand geführt zu mehreren dicht
beieinanderstehenden Bäumen, wo schon die anderen Festgenommenen saßen. Ich selbst hatte den Eindruck, daß dieses
Bürschlein übergeschnappt war.
Gegen fünf Uhr nachmittags gingen der Militärjurist und ich,
warum, weiß ich nicht mehr, zu eben diesem Waldrand. Hundert Schritt von uns entfernt stand ein Lkw und bei diesem
Lkw ein hochgewachsener Kommandeur in Grenzeruniform.
Plötzlich ein Heulen, dann ging das Heulen in ein Pfeifen über.
Alle warfen sich auf die Erde – jeder, wo er gerade stand, nur
der Grenzerkommandeur kroch unter seinen Wagen.
Es kann nur eine kleine Bombe gewesen sein, die Detonation
war nicht sehr heftig, aber der Wagen hatte einen Volltreffer
abbekommen. Als wir uns wieder erhoben, war von dem Wagen nichts weiter übrig als verbogenes Metall und ein quer über
die Lichtung rollendes Rad. Schließlich langte es bei uns an
und kippte um. Ich warf mir den Mantel über die Schultern,
weil mich trotz des warmen Tages vor Hunger und Müdigkeit
fröstelte, und machte mich auf die Suche nach meinem Wagen.
Möglich, daß ihn jemand woandershin gefahren hatte. Vielleicht war auch der Fahrer auf eigene Faust losgefahren, ich
weiß es nicht. Anderthalb Stunden lang suchte ich ihn im ganzen Wald, konnte ihn aber nicht finden. In dem Wagen war
mein Koffer und an diesem festgebunden mein Regenmantel.
Um das alles war es mir nicht leid, leid war es mir nur um die
Pelzweste im Koffer, die ich aus der Mongolei mitgebracht
hatte – dort Transbaikalmaika genannt –, und um die beiden
Pfeifen, die in den Taschen dieser Weste steckten. Tabak hatte
ich in der Hosentasche, aber nun hatte ich keine Pfeifen mehr.
Eigentlich hatte ich mich hauptsächlich ihretwegen auf die Suche nach dem Wagen gemacht. Zurückgekehrt, versuchte ich
aus einem Stück Zeitung eine Zigarette zu drehen, aber es wurde nichts – ich hatte nie selbst gedreht. Am Abend, gegen sieben, sagte der Militärjurist zu mir, er müsse sich nun doch
aufmachen, den Frontstab zu suchen, zu dem er abkommandiert worden war.
„Und wo müssen Sie hin?“ fragte er mich.
Ich antwortete, ich hätte mich bei der Politverwaltung der
Front zu melden.
„Na, dann fahren wir doch zusammen“, schlug er vor. „Da
können Sie mir gleich behilflich sein, die Festgenommenen
nach Orscha zu bringen.“
Ich stimmte zu. Ehrlich gesagt, war mir in diesem Moment
alles egal – ob ich nun bis zum nächsten Morgen hierblieb oder
gleich losfuhr. Ich wollte nur eins – schlafen.
Wir kamen an die Straße. Auf ihr rollten in kurzen Abständen
Lkws, bald beladene, bald leere, von West nach Ost. Wir hielten einen an. Uns angeschlossen hatte sich ein nicht mehr junger und müde wirkender Oberst in Grenzeruniform und ein
Grenzsoldat. Die beiden suchten den Stab der Grenztruppen.
Wir stiegen alle auf den Wagen. Der Oberst setzte sich neben
den Fahrer, während wir anderen, der Militärjurist, ein Bewachungssoldat, der Grenzsoldat, die fünf Festgenommenen und
ich, in den Wagenkasten kletterten.
Zuerst döste ich vor mich hin, doch dann setzten Fliegerangriffe und Beschuß ein, immer wieder mußten wir vom
Wagen herunter, im Straßengraben Deckung suchen, wieder
aufsteigen, wieder runter. Das alles wurde mir langsam unglaublich zuwider. Die Müdigkeit war vergangen. Das Sitzen
auf der rüttelnden Bordwand war unbequem, und so begann ich
den neben mir auf der Bordwand sitzenden Burschen auszufragen, eben jenen, der uns alle als Deutsche bezeichnet hatte. Ich
erinnere mich nicht mehr genau, woher er stammte, aber er
erzählte, seine Mutter wohne auf dem Lande, er sei nach dem
Zehnklassenabschluß zur Armee einberufen worden. Er sprach
verworren, aber ich konnte seinen Worten entnehmen, daß sein
Vater ein verbannter Kulak war. Mal sprach er gehässig, mal
konfus, ganz wie ein echter Geistesgestörter. Meiner Meinung
nach verstellte er sich nicht.
„Na gut, wir lassen dich laufen“, sagte ich. „Was wirst du
dann anfangen? Wirst du gegen die Deutschen kämpfen?“
„Nein, ich fahre nach Hause.“
„Dort wirst du geschnappt und als Deserteur erschossen.“
„Na, wennschon, ich fahre jedenfalls nach Hause“, wiederholte er starrsinnig. „Hier will ich nicht sein. Ich will nach Hause.“
Alle Fragen beantwortete er so grob und gehässig, daß man
glaubte, er werde im nächsten Augenblick über einen herfallen
und zubeißen. Heute noch steht mir sein Gesicht vor Augen,
und ich bin sicher, daß mich mein Gefühl damals nicht trog. Er
war beides zugleich – erbost und anormal.
Sämtliche Telephon- und Telegraphenleitungen zwischen den
Fernsprechmasten zu beiden Seiten der Landstraße waren zerfetzt. Leichen lagen an der Straße. In der Mehrzahl Zivilisten.
Die Bombentrichter gähnten vorwiegend ein Stück neben der
Straße, hinter den Fernsprechmasten. Dort, etwas abseits, waren die Menschen entlanggezogen, und die Deutschen, die das
rasch mitgekriegt hatten, hatten ihre Bomben genau da, ein
wenig neben der Straße, abgeworfen. Die Straße selbst wies
verhältnismäßig selten Trichter auf, die ganze Strecke von Borissow bis zur Abzweigung nach Orscha nur einige wenige.
Wie mir erst später klar wurde, rechneten die Deutschen
wahrscheinlich damit, diesen Abschnitt rasch und ungehindert
zu nehmen, und verschonten deshalb die Straße ganz bewußt.
Entlang der Straße zogen Frauen, Kinder, Greise und Mädchen mit kleinen Bündeln, junge Frauen mit hochgezogenen
Schultern, meist Jüdinnen, ihrer Kleidung nach zu urteilen aus
Westbelorußland, in zerlumpten fremdländischen Mäntelchen,
die sich sehr schnell in staubige Fetzen verwandelt hatten. Es
war schon ein seltsamer Anblick – diese Mäntel, die Bündel in
den Händen und die modernen, zerzausten Frisuren.
Ihnen entgegen zogen, gleichfalls die Straße entlang, von
Osten nach Westen junge Burschen in Zivil. Sie waren unterwegs zu ihren Einberufungsorten, zu den Sammelplätzen ihrer
Truppenteile, waren einberufen worden und wollten rechtzeitig
da sein, damit man sie nicht für Deserteure hielt, obwohl sie
sich überhaupt nicht mehr auskannten, keine Ahnung hatten,
wohin sie gingen. Das Pflichtgefühl, die absolute Ungewißheit
und das Nichtglaubenwollen, daß die Deutschen so nahe sein
könnten, trieben sie vorwärts. Es war dies eine der Tragödien
dieser Tage. Die Menschen wurden von den Deutschen mit
Bordwaffen getötet oder gerieten, sie wußten selbst nicht wie,
in Gefangenschaft.
Als wir wieder einmal bei einem Bombenangriff im Straßengraben lagen, erwähnte der Grenzeroberst unvermittelt, an diesem Tag sei ein Schriftsteller umgekommen. Ich fragte – wo.
„Dort in dem Waldstück, wo wir gelegen haben, es war ein
Schriftsteller von uns, ein Grenzer.“
Er nannte den Namen – Schapowalow, und ich erinnerte mich
eines Bataillonskommissars der Grenztruppen, der uns ab und
an im Schriftstellerklub in Moskau besucht hatte. Der Oberst
berichtete, dieser Grenzerschriftsteller sei bei einem Bombenangriff unter seinen Wagen gekrochen und dort habe es ihn
erwischt. Mir fiel der Wagen und der Grenzer neben ihm ein,
und da wurde mir klar, daß ich Zeuge dieses Todes gewesen
war.
Der Grenzeroberst wirkte bedrückt. Wir lagen da und warteten, bis die Deutschen ihre Bomben abgeworfen hatten, und er
sagte mit müder Stimme zu mir: „Ich habe erfahren, daß alle
meine Männer an der Grenze umgekommen sind. Sie haben bis
zum letzten Mann gekämpft. Ich habe meine Familie dort, in
der Nähe von Grajewo. Meine Frau, zwei Kinder, meine Mutter und meine kleine Schwester. Alle, die mir etwas bedeuten,
sind dort.“
In seinen Worten, in seiner Stimme, in seinen Bewegungen
lag ein so trostloser, hoffnungsloser, stiller Kummer, daß es
schrecklich war, ihn anzuschauen.
Als wir die Abzweigung nach Orscha erreichten und abbogen,
erblickten wir zum erstenmal reguläre Truppen, die dicht an
der Straße, in den nahen Wäldern Stellungen bezogen hatten.
Hier gab es MGs, Geschütze, bewaffnete Männer in Stahlhelmen, Feldküchen, überhaupt war alles so, wie ich es von früher
bei der Armee kannte. Zum erstenmal wurde mir ein wenig
leichter ums Herz.
So gegen neun oder zehn Uhr abends fuhren wir in Orscha
ein. Die Stadt war verlassen, obwohl sich die Gerüchte, sie sei
zerbombt und niedergebrannt, als falsch erwiesen. Ein paar
Bomben waren schon gefallen, im Stadtzentrum waren in einigen Straßen die Fensterscheiben rausgeflogen, alles andere
aber war an diesem Tag noch unversehrt. Die Geschäfte waren
alle geschlossen, Menschen sah ich kaum. Wir fuhren zuerst
zum Bahnhofskommandanten, um herauszukriegen, ob noch
Züge nach Smolensk abgingen, weil wir annahmen, der Stab
der Westfront habe Minsk verlassen und befinde sich jetzt in
Smolensk.
Nach Smolensk ging im Moment kein Zug, und es war unbe-
stimmt, wann einer fahren würde.
Der Militärjurist wurde auf einen älteren Hauptmann aufmerksam gemacht, der auf dem Bahnsteig auf und ab ging. Es
war ein hochgewachsener, sorgfältig gekleideter Mann mit
gelben Ledergamaschen. Dieser Hauptmann sollte sich schon
den zweiten Tag hier herumtreiben und immer wieder Gespräche mit zivilen Fahrgästen anknüpfen. Zuerst ging der Militärjurist ein paarmal an dem Hauptmann vorbei, anscheinend in
der Absicht, ihn festzunehmen, doch dann wurde ihm wohl
klar, daß, nähme er diesen Mann jetzt fest, er mit ihm nur
zweierlei anfangen konnte: entweder erschießen oder laufen
lassen. Eine dritte Möglichkeit gab es nicht. Schließlich pfiff er
auf die Geschichte und ließ den Hauptmann Hauptmann sein.
Ich beobachtete den weiterhin auf dem Bahnsteig auf und ab
gehenden Hauptmann genauer und kam zu dem Schluß, daß
man ihn im Grunde nicht verdächtigen konnte, nur weil er, ein
älterer, vom Durcheinander dieser Tage gepeinigter und betäubter, eben erst aus der Reserve einberufener Kommandeur,
hier steckengeblieben war und auf einen Zug wartete und wie
wir auch nichts Näheres wußte. Wir streiften auf dem Bahnhof
umher. Jemand sagte, in Kürze ginge ein Zug nach Witebsk.
Dorthin zu fahren wäre jedoch sinnlos gewesen.
Auf dem Bahnhof standen dicht gedrängt Transportzüge mit
allen möglichen Leuten. Viele Militärangehörige darunter, aber
noch mehr Flüchtlinge. Und niemand wußte etwas Genaues.
Alles drängelte, hastete, erkundigte sich ungeduldig nach Abfahrtszeit und Ziel irgendwelcher Züge. Einige aber hatten sich
wohl bereits mit ihrem Los abgefunden und saßen wie abwesend auf den Bänken, darauf wartend, daß jemand sie aufläse
und wegbrächte.
Der Grenzeroberst hatte sich von uns getrennt. Der Stab der
Grenztruppen sollte sich in Witebsk befinden, und er versuchte
festzustellen, ob der Zug nach Witebsk noch da sei oder nicht.
Der Militärjurist und ich aber machten uns auf zum Stadtkommandanten. Unterwegs stießen wir in der Nähe des Bahnhofs
auf ein Verpflegungslager. Ein bärtiger Mann holte für uns aus
dem Dunkeln zwei Laibe Brot, eine Büchse Sprotten und ein
paar Päckchen Zigaretten. Nach der Routine zu urteilen, mit
der er dies tat, machte er den ganzen Tag nichts anderes – gab
an jeden Vorbeikommenden nach und nach alles aus, was er
hatte.
Wir aßen erst einmal selbst etwas und gaben, noch einmal
umgekehrt, auch den Festgenommenen davon. Ich sagte mir,
daß man diesen verrückten Burschen, den wir mitgebracht hatten, bestimmt erschießen werde, und mich überkam ein merkwürdiges Gefühl, als ich sah, mit welcher Gier er das Brot verschlang und wie er sich beinahe mit einem anderen Festgenommenen geprügelt hätte, weil der ein Päckchen Papirossy
nicht mit ihm teilen wollte.
Nachdem wir die Lebensmittel an die Festgenommenen verteilt hatten, suchten wir endlich den Stadtkommandanten auf.
Die Kommandantur war im Keller einer Schule untergebracht.
Dort standen einige Telephonapparate, davor saßen Militärdispatcher und zwei Majore der Eisenbahntruppen. Der Keller
war erfüllt von heiserem Gebrüll in Telephonmuscheln.
Schließlich erwischten wir einen der beiden Majore, und wir
erkundigten uns bei ihm, ob noch ein Zug nach Smolensk ginge.
„Gleich, einen Augenblick“, antwortete er und eilte zum Telephon, an das man ihn rief. Er lauschte aufmerksam in den
Hörer, und sein Gesicht verzerrte sich zunehmend. Dann ertönte ein ellenlanger Fluch. „Es wird kein Zug fahren“, sagte er
uns, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. „Es wird keiner
mehr fahren. Eben ist mir gemeldet worden, daß die Deutschen
auf der Strecke nach Smolensk einen Munitionszug zerbombt
haben. Beide Gleise sind blockiert. Die Wagen explodieren.
Das ist sechsundzwanzig Kilometer von hier. Nach Smolensk
gibt’s keinen Zug mehr.“
Wir erkundigten uns beim Kommandanten, was wir mit den
Festgenommenen anfangen sollten. Er wußte es nicht. In der
Stadt gab es keine einzige Dienststelle mehr, die sich damit
hätte befassen können.
Der Militärjurist und ich gingen nach draußen. Inzwischen
war es völlig dunkel geworden. Auf der Straße marschierte
unter dem Kommando eines Leutnants eine Gruppe von etwa
fünfzig Soldaten, die von ihren Truppenteilen abgesprengt
worden waren. Wir hielten den Leutnant an und erfuhren, daß
er die Männer zum Standort irgendeines Truppenteils bringe.
Da wir keinen anderen Ausweg mehr sahen und auch nicht
mehr nach einem suchten, nahmen wir vier der fünf Festgenommenen – alle bis auf den verrückten Burschen – und
schlossen sie nach einer Unterredung mit dem Leutnant dieser
Marschkolonne an. Jetzt würden sie zu einem Truppenteil
kommen und dort Waffen erhalten.
Damals schwankten wir. Heute aber meine ich, daß dies der
beste Ausweg war. Sie waren ja nur Menschen, die den Kopf
verloren hatten, waren keine Verbrecher. Sie mußten nur zu
einem Truppenteil kommen und ein Gewehr in die Hand kriegen – mehr brauchten sie nicht. Wenig später war die Marschkolonne verschwunden. Für den Verrückten aber schrieben wir
einen Begleitschein. Wir konnten den Kommandanten doch
dazu bewegen, ihn zu übernehmen, in einen der Kellerräume
zu sperren und einen Posten davorzustellen bis zur Klärung der
Frage, ob sich in Orscha nicht doch noch ein Kriegsgericht,
eine Dienststelle des NKWD oder so was Ähnliches befand.
Während unseres Aufenthalts in der Kommandantur meldeten
sich beim Kommandanten drei Bürschlein von fünfzehn oder
sechzehn Jahren, Schüler einer Spezialschule der Luftstreitkräfte. Sie baten um Auskunft, ob sich ihre Spezialschule noch
am alten Ort befand. Schon am Vorabend hatte ich in Borissow
gehört, in dieser Gegend werde gegen die Deutschen gekämpft.
Der Kommandant sagte den Burschen, sie könnten sich zu ihrer Spezialschule aufmachen, weil dort zweifelsfrei unsere
Truppen stünden. Ich äußerte mich dazu nicht, doch als die
Jungen gehen wollten, rief ich sie zu mir und fragte, woher sie
kämen und wie sie hierher geraten seien. Es stellte sich heraus,
daß sie von ihrer Schule nach Moskau unterwegs gewesen waren, wohl um irgendeine Parade vorzubereiten, und nun wußten
sie nicht ein noch aus. Sie hatten weder Dienstaufträge noch
Geld, noch sonst etwas.
Gewiß hatten sie lange nichts mehr zu essen bekommen. Ihre
Gesichter waren abgemagert, Verzweiflung sprach aus ihren
Augen. Mager und unglücklich wie junge Dohlen standen sie
in ihren adretten Mäntelchen da. Sie taten uns so leid, daß uns
fast die Tränen kamen. Ohne mich auf Einzelheiten einzulassen, sagte ich ihnen, es hätte jetzt keinen Sinn, die Schule zu
suchen, sie sollten einen Stab ausfindig machen und als Freiwillige in die Armee eintreten. Einer von ihnen erzählte mir
voller Freude, er kenne sich mit dem Baudot-Apparat gut aus
und könne als Militärtelegraphist arbeiten.
Auf meinen Rat hin sollten sie versuchen, den Zug nach Witebsk zu kriegen, weil es in Witebsk mit Sicherheit einen Stab
gab. Ich hatte unendliches Mitleid mit ihnen. Ich befürchtete,
die drei Jungen könnten losziehen und auf der Suche nach ihrer
Schule für nichts und wieder nichts den Deutschen in die Arme
laufen.
Dann fiel mir ein, sie hatten ja kein Geld und konnten sich
nichts zu essen kaufen, bevor sie nicht in Witebsk und bei ir-
gendeinem Truppenteil gelandet waren. Ich fragte sie, wieviel
Geld sie hätten. Alles in allem hatten sie sechzehn Rubel, und
so gab ich ihnen die Hälfte meiner Barschaft. Zuerst waren die
Kinder zu stolz, das Geld anzunehmen, doch als ich es ihnen
befahl, nahmen sie es, sagten, sie würden es mir eines Tages
bestimmt zurückgeben, und wollten deshalb meinen Namen
wissen. Ich nannte ihn und fügte scherzhaft hinzu, nach dem
Krieg könnten sie ja ins Haus der Schriftsteller nach Moskau
kommen und dort nach mir fragen.
Es stellte sich heraus, daß die Jungen Gedichte von mir gelesen hatten, und so entspann sich zwischen uns in diesem menschenleeren, verwüsteten Orscha eine ungewöhnliche fünfminütige Unterhaltung über Gedichte. Die Jungen freuten sich
wohl darüber, daß ich Schriftsteller war. Vielleicht beruhigte
sie auch die Erkenntnis, daß Orscha so tief im Hinterland lag,
daß sich sogar ein Schriftsteller dort aufhielt. Ich weiß nicht, ob
es zutrifft, aber als ich mich von ihnen verabschiedete, hatten
sie ein wenig Mut gefaßt.
Sie gingen, und ich schaute ihnen nach. Weiß Gott, warum
mir so traurig zumute war. Ich hatte das Gefühl, diese Jungen
gingen mit Sicherheit in den Tod.
In der Nacht langten wir wieder auf dem Bahnhof an. Um die
Zeit hieß es, es werde vielleicht ein Zug nach Mogiljow gehen.
Nirgends brannte Licht. Die Abfahrt der Züge wurde streng
geheimgehalten, keiner wußte etwas Genaues. Schließlich flüsterte uns jemand ins Ohr, irgendwo hinter dem Wasserkran
stünde ein Zug, möglicherweise der nach Mogiljow.
Mittlerweile war unsere Gruppe auf zehn Kommandeure angewachsen. Dienstgradhöchster war ein hochgewachsener Artillerieoberst mit einem Rotbannerorden. Wir gingen die Gleise
entlang, vorbei an Lokomotiven und endlosen Zügen. Über die
Gleise irrten Menschen -Militärangehörige und Flüchtlinge.
Sobald sie unsere Gruppe erblickten, stürmten sie auf uns zu,
fragten, wohin wir wollten und mit welchem Zug wir fahren
würden. Da wir das selber noch nicht wußten, antworteten wir
nicht.
Dann setzte Fliegeralarm ein. Alle Lokomotiven auf den Gleisen heulten los. Den ganzen Tag über waren wir bombardiert
worden, aber das war nicht so schrecklich gewesen wie jetzt
das Heulen der weißen Dampf ausstoßenden Lokomotiven um
uns herum. Dieses Heulen war entsetzlich, beklemmend, nicht
enden wollend. Es währte ein paar Minuten, uns aber kam es
vor wie eine Stunde. Schließlich erreichten wir eine Böschung,
an der Kohlenhaufen aufgeschüttet waren, und legten uns dort
nebeneinander hin, um die Lage zu erörtern. Nach kurzer Beratung wurde beschlossen, den Zug nach Mogiljow um jeden
Preis ausfindig zu machen. Die meisten waren der Meinung,
dort müsse sich wenn schon nicht der Frontstab, so doch zumindest ein Armeestab befinden.
Die Kommandeure waren mißmutig und niedergeschlagen,
weil irgendwo gekämpft wurde, weil ihre Einheiten im Kampf
standen, sie, die aus dem Urlaub zurückkehrten, aber nicht
dorthin gelangen konnten und auch nicht die leiseste Ahnung
hatten, wie dies zu bewerkstelligen sei. Um zum eigenen Truppenteil zu gelangen, mußten wir zunächst einen Stab ausfindig
machen – den Front- oder Armeestab. Darüber waren wir uns
einig.
Besonders erregt war der Artillerieoberst. Er war unterwegs
zu einem neuen Einsatzort – war Artilleriekommandeur einer
Division. Wie mir schien, war er ein tüchtiger und energischer
Kommandeur, und die Untätigkeit und der Umstand, daß er
sich keinen Rat wußte, waren ihm unerträglich.
Nachdem wir etwa eine Stunde gewartet hatten, machten wir
uns entlang den Schienen wieder auf die Suche nach dem Zug
Richtung Mogiljow. Schließlich wies uns ein Weichensteller
auf Wagen hin, die in ziemlicher Entfernung standen, und sagte, die würden in einiger Zeit nach Mogiljow abgehen. Wir
waren außerstande, noch länger herumzuziehen, sagten uns,
komme, was da wolle, und kletterten auf diesen Zug.
Auf Flachwagen standen zwei werkneue Autobusse. Wir kletterten in einen dieser Busse. Ich setzte mich auf den kühlen
Sitz, lehnte den Kopf an die Scheibe und war im nächsten Augenblick eingeschlafen.
Nie werde ich meine erste Empfindung am nächsten Morgen
vergessen; ich öffnete die Augen und merkte, daß ich in einem
Autobus fuhr und auf den anderen Sitzen in diesem Autobus
Militärangehörige saßen. Zu beiden Seiten flog eine grüne
Ebene an uns vorüber. In den ersten Sekunden, noch im Halbschlaf, war mir wirklich so, als brauste ich über eine Landstraße. Erst später, als ich mich an die Geschehnisse dieser Nacht
erinnerte, wurde mir klar, daß unser Zug rollte. Acht Uhr morgens. Es war schon hell. Klares, frisches Wetter nach einem
Regen. Hinter mir sagte einer, wir näherten uns Mogiljow…
So endeten für mich die ersten zwischen Borissow und Mogiljow verbrachten achtundvierzig Stunden in dem Durcheinander
des Überraschenden, Unerwarteten und Unverständlichen, das
über viele Tausende Menschen, darunter auch über mich, hereingebrochen war. Wie schon im Vorwort erwähnt, vermochte
ich manches meiner Kriegserlebnisse erst später richtig zu analysieren, erst jetzt, da ich die Tagebücher zum Druck vorbereite
und zur Präzisierung mancher Fakten dieser Zeit und einiger
meiner damaligen Urteile in meinem Archiv stöbere.
Die erste Präzisierung bezieht sich auf jene Tagebuchstelle,
wo von deutschen Luftlandetruppen die Rede ist und davon,
daß die Deutschen bereits am 26. Juni Minsk umgangen und
die Eisenbahnstrecke zwischen Minsk und Borissow erreicht
hätten.
Nach dem „Kriegstagebuch der Westfront“ haben die Deutschen erst am 28. Juni mit ihren motorisierten Truppenteilen
die Fernverkehrsstraße Minsk-Moskau erreicht. Das muß auf
hinterherhinkenden Meldungen beruhen; auf einer der von uns
später erbeuteten Karten des deutschen Generalstabs war eingetragen, daß die 7. Panzerdivision der Deutschen bereits gegen Abend des 27. Juni die Minsker Chaussee in der Gegend
von Smolewitschi, auf halbem Wege zwischen Minsk und Borissow, abgeschnitten hatte.
Die von mir im Tagebuch erwähnten Gerüchte waren dem
wirklichen Lauf der Dinge um einen Tag vorausgeeilt, und als
wir am 26. Juni aus Borissow in Richtung Minsk losgefahren
waren, um aufzutanken, war unsere Befürchtung, wir könnten
bei den Deutschen landen, nicht gerechtfertigt gewesen.
Mit einem eigenartigen Gefühl betrachtete ich in unserem Militärarchiv die 1945 in Zossen bei Berlin erbeuteten Karten des
deutschen Generalstabs. Sah die mit sicherer Hand gezogenen
und sich immer tiefer in unser Land einschneidenden Pfeile
und stellte mir vor, wie die deutschen Generalstäbler, damals,
im Juni 1941, auf Grund der ersten triumphalen Berichte von
der Ostfront die Lage in diese Berichtskarten eingetragen hatten.
Ich hatte Gelegenheit, in der Volksrepublik Polen die Gegend
aufzusuchen, wo sich die sogenannte Wolfsschanze befand –
die Höhle des Wolfes, Hitlers Hauptquartier mit Beginn des
Krieges im Juni 1941. In einem dichten, feuchten Wald lagen
zyklopische, durch Sprengungen übereinandergetürmte und
umgekippte, mehrere Meter dicke Betonplatten. Die Deutschen
hatten dies alles im Herbst 1944 vor unserem Einmarsch in
Ostpreußen in die Luft gejagt. Und von diesem Ort aus hatte
Hitler anfangs des Krieges den Ostfeldzug geleitet. Hier war
es, wo man damals diese Karten mit dem neuesten und, wie es
scheinen mochte, günstigen Bild der entstandenen Lage vor
ihm auf dem Tisch ausbreitete. Nun wurden mir die gleichen
Karten von einem sanften Mädchen gebracht, das als Archivar
in der nahe Moskau gelegenen Stadt Podolsk arbeitete, an die
die Deutschen Ende 1941 sozusagen auf Steinwurfweite herangekommen waren… Der von mir im Tagebuch gebrachte Bericht über die aus der Kanzel eines unserer Jagdflugzeuge herausgeholte halbverkohlte Leiche eines deutschen Fliegers erscheint mir in heutiger Sicht wenig glaubhaft, obwohl man
Meldungen über ähnliche Fälle in Archivdokumenten jener
Zeit findet, so zum Beispiel in einem Befehl des Stabschefs der
21. Armee vom 13. Juli 1941: „Der Gegner setzt unsere von
ihm erbeuteten Flugzeuge zu Kampfhandlungen gegen unsere
Truppenteile ein, die er im Tiefflug mit Bomben belegt und
unter Feuer nimmt.“ Damals hatte ich geglaubt, die Deutschen
hätten diese Kette unserer I-15 erbeuten und ihre Flieger in
aller Eile an ihnen ausbilden können. Das aber dürfte kaum
zutreffen. Die deutschen Jäger besaßen in jenen Tagen die
Luftherrschaft, und deutsche Flieger mit dem veraltetsten Typ
unserer I-15-Jäger in die Luft zu schicken hätte bedeutet, sie
der völlig realen Gefahr auszusetzen, von den eigenen „Messerschmitts“ abgeschossen zu werden.
Was mir die Leute erzählt hatten, die angeblich den halbverkohlten Leichnam eines deutschen Fliegers aus der Kabine
herausgeholt hatten, entsprach wahrscheinlich ganz einfach
einem inneren Bedürfnis. Sie wollten nicht wahrhaben, daß die
ersten von ihnen an diesem Tag erblickten eigenen Flugzeuge
uns irrtümlich mit ihren Bordwaffen beschossen hatten. Das zu
glauben war unendlich schwer, und so entstand dann eben die
Version von der Leiche des deutschen Fliegers.
Was die Jagdflugzeuge I-15 angeht, galten sie auf Grund ihrer
Daten schon 1939 am Chalchyn-gol als veraltet. Zu Beginn des
Konflikts am Chalchyn-gol wurden von den Japanern viele von
ihnen abgeschossen, und bald wurde ein Sonderbefehl erlassen,
nachdem sie sich nur zusammen mit anderen unserer derzeit
moderneren Jäger in Luftkämpfe einlassen durften.
Als am Chalchyn-gol eine Gruppe unserer Flieger – „Spanier“
– mit den neuen Jagdflugzeugen I-153 eintraf, die zwar die
gleichen Umrisse hatten wie die I-15, aber ein einziehbares
Fahrgestell und eine höhere Geschwindigkeit besaßen, wurden
gleich im ersten Luftkampf mehr als ein Dutzend japanische
Jäger heruntergeholt, die in der Meinung, es mit I-15 zu tun zu
haben, plötzlich auf überraschenden Widerstand stießen.
Man muß sich wirklich tief verneigen vor dem Mut unserer
Flieger, die 1941 ohne Zögern in diesen I-15 den Kampf gegen
die „Messerschmitts“ aufnahmen.
Die von uns 1935 in Dienst gestellten I-15 hatten eine Geschwindigkeit von 367 km/h, die von den Deutschen 1938/39
in Dienst gestellten Me 109 dagegen eine Geschwindigkeit von
540 km/h; die Steigleistung betrug entsprechend 9000 und 11
700 m, die Leistung der Triebwerke 750 und 1050 PS, das
MG-Kaliber 7,62 mm und 20 mm. Bei den anderen Typen unserer Jäger – I-16 und I-153 –, am Chalchyn-gol noch hochmodern, war das Verhältnis der technischen Daten im Vergleich
mit den „Messerschmitts“ im Jahr 1941 nicht so niederschmetternd, aber wir konnten trotzdem noch nicht mithalten; die Differenz in der Steigleistung betrug rund 2000 m und in der Geschwindigkeit rund 100 km/h. Und doch stellten alle diese Maschinen – die einen mehr, die anderen weniger veraltet – bei
Kriegsbeginn unglücklicherweise den überwiegenden Teil unserer Jagdfliegerkräfte dar. Nun aber einige das Tagebuch ergänzenden Seiten über zwei Männer, denen ich in den ersten
Kriegstagen begegnete – Oberst A. I. Lisjukow und Korps-
kommissar I. S. Sussaikow.
Aus Archivdokumenten erfuhr ich, daß Oberst Lisjukow,
mein Reisegefährte, den ich mit eigenen Augen bei Borissow
hatte Ordnung schaffen sehen, dort noch zwölf Tage im Kampf
gestanden hat – bis zum 8. Juli 1941. Über seine Tat berichtet
wohl am genauesten ein Auszug aus der Auszeichnungsurkunde. „Name – Lisjukow, Alexander Iljitsch Dienstgrad – Oberst
Geburtsjahr – 1900
Kurze Beschreibung der Heldentat: Vom 26. Juni bis 8. Juli
1941 als Stabschef eine Truppengruppierung zur Verteidigung
der Stadt Borissow eingesetzt. Ungeachtet dessen, daß der Stab
aus den Kommandeuren neu aufgestellt werden mußte, die
beim regellosen Rückzug der Einheiten von Minsk von ihren
Truppenteilen abgesprengt worden waren, offenbarte Genosse
Lisjukow ein Höchstmaß an Energie, Beharrlichkeit und Initiative. Buchstäblich im ununterbrochenen Bombenhagel des Gegners und ohne Führungsmittel sicherte Genosse Lisjukow
durch persönlichen beharrlichen Einsatz die Führung der Truppenteile und legte Mut und Tapferkeit an den Tag. Er ist würdig, zur Auszeichnung mit dem Rotbannerorden vorgeschlagen
zu werden.“
Alexander Iljitsch Lisjukows Wirken wurde damals gebührend gewürdigt. Er war einer unserer ersten Kommandeure, die
zu Kriegsbeginn am westlichen Kriegsschauplatz ausgezeichnet wurden und den Titel „Held der Sowjetunion“ erhielten.
Vor Moskau führte er die 1. motorisierte Schützendivision,
und im Frühjahr 1942 wurde er zum Kommandeur des 2. Panzerkorps ernannt.
In den Tagen, da er anläßlich dieser Ernennung nach Moskau
kam, sah ich ihn zum zweiten- und letztenmal.
In A. I. Lisjukows Kaderakte ist über die Vorkriegszeit eingetragen, daß er im Herbst 1935 ungefähr einen Monat als Mit-
glied einer sowjetischen Militärdelegation bei den Manövern
der französischen Armee in Frankreich weilte. Später führte er
ein Panzerregiment und eine Panzerbrigade, und unmittelbar
vor dem Krieg war er Stellvertreter des Kommandeurs der 36.
Panzerdivision, zu der er offenbar unterwegs war, als wir uns
im Eisenbahnwagen begegneten. Dort, wo ich im Tagebuch
über meine Begegnung mit Sussaikow schreibe, wird neben der
Verständnislosigkeit dem gegenüber, was sich ringsum abspielte, die Hoffnung deutlich, das alles sei nur ein Zufall, das alles
werde jeden Moment, wenn nicht heute, so doch morgen korrigiert. Dieses Gefühl ist mir heute, nach vielen Jahren, gut erklärlich. Der auf unserer Erziehung fußende leidenschaftliche
Glaube, so könne es nicht, ja so dürfe es nicht sein, drängte uns
in den ersten Tagen dazu, nach einfacheren Erklärungen für das
zu suchen, was sich vor unseren Augen abspielte, nach einfacheren als jene, die die Wirklichkeit in sich barg.
Der Korpskommissar Sussaikow, den ich in meiner Naivität
mitten im Wald nach einer Zeitungsredaktion fragte, hatte nicht
wissen können, wo sich der Stab und die Politverwaltung der
Front befanden, die an eben diesem Tag ihren Standort verlegten und von Minsk nach Mogiljow unterwegs waren. Das erfuhr er erst anderntags aus den Befehlen des Frontstabs, die
bereits aus Mogiljow kamen. Im „Kriegstagebuch der Westfront“ ist unter dem 28. Juni der Wortlaut jener Anordnung an
Korpskommissar Sussaikow verzeichnet, laut der ihm als dem
Leiter der Borissower Panzerschule die Verteidigung des Rayons Borissow übertragen wurde.
Bevor Iwan Sacharowitsch Sussaikow Politoffizier wurde,
war er Stabschef eines selbständigen Panzerbataillons der
Moskauer Proletarischen Division gewesen und hatte 1937 mit
dem Dienstgrad eines Hauptmanns die Panzertruppenakademie
absolviert. Der von zwei Panzermännern – Sussaikow und Lis-
jukow – in aller Eile aufgestellten Truppengruppierung und den
Truppenteilen des bei Borissow kämpfenden 44. Korps gelang
es nicht, die Stadt zu halten, aber sie lieferten in den Tagen
nach der Räumung Borissows den Deutschen in dieser Gegend
schwere Kämpfe.
Nach seiner Verwundung bei Borissow kehrte Sussaikow zur
Politarbeit zurück und war bei Kriegsende Generaloberst der
Panzertruppen, Mitglied des Kriegsrates der 2. Ukrainischen
Front und Vorsitzender der Alliierten Kontrollkommission in
Rumänien. Im Tagebuch ist von jenem Gefühl der Erleichterung die Rede, das ich empfand, als ich am 27. Juni unsere
Truppen in Stellungen an der Straße erblickte. Hier muß etwas
hinzugefügt werden, was ich damals nicht wußte: An der Abzweigung nach Orscha sah ich an jenem Tage eine jener Divisionen, die zur Gruppe der auf Beschluß des Hauptquartiers
bereits am 25. Juni aufgestellten Reservearmeen gehörte.
Bis zum 28. Juni sollten diese Truppen den Hinterlandsabschnitt Witebsk-Orscha-Mogiljow vollständig bezogen haben.
Die Aufstellung dieser Reservearmeen resultierte aus der Erkenntnis, zu der man im Hauptquartier bereits gelangt war:
unsere Westfront allein konnte den Vormarsch der Deutschen
nicht zum Stehen bringen. Es galt, Zeit zu gewinnen, ebendeshalb hatte die dort, weiter vorn an der Minsker Chaussee kämpfende Borissower Gruppe Befehl erhalten, die Deutschen solange wie möglich an der Beresina aufzuhalten. Erst fünfundzwanzig Jahre später stieß ich bei der Vorbereitung eines Gedichtbandes für meine gesammelten Werke auf Notizbuchblätter, offenbar des ältesten Notizbuches von denen, die den Krieg
überstanden hatten. Auf einem dieser Blätter fand ich ein unvollendetes Gedicht, das ich völlig vergessen hatte. Ich konnte
mich nicht mehr erinnern, wann und unter welchen Umständen
ich es in aller Eile in das Notizbuch gekritzelt hatte. Eines aber
stand für mich außer Zweifel – das Gedicht war am westlichen
Kriegsschauplatz in den ersten Kriegstagen geschrieben worden, und zwar über diese ersten Tage:
Juni. In der Intendantur. Ungewohnt der lange Mantel.
Die Mutter erstarrt auf der Schwelle. Was ist geschehn?
Doch keine Träne. Was hülfe es auch – es ist Krieg!
„Wann geht dein Zug?“
Und nun weint sie doch.
Belorussischer Bahnhof. Blaue Lämpchen auf den Perrons.
Ein langer Kuß.
„Was sagst du, Liebster?“
weht’s noch ans Ohr…
Trittbretter huschen vorbei,
ungehört bleibt die Antwort.
Aus Umarmungen,
aus Tränen,
aus Nichtgesagtem In die Hölle geworfen, in den Dreck,
ins MG-Geknattcr.
Sand knirscht zwischen den Zähnen.
Des Gefallenen Helm: Nimm ihn!
Und auch sein Gewehr: Nimm es!
Und Bomben.
Den ganzen Tag.
Die ganze Nacht, bis der Morgen graut.
Reglos, rund, lampiongclb
über deinem Kopf – Leuchtkugeln.
Nein, das ist nicht der Krieg, den wir besungen Eher ein Drama, ein tragisches Stück…
Es war der Morgen des 28. Juni. Gegen zehn Uhr vormittags
trafen wir in Mogiljow ein. Der Zug hielt weit vor dem Bahn-
hof. Wir stiegen aus und spürten erst jetzt, wie hungrig wir
waren. Zusammen gingen wir in die Bahnhofsgaststätte, wo an
alle eintreffenden Soldaten kostenlos Suppe und Fleisch ausgegeben wurden. Danach machten wir uns auf den Weg zur Militärkommandantur. Dort, am anderen Ende der Stadt, in der
Nähe der Dneprbrücke, wurden auf einem großen Platz, auf
dem alte Kanonen standen, die etwa zweihundert aus dem Urlaub zurückgekehrten Kommandeure nach Waffengattungen
aufgeteilt. Hier traten die Infanteristen an, dort die Artilleristen,
an einer dritten Stelle die Nachrichtenleute, an einer vierten die
Politoffiziere. Nach der Aufteilung blieben zwei Mann übrig –
der Militärjurist und ich.
Ich begab mich zum Kommandanten der Mogiljower Garnison, einem Oberst. Nachdem wir unsere Papiere vorgewiesen
hatten, sagte er, der Stab der Westfront befinde sich außerhalb
Mogiljows. Wir müßten über die Brücke zurück auf die andere
Seite und links der Landstraße nach Orscha folgen.
Wir gingen über die Brücke und hielten bald darauf einen
„Emka“ an, einen Militär-Pkw, der von einem Nachrichtenoffizier gefahren wurde. Der „Emka“ war vollgepackt mit Granaten und Zündkapseln. Er nahm uns mit, und so gelangten wir,
zwischen den Granaten hin und her geworfen, in einen Wald,
in den frische Fahrspuren führten.
Mittlerweile war es zwei Uhr geworden. Das Wetter war umgeschlagen, es war neblig und regnerisch, naß, feucht und grau.
Nach sechshundert Metern kamen wir an ein Dickicht. Dort
war in hügligem Gelände ein anscheinend gerade hier eingetroffener Stab dabei, sich einzurichten. Hastig gruben Rotarmisten Autobusse und Fahrzeuge in die Erde ein, tarnten sie mit
abgehackten Zweigen. Auf dem Weg standen im Regen der
Divisionskommissar, der einen Regenmantel trug, und neben
ihm einige Politoffiziere. Ich wandte mich an den Divisions-
kommissar, es war der Chef der Politverwaltung Lestjew, und
stellte mich vor. Bei Lestjew waren, wie ich später erfuhr, der
Redakteur der Westfront-Zeitung Ustinow und der Redakteur
der Armeezeitung der 10. Armee Lestschiner. Sogleich entspann sich zwischen den beiden Redakteuren ein halblaut geführtes Gespräch darüber, wo man mich hinstecken solle, weil
hier niemand den Standort der 3. Armee kannte, geschweige
denn den Aufenthaltsort ihrer Zeitungsredaktion, zu der ich
abkommandiert war. Schließlich und endlich wurde entschieden, ich solle einstweilen hierbleiben und bei der Frontzeitung
arbeiten.
Ustinow und ich setzten uns im Regen auf einen Kotflügel des
„Emka“ und aßen Zwieback und Sprotten. Die Büchse Sprotten
in meiner Manteltasche hatte ich ganz vergessen. In diesen
Tagen meinten wir alle, essen sei etwas rein Zufälliges.
Im weiteren Gespräch mit dem Redakteur stellte sich heraus,
daß die Zeitung in Mogiljow gedruckt wurde, daß die heutige
Nummer noch nicht hergebracht worden sei, daß so gut wie
keine Mitarbeiter da seien, sie wären noch nicht eingetroffen,
daß der Redakteur sie in Empfang nehmen werde, ich aber –
bei diesen Worten schob er mir einen Packen Notizen in die
Hand – solle jetzt nach Mogiljow in die Druckerei fahren, diese
Notizen bearbeiten und in Satz geben. Es dunkelte. Ich war
gerade im Begriff loszufahren, als plötzlich mehrere Fahrzeuge, an der Spitze ein langer schwarzer Wagen, aus dem Wald
hervorschossen. Zwei Männer stiegen aus. Das alles spielte
sich ganz in meiner Nähe ab. Lestjew nahm Haltung an und
meldete: „Genosse Marschall…“
Beim näheren Hinsehen erkannte ich Woroschilow und Schaposchnikow. Ich war froh, daß die beiden hier waren. Nun
würde man endlich klarer sehen. Ich machte einen Bogen um
die auf dem Weg stehenden Offiziere, stieg in den Anderthalb-
tonner der Redaktion und fuhr zurück nach Mogiljow.
Überall waren wilde Gerüchte in Umlauf von Diversanten und
Fallschirmjägern, die Autos stoppten, angeblich, um sie zu
kontrollieren. Nervös fragte mich der Fahrer, ob ich eine Waffe
bei mir hätte.
Während der Fahrt wurde es völlig dunkel. Ich zog den Nagant aus der Pistolentasche und legte ihn auf die Knie. Sollte
man unterwegs unsere Papiere kontrollieren oder auch nur fragen, wer wir seien, und dazu unseren Wagen anhalten, würde
ich mit der Linken die Papiere vorweisen und mit der Rechten
den Nagant umklammern. Später wurde mir das zur Gewohnheit.
Als wir in der Druckerei eintrafen, war es Nacht. In der gleichen Druckerei befand sich auch die Redaktion einer Frontzeitung in deutscher Sprache. Von unserer Redaktion trafen wir
nur eine Schreibkraft an und den Expedienten. Ich setzte mich
an das Material, gegen Mitternacht hatte ich alles diktiert und
gab es in Satz. Niemand aß etwas, wir hatten nicht den geringsten Appetit. Gegen zwei Uhr nachts legte ich mich, den Mantel unter den Kopf geschoben, auf den Fußboden schlafen. Der
Unteroffizier vom Dienst weckte mich: „Genosse Bataillonskommissar, Sie werden am Telephon verlangt.“
Noch gar nicht richtig wach, ging ich an den Apparat. Aus
dem Hörer drang es an mein Ohr: „Genosse Simonow?“
„Am Apparat.“
„Hier Kurganow. Ich werde gleich bei Ihnen sein.“ Mir war es
völlig egal, ob jemand zu mir kam oder nicht, ich wollte nur
möglichst schnell weiterschlafen. So ließ ich mich auf keine
lange Unterhaltung ein, sagte dem Anrufer, er möge nur kommen, und legte mich wieder schlafen. Ich wurde wach, als mich
Oskar Esterkin, der seine Zeitungsbeiträge mit Kurganow unterzeichnete, an der Schulter rüttelte. Ich kannte ihn schon lan-
ge, doch bei seinem Anruf war ich nicht daraufgekommen, daß
es eben dieser Kurganow sein könne. Genausowenig war es
ihm in den Sinn gekommen, als er endlich mit der Druckerei
der „Krasnoarmejskaja Prawda“ Verbindung bekommen hatte,
daß es sich bei dem Bataillonskommissar Simonow, den er aus
dem Schlaf reißen ließ, ausgerechnet um mich handelte. Oskar
war noch der gleiche, wie ich ihn von Moskau her kannte, von
der Redaktion der „Prawda“, von Krushkow und von Theaterpremieren. So, als schreibe er noch immer seine Theaterrezensionen. Er trug ein Käppi, ein zerknittertes gestreiftes Ziviljakkett, auf dem Revers den Orden „Ehrenzeichen“, den er für
seine Teilnahme an Polarexpeditionen verliehen bekommen
hatte, zerknautschte Hosen und abgetretene Halbschuhe.
Genau in diesem Aufzug war er am 24. Juni nachts ins brennende Minsk geraten, war von dort zu Fuß bis Mogiljow – immerhin an die zweihundert Kilometer – marschiert und hatte
alles miterlebt, was sich auf den Straßen abspielte. Er hatte
mehr gesehen als ich. Sekretäre des Zentralkomitees der
Kommunistischen Partei Belorußlands, die hierher gekommen
waren und in einem Haus unweit von Mogiljow wohnten, hatten ihn aufgenommen. Von dort aus hatte er angerufen, froh
darüber, eine Zeitung gefunden zu haben.
Zwei Stunden lang unterhielten wir uns, und erst gegen Morgen schliefen wir ein.
Am Morgen wurden wir von Ustinow geweckt, der uns anbot,
mit ihm zum Stab zu fahren. Am Büfett gab es Tulaer Lebkuchen und frisches Mogiljower Bier. Wir tranken Bier und aßen
Lebkuchen dazu. Am Abend des gleichen Tages wurde die
Brauerei beim ersten Bombenangriff auf Mogiljow völlig zerstört.
Beim Stab angekommen, suchten wir die operative Abteilung
und die Abteilung Aufklärung auf, um uns über die Lage zu
informieren. In den Wald, wo der Stab lag, kam man ohne weiteres hinein. War man aber erst einmal drinnen, waren die einzelnen Abteilungen einfach nicht herauszufinden. Die Geheimhaltung hier war völlig unangebracht. All das regelte sich erst
später, als der Stab in Smolensk lag. Hier aber mußte man nach
der gewünschten Abteilung stundenlang umherirren. Die Abteilungen des Stabes lagen im Wald, in Zelten, andere Abteilungen aber hatten einfach auf oder neben Lkws ihr Quartier
aufgeschlagen.
Die ersten Bombenangriffe und der Beschuß der Straßen hatten uns gelehrt, uns gut zu tarnen, und wir tarnten uns in diesen
Tagen flink und geschickt. Man sagte uns, zwei deutsche
Bomber seien abgeschossen und ein Flieger gefangengenommen worden. Wie ich den Berichten entnehmen konnte, war
das der erste in diesem Krieg gefangengenommene Flieger.
Der Flieger wurde erst bei Dunkelheit zum Stab gebracht. Es
war ein Feldwebel, der ein Eisernes Kreuz trug – der erste
Deutsche, den ich seit Kriegsbeginn sah. Ein paar Mitarbeiter
der Politabteilung und ich schlossen uns an, als der Deutsche,
der am Rücken verwundet war, von vier Bewachern hingeführt
wurde.
Wir konnten in der Finsternis die Abteilung Aufklärung einfach nicht finden. Während sich die anderen auf die Suche
nach ihr machten, blieb ich mit einem Politoffizier und den
Bewachern bei dem Deutschen. Sie legten ihn ins Gras. Mit
verbundenen Augen lag er da und stöhnte. Ich wechselte mit
ihm ein paar Worte auf deutsch. Er sagte, er hätte Schmerzen,
ihn friere, und er bat darum, sich aufsetzen zu dürfen. Wir richteten ihn auf.
Dieser erste Deutsche war eine Sensation. Alles umdrängte
ihn. Jemand sagte, der Marschall persönlich habe ihn bereits
verhört. Welcher Marschall, war mir schleierhaft.
Ich hatte meinen Mantel umgehängt und mir unter ihm eine
Zigarette angesteckt. Sie glimmte unter dem Mantel nur
schwach, aber ein vorbeikommender Vorgesetzter ließ ein
Donnerwetter los: „Wer raucht hier?!“
Endlich war die Abteilung Aufklärung gefunden. Der sich vor
Schmerzen krümmende Deutsche wurde in ein kleines Zelt
geführt, wo er im Licht einer Taschenlampe bei dicht bis zur
Erde gezogenen Zeltbahnen, damit nur ja kein Schimmer nach
draußen dringe, gründlich verhört wurde.
Er war der erste Vertreter der Kaste kühner Hitlerjungen, den
ich zu Gesicht bekam, erzogen im Geiste einer auf ihre Weise
aufgefaßten harten Soldatenpflicht und maßlos überheblich.
Und wohl gerade weil er zur absoluten Geringschätzung der
sowjetischen Menschen und im Glauben an einen Blitzsieg
über sie erzogen war, war er völlig fassungslos, daß die ihn
heruntergeholt hatten.
Ansonsten war er ein recht kümmerliches, ungebildetes
Bürschlein, dem man nur das Kriegführen beigebracht hatte
und sonst nichts. Von seiner Erziehung und auch von seiner
Bildung her ein typischer Landsknecht. Das Interessanteste
war, daß er, bei Mogiljow abgeschossen und im Besitz eines
Kompasses, nicht nach Westen gegangen war, sondern nach
Osten. Seiner Aussage konnten wir entnehmen, daß im Plan
der Deutschen vorgesehen war, am sechsten Kriegstag Smolensk einzunehmen. Und er, diesem Plan felsenfest vertrauend,
war in Richtung Smolensk marschiert.
Nachts kehrte ich in die Redaktion zurück. Wieder auf einem
Lkw. Wieder den Nagant auf den Knien. Und auf den Straßen
endlose Kontrollen.
Mogiljow wurde bombardiert. Deutsche und unsere Flugzeuge kreisten über den Häusern. Der Setzer unserer Druckerei,
ein alter Jude, stieg während des Bombenangriffs mehrmals
aufs Dach. Er sagte, eine Bombe würde dieses schwache Dach
mit Sicherheit durchschlagen und erst unten detonieren. Wir
lachten ihn aus, obwohl er gar nicht so unrecht hatte.
Nachmittags, gegen fünf, ein heftiger Luftangriff. Flugzeugmotoren dröhnten. Scheibenklirren, Detonationen. Mir war
schon alles einerlei, ich konnte mich nicht einmal dazu aufraffen, vom Fußboden der Druckerei, wo wir während des Angriffs lagen, aufzustehen und zum Fenster hinauszuschauen.
Dem Lärm nach zu urteilen, flogen die Flugzeuge genau über
unserem Haus.
Die ganze Nacht hockten Kurganow und ich in der Druckerei.
Die anderen Redaktionsmitarbeiter waren verschwunden, sie
nächtigten irgendwo in Zelten. Ich zog es jedoch vor, in der
Druckerei zu übernachten – hier war der Fußboden wenigstens
trocken. Und nach den ersten drei Kriegstagen ließen mich die
Bombardierungen nahezu kalt.
Ich war verzweifelt. Zeitungen und Rundfunk berichteten einerseits von erbitterten Panzerkämpfen, von der Aufgabe kleiner Grenzstädte – Minsk wurde überhaupt nicht erwähnt, lediglich die Einnahme von Kaunas durch den Gegner wurde gemeldet und, wenn ich mich recht erinnere, von Belostok. Andererseits liefen hier, in Mogiljow, bereits Gerüchte um, wonach
bei Bobruisk und Rogatschow gekämpft wurde. Und daß Borissow von den Deutschen genommen worden war, wußte ich
genau. Daraus ergab sich der Schluß, daß dort vorn unsere Armeen kämpften, während zwischen ihnen und uns die Deutschen standen. Wie sich später bestätigte, war es hier, bei der
Westfront, tatsächlich so. Bloß mit dem Unterschied, daß die
meisten unserer Armeen eingekesselt waren und nur Teile von
ihnen aus diesem Kessel ausbrechen konnten. In Mogiljow
sitzend, hatte man dafür jedoch einfach keine Erklärung.
In den Morgenstunden zogen Truppen durch Mogiljow. Viel
Artillerie und Infanterie, doch zu meinem Erstaunen sah ich
keinen einzigen Panzer. Überhaupt sah ich bei der Westfront
bis zum 27. Juli mit eigenen Augen nur einen unserer mittleren
oder schweren Panzer. Leichte hingegen sah ich etliche, insbesondere um den 4. und 5. Juli in der Verteidigungslinie bei
Orscha, von der man damals sprach, als sollte sie ein zweites
Borodino werden.
Verblüffend war, daß in Mogiljow die Friseursalons nach wie
vor geöffnet und im Bewußtsein der Menschen keinerlei Veränderungen vor sich gegangen waren. Ich dagegen war so
durcheinander, daß ich meinte, alle Lebensgewohnheiten der
Menschen, der tagtägliche Kleinkram, müßten gleichfalls gestört sein, durcheinandergeraten, von ihrem alten Platz verdrängt…
Ich unterbreche das Tagebuch, um ein paar Anmerkungen zu
dem darin Gesagten zu machen.
Der Divisionskommissar Dmitri Alexandrowitsch Lestjew,
der Chef der Politverwaltung der Westfront, dem ich im Wald
beim Stab begegnete und der über mein Schicksal entschied,
indem er mir den Befehl erteilte, in der Zeitung der Westfront,
der „Krasnoarmejskaja Prawda“, zu arbeiten, gehörte zu jenen
Männern, deren sich aus der widersprüchlichen Situation des
Krieges die verschiedensten Menschen stets als gerechter, tapferer und aufrechter Männer erinnern und zu deren Charakterisierung als Politoffizier sie oft die Worte gebrauchten: „Er war
ein echter Kommissar.“ Strenggenommen war er dem Dienstgrad nach gar nicht Kommissar, und diese Worte zollten einfach seinen hohen politischen und menschlichen Eigenschaften
Tribut. Lestjew fand im Herbst 1941 in den Kämpfen um Moskau durch einen Bombensplitter den Tod.
Die Gerüchte von Diversanten und Fallschirmjägern, die von
mir gehegten Befürchtungen, als ich vom Frontstab zurückfuhr
nach Mogiljow, waren gar nicht so unbegründet, und meine
Bereitschaft, wenn nötig als erster zu schießen, war in dieser
Situation sicher vernünftig. Hier einige Auszüge aus Dokumenten jener Zeit: „Ein unbekannter Kommandeur stoppte einen
Wagen mit Stabsangehörigen, erklärte, sie seien Spione, und
versuchte, sie zu erschießen…“
„Am 26. Juni 1941 um 23.15 Uhr wurde auf der Straße nach
Borissow ein Auto, das mit Mobilmachungsunterlagen der
Rayonkriegskommissariate Sluzk und Staryje Dorogi unterwegs war, von einer Diversantenbande überfallen. Es gab Tote…“
In einem vom Chef der Abteilung Aufklärung des Stabes der
21. Armee verfaßten Dokument unter der Überschrift „Kurze
Informationen zur Taktik der deutschen Wehrmacht. Aus den
Erfahrungen des Krieges“ wird der erste Versuch unternommen, die gesammelten Erfahrungen zu verallgemeinern:
„Angehörige aus der Luft abgesetzter Diversantengruppen
tragen die Uniform von Kommandeuren der Roten Armee und
des NKWD, und dringen in Stellungen unserer Truppenteile
ein. Ihre Aufgabe ist es, Panik auszulösen und Spionage zu
treiben.“
Das Gesagte wird bestätigt durch deutsche Angaben über die
Kampfhandlungen von Einheiten des „Lehrregiments Brandenburg z. b. V. 800“; so wurde unter anderem die Brücke bei
Daugavpils von Diversanten dieses Regiments erobert, die
Rotarmistenuniform trugen.
Rückblickend auf diese Tage, kann zusammenfassend festgestellt werden: Es gab sowohl das eine wie auch das andere. In
einigen Fällen handelte es sich tatsächlich um deutsche Diversanten, in anderen aber – in der Situation des bedrückenden
Rückzugs und der sich rasch verbreitenden Gerüchte über zahllose deutsche Diversanten – wurden auch eigene Leute festge-
nommen.
Und doch verhielten sich in dem überall gleichen Durcheinander nicht alle Menschen gleich. Mitunter verhielten sie sich
diametral entgegengesetzt.
In einem der Politberichte aus jener Zeit wird der stellvertretende Leiter des Militärlagers Nr. 846, der Bataillonskommissar Faustow, erwähnt. Nach Kriegsausbruch kehrte er aus einem Kurort in das brennende Minsk zurück und fand sein Lager verlassen vor; er scharte aus dem Urlaub kommende
Kommandeure und versprengte Rotarmisten von verschiedenen
Truppenteilen um sich, bewaffnete sie und kämpfte sich mit
der sage und schreibe zweitausendsiebenhundertsiebenundfünfzig Mann starken Gruppe aus dem Kessel heraus.
Das gab es auch.
Ein paar Worte im Zusammenhang mit dem Verhör des deutschen Fliegers, den ich im Tagebuch erwähne. Ich habe keine
dokumentarische Bestätigung gefunden, daß wirklich ein Marschall mit ihm gesprochen hätte. Aber ich entdeckte das Protokoll seines Verhörs in der Abteilung Aufklärung der Front. Es
lohnt sich schon, Auszüge aus diesem Dokument mit dem unmittelbaren Eindruck zu vergleichen, der sich damals bei mir
herausbildete, weil es sich ganz offenbar um den gleichen
Menschen handelt:
„Der vernommene Hartle diente vier Jahre bei der deutschen
Luftwaffe, zuletzt als Bordfunker auf einem Bomber und Fernaufklärer, der am 23. 6. 41 von der Flak bei Slonim auf seinem
ersten Flug über sowjetischem Territorium abgeschossen wurde. Die Flugzeugbesatzung, bestehend aus dem Flugzeugkommandanten Hauptmann Hierschauer, Oberfeldwebel Pott,
Oberfeldwebel Indres, Feldwebel Funke und dem einvernommenen Hartle – insgesamt fünf Mann –, hatte den Auftrag,
Verbindungswege im Hinterland hinter der Frontlinie zu zer-
stören.
Durch Flakfeuer wurde ein Triebwerk des Flugzeugs beim ersten Flug über dem Territorium der UdSSR mit voller Bombenlast stark beschädigt. Ohne den Auftrag auszuführen, warf
das Flugzeug die Bomben über freiem Feld ab und unternahm
eine Notlandung, bei welcher der vernommene Hartle leicht
verletzt wurde… Die Flugzeugbesatzung gehörte einer Staffel
an, die aus Frankreich gekommen war…
Er weiß keine Angaben über Flug- und sonstige Eigenschaften anderer deutscher Flugzeuge zu machen, da er nur auf einer
,He 111’ geflogen ist. Hat an den Kämpfen in Polen, Frankreich und England teilgenommen. Bekam in Frankreich das
Eiserne Kreuz… Auf die Frage nach der politisch-moralischen
Verfassung der deutschen Wehrmacht antwortete er, die Stimmung unter den Soldaten und Offizieren sei gut, kämpferisch…
Seiner Meinung nach würde der Krieg gegen die UdSSR mit
dem vollständigen Sieg Deutschlands enden, der gleichen Meinung seien alle Soldaten der deutschen Wehrmacht. Die Offiziere erläuterten den Soldaten, Deutschland stelle keine Gebietsansprüche an Rußland, und die Deutschen hätten den
Krieg zwischen Deutschland und Rußland mit Überraschung
und sogar mit Bestürzung aufgenommen. Soldaten und Offizieren werde nur gesagt, was in einem Befehl Hitlers stehe: Rußland hätte einhundertsechzig Divisionen gegen Deutschland
konzentriert, um es hinterrücks zu überfallen.
Auf die Frage, wie das deutsche Volk die Sowjetarmee aufnehmen würde, falls diese in einiger Zeit deutsches Territorium
betreten werde, antwortete er, das deutsche Volk werde das
russische Volk willkommen heißen, da ihm aus der Erfahrung
des Krieges in Polen und Frankreich bekannt sei, daß sich nach
der Niederlage dieser Länder die Völker rasch anfreundeten,
auch die Soldaten hielten Freundschaft untereinander. Wenn
Staaten und Regierungen einander bekämpften, so sei dies seiner Meinung nach kein Grund zur Feindschaft zwischen den
Völkern…
Auf die Frage, was ihm über Hitlers Äußerungen über die
Ukraine in seinem Buch ,Mein Kampf’ bekannt sei, antwortete
er, er hätte dieses Buch nicht gelesen…
Das Verhör wurde durchgeführt vom Militärdolmetscher der
Abteilung Aufklärung beim Stab der Westfront, Intendant 2.
Ranges (Unterschrift unleserlich), und Unterleutnant (Unterschrift unleserlich).“
Als ich dieses Protokoll gelesen hatte, machte ich mir Gedanken über die überraschende Frage unserer Aufklärer: Wie wird
das deutsche Volk die Sowjetarmee aufnehmen, falls diese in
einiger Zeit deutsches Territorium betreten sollte?
Auf die Frage, die dem Gefangenen höchstwahrscheinlich absurd vorgekommen ist, hat er einfach irgend etwas dahergelogen. Damals konnte ihm wohl auch schwerlich in den Sinn
kommen, daß die Sowjetarmee in einiger Zeit wirklich deutsches Gebiet betreten könnte!
Es wäre unangebracht, ihn ob seiner Kurzsichtigkeit zu verurteilen. Nicht nur er, auch die damals pro Tag vierzig bis sechzig Kilometer vorrückenden Guderian und Hoth und auch der
mit seinen Vorausabteilungen bereits bis zur Beresina vorgerückte Oberbefehlshaber der 4. Armee von Kluge, der Oberbefehlshaber des Heeres von Brauchitsch und der Chef des Generalstabes des Heeres Halder – was immer einige von ihnen später, nach dem Kriege, auch geschrieben haben mögen –, keiner
von ihnen hätte es damals verständlicherweise für möglich
gehalten, daß diese von ihnen an der Ostfront „total zerschmetterte“ Sowjetarmee jemals deutsches Gebiet betreten könnte.
Von Hitler ganz zu schweigen. Nur eine Woche nach unserem
Gespräch mit dem Kriegsgefangenen bei Mogiljow ver-
schwendete Hitler in einem seiner Geheimgespräche – mit seinem Einverständnis von Bormann aufgezeichnet – keinen Gedanken mehr an Mogiljow und auch nicht an Smolensk, ja
nicht einmal an Moskau – für ihn war Moskau bereits lediglich
eine Durchgangsstation, die als Zentrum der Doktrin vom Erdboden verschwinden müsse. Am vierzehnten Tag des Krieges
meinte Hitler, wenn er jenseits des Urals sage, so meine er damit eine Linie zweihundert bis dreihundert Kilometer östlich
vom Ural… Sie würden diesen Ostraum schon unter Kontrolle
bringen.
Was sollte also diese Frage an den gefangenen Feldwebel?
Beim Lesen des Protokolls fragte ich mich, warum ihm unsere
Aufklärer diese Frage, die ihm absurd vorkommen mußte, gestellt hatten:
Was wird sein, wenn die Sowjetarmee in einiger Zeit deutsches Gebiet betritt?… Was verstanden sie damals, in dieser
Situation, unter „einiger Zeit“? Offenbar glaubten die jungen
Offiziere der Abteilung Aufklärung trotz aller Mißerfolge an
unserer Westfront daran, daß sich die Dinge in einiger, nicht
allzu ferner Zeit zum Besseren wenden würden. Hätten sie
nicht daran geglaubt, sie hätten weder das innere Bedürfnis
gehabt noch die moralische Kraft aufgebracht, diese damals so
seltsam anmutende Frage zu stellen.
Und noch etwas interessierte mich, als ich dieses Dokument
mit meinem Tagebuch verglich: Woher hatte ich im Tagebuch
die Einzelheit, daß der Deutsche, abgeschossen und im Besitz
eines Kompasses, nicht nach Westen, sondern nach Osten gegangen war? Hatte er wirklich gesagt, die Deutschen wollten
Smolensk plangemäß am 28. Juni eingenommen haben? Und
hatte er es gesagt, warum war es nicht ins Vernehmungsprotokoll aufgenommen worden? Jetzt, im nachhinein, vermute ich,
er hat das wohl kaum gesagt. Es war einfach eine Tatsache:
Von der Absturzstelle war der Deutsche nach dem Kompaß
etliche Tage nicht nach Westen, sondern nach Osten gegangen.
Offenbar hatte in der Diskussion dieser Tatsache nach dem
Verhör einer von uns die Vermutung geäußert, der Flieger sei
nach Osten gegangen, weil die Deutschen laut Plan Smolensk
bereits genommen haben mußten.
In jenen Tagen, nach den ersten unvermuteten Mißerfolgen
zutiefst erschüttert, hätten wir gar zu gern geglaubt, daß die
Deutschen trotz ihres hohen Vormarschtempos mit noch mehr
gerechnet hatten und daß doch nicht alles so gelaufen war, wie
sie es geplant hatten.
Und dieser Glaube begann sich schon bald zu bewahrheiten –
mit fortschreitender Zeit stießen die Deutschen immer häufiger
auf einen von ihnen in dieser Stärke nicht eingeplanten Widerstand, der ihre Pläne immer stärker korrigierte.
In jenen Tagen aber, von denen im Tagebuch die Rede ist,
hatten die Deutschen gerade im Bereich der Westfront, wo sie
ihre stärksten Kräfte konzentriert hatten und ihren Hauptstoß
vortrugen, die größten Erfolge zu verzeichnen. Und unsere
Militärs, das muß zu ihrer Ehre gesagt werden, hatten eines
begriffen: Wollte man reale Pläne für die weiteren Kampfhandlungen aufstellen, mußte – so bitter sich das auch anhören
mochte – das Ausmaß des Geschehens im Bereich der Westfront nüchtern eingeschätzt werden.
Im „Kriegstagebuch der Westfront“ sind jene Schlußfolgerungen festgehalten, die der Frontstab auf Grund der ersten
zehn Kampftage zog.
Das von Generalleutnant G. K. Malandin unterzeichnete Dokument hat folgenden Wortlaut:
„Nach neuntägigen hartnäckigen Kämpfen ist es dem Gegner
gelungen, dreihundertfünfzig bis vierhundert Kilometer tief in
unser Territorium einzubrechen und bis zur Beresina vorzu-
dringen. Die wichtigsten und besten Truppen der Westfront
erlitten schwere Verluste an Menschen und Material und wurden im Raum Grodno-Gainowka – ehemalige Staatsgrenze
eingeschlossen…
Kennzeichnend für die deutschen Vorstöße war der blitzschnelle Vormarsch, ohne auf die eigenen Flanken- und das
rückwärtige Gebiet zu achten. Die Panzer- und motorisierten
Verbände marschierten, solange der Treibstoff reichte.
Die unmittelbare Einschließung unserer Truppenteile wurde
vom Gegner mit verhältnismäßig schwachen Kräften vorgenommen, die von den Hauptkräften abgeteilt wurden, welche
den Vorstoß in den Richtungen Alytus-Vilnius-Minsk und
Brest-Sluzk-Bobruisk vortrugen.
Hervorzuheben sind des weiteren die aktiven und erbitterten
Kampfhandlungen der Luftwaffe sowie kleiner Luftlandetrupps
gegen das tiefe Hinterland und gegen die Verbindungswege mit
dem Ziel, Führung und Versorgung unserer Truppen zu lähmen… In den Hauptstoßrichtungen hatte der Gegner fast sämtliche verfügbaren Kräfte konzentriert und beschränkte sich in
den anderen Richtungen auf unbedeutende Truppenteile, beziehungsweise hatte er dort überhaupt keine Kräfte stehen und
betrieb lediglich Aufklärung,“ Ich habe nur ein Dokument angeführt, aber die Entschlossenheit, die Wahrheit unverblümt zu
sagen, zieht sich durch eine Vielzahl von Dokumenten jener
Zeit auf Divisions-, Korps- und Armeeebene. Zur Ehre jener
Männer sei gesagt, daß die Sorge um das Schicksal ihres Landes Vorrang hatte vor allen weniger wichtigen Erwägungen.
Die Geschichte, genauer gesagt, die Menschen, die diese Geschichte machten, nahmen bald darauf am weiteren Verlauf des
Krieges zahlreiche Korrekturen zu unseren Gunsten vor. Völlig
unerwartet für die Deutschen, schlugen sich in den folgenden
Wochen und Monaten Zehntausende von Soldaten mit der
Waffe in der Hand aus sämtlichen Kesseln heraus oder sickerten in kleinen Gruppen durch, die bereits als gefallen gegolten
hatten, und manch einem von ihnen war es später noch beschieden, Königsberg und auch Berlin zu nehmen. Weitere
Zehntausende wiederum gerieten gleichfalls nicht in deutsche
Gefangenschaft, sondern kämpften drei Jahre in Partisaneneinheiten Belorußlands und sprachen 1944 ihr letztes Wort, als sie
zur Zerschlagung eben jener deutschen Heeresgruppe Mitte,
die im Juni 1941 Minsk und Bobruisk genommen hatte, in den
Kesseln von Minsk beitrugen.
Würdigt man diese von der Geschichte vorgenommenen Korrekturen, so kann man nur stolz sein auf die Tapferkeit seiner
Landsleute. 1938, drei Jahre vor dem Krieg, schrieb ich das
Gedicht „Regimentskameraden“, das mit folgenden Zeilen endet:
Du und ich,
verwundet vor Königsberg im Morgenrot,
ein Monat Leben gestundet,
dann wieder in Kampf und Tod.
Wir sind für immer verbunden
durch des Angriffs heilige Wut,
zum eisernen Knoten gewunden
in der Kämpfe feuriger Glut.
Schließlich und endlich ist es dann auch so gekommen. Doch
im Juni 1941 nahm die Entfernung zu dem im Gedicht genannten Königsberg vorläufig mit jedem Tag zu. Die in meinem
Kriegstagebuch widergespiegelte Realität war ungleich härter
als meine poetischen Vorkriegsprognosen.
Unsere Zeitung arbeitete, ohne daß die Verteilung organisiert
war. An eine Feldpost, eine regelmäßige Expedition der Zeitungen war nicht zu denken. Vierzigtausend Exemplare wurden
gedruckt, und diese wurden auf eigenen Zwei- oder Dreiton-
nern vertrieben. So gelangten sie zu einer, zu zwei oder auch
zu drei Divisionen. Davon aber, die Zeitung an die ganze Front
zu versenden, konnte in jenen Tagen keine Rede sein.
Ich erklärte mich bereit, mit einem Lkw voller Zeitungen in
die Gegend von Bobruisk zu fahren, wo wir sie unter den uns
entgegenkommenden Truppenteilen verteilen sollten. Außer
mir waren noch dabei ein Rotarmist als Fahrer und der Unterpolitleiter Kotow, ein baumlanger, einem Kosaken gleichender
Bursche mit einer blauen Kavalleriemütze auf dem Kopf und
knirschendem Koppelzeug. Mich nannte er streng dienstlich
„Genosse Bataillonskommissar“ und bestand darauf, daß ich in
der Fahrerkabine fuhr.
Kaum hatten wir Mogiljow in Richtung Bobruisk verlassen,
sahen wir, daß im ganzen Umkreis Stellungen ausgehoben
wurden. Das gleiche sah ich später täglich den ganzen Juli hindurch. Bis heute kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, die
Umgebung von Mogiljow und Smolensk sei völlig von Schützenlöchern und Panzergräben zerwühlt. Das trifft sicherlich zu,
denn damals ist überall gegraben worden. Wir stellten uns den
Krieg immer noch als eine durchgehende Linie vor, als eine
gerade Front. In der Folgezeit jedoch verteidigten wir diese
gegen die Deutschen ausgehobenen Hindernisse allzuoft nicht.
Dort aber, wo wir sie verteidigen wollten, machten die Deutschen in der Regel einen Bogen um uns.
Überall rings um Mogiljow wurde geschanzt. Das war ein bedrückendes Gefühl. Obwohl ja Zeit genug gewesen war, sich
auf alles gefaßt zu machen.
Nach dem vierzigsten oder fünfzigsten Kilometer etwa kamen
uns bald einzeln, bald zu zweit schmutzige, zerlumpte Männer
entgegen, die kaum noch Soldaten ähnelten – sie kamen aus
dem Kessel. Lange Zeit begegneten wir keinerlei Truppen. Nur
am Wald stand eine NKWD-Abteilung. Auf der Straße fuchtel-
te ein Oberst mit den Armen und erteilte Anweisungen, aber
das brachte auch nichts Rechtes ein.
Wir verteilten unsere Zeitungen. Wir hatten so an die 10000
Exemplare im Wagenkasten. Wir verteilten sie an alle bewaffneten Männer, denen wir begegneten – ob nun einzeln oder in
Gruppen –, weil wir nicht genau wußten, ob wir weiter vorn
noch auf reguläre Truppen stoßen würden.
Zwanzig Kilometer vor Bobruisk sahen wir einen Stabswagen
von der Straße nach links abbiegen. Mit diesem Fahrzeug war
der Adjutant des Stabschefs eines Korps unterwegs, dessen
Nummer ich vergessen habe. Wir baten, uns ihm anschließen
zu dürfen, um in seinem Korps Zeitungen zu verteilen, doch er
antwortete, sein Korps befinde sich auf dem Marsch und er
wisse selber nicht, wo es jetzt sei, wäre selber auf der Suche
nach seinen Vorgesetzten. Auf seine Bitte hin packten wir die
Hälfte unserer Zeitungen in seinen Wagen.
Mehrmals überflogen deutsche Flugzeuge im Tiefflug die
Straße. Gleich einer geschlossenen Mauer stand der Wald zu
beiden Seiten. Die Flugzeuge kamen so schnell hinter dem
Wald hervorgeschossen, daß es sinnlos und zu spät gewesen
wäre, vom Wagen zu springen. Und die Deutschen beschossen
uns auch nicht.
Acht Kilometer vor der Beresina hielt uns ein Rotarmist an,
der dort Posten stand. Er hatte kein Gewehr, nur eine Handgranate hing an seinem Koppel. Auf einen Befehl hin sollte er
sämtliche aus Bobruisk kommenden Männer irgendwohin nach
rechts schicken, wo eine Einheit aufgestellt werden sollte. Er
stand schon seit dem Vortag da und war nicht abgelöst worden.
Er war hungrig, und wir gaben ihm Zwieback.
Nach weiteren zwei Kilometern hielt uns ein Milizionär an. Er
fragte mich, was er mit den einzelnen Soldaten anfangen solle,
die aus Richtung Bobruisk kämen: Solle er sie wegschicken
oder sie hier sammeln? Ich hatte keine Ahnung und gab ihm
zur Antwort, er solle doch die Männer so lange bei sich sammeln, bis ein Kommandeur auftauche, unter dessen Kommando
er sie dann als Gruppe zu der Straßengabelung zurückschicken
könne, wo der Rotarmist stand. Fünfzehn TB-3 flogen ohne
Jagdschutz über uns hinweg. Die Maschinen zogen ruhig und
bedächtig dahin, und schon bei dem Gedanken, daß hier überall
„Messerschmitts“ herumschnüffelten, war mir gar nicht wohl.
Wir fuhren noch weitere zwei Kilometer. Vorn waren heftige
Bombendetonationen zu hören. Als wir uns der Beresina bereits auf etwa einen Kilometer genähert hatten und damit rechneten, bald in Bobruisk zu sein und dort oder am Ufer der Beresina auf Truppen zu stoßen, sprangen plötzlich ein paar Männer aus dem Wald und fuchtelten verzweifelt mit den Armen.
Wir hielten zuerst nicht an, doch da schrien sie noch verzweifelter und gestikulierten noch heftiger, und ich ließ den Wagen
anhalten.
Ein kreidebleicher Sergeant kam angerannt und fragte nach
unserem Ziel. Ich antwortete, wir wollten nach Bobruisk. Er
sagte, die Deutschen wären bereits über die Beresina gesetzt.
„Was für Deutsche?“
„Panzer und Infanterie.“
„Wo?“
„Vierhundert Meter von hier. Eben haben wir mit ihnen noch
im Kampf gelegen. Ein Leutnant und zehn Mann sind gefallen,
wir sind bloß noch sieben Mann“, sagte der Sergeant.
Wir stellten den Motor ab und vernahmen deutlich MG-Feuer
links und rechts der Straße – ganz nahe, zweifellos bereits an
dem diesseitigen Ufer.
Wir hießen den Sergeanten und die Soldaten am Waldrand auf
uns warten, wir wollten doch noch versuchen, ein Stück nach
vorn zu kommen. Wir fuhren noch dreihundert Meter und sa-
hen plötzlich mitten auf der Straße eine völlig unversehrte
„Messerschmitt“ auf dem Bauch liegen. Drei kleine Jungen
machten sich an ihr zu schaffen, zerlegten das MG und zogen
die Patronen aus den Gurten. Wir fragten, ob sie nicht den
Flieger gesehen hätten. Sie hätten ihn nicht gesehen, sagten sie,
aber drei Soldaten wären in den Wald gegangen, um ihn zu
suchen. Neben dem Flugzeug lag eine blutige Fliegerhaube.
Der Pilot war offensichtlich verwundet und hatte sich in den
Wald geflüchtet.
Das MG-Feuer war jetzt ganz nahe. Wir machten kehrt und
fuhren zu den uns am Waldrand erwartenden Rotarmisten.
Mittlerweile waren es noch mehr geworden, an die fünfzehn
Mann. Ich ließ sie alle auf den Lkw klettern, und dann fuhren
wir anderthalb Kilometer zurück bis zu einem Feldweg, der
nach links abzweigte. Noch ein paar Mann kletterten zu uns auf
den Wagen. Wir bogen nach links ab in der Annahme, auf dem
Feldweg stünden vielleicht noch Truppen von uns.
Auf dem Feldweg stießen wir auf ein weiteres Dutzend Rotarmisten. Kotow und ich lasen alle Rotarmisten auf – jetzt waren es schon vierzig Mann –, setzten einen Oberleutnant als
ihren Kommandeur ein und gaben ihm den Befehl, in dem
Wäldchen in Stellung zu gehen und jeweils zwei Mann auf die
Suche nach irgendeinem Truppenteil auszuschicken, dem sich
ihre Gruppe anschließen könne. Dann machten wir kehrt und
fuhren zurück zur Landstraße. Hier wurde ich Zeuge eines Bildes, das ich nie vergessen werde. Im Verlauf von zehn Minuten
konnte ich beobachten, wie „Messerschmitts“ sechs unserer
TB-3 hintereinander abschossen. Die „Messerschmitts“ flogen
die TB-3 von hinten an, dann war ein Knattern zu hören, die
TB-3 fingen an zu brennen und stürzten ab. Im Sturz flogen sie
noch ein ganzes Stück weiter, dann quollen zu beiden Seiten
der Straße hohe schwarze Qualmsäulen aus dem Wald.
Wir kamen zu dem Rotarmisten, der nach wie vor auf der
Straßengabelung stand. Er hielt den Wagen an und fragte mich:
„Genosse Bataillonskommissar, ich bin schon den zweiten Tag
nicht abgelöst worden. Was soll ich machen?“
Derjenige, der ihm befohlen hatte, hier stehenzubleiben, hatte
ihn offenbar vergessen. Ich wußte nicht, was ich mit ihm anfangen sollte, und sagte nach kurzem Nachdenken, er solle sich
der ersten Gruppe Soldaten, die mit einem Kommandeur vorbeikäme, anschließen. Nach zwei Kilometern stießen wir auf
einen Wagen, der nicht mehr weiterkonnte, weil er kein Benzin
mehr hatte. Wir füllten einen Teil unseres Kraftstoffes um,
damit die Männer noch ein nahe gelegenes Dorf erreichen
konnten, wohin sie laut Befehl zu fahren hatten. Von ihrem
Wagen aber stiegen zwei Flieger von einer der abgeschossenen
TB-3 auf unseren Lkw um.
Einer der Flieger war ein Hauptmann, der im Finnischen
Krieg mit dem Rotbannerorden ausgezeichnet worden war. Er
hatte sich beim Aufprall so verletzt, daß er sich kaum rühren
konnte. Der andere war ein Oberleutnant, der sich ein Bein
gebrochen hatte, das notdürftig verbunden war. Wir nahmen sie
auf, um sie nach Mogiljow zu bringen. Als wir sie in unseren
Wagen umquartierten, erzählte mir der Hauptmann, der Oberleutnant sei ein bekannter Flieger, Blindflugspezialist. Wenn
ich mich recht erinnere, hieß er Istschenko. Wir nahmen ihn
auf den Arm, legten ihn in den Wagen und fuhren los. Wir waren noch keinen Kilometer gefahren, als ganz in der Nähe, direkt über uns, eine „Messerschmitt“ eine weitere, nun schon
die siebente TB-3 abschoß. Während dieses Luftkampfs sprang
der Fliegerhauptmann im Wagenkasten auf, fluchte, fuchtelte
mit den Armen, und Tränen strömten über sein Gesicht. Mir
waren die Tränen gekommen, als ich die ersten sechs Flugzeuge hatte brennen sehen. Jetzt konnte ich schon nicht mehr wei-
nen und wandte mich einfach ab, um nicht mit ansehen zu
müssen, wie der Deutsche diesem siebenten Flugzeug den Garaus machte.
„Aus“, sagte der Hauptmann, wandte sich gleichfalls ab und
setzte sich in den Wagenkasten.
Ich drehte mich um. Die schwarze Rauchsäule schien sich
ganz in unserer Nähe zu erheben. Ich fragte den Oberleutnant,
ob er die Schmerzen noch aushalte, weil ich von der Straße
runter und quer durchs Gelände zur Absturzstelle fahren wollte
– vielleicht war dort einer mit dem Leben davongekommen.
Der Flieger hatte starke Schmerzen, sagte aber, er werde es
aushalten.
Wir bogen von der Straße ab und fuhren über Stock und Stein
nach rechts. Schon hatten wir fünf Kilometer hinter uns gebracht, doch die Qualmsäule, die uns so nahe erschienen war,
kam nicht näher. An einer Weggabelung trafen wir ein paar
Jungen, die sagten, Milizionäre seien bereits unterwegs zu dem
Flugzeug. Da der verwundete Flieger bei der Fahrt durchs Gelände nur mühsam das Stöhnen unterdrückte und entsetzliche
Schmerzen hatte, beschloß ich, wieder auf die Landstraße zurückzukehren.
Kaum hatten wir die Landstraße erreicht, als sich über uns ein
weiterer Luftkampf entspann. Zwei „Messerschmitts“ griffen
eine TB-3 an, die allein in Richtung Bobruisk flog. In der Luft
setzte ein heftiger Schußwechsel ein. Eine der „Messerschmitts“ flog dicht an den Schwanz der TB-3 heran und schoß
sie in Brand. Qualmend verlor das Flugzeug an Höhe. Eine
„Messerschmitt“ verfolgte es, doch plötzlich stürzte auch sie
torkelnd ab. Von der „Messerschmitt“ löste sich ein Fallschirm,
von der TB-3 lösten sich fünf. Starker Wind ging, und die Fallschirme wurden abgetrieben. Dort, wo die TB-3 aufschlug –
etwa zwei bis drei Kilometer in Richtung Bobruisk –, ertönten
ohrenbetäubende Detonationen. Eine, eine zweite und dann
noch eine.
Ich ließ den Wagen halten, und nach kurzer Beratung mit Kotow sagte ich den Fliegern, wir würden sie ausladen und zu
jener Stelle zurückfahren, wo unsere aus dem Flugzeug abgesprungenen Flieger niedergegangen wären, und wenn wir sie
aufgenommen hätten, wollten wir dann alle zusammen nach
Mogiljow fahren. Der verwundete Flieger nickte nur stumm.
Wir legten ihn unter einen Baum. Kotow, der andere Flieger,
ein Hauptmann und zwei verwundete Rotarmisten, die wir unterwegs aufgenommen hatten, blieben bei ihm unter dem Baum
zurück.
Ich übergab dem Hauptmann bis zu meiner Rückkehr hier das
Kommando und fuhr mit dem Fahrer zurück.
Auf der Landstraße fuhren wir etwa drei Kilometer in entgegengesetzter Richtung. Die Rauchsäule und die Flammen lagen
rechter Hand von der Landstraße. Über Stock und Stein holperten wir ihr entgegen, nahmen unterwegs die zwei Jungen auf
dem Trittbrett mit, damit sie uns den Weg wiesen.
Schließlich gelangten wir zur Absturzstelle, doch ein Heranfahren war unmöglich. Das Flugzeug war mit vollständigem
Kampfsatz und vollen Treibstofftanks mitten in einem Dorf
abgestürzt. Das Dorf brannte, und immer noch detonierten
Bomben und Patronen. Beim Näherkommen mußten wir in
Deckung gehen, weil nach einer Detonation Splitter über unsere Köpfe pfiffen.
Ein paar verwirrte Milizionäre wateten durch das hochstehende Getreide und suchten die mit dem Fallschirm abgesprungenen Flieger. Ich stieg aus dem Wagen und machte mich auch
auf die Suche. Bald darauf fanden wir einen von ihnen. Er hatte
sich die brennende Kombination vom Leib gerissen und trug
nur noch Reithosen und Wattejacke. Er machte auf mich einen
recht gefaßten Eindruck. Als wir bei ihm anlangten, war er
gerade mit schmerzverzerrtem Gesicht dabei, durch ein Loch in
der Wattejacke eine Kugel herauszupulen, die am Oberarm im
Fleisch steckte.
Er blieb in der Nähe des Dorfes zurück, während die Milizionäre, der Fahrer und ich eine Kette bildeten und weiter das Feld
absuchten. Der Roggen stand fast mannshoch. Wir streiften
lange herum, bis ich schließlich zwei Männer auf uns zukommen sah. Wir gingen mit der Waffe in der Hand, weil ja nicht
nur unsere Flieger abgesprungen waren, sondern auch ein
Deutscher. Da uns aber zwei Männer entgegenkamen, war mir
klar, daß das nur unsere sein konnten, und ich winkte ihnen.
Sie blieben erst einmal stehen, kamen dann aber mit erhobenen
Pistolen auf mich zu.
Ich war mir sicher, daß die beiden keine Deutschen waren,
und schob den Nagant wieder in die Pistolentasche. Die Flieger
kamen immer näher, und als sie auf fünf bis sechs Schritt heran
waren, richteten sie die Pistolen auf mich. „Was bist du für
einer?“ Ich sagte: „Einer von uns!“
„Von uns oder nicht von uns!“ schrie der eine Flieger. „Wie
kann ich wissen, ob du einer von uns bist oder nicht! Ich weiß
überhaupt nichts mehr!“
Ich wiederholte, die Männer hier wären alle von uns, und
setzte hinzu: „Du siehst doch, ich habe sogar den Nagant weggesteckt.!“ Das überzeugte ihn, und er sagte, mir immer noch
die Pistole unter die Nase haltend, nun schon ruhiger: „Wo sind
wir? Auf unserem Gebiet?“
Ich sagte, wir befänden uns auf unserem Gebiet. Die Milizionäre kamen heran, und nun waren die Flieger endgültig beruhigt. Der eine war verwundet, der andere hatte schwere
Verbrennungen erlitten. Wir gingen mit ihnen zurück zu dem
dritten, den wir beim Dorf zurückgelassen hatten. In der Zwi-
schenzeit hatte sich auch der vierte angefunden. Der fünfte war
in den Wald abgetrieben worden und wurde noch gesucht. Wohin der Fallschirm des Deutschen abgetrieben worden war,
darauf hatte keiner richtig geachtet. Die Flieger fluchten entsetzlich, weil man sie ohne Jagdschutz auf Feindflug geschickt
hatte, und berichteten, wie man sie in Brand geschossen hatte,
und freuten sich, doch wenigstens eine „Messerschmitt“ abgeschossen zu haben. Mir aber, der ich eben erst den Untergang
von acht Bombern erlebt hatte, war diese eine abgeschossene
„Messer“ kein Trost. Der Preis war allzu hoch.
Wir konnten nicht warten, bis der fünfte Flieger gefunden war
– das konnte Stunden dauern –, schließlich hatte ich Verwundete an der Straße zurückgelassen. So ließ ich diese vier Flieger, von denen zwei leicht verwundet waren und ein dritter
Verbrennungen erlitten hatte, in den Wagenkasten steigen und
fuhr zurück.
Auf der Landstraße, fünfhundert Meter von der Stelle, wo ich
meine Begleiter zurückgelassen hatte, hielt mich der kreidebleiche Kotow mitten auf der Straße an. Neben ihm stand ein
älterer Zivilist mit einem Fahrrad. Ich ließ den Wagen halten.
„Was machen Sie hier?“ fragte ich Kotow.
„Ein Unglück ist geschehen“, sagte der mit bebenden Lippen.
„Ein Unglück.“
„Was für ein Unglück denn?“
„Ich habe einen Mann getötet.“ Der neben ihm stehende Zivilist schwieg. „Wen haben Sie getötet?“
„Seinen Sohn.“ Kotow wies auf den Zivilisten.
Und da schrie der Zivilist aufschluchzend: „Vierzehn Jahre!
Ist das etwa ein Mann? Ein Junge! Ein Junge!“
„Wie ist das passiert?“ fragte ich.
Kotow berichtete konfus, irgendwelche Männer seien über die
Straße und dann durchs Feld gerannt, und da er die Flüchten-
den für deutsche Flieger gehalten hätte, weil ein deutscher
Bomber abgestürzt war, habe er geschossen und einen von ihnen getötet. „Wie konnte er denn einen vierzehnjährigen Jungen für einen Flieger halten? Regelrecht umgebracht hat er
ihn!“ schrie der Zivilist wieder und brach in Tränen aus.
Ich verstand nichts und wußte auch nicht, was ich tun sollte.
„Klettert beide in den Wagen. Wir fahren“, sagte ich. Kotow
und der Zivilist stiegen in den Wagenkasten, und wir fuhren zu
der Stelle, wo die anderen unter dem großen Baum auf uns
warteten. Die Fliegerhauptmann, den ich als Kommandeur der
Gruppe zurückgelassen hatte, erzählte mir aufgeregt, daß in
nächster Nähe im Wald ein in Brand geschossener deutscher
Bomber abgestürzt sei, sie hätten zwei Fallschirme herunterkommen sehen. Kotow habe zwei der leichtverwundeten Rotarmisten mitgenommen, habe sich an den Waldrand geschlichen und gesehen, wie vom Waldrand kommend, sechshundert
Meter von ihm entfernt zwei Männer in schwarzen Kombinationen weggerannt seien. Er habe „Halt!“ gerufen, aber sie seien noch schneller gerannt. Da habe er sich hingelegt und geschossen. Gleich beim ersten Schuß sei einer der Flüchtenden
umgefallen, während der zweite im Wald verschwand. Als Kotow und die Rotarmisten bei dem Umgefallenen angelangt waren, habe ein Junge in schwarzer Berufsschulkleidung tot dagelegen. Kurz darauf sei sein Vater gekommen – eben der Mann
mit dem Fahrrad, Buchhalter in einem Kolchos. Was tun? Der
Vater weinte und schrie, Kotow müsse erschossen werden, weil
er seinen Sohn, seinen einzigen Sohn umgebracht habe, die
Mutter wisse noch nichts davon, und er wisse nicht, wie er es
ihr beibringen solle. Er verlangte von mir, Kotow hier, in dem
einen Kilometer entfernten Dorf, zurückzulassen, bis er jemanden vom örtlichen NKWD geholt habe.
Beim Klang dieser verzweifelten, verbitterten Stimme wurde
mir klar: ließe ich Kotow hier zurück, war es durchaus möglich, daß der Vater des Jungen und die Nachbarn, vielleicht
sogar der hiesige Milizionär, in der verzweifelten, nervösen
Verfassung, in der sich alle befanden und die so kennzeichnend
war für das Hier und Heute, Kotow einfach lynchten und es
statt eines Toten ihrer zwei gäbe. Ich entgegnete, ich könne
Kotow nicht hier zurücklassen, werde ihn aber bei der Militärstaatsanwaltschaft in Mogiljow abliefern, wohin ich zurückfahren wolle. Der Vater des Jungen schrie, ich wolle die Sache nur
vertuschen, aber das ohne ihn, er werde Kotow nicht weglassen, das käme überhaupt nicht in Frage. Da sagte ich zu Kotow,
er sei festgenommen, nahm ihm Waffe und Munition ab, schob
ihn auf den Wagenkasten des Lkws, und vor dem Vater des
Getöteten befahl ich einem der Rotarmisten, Kotow zu bewachen und bei einem Fluchtversuch von der Waffe Gebrauch zu
machen. Dann schrieb ich meinen Namen und meine Dienststelle – die Redaktion – auf einen Zettel, gab diesen dem Vater
des Getöteten und sicherte ihm zu, daß die Sache gründlich
untersucht werde.
Wir durften keine Zeit mehr verlieren. Ich stieg in den Wagen, und wir rasten davon. Der Vater des toten Jungen blieb
auf der Straße zurück – ein vom Leid gebeugter Mann, den
wahrscheinlich zusätzlich noch der Gedanke quälte, ich wolle
das Geschehene vertuschen. Nach einem Kilometer jagten wir
durch ein Dorf. Dort stand eine Menschenmenge an der Straße,
Wehklagen und zornige Schreie drangen zu uns. Die Leute
schienen eben erst davon erfahren zu haben. Mir wurde noch
einmal bewußt, daß Kotow von den Menschen hier bestimmt
gelyncht worden wäre.
Auf der Rückfahrt sprach niemand ein Wort. Anfangs vernahm ich hinter uns Artilleriefeuer, dann verstummte es. Wie
ich hinterher erfuhr, hatten die Deutschen an diesem Tag die
Beresina in der Nähe von Bobruisk tatsächlich überschritten.
Sie waren zwar von den Schülern der Bobruisker Panzerschule,
die ohne Fahrzeuge waren, auf einem Abschnitt von zwölf Kilometern zurückgeschlagen worden, doch am nächsten Tag, als
die Deutschen endgültig durchbrachen, fielen die jungen Männer dort in den Wäldern alle im ungleichen Kampf.
Erst bei Einbruch der Nacht langten wir wieder in Mogiljow
an. Ich brachte die Verwundeten zum Lazarett. Dort war es
dunkel, und es dauerte lange, bis sie aufgenommen waren, die
ganze Sache ging sehr schleppend vonstatten. Ich hegte noch
die naive Zivilistenvorstellung, sämtliche Ärzte und Schwestern müßten unverzüglich zu jedem eingelieferten Verwundeten eilen. Mich verwunderte, mit welcher Gelassenheit die
Verwundeten in jener Nacht übernommen wurden; so schien es
mir damals, obwohl ich es im Grunde genommen mit dem
normalen Leben eines Lazaretts zu tun hatte, das rund um die
Uhr Verwundete aufnimmt. Erst später gewöhnte ich mich daran.
Nachdem ich die Verwundeten abgeliefert hatte, fuhr ich mit
Kotow und dem Fliegerhauptmann zur Redaktion. Dort bat ich
den Redakteur, alle Außenstehenden hinauszuschicken, legte
dann die Kotow abgenommene Pistole und die Munition vor
ihn auf den Tisch und berichtete von dem Vorgefallenen. Der
Flieger erzählte, was er als Augenzeuge gesehen hatte. Er war
deprimiert, da ich ihn für die Zeit meiner Abwesenheit als
Kommandeur eingesetzt hatte und er sich nun zu einem gewissen Grad für diese ungereimte Geschichte verantwortlich fühlte.
Ustinow nahm zu meiner Überraschung den Vorfall gelassener auf, als ich vermutet hatte, er wollte die Sache einem Mitglied des Kriegsrates der Front melden, forderte Kotow aber
auf, ihm vorläufig seine Papiere zu übergeben. Aber Kotow
besaß keinerlei Papiere mehr, weil er in seiner Verstörtheit, als
er den Vater des Toten überredete, auf meine Rückkehr zu warten, diesem seine Papiere als Pfand ausgehändigt und sie dann
später vergessen hatte.
Ich schrieb einen kurzen Bericht. Der Flieger tat das gleiche,
und dann legten wir drei uns todmüde nebeneinander auf den
Fußboden zum Schlafen. So endete dieser Tag.
Im Einschlafen dachte ich über Kotow nach. Ich glaubte, man
werde ihn schuldig sprechen und vielleicht erschießen. Obwohl
ich alles mir mögliche getan hatte, um ihn vor der Lynchjustiz
zu retten, meinte ich doch, daß man Kotow wegen der Erschießung des Jungen, zu der es nur in der Atmosphäre der allgemeinen Nervosität dieses Tages hatte kommen können, verurteilen und möglicherweise erschießen würde. Andere Strafmaßen kannte man in diesen Tagen nicht. Meiner Meinung nach
konnte man mit dem Mann nur zweierlei machen – entweder
erschießen oder freisprechen.
Später, am darauffolgenden Tag, erfuhr ich, das Mitglied des
Kriegsrates, dem von dem Vorfall Meldung gemacht worden
war, habe sich erkundigt, wie sich Kotow bis dahin geführt
habe, und als er von seinem guten Verhalten erfuhr, habe er
gesagt: „Was soll’s, mag er seine Schuld im Krieg wiedergutmachen.“
In jenen Tagen meinte ich noch, daß auch die versehentliche
Tötung eines Menschen, eben weil sie nicht wiedergutzumachen war, nicht ungesühnt bleiben dürfe… Und doch war damals alles in allem richtig verfahren worden – es war richtig,
daß ich Kotow nicht allein an der Straße zurückließ, wo ihm
Lynchjustiz drohte, richtig war auch, daß man von einer Strafe
absah. Den Jungen konnte man nicht wieder lebendig machen,
und so blieb immerhin ein Soldat am Leben…
Im Tagebuch ist der genaue Tag unserer Fahrt in die Gegend
von Bobruisk nicht angegeben. Nach meinen Nachforschungen
war es der 30. Juni. Um aber das Bild verständlich zu machen,
das sich uns an jenem Tag auf der Landstraße Mogiljow – Bobruisk und im Luftraum darüber darbot, muß ich in den Dokumenten ein paar Tage zurückblättern.
Die Eroberung von Bobruisk und die Überschreitung der Beresina waren die Folge eines schnellen Vorstoßes der rechten
Flanke der Panzergruppe Guderians. Nach der Überschreitung
der Beresina bei Bobruisk rollten die deutschen Panzer und
motorisierten Truppenteile nicht nach Nordosten, in Richtung
Mogiljow weiter, sondern umgingen die Stadt, drangen direkt
nach Osten, zum Dnepr, auf Rogatschow vor und nahmen die
Stadt.
Im Tagesbericht des Informationsbüros vom 1. Juli wird der
Abschnitt Bobruisk zum erstenmal erwähnt, wonach „unsere
Truppen die ganze Nacht hindurch mit beweglichen Truppenteilen des Gegners im Kampf standen, um deren Versuche zu
vereiteln, nach Osten durchzubrechen. An dem Kampf waren
Infanterie, Artillerie, Panzer und Fliegerkräfte beteiligt.“ Die
Meldungen des Informationsbüros hinkten zu der Zeit in der
Regel den sich blitzschnell entwickelnden Ereignissen hinterher. In diesem Fall aber tauchte der Abschnitt Bobruisk fast
unmittelbar, nachdem er wirklich entstanden, in dem Bericht
auf. Am Rande sei vermerkt, daß der Terminus „Abschnitt“,
über dessen Unbestimmtheit wir damals gelegentlich witzelten,
um unseren wilden Schmerz zu verbergen, heute, nach reiflicher Überlegung, mir für die damalige Zeit nicht nur vom rein
militärischen Standpunkt aus, sondern auch psychologisch
durchaus gerechtfertigt erscheint.
Die Worte „Abschnitt Bobruisk“ beispielsweise vermittelten
eine allgemeine geographische Vorstellung von der Tiefe des
gegen uns geführten Vorstoßes, während sie zugleich von einer
konkreten Aufzählung aller den Deutschen überlassenen Punkte ablenkten. Alles, was sich zu Beginn des Krieges ereignete,
war ein so gewaltiger psychologischer Schlag, daß die damalige Abneigung schon zu verstehen ist, sich auf eine noch
schrecklichere Detaillierung der ohnehin schrecklichen Berichte einzulassen.
Was aber die Berichte der Armeen und Fronten anbelangt,
wurde das sich im Abschnitt Bobruisk abspielende Geschehen
von Anfang an in der Regel exakt dargelegt, abgesehen von
den Ungenauigkeiten, die auf die unterbrochenen Nachrichtenverbindungen und die mangelhafte Information zurückzuführen
waren.
Im „Kriegstagebuch der Westfront“ wird Bobruisk erstmals
am 26. Juni erwähnt: „Die 4. Armee zog sich weiter hinter Bobruisk zurück.“
Die nächste Erwähnung von Bobruisk finden wir im „Kriegstagebuch“ unter dem 28. Juni: „Der Gegner, mit vorgeschobenen beweglichen Truppen angreifend… besetzte an der linken
Flanke Bobruisk und bereitete die Forcierung der Beresina
vor.“
Im „Kriegstagebuch“ wird aus einem Bericht des Stabes der
4. Armee zitiert: „Ein gemischter Verband… unter Führung
des Befehlshabers des 47. Schützenkorps schlug die Versuche
des Gegners erfolgreich zurück, die Beresina im Raum Bobruisk zu überschreiten.“ Eine Vorstellung von diesem gemischten
Verband, der das Übersetzen deutscher Panzer über die Beresina verhindern sollte, vermittelt eine Meldung seines Kommandeurs General Powjotkin. Am Abend des 28. Juni bestand der
Verband aus 900 Mann von einem zusammengesetzten Regiment, 440 Kursanten der Kfz- und Schlepperschule, 300
Mann vom 246. Schützenbataillon, 300 Mann vom 273. Nachrichtenbataillon und 800 Mann vom 21. Straßeninstandset-
zungsregiment. Insgesamt waren das rund 2500 Mann von fünf
verschiedenen Truppenteilen. Nebenbei sei bemerkt, daß General Powjotkin, am 29. Juni bereits zweimal verwundet, den
gemischten Verband bis zum Ende seiner Kampfhandlungen
führte – bis zum 3. Juli. Die dem gemischten Verband angehörende Bobruisker Kfz- und Schlepperschule (von mir im Tagebuch irrtümlich als Panzerschule bezeichnet) wird in der gleichen Meldung der Politverwaltung der Westfront erwähnt, in
der zum erstenmal von der Heldentat Gastellos Mitteilung gemacht wurde. Darin heißt es, die Kursanten der Schule gingen
als Aufklärer in das von den Deutschen bereits besetzte Bobruisk, und es wird erwähnt, daß der Kursant Iwanow bei einem
dieser Spähtruppunternehmen, obwohl vierfach verwundet und
blutüberströmt, durch den Fluß zurückschwamm und die in
Erfahrung gebrachten Angaben meldete.
Eine Vorstellung über die weiteren Ereignisse des 30. Juni
vermitteln operative Sammelberichte und Kriegstagebücher. Im
Bericht vom 30. Juni heißt es, den Deutschen sei es in der
Nacht vom 29. zum 30. nicht gelungen, über die Beresina zu
kommen, ihre Übersetzversuche wären zurückgeschlagen worden.
Am frühen Morgen des 30. setzten die Deutschen die Versuche zum Forcieren der Beresina fort, und um acht Uhr tauchten
ihre ersten drei Panzer am diesseitigen Ufer auf.
Im „Kriegstagebuch der 4. Armee“ finden wir die dramatischen Worte: „Wir haben nichts zur Unterstützung der Infanterie. Nur drei Panzerabwehrkanonen und zwei 76-mm-Kanonen
sind übriggeblieben. Die Einheiten des gemischten Verbandes
beginnen sich zurückzuziehen.“
Danach wird berichtet, daß sich der Befehlshaber der 4. Armee, Generalmajor Korobkow, nachdem ein Bataillon der 42.
Schützendivision zur Unterstützung des Verbandes nach vorn
geworfen worden war, mit einer Gruppe von Kommandeuren
an die Hauptkampflinie begab.
Weiter heißt es in diesem Tagebuch, daß unter Führung des
Befehlshabers der Armee aus den zurückströmenden Männern
ein zusammengesetztes Bataillon aufgestellt, Panzerabwehrkanonen in Stellung gebracht und der Rückzug aufgehalten worden sei. Der Angriff des Gegners wurde um 19.00 Uhr am Fluß
Ola zurückgeschlagen.
„Nach erbitterten Kämpfen gelang es dem Gegner am 30. Juni
gegen 19.30 Uhr, etwa 93 Panzer und Panzerfahrzeuge sowie
ein paar Dutzend Kradfahrer überzusetzen. Eine größere Anzahl der übergesetzten Panzer wurde in nördlicher Richtung auf
Mogiljow in Marsch gesetzt.“ So schlug sich dieser Tag – der
30. Juni – im „Kriegstagebuch der Westfront“ nieder.
Die Beresina wurde vom XXIV. Panzerkorps der Deutschen
forciert. Seine Vorhut bildete die 3. Panzerdivision unter Generalleutnant Model.
Die Ironie des Schicksals wollte es, daß General Model, nun
schon Feldmarschall, genau drei Jahre später, am 28. Juni
1944, wieder hierher kam, um den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, Feldmarschall Busch, in jenem Augenblick
abzulösen, als die Hauptkräfte der deutschen 9. Armee von uns
ausgerechnet im Raum Bobruisk eingekesselt wurden.
Der ehemalige faschistische General Kurt von Tippelskirch
berichtete über die Ereignisse, die sich in einem Abstand von
genau drei Jahren am gleichen Ort abspielten, und überschrieb
dieses Kapitel seines Buches mit den Worten: „Der Zusammenbruch der deutschen Heeresgruppe Mitte“.
Damals aber, am 30. Juni 1941, war es bis dahin noch unendlich weit. In meinem Tagebuch heißt es, daß wir schon fast an
der Beresina waren, als Soldaten aus dem Wald hervorsprangen und unseren Wagen stoppten. Als ich jetzt, nach dem Krie-
ge, diese Straße noch einmal entlangfuhr, wurde mir klar, das
alles konnte sich nicht so abgespielt haben, wie ich damals in
der Hast und Eile glaubte. In den Mittagsstunden des 30. Juni
konnten wir uns der Beresina nicht bis auf einen Kilometer
genähert haben, denn zu diesem Zeitpunkt waren die Deutschen bereits dort. Wir waren tatsächlich dicht an einen Fluß
herangekommen, allerdings war das nicht die Beresina, sondern, wie ich heute weiß, eben jenes Flüßchen Ola, an dem
seinerzeit General Korobkow die Deutschen aufzuhalten versuchte. Offenbar waren gerade über dieses Flüßchen Ola einige
deutsche Panzer mit aufgesessener Infanterie übergesetzt. Und
mit diesen hatte jene Gruppe Soldaten gekämpft, deren Reste
uns auf der Landstraße anhielten. Wer weiß, vielleicht verwechselten sie selber die Ola mit der Beresina, oder sie riefen
uns nur etwas von deutschen Panzern und Infanterie zu, die
eben den Fluß überwunden hätten, und wir, nur an die Beresina
denkend, glaubten, von ihr sei die Rede. Nun aber zum Wichtigsten, worüber ich im Zusammenhang mit jenen Seiten meines Tagebuchs berichten möchte – von jener Mischung aus
Heldentum und Tragik, die für die Kampfhandlungen unserer
Fliegerkräfte in jenen Tagen so kennzeichnend ist.
Durchaus verständlich ist, daß gleich die erste Meldung, wonach die Deutschen mit der Forcierung der Beresina bei Bobruisk begannen – was schwere Folgen für den ganzen Südflügel
unserer Westfront nach sich gezogen hat –, im Stab der Front
Großalarm auslöste. Offensichtlich hatte diese Alarmstimmung
auch den Funkspruch diktiert, den ich unter Dokumenten jener
Tage fand:
„Offizier vom Dienst alarmieren! An alle Verbände der Fliegerkräfte der Westfront. Eilt. Die Panzer und die Übersetzstellen im Raum Bobruisk sind mit allen Kräften in gestaffelten
Gruppen zu vernichten.“
Der Funkspruch ist unterzeichnet vom Oberbefehlshaber der
Front Pawlow und von Tajurski, der nach dem Tod von General Kopez, der sich in den ersten Kriegstagen erschossen hatte,
die Führung der Fliegerkräfte der Westfront übernahm.
Es liegt auf der Hand, daß nach diesem energischen Funkspruch des Frontstabs alles oder fast alles startete und im Laufe
des Tages nach Bobruisk geworfen wurde, worüber die Bombenfliegerkräfte der Westfront und das ihr vom Hauptquartier
zugeteilte 3. Fernbombenfliegerkorps zu diesem Zeitpunkt verfügten.
Die leistungsfähigen schweren Bomber TB-3 mit einem großen Aktionsradius, die einst Papagin wohlbehalten zum Nordpol gebracht und später, im Jahre 1939, am Chalchyn gol wegen ihrer Langsamkeit ausschließlich nachts eingesetzt waren,
gehörten hier, im Bereich der Westfront, hauptsächlich zum
Bestand des 3. Fernbombenfliegerkorps.
In einem Bericht über die materiellen Verluste der Fliegerkräfte der Westfront heißt es, daß das 3. Fliegerkorps, in dessen
Verband die TB-3-Geschwader operierten, im Laufe des 30.
Juni einundzwanzig Maschinen verlor. Von ihnen wurden fünf
in Luftkämpfen abgeschossen, während sechzehn vom Kampfeinsatz nicht zurückkehrten.
In diesen Verlusten am 30. sind offensichtlich auch jene acht
TB-3 enthalten, deren Ende ich mit eigenen Augen im Luftraum über der Landstraße Mogiljow-Bobruisk gesehen hatte.
Eine Reihe von Dokumenten besagt, daß unsere Fliegerkräfte,
darunter auch die TB-3, am 30. Juni den Deutschen bei Bobruisk empfindliche Schläge zugefügt und ihren Auftrag zumindest teilweise ausgeführt haben. In den Meldungen der Flieger
ist vom Bombenangriff auf Ansammlungen deutscher Panzer
an der Übersetzstelle und im Wald nördlich von Bobruisk, von
der Bombardierung des Bobruisker Flugplatzes und auch da-
von die Rede, daß der Auftrag, den Wald in der Umgebung
einer anderen Übersetzstelle, südlich von Bobruisk, in Brand
zu setzen, ausgeführt wurde, es heißt darin, Bobruisk stehe in
Flammen und die Brücke über die Beresina sei gesprengt worden, motorisierte Truppenteile der Deutschen südwestlich von
Bobruisk und ihre Nachschubkolonnen auf der Straße GluschaBobruisk seien mit Bomben belegt worden.
Die Meldungen der Flieger werden durch Meldungen vom
Boden bestätigt. In einer davon heißt es, daß die von den Deutschen begonnene Forcierung der Beresina durch einen Angriff
unserer Luftstreitkräfte unterbrochen wurde. In einer anderen
heißt es, daß sieben unserer Bomber eine Übersetzstelle des
Gegners mit Bomben belegten… Es existieren noch weitere
gleichlautende Meldungen.
Die Flieger haben also alles getan, um den Auftrag zu erfüllen, den ihnen der in energischem Ton gehaltene Funkspruch
des Frontstabes übertrug. Eine andere Frage ist der Preis, den
dies am hellerlichten Tag kostete, da die deutschen Jagdflieger
den Luftraum beherrschten. Die Flieger meldeten einer wie der
andere, daß sie bei der Ausführung des Auftrages ständig den
Angriffen deutscher Jäger ausgesetzt waren, daß auf dem Bobruisker Flugplatz rund zwanzig Me 109 standen und die Deutschen auch auf anderen nahe gelegenen Flugplätzen zahlreiche
Flugzeuge dieses Typs stationiert hatten. Und das alles wird
ergänzt durch Meldungen über das wütende Feuer der deutschen Flak, deren Wirkung bei den langsamen TB-3 am Tage
besonders verheerend war.
In den Meldungen der Bombenfliegergeschwader, die im
Luftraum von Bobruisk operierten, stößt man des öfteren auf
Berichte über abgeschossene „Messerschmitts“. Wenn die
„Messerschmitts“ den TB-3 auch hoch überlegen waren, die
deutschen Jäger kamen dennoch nicht ungeschoren davon. Das
ist wohl mit dem Mut der Heckschützen in unseren Bombern
zu erklären: Selbst in hoffnungsloser Lage, aus dem brennenden Flugzeug schossen sie weiter, und nicht selten holten sie
jene Deutschen herunter, die zu dicht an die angeschossenen,
qualmenden Bomber herankamen, weil sie nicht mehr mit Widerstand gerechnet hatten.
In einigen Meldungen wird betont, daß ein Teil der Flugzeugbesatzungen mit Fallschirmen absprang und zu den Flugplätzen
zurückkehrte, während die Heckschützen der gleichen Flugzeuge in der Luft den Tod fanden. Jedenfalls habe ich mit eigenen Augen zwei abgeschossene „Messerschmitts“ gesehen.
Und auch jener deutsche Bomber, aus dem nach Meinung meines Begleiters Kotow zwei Männer mit Fallschirmen absprangen, ist höchstwahrscheinlich gleichfalls kein Bomber gewesen, sondern ein doppelsitziger Jäger Me 110. Die Tragödie,
die sich im Raum Bobruisk am 30. Juni mit unseren zum Tagangriff gestarteten TB-3 abspielte, fiel sogar vor dem bedrükkenden Hintergrund des Geschehens jener Tage auf. Davon
zeugt der Funkspruch, den der Befehlshaber des 3. Fernbomberkorps, Oberst N. S. Skripko (später Marschall der Fliegerkräfte), am folgenden Tag, am 1. Juli, absetzen ließ:
„Unverzüglich dem Oberbefehlshaber der Fliegerkräfte der
Westfront auszuhändigen. Mogiljow… Die übermäßig hohen
Verluste der Fernbombenfliegerkräfte am 30. Juni 1941 sind
darauf zurückzuführen, daß wir über den Angriffszielen keinen
Jagdschutz hatten und das Flakfeuer nicht niedergehalten wurde… Bezüglich der Einsätze der Fernbombenfliegerkräfte bitte
ich anzugeben, wann mit Jagdschutz sowie mit dem Einsatz
von Jagdbombern gegen die Flak gerechnet werden kann…
Oberst Skripko.“
Dieses Telegramm trägt den mit Bleistift geschriebenen Vermerk des Oberbefehlshabers der Fliegerkräfte der Westfront:
„Alle Jäger sind im Zielgebiet im Einsatz. A. Tajurski“.
Dieser Vermerk entsprach sicherlich der Wirklichkeit. Eine
andere Frage ist, was „alle Jäger“ bedeutete. Wieviel davon
gab es und welche Typen?
Ich habe die Zahlen über den Istbestand der Fliegerkräfte der
Westfront Anfang Juli nicht herausgesucht, meine aber, daß
hierüber ein späterer Bericht der Fliegerkräfte der Westfront –
vom 21. Juli 1941 -eine gewisse Vorstellung vermitteln kann.
Diesem Bericht zufolge waren am 30. Kriegstag an der gesamten Westfront auf unserer Seite (offensichtlich unter Berücksichtigung des in diesen Tagen eingetroffenen Ersatzes) insgesamt achtundsiebzig Jagdflugzeuge übriggeblieben. Und nur
fünfzehn davon waren moderne Typen: zwölf MiG-3 und drei
LaGG-3. Alle anderen aber waren veraltete I-15, I-16 und IIJ3. Damit läßt sich vieles von dem, was damals in der Luft
und auch auf der Erde geschah, am besten erklären, darunter
auch eben jene Bobruisker Tragödie, von der im Tagebuch die
Rede ist. Derjenige, der über ihre Ursachen nachdenkt, erinnert
sich natürlich an den ersten Morgen des Krieges, als allein im
Bereich der Westfront und allein am Boden fünfhundertachtundzwanzig unserer Flugzeuge zerstört wurden, darunter fast
alle modernen Jäger, die wegen der Umrüstung mehrerer Flugplätze auf einigen wenigen, dicht an der Grenze gelegenen
Plätzen konzentriert waren, die die Deutschen gründlich ausgekundschaftet hatten.
Das „Kriegstagebuch der Westfront“ enthält folgende Zeilen,
die diese Tatsache kommentieren:
„Der Oberbefehlshaber der Fliegerkräfte der Westfront, Generalmajor der Luftstreitkräfte Kopez, Hauptschuldiger an der
Zerstörung der Flugzeuge, hat sich nach Erhalt der noch unvollständigen Angaben über die Verluste, wohl um sich der
Verantwortung zu entziehen, noch am Abend des 22. Juni er-
schossen. Die übrigen Schuldigen erhielten später ihre gerechte
Strafe.“
Die Tatsache, daß sich Kopez, ein hervorragender Flieger,
Held des Spanienkrieges, seit 1932 Befehlshaber der Luftstreitkräfte eines bedeutenden Militärbezirks, wohl weniger aus
Furcht vor einer Bestrafung als vielmehr unter dem Druck der
auf seinen Schultern lastenden Verantwortung erschoß, ist psychologisch erklärlich. Um der Gerechtigkeit willen sollte man
aber auch bedenken, daß die Tragödie unserer Luftstreitkräfte,
die sich in den ersten Kriegstagen abspielte, nicht am 22. Juni
1941 begann, sondern schon Jahre zuvor, und daß die Hauptverantwortung dafür gewiß nicht die Hauptleute und Leutnants
trugen, die innerhalb einer unwahrscheinlich kurzen Zeit zu
Generalen gemacht wurden… Ich bin darauf in meinem Buch
„Die Lebenden und die Toten“ eingegangen, als ich das
Schicksal eines seiner Helden, General Kosyrjows, schilderte,
und habe später diese Episode in den gleichnamigen Film aufgenommen.
Während der Vorbereitung des Tagebuches zur Herausgabe
erhielt ich völlig überraschend einen Brief von dem Mitarbeiter
der Parteihochschule in Moskau, Oberst a. D. Andrej Iwanowitsch Kwassow. Dieser Brief war für mich die Bestätigung,
daß mich mein Gedächtnis nicht im Stich gelassen hatte, als ich
im Tagebuch schrieb, der am Bein verwundete Flieger, den wir
mit unserem Anderthalbtonner aus der Gegend von Bobruisk
nach Mogiljow brachten, „hieß Istschenko, wenn ich mich
recht erinnere“. Er hieß tatsächlich Istschenko, bloß war er
nicht Oberleutnant, sondern nur Leutnant und Kommandant
jenes über Bobruisk abgeschossenen Fernbombers, in welchem
der spätere Oberst und damalige Hauptmann Kwassow als Navigator mitgeflogen war.
Kwassow hatte den Film „Die Lebenden und die Toten“ gese-
hen, der ihm so viele Jahre danach die Ereignisse vom 13. Juni
1941 bei Bobruisk wieder ins Gedächtnis rief, und schrieb mir
folgendes: „Unser 212. selbständiges Fernbombenfliegergeschwader, zu der Zeit vom damaligen Oberst und heutigen
Hauptmarschall der Fliegerkräfte, Genossen A. J. Golowanow,
geführt, hatte folgenden Einsatzbefehl erhalten: Die von den
Faschisten über die Beresina geschlagenen Flußübergänge,
über die sie ihre vorrückenden Panzertruppen vom westlichen
aufs ostwärtige Ufer übersetzen wollen, sind zu zerstören. Am
30. Juni 1941 erschienen wir um 17.04 Uhr in 800 m Höhe in
Ketten ohne eigenen Jagdschutz über den Übergängen bei Bobruisk und warfen die Bombenlast auf die Ansammlung der
faschistischen Panzer bei den Übergängen. Der Himmel war
klar. Ich konnte das Ergebnis unseres Angriffs deutlich sehen.
Klar auszumachen waren heftige Detonationen direkt am
Übergang und an den Stellen, wo die feindliche Technik konzentriert war. Unser von Leutnant Nikolai Istschenko gesteuertes Flugzeug gehörte zur Kette des Staffelkommandeurs Leutnant Viktor Wdowin. Plötzlich wurde unser Flugzeug durch
eine Detonationswelle heftig nach links geschleudert, in meiner
Navigatorkanzel klirrten sämtliche Scheiben, und der Bordschütze und Funker, Untersergeant Kusmin, schrie über die
Bordsprechanlage: ,Die Maschine des Staffelkommandeurs hat
einen Flakvolltreffer erhalten.’
Aber auch wir konnten uns nicht mehr lange in der Luft halten. Eine faschistische Me 109 hatte unser Flugzeug in Brand
geschossen. Der Bordschütze und Funker fand in der Luft den
Tod. Beide Tragflächen standen in Flammen. Ich wurde mit
aller Macht in den Sitz gedrückt. Nur mit großer Mühe konnte
ich den Kopf nach rechts und nach hinten drehen. Das Flugzeug ging im Sturzflug nach unten und war steuerlos. Die
Kommandeurskanzel war leer. Wie sich später herausstellte,
war der Kommandeur hinausgeschleudert worden. Das alles
spielte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Ich riß den Hebel
der unteren Luke zum Körper und fiel hinaus, unter das Flugzeug. Dicht über der Erde hing ich am Fallschirm. Die Leuchtspurgeschosse der faschistischen Jäger fegten an mir vorbei.
Der rechte Schoß meines Ledermantels war an drei Stellen
durchlöchert – in der Luft nahmen sie jene unter Feuer, die wie
durch ein Wunder am Leben geblieben waren. Am Fallschirm
ging ich in sumpfigem Gelände bei einem Meliorationsgraben
nieder. In meiner nächsten Nähe stöhnte jemand -mein Kommandeur Istschenko. Er war verwundet. Die Stelle, wo wir heruntergekommen waren, lag unter MPi-Feuer. Ich nahm
Istschenko auf den Rücken und kroch so mit ihm an dem Meliorationsgraben entlang. Weit kamen wir nicht. Ich hatte links
eine Rippe gebrochen und spuckte Blut. Wir krochen auf eine
Scheune zu und wurden von zwei Jungen erspäht. Sie brachten
die zusammengerollte Kappe meines Fallschirms an und halfen
mir, Istschenkos verwundetes Bein zu verbinden. Er hatte starke Schmerzen.“
Andrej Iwanowitsch Kwassow beschreibt dann, wie Kotow
und ich ihn und Istschenko in unseren Wagen luden, um sie
nach Mogiljow zu bringen, wie wir unterwegs noch weitere
vier oder fünf Flieger der anderen abgeschossenen Flugzeuge
auflasen und auch die mit nach Mogiljow nahmen.
Abschließend erinnerte sich Kwassow, daß wir Istschenko im
Lazarett ablieferten, danach Brot und Konserven zum Abendbrot aßen und in unserer Redaktion übernachteten; er machte
auch nähere Angaben über das weitere Schicksal seines Kommandeurs Nikolai Istschenko.
„Er kam dann in den Ural, wo er sich acht Monate bis zu seiner Genesung aufhielt, ging hinterher wieder in den Kampf,
erhielt den Titel Held der Sowjetunion und fand 1945, als der
Krieg schon aus war, auf einem Flugplatz den Tod.“
Kurze Zeit nach Erhalt dieses Briefes traf ich persönlich mit
Andrej Iwanowitsch Kwassow zusammen, ebenjenem
„Hauptmann, der im Finnischen Krieg mit dem Rotbannerorden ausgezeichnet worden war“ und den ich in meinem Tagebuch erwähnt habe. Wie haben wir beide uns über dieses Wiedersehen gefreut, wir hockten lange zusammen und sprachen
über jenen weit zurückliegenden schweren Tag bei Bobruisk.
Dieses Gespräch verlief nicht ohne Meinungsverschiedenheiten in Einzelheiten.
Kwassow glaubte sich zu erinnern, daß der Unterpolitleiter
Kotow und ich ihn und Istschenko dort aufgelesen hätten, wo
sie hingekrochen waren. Ich aber nahm mein im Frühjahr 1942
nach den noch nicht verblaßten Eindrücken diktiertes Tagebuch zur Hand und versuchte ihm zu beweisen, daß nicht wir
sie von der Stelle, wo sie niedergegangen waren, weggeholt
hatten, sondern daß es andere Soldaten gewesen waren, und
wir sie erst später in unseren Anderthalbtonner umquartiert
hatten. In diesem Fall lag die Wahrheit auf meiner Seite.
Kwassow aber wollte mir nicht recht geben, er hatte das alles
anders in Erinnerung. Anscheinend waren ihm damals in seiner
Aufregung, gleich nach dem Absturz des Flugzeugs die ersten
Einzelheiten seiner Rettung entfallen.
In anderen Einzelheiten wiederum hatte ich mich geirrt. Als
man mich im Herbst 1945, nach der Kapitulation Japans, als
Korrespondent der „Krasnaja Swesda“ beim Stab von General
MacAr-thur nach Japan schickte, traf ich im Zug zwischen
Tschita und Wladiwostok einen Fliegeroberst, der mich ansprach und fragte, ob wir uns nicht schon bei Bobruisk gesehen
hätten. Im weiteren Gesprächsverlauf stellte sich heraus, daß
der Oberst einer der verwundeten Flieger gewesen war, die wir
in unserem Anderthalbtonner nach Mogiljow gebracht hatten.
Ich hatte angenommen, der Oberst im Zug sei eben dieser
Istschenko gewesen. Wie sich jedoch im Gespräch mit Kwassow herausstellte, war der Held der Sowjetunion Istschenko zu
dieser Zeit bereits tot, und mein Gesprächspartner im Zug war
folglich nicht Istschenko gewesen, sondern ein anderer Flieger,
den wir gleichfalls bei Bobruisk aufgenommen hatten. Ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr unser Gedächtnis einer Kontrolle
bedarf. Bleibt mir noch, einige Angaben hinzuzufügen, die ich
Archivdokumenten des 212. selbständigen Fernbombenfliegergeschwaders erst nach der Begegnung mit A. I. Kwassow entnommen habe. An jenem dramatischen Tag, dem 30. Juni
1941, als das Geschwader den Befehl des Oberkommandos
selbstlos erfüllte und einen Schlag nach dem anderen gegen die
Übergänge der Deutschen bei Bobruisk führte, verlor das unter
Führung seines Kommandeurs fliegende Geschwader elf Maschinen. Den Dokumenten des Geschwaders zufolge gehörte zu
denen, die nicht vom Feindflug zurückkehrten, die gesamte
Besatzung des Flugzeuges Nr. 654, Kommandant – Leutnant
N. A. Istschenko, Navigator – Hauptmann A. I. Kwassow,
Bordschütze und Funker -Untersergeant J. S. Kusmin und
Bombenschütze – Leutnant A. M. Feigelstein. Später fand ich
in den Dokumenten Kwassow als zum Geschwader zurückgekehrt erwähnt, Istschenko als zur Heilung im Lazarett befindlich, die beiden anderen Besatzungsmitglieder jedoch als gefallen.
Die Akten des Geschwaders enthalten noch ein anderes Dokument, und zwar den Antrag zur Auszeichnung Istschenkos
und Kwassows mit dem Rotbannerorden für die am 30. Juni
1941 bewiesene Tapferkeit.
In Mogiljow herrschte Aufregung. Es war gemeldet worden,
etwa einhundert deutsche Panzer mit aufgesessener Infanterie,
bei Bobruisk durchgebrochen, hätten die Beresina überschrit-
ten. Den ganzen Abend und die ganze Nacht fuhren evakuierte
Troßeinheiten durch die Stadt. Im Haus der Druckerei hoch
oben am steilen Dneprufer konnte man die Fuhrwerke und
Lkws über die Holzbrücke rattern hören. Aus der Druckerei
kommend, traf ich in dem Wäldchen ein, in dem die Redaktion
lag, und erfuhr, daß wir zusammen mit dem Frontstab in die
Gegend von Smolensk verlegt werden sollten. Im Wäldchen
hier hatten sich Surkow, Kriger, Troschkin, Sklesnjew, Beljawski und ich glaube auch noch Fjodor Lewin eingefunden,
die eben erst aus Moskau eingetroffen waren.
Gegen Mittag wurde die Redaktion auf Lkws verladen und
setzte sich in Richtung Smolensk in Bewegung. Wir benutzten
größtenteils Feldwege. Unterwegs erfuhren wir, daß am Vorabend ein Fahrer unserer Redaktion getötet und der stellvertretende Redakteur, Bataillonskommissar Lichatschow, lebensgefährlich verletzt worden war. Ereignet hatte sich dies zu nächtlicher Stunde bei Mogiljow. Sie waren auf der Straße angehalten worden, und während Lichatschow die Papiere zur Kontrolle hervorholte, wurde aus nächster Nähe das Magazin einer
Mauser auf sie leergeschossen. Der Fahrer war sofort tot, Lichatschow lebensgefährlich verletzt. Er hat später im Lazarett
über den Hergang berichtet.
Es waren also nicht nur Gerüchte über Diversanten in Umlauf,
es gab diese Diversanten wirklich, und es war gar nicht so lächerlich, bei der Kontrolle der Papiere den Nagant schußbereit
in der Hand zu i alten.
Doch oft geht Trauriges mit Komischem Hand in Hand. So
auch hier. Unser Anderthalbtonner war, nachdem wir von dem
Unglück, das über unsere Redaktion hereingebrochen, erfahren
hatten, ein paar Kilometer hinter der Kolonne zurückgeblieben,
als plötzlich ein alter Mann vor uns auf die Straße sprang. Der
Sekretär der Parteiorganisation des hiesigen Kolchos, wie sich
bei der Überprüfung seiner Papiere herausstellte. Er hielt uns
an und redete auf uns ein, weiter vorn an der Straße sei eine
Diversantengruppe der Deutschen abgesprungen und habe eben
erst auf ihn geschossen.
Wir stiegen ab, nahmen die Gewehre in die Hand, der Wagen
fuhr langsam weiter, während wir rechts und links der Straße
eine Kette bildeten und so vorrückten. Wir waren sechs im
Wagen. An jeden einzelnen erinnere ich mich nicht mehr, nur
noch an einen gewissen Schuster, einen lauten, ulkigen Burschen, der später im Kessel von Wjasma vermißt wurde. Deutschen begegneten wir nicht, stießen aber nach drei Kilometern
auf einen Lkw. Wie sich herausstellte, waren ihm in kurzem
Abstand nacheinander zwei Reifen geplatzt – das waren die
deutschen Diversanten gewesen, die auf den wachsamen Alten
„geschossen“ hatten. Lachend kletterten wir auf den Lkw und
fuhren weiter.
Uns war schwer ums Herz. Auf den Feldwegen kamen wir
durch Gegenden, die Militärfahrzeuge so gut wie gar nicht
kannten, durch völlig friedliche Dörfer und Städtchen. Wir
fuhren Richtung Nordosten, ins Hinterland. Man muß die besorgten Blicke der Menschen gesehen haben, die vor die Häuser getreten waren und unserem Wagen hinterhersahen. Besonders beunruhigt waren die Einwohner von Schklow. Die Stadt
war klein und schmuddlig, wirkte im Sonnenschein dennoch
fröhlich. Bei der Durchfahrt durch die Stadt sahen wir in den
Türen erschreckte jüdische Frauen stehen, deren Blicke fragten: Sollen wir lieber gehen oder nicht?
Als wir an einem Haus anhielten, um Wasser zu trinken, wurden wir gefragt: „Wo sind die Deutschen? Werden sie hierherkommen? Sagt die Wahrheit, ist’s nicht schon höchste Zeit,
wegzugehen?“ Und wir sagten ihnen, was wir an diesem Tag
für die Wahrheit hielten, nämlich, daß die Deutschen noch weit
seien und daß man sie nicht bis hierher kommen lassen werde.
Schließlich konnten wir nicht wissen, daß wenige Tage später
die Deutschen ausgerechnet bei diesem Schklow unsere von
Orscha in Richtung Mogiljow verlaufende Verteidigungslinie
durchbrechen würden.
Spätabends erst kamen wir durch Smolensk. Das Gerücht lief
um, nach den deutschen Bombenangriffen sei in Smolensk kein
Stein mehr auf dem anderen. Das stimmte nicht. Ich sah an
jenem Abend in Smolensk fast keine zerbombten Gebäude.
Dafür aber waren mehrere zentral gelegene Wohnviertel fast
völlig ausgebrannt. Ja, fast ein Viertel der Stadt lag in Asche.
Anscheinend hatten die Deutschen hier hauptsächlich Brandbomben abgeworfen.
Das war die erste noch qualmende Stadt, in die ich kam. Hier
roch ich zum erstenmal Brandgeruch, den Geruch von ausgeglühtem Eisen und verbranntem Holz, an den ich mich später
noch gewöhnen sollte. Hoch am Himmel brummten Flugzeuge.
Wir bogen zum Eisenbahndamm ab und sahen am anderen
Ende von Smolensk Leuchtkugeln aufsteigen. Also auch hier
gab es Diversanten.
Wir fuhren etwa fünfzehn Kilometer über Smolensk hinaus,
bogen von der Straße ab, kamen in ein feuchtes, nicht sehr
hochgewachsenes Wäldchen, breiteten unsere Zeltbahnen im
Gras aus und waren im Nu eingeschlafen.
Tags darauf las ich in der Politabteilung die von den Funkern
mitgeschriebene Rede Stalins. Ich erinnere mich deutlich der
Empfindungen, die mich in jenen Minuten bewegten. Die erste
war, daß mit dieser Rede, in der Stalin vom Aufbau der Partisanenbewegung im besetzten Gebiet und von der Aufstellung
der Volkswehr sprach, jene gewaltige Kluft überbrückt wurde,
die zwischen den amtlichen Zeitungsmeldungen und dem tatsächlichen Ausmaß des von den Deutschen bereits besetzten
Territoriums bestand.
Dies zu lesen schmerzte, aber wir wußten ohnehin Bescheid
und fühlten uns nun erleichtert, da alles offen ausgesprochen
war. Die zweite Empfindung – wir begriffen, daß die in unseren Köpfen gärenden Vorstellungen, es wären lediglich unsere
Sicherungstruppen zerschlagen worden und irgendwo werde
ein mächtiger Gegenstoß vorbereitet, man werde zuschlagen
und die Deutschen, wenn nicht heute, so morgen, nach Westen
zurückjagen, daß alle Gerüchte, die Südfront gehe zur gleichen
Zeit zum Angriff über, Krakow und so weiter wären bereits
genommen, nicht mehr waren als eine Ausgeburt der Phantasie,
geboren daraus, daß das Bild, das wir uns vom Beginn des
Krieges gemacht und auf den wir uns seit Jahren vorbereitet
hatten, nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmte.
Auch das war bedrückend. Aber es verschaffte wenigstens
Gewißheit. Allen war klar, man würde die Deutschen mit dem
bekämpfen müssen, was zur Hand war, man konnte sich nicht
länger irgendwelchen Trugbildern und leeren Hoffnungen auf
angebliche Erfolge der Südoder der Nordwestfront hingeben.
Es sah überall so aus wie bei uns, hier ein bißchen schlimmer,
dort ein bißchen besser. Wir konnten nur auf die eigene Kraft
setzen.
Diese Gefühle aber waren überlagert von einem anderen Gefühl, und dieses war das wichtigste. Ich erinnerte mich der Zeit
vor dem Krieg und der Rede Schwerniks zur Einführung des
Achtstundentages. Darin hieß es, der Achtstundentag werde
nicht etwa auf Bitten der Werktätigen hin eingeführt, weil denen eine Arbeitszeit von sieben Stunden nicht genüge; es hieß,
uns stünde ein Krieg bevor und es sei eine staatspolitische
Notwendigkeit, zum Achtstundentag überzugehen. Das heißt,
es wurde die volle Wahrheit ausgesprochen, ohne die Augen
vor etwas zu verschließen. Ich war immer der Meinung gewe-
sen, man müsse so sprechen, so würden wir alles besser verstehen. Beim Lesen von Stalins Rede vom 3. Juli hatte ich das
Gefühl, daß sie nichts verhehlte, nichts bemäntelte, daß sie dem
Volk die volle Wahrheit sagte, und das so, wie es unter den
gegebenen Umständen möglich war. Das war erfreulich. Unter
so bedrückenden Umständen die harte Wahrheit so auszusprechen war für mich gleichbedeutend damit, seine eigene Kraft
unter Beweis zu stellen. Und noch eine Empfindung. Die Anrede „…meine Freunde!“ sprach an und ging sehr zu Herzen.
Dieser Ton war in den Reden bei uns schon lange nicht mehr
vorgekommen.
Wir hockten im Wald. Hin und wieder brummten Flugzeuge
über unsere Köpfe hinweg. Natürlich ahnten wir nicht, wie sich
künftig alles wenden sollte. Ich ahnte nicht, daß ich im April
1942 in Moskau sitzen und mein Tagebuch diktieren würde.
Damals aber, nach dieser Rede, hatte ich das Gefühl, ich müsse
vom Fleck weg losziehen, um zu kämpfen und, wenn nötig, zu
sterben, daß ich mich, auch wenn ich bis ans Weiße Meer oder
bis zum Ural zurückweichen müsse, nicht ergeben würde, solange Leben in mir war. So fühlte ich damals…
Heute, nach mehr als dreißig Jahren, gingen die Meinungen
Alexej Surkows und meiner anderen Frontkameraden, als ich
ihnen diese Seiten des Tagebuchs zeigte, in dem Punkt auseinander, wo wir uns damals im Wald getroffen hätten – vielleicht
bei Mogiljow, vielleicht aber auch schon bei Smolensk.
Im „Kriegstagebuch der Westfront“ heißt es, die beiden
Transportkolonnen des Frontstabes wären am 2. Juli in den
Raum Smolensk aufgebrochen, wo der Stab im Sanatorium
Gnesdowo neues Quartier beziehen sollte. Vergleiche ich heute
die Fakten, meine ich, daß ich mit den anderen Mitarbeitern der
„Krasnoarmejskaja Prawda“ wahrscheinlich am 2. oder 3. Juli
von Mogiljow aufgebrochen bin und Stalins Rede in der Auf-
zeichnung durch die Funker der Politverwaltung der Front dann
in einem Wald bei Smolensk las. Ich habe heute, da ich jene
Stelle über Stalins Rede im Tagebuch lese, keine Lust, mit mir
selbst zu rechten. Auch heute noch meine ich, daß meine damalige Auffassung dieser Rede im großen und ganzen ihrer tatsächlichen Bedeutung zu diesem schwierigen historischen
Zeitpunkt entsprach.
In den letzten Jahren hatte ich Gelegenheit, verschiedene Erklärungen zu hören beziehungsweise in der Literatur oder in
Arbeiten von Journalisten zu finden, daß Stalin erst am zwölften Kriegstag mit einer Rede an die Öffentlichkeit trat, während er diese Aufgabe am ersten Tag Molotow übertragen hatte. In diesen Erklärungen heißt es unter anderem, Stalin sei in
den ersten Kriegstagen völlig kopflos gewesen, er habe seine
Arbeit liegengelassen und habe nicht an der Führung des Krieges teilgenommen.
Ich möchte nicht über Fakten urteilen, die ich nicht kenne,
aber psychologisch gesehen erscheint mir diese Erklärung nicht
stichhaltig. Ich meine, daß es in bezug auf Stalin richtiger wäre, davon zu sprechen, wie erschüttert er war. Wir alle waren
erschüttert. Bei ihm aber wurde es noch verstärkt, da die
Hauptlast der Verantwortung für alles, was geschehen war, auf
seinen Schultern lag. Ich zweifle nicht, daß er sich dessen bewußt war, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Stalin
in der ersten Kriegswoche völlig den Kopf verloren und die
Leitung des Landes aus der Hand gegeben hätte.
Und für die Tatsache, daß er seine Rede erst am zwölften
Kriegstag hielt, habe ich eine völlig andere Erklärung als die,
daß er bis dahin einfach außerstande war, diese Rede zu halten.
Sich der großen Kraft seiner trotz allem auch in diesen Tagen
erhalten gebliebenen Autorität bewußt, wollte Stalin diese nicht
aufs Spiel setzen. Er wollte nicht selbst im Rundfunk sprechen,
sich an das Land und an die Welt wenden, bevor sich nicht die
von schrecklichen, stündlich neuen Überraschungen erfüllte
Lage zumindest so weit geklärt hatte, daß er sie einschätzen
und die Perspektiven festlegen konnte, damit er hinterher nicht
gezwungen war, seine Worte zu korrigieren. Ob dabei auch ein
persönliches Moment mitspielte? Fraglos war das der Fall. Ich
bin jedoch überzeugt, daß die Zweckmäßigkeit dieser Entscheidung für den Staat den Vorrang hatte.
Um die Atmosphäre wenigstens annähernd zu rekonstruieren,
in der wir Stalins Rede hörten oder lasen, bringe ich einige
Auszüge aus verschiedenen Armeedokumenten jener Tage.
Unter dem Datum 4. Juli heißt es im Politbericht der von
Brest zurückweichenden 4. Armee der Westfront, daß Teile der
Armee „neue Aufstellungsräume zur Komplettierung des Personalbestandes und zur Ergänzung des Materials bezogen haben. 6. Schützendivision. Bestand… 910 Mann, Fehlbestand 12
781 Mann. 55. Schützendivision. Bestand 2 623 Mann, Fehlbestand 11 068 Mann.“ Auch wenn man berücksichtigt, daß später im Aufstellungsraum der Armee noch Tausende und aber
Tausende aus dem Kessel kommende Männer dazustießen,
zeugen diese Zahlen vom 4. Juli doch sehr beredt vom Ernst
der damaligen Lage.
Das Datum 3. Juli, also das des Vortags, trägt ein von mir im
Archiv gefundener Brief von dem Kommandeur der 75. Schützendivision der gleichen Armee, Generalmajor S. I. Nedwigin,
an den Armeebefehlshaber, General A. A. Korobkow. In den
Erinnerungen des ehemaligen Stabschefs der 4. Armee, General L. M. Sandalow, wird die sich auf dem Rückzug hervorragend schlagende Division mehrmals lobend erwähnt. Aus den
Dokumenten geht hervor, daß ihr Bestand in den ersten Julitagen rund viertausend Soldaten und Kommandeure umfaßte.
Nedwigins Brief vermittelt eine Vorstellung von der morali-
schen Verfassung, in der sich der Kommandeur einer der Divisionen, die sich kämpfend von der Grenze zurückzogen, am
zwölften Kriegstag befand.
„Genosse Generalmajor, endlich komme ich dazu, ein paar
Worte über vergangene und zukünftige Angelegenheiten zu
Papier zu bringen. Der rote Brief* ist zu spät eingetroffen, und
daraus entstand die ganze Tragödie! Die Truppenteile mußten
den Vorstoß als zersplitterte Gruppen hinnehmen. Vom 22. bis
zum 27. habe ich persönlich den Kampf gegen den kräftemäßig
überlegenen Gegner geführt. Der Mangel an Treibstoff und
Munition zwang uns, das ganze Gerät in den Sümpfen zurückzulassen bzw. unbrauchbar zu machen, damit es der Gegner
nicht einsetzen kann.
Richte mich derzeit mit einer Handvoll Männer in der Stadt
Pinsk zur Verteidigung ein, einstweilen ohne vom Gegner bedrängt zu werden. Schwer zu sagen, wie sich das entwickeln
wird.
Erhielt heute den Befehl, mich der 21. Armee zu unterstellen.
Habe bisher niemanden gesehen oder gesprochen, erwarte aber
ihre Vertreter.
Die Stimmung ist prächtig. Bin zur Zeit damit befaßt, einige
der Truppenteile zu ordnen. Nach den Kämpfen verfügt der
Stab noch über fünfzig bis sechzig Prozent der Mitarbeiter, alle
anderen sind gefallen.
Ich wünsche vollen Erfolg bei der Arbeit. Ihren Vertreter habe
ich ausführlich informiert.
Mit kommunistischem Gruß
Nedwigin
Generalmajor“
Zweifellos spricht aus diesem zum Teil offiziell, zum Teil
persönlich gehaltenen Brief tiefer Kummer. Andererseits aber
muß man, liest man diesen Brief, Guderian beipflichten, der in
einem Artikel „Erfahrungen im Rußlandkrieg“ über die sowjetischen Generale und Soldaten schrieb, daß sie „in den schwersten Lagen des Jahres 1941 seelisch nicht versagt haben“.
In einer Mitteilung des Informationsbüros über die erste Reaktion auf Stalins Rede wurde gleichzeitig unser den Deutschen gegenüber geleisteter Widerstand hervorgehoben: „Allerorts stößt der Gegner auf den hartnäckigen Widerstand unserer Truppen, auf vernichtendes Artilleriefeuer und zerstörende
Schläge der sowjetischen Luftstreitkräfte. Auf dem Schlachtfeld bleiben Tausende von Leichen deutscher Soldaten, in
Flammen stehende Panzer und abgeschossene Flugzeuge des
Gegners zurück.“ Das Wort „allerorts“ gab die ganze Kompliziertheit der Lage nicht
* Gemeint ist ein Brief, der einen Befehl im Zusammenhang mit dem Beginn der Kampfhandlungen enthielt. K. S.
wieder. Freilich stießen die Deutschen auf den hartnäckigen
Widerstand unserer Truppen, aber nicht allerorts.
Darüber darf man aber auch etwas anderes nicht vergessen.
Aus deutschen Dokumenten über die Menschenverluste der
Wehrmacht im zweiten Weltkrieg geht hervor, daß die deutsche Wehrmacht in den ersten sechzig Tagen des Krieges an
der Ostfront so viele Soldaten verlor wie an den vorausgegangenen sechshundertsechzig Tagen an allen Fronten, das heißt
bei der Besetzung Polens, Frankreichs, Belgiens, Hollands,
Norwegens, Dänemarks, Jugoslawiens und Griechenlands, einschließlich der Kämpfe um Dünkirchen und in Nordafrika. Das
Verhältnis der Verluste ist verblüffend, es beträgt 1:11. Wenn
ich davon spreche, vergesse ich darüber nicht die Schwere unserer eigenen Verluste. Ich bringe diese Zahl nur, um daran zu
erinnern, daß, obwohl der Chef des Generalstabes des Heeres,
Generaloberst Halder, sich beeilte, am 3. Juli 1941 zu notieren:
„Es ist… wohl nicht zuviel gesagt, wenn ich behaupte, daß der
Feldzug gegen Rußland innerhalb [von] 14 Tagen gewonnen
wurde“, dieser Feldzug dennoch mit Verlusten begann, wie sie
die faschistischen Armeen bis dahin in dem nun schon fast
zwei Jahre währenden zweiten Weltkrieg noch nie hatten hinnehmen müssen.
Halders Meinung nach war der Feldzug an diesem Tag bereits
gewonnen.
Stalin hingegen war, wie seine Rede beweist, am gleichen
Tag, am 3. Juli, der Meinung, der Kampf auf Leben und Tod
habe eben erst begonnen.
Ich wende mich wieder dem Tagebuch zu.
… Am nächsten Tag bauten wir eine Unterkunft für die Redaktion auf. Wir schlugen Zelte auf, und Aljoscha Surkow
führte uns allen erstmals sein hervorragendes Organisationstalent als alter Soldat vor. Um die Verpflegung war es nach wie
vor schlecht bestellt. Ab und an gab es schon etwas, das Ähnlichkeit mit Verpflegung hatte, und wir würgten es runter.
Im Auftrag der Redaktion fuhr ich über Smolensk zu einer
Panzerdivision, die auf einem die Stadt umgebenden bewaldeten Hügel lag, Wir kamen an Bahnhofsgleisen und Lagerhäusern vorbei und sahen, daß eine Unzahl von Kanonen ausgeladen wurde; schwere Artillerie wurde auf die Hügel geschleppt.
Beim Näherkommen sahen wir einen Panzer BT-7 mühsam
bergan klettern und schlossen daraus, daß wir den Standort der
Panzerdivision gefunden hatten. Vom Chalchyn gol her war ich
gewohnt, dass eine Panzerbrigade oder ein Panzerbataillon vor
allem aus Panzern bestand. Hier aber mußte man diese Vorstellung fallenlassen. Die Division hatte nur Menschen, aber keine
Panzer. Der hügelan kletternde Panzer war, wie sich zeigte, der
einzige, den die Division noch besaß. Alle anderen waren im
Kampf vernichtet oder waren gesprengt worden, wenn sie den
letzten Tropfen Kraftstoff verbraucht hatten. Nur ein einziger
war – ich glaube von Brest – bis hierher gekommen. Ich führte
mit den Männern der Division viele Gespräche; aus ihren Berichten ging hervor, sie hatten sich gut, mehr noch, tollkühn
geschlagen, während Waffen und Gerät vom Frühjahrsmanöver
her in schlechtem Zustand waren und in den folgenden Tagen
durch modernere ersetzt werden sollten. Am ersten Kriegstag
befand sich die Hälfte der Panzer in Reparatur, während die bei
der Truppe verbliebenen Panzer nicht gefechtsbereit waren.
Ich weiß nicht, wie es woanders war, bei dieser Division jedenfalls lagen die Dinge so. Dennoch nahmen die Männer auch
in dieser Situation den Kampf gegen die Deutschen auf. Erst
ein Panzer, dann der zweite, der dritte. Und so ging es Tag für
Tag, zehn Tage lang, bis sie keine Panzer mehr hatten. Da marschierten sie zu Fuß los und erreichten Smolensk. Den Berichten der Männer zufolge hatten wir den Deutschen trotz der
quantitativen und qualitativen Überlegenheit ihrer Panzerfahrzeuge – unsere Division hatte damals nur BT-7 und BT-5 –
dennoch schwere Verluste zugefügt. Bei der Division war keine Niedergeschlagenheit zu verspüren, sondern nur fürchterliche Wut über diesen unsinnigen Ausgang und auch der
Wunsch, so schnell wie möglich neue Waffen und neues Gerät
zu erhalten, die Division umzugliedern und Rache zu nehmen.
Einer der Panzerleute, ein Major, erzählte mir, wie er und einige andere Soldaten beim Ausbruch aus dem Kessel in einem
Roggenfeld von einer „Messerschmitt“ gejagt worden waren.
Nachdem der Deutsche seine ganze Munition auf sie verschossen hatte, versuchte er, sie mit den Rädern zu zerquetschen.
Der Major hatte sich in einen Feldrain gelegt. Dreimal war die
„Messerschmitt“ über ihn hinweggejagt, bemüht, ihn mit den
ausgefahrenen Rädern zu treffen. Einmal war es ihr gelungen.
Der Major lüftete seine Feldbluse und zeigte mir einen handbreiten blauen Streifen, der sich über den Rücken zog.
Wir kehrten in die Redaktionsunterkunft zurück, und ich
hockte den ganzen Abend da und grübelte: Was sollte ich bloß
schreiben? Ich wollte mich auf etwas stützen, auf Menschen,
die durch ihre Heldentaten inmitten all dieser Mißerfolge die
Hoffnung aufkeimen ließen, alles werde sich zum Besseren
wenden.
Und eben aus diesem Gefühl heraus schrieb ich anderntags im
Morgengrauen für die „Iswestija“ meine erste Reportage über
Panzersoldaten…
Wie ich heute aus Dokumenten ersehen kann, handelte es sich
um die 30. Panzerdivision. Sie wurde von den ersten Kriegstagen an von Oberst S. I. Bogdanow geführt. Später brach die 2.
Gardepanzerarmee der 1. Belorussischen Front am 22. April
1945 unter Führung des gleichen Mannes – des Marschalls der
Panzertruppen Bogdanow – unter Umgehung Berlins als erste
ins nordwestliche Randgebiet dieser Stadt durch.
Damals aber, Anfang Juli 1941, hatte die von Oberst Bogdanow geführte Division einen Bestand von eintausendneunzig
Mann, davon dreihundert Panzersoldaten. Neunzig Lkws, drei
Zugmaschinen und zwei Panzer T-26, von denen einer, wie aus
den Unterlagen hervorgeht, „nicht einsatzbereit“ war. Im Tagebuch habe ich mich geirrt: Der einzige intakte Panzer der
Division war kein BT-7, sondern ein T-26.
Ich schrieb im Tagebuch, daß nach den Worten der Panzersoldaten sich am ersten Kriegstag die Hälfte ihrer Panzer in
Reparatur befanden.
In den Archiven habe ich kein Zahlenmaterial über diese Panzerdivision gefunden, bin aber auf Unterlagen über den Zustand anderer mechanisierter Verbände gestoßen.
In einem Bericht von Generalmajor Mostowenko, Kommandeur des 11. mechanisierten Korps, das gleichfalls im Rahmen
der Westfront kämpfte, heißt es, das Korps habe am 22. Juni
über drei KW und vierundzwanzig „Vierunddreißiger“, also
über siebenundzwanzig mittlere und schwere Panzer, sowie
über dreihundert leichte Panzer vom Typ T-26 und BT verfügt.
Die leichten Panzer zur Auffüllung ‘es Korps hatte man bereits
mit stark verschlissenem Motor und Fahrwerk übernommen.
Etwa fünfzehn Prozent der Panzer waren am ersten Kriegstag
nicht einsatzbereit. Als dem Korps am zweiten Kriegstag eine
Offensivaufgabe gestellt wurde, konnte die Hälfte seiner Soldaten nicht eingesetzt werden, da es an Waffen und Gerät fehlte.
Laut Plan sollte das Korps von der 11. gemischten Fliegerdivision gesichert werden, doch als ein Verbindungsoffizier bei
der Division eintraf, stellte sich heraus, daß der Gegner sämtliche Flugzeuge bereits auf den Flugplätzen zerstört hatte. Wie
Militärhistoriker bezeugen, nahm das nur zur Hälfte aufgefüllte
und fast ausschließlich mit leichten Panzern ausgerüstete 1.
mechanisierte Korps dennoch an den aktiven Kampfhandlungen unserer Truppen im Raum Grodno teil, wo der Hauptgegenstoß von dem mit T-34 ausgerüsteten 6. mechanisierten
Korps unter General Chazkilewitsch vorgetragen wurde. Die
Kampfhandlungen dieses Korps und einiger anderer unserer
Truppenteile im Raum Grodno banden in den ersten Kriegstagen sechs deutsche Divisionen und starke Fliegerkräfte an diesen Raum und durchkreuzten die Pläne der Deutschen recht
erheblich.
Im Tagebuch erwähnte ich, daß ich bei der Division, bei der
ich mich aufhielt, keine Niedergeschlagenheit bemerkte, dafür
aber fürchterliche Wut und den Wunsch, so rasch wie möglich
neue Waffen und neues Gerät zu erhalten und Rache zu nehmen.
Das Kriegstagebuch des 11. mechanisierten Korps bestätigt
auch dort die gleiche Stimmung nach ebenso schweren Kämpfen. General Mostowenko schrieb in seinem Bericht:
„Mir ist bekannt, daß die aus dem Kessel ausgebrochenen
Soldaten und Kommandeure des Korps sich den Truppenteilen
der 21. Armee angeschlossen haben. Nehme an, bei anderen
Armeen sieht es ähnlich aus. Meiner Meinung nach dürfen wir
nicht nur die Offensive der Faschisten zum Stehen bringen,
sondern müssen auch selber angreifen und ihnen auf ihrem
Territorium eine vernichtende Niederlage bereiten. Aus diesem
Grunde dürfen die Panzerkader nicht verstreut werden, sondern
man muß sie aus den Schützeneinheiten herausziehen und mit
der Aufstellung von Panzerverbänden beginnen… Es ist zu
befürchten, daß bezüglich der Größe und der Unzweckmäßigkeit solcher Verbände, wie sie mechanisierte Korps nun einmal
darstellen, voreilige Schlußfolgerungen gezogen werden. Ich
halte derartige Schlußfolgerungen für falsch und verfrüht. Die
Erfahrung des Krieges hat das nicht bestätigt. Der Gegner setzt
seine Panzerkorps und Panzergruppen in den bei ihm üblichen
operativen Formen gegen uns ein, wie sie in Polen und in
Frankreich praktiziert wurden, und das nicht ohne Erfolg. Warum sollten wir, die wir uns darauf vorbereiten, den Gegner zu
zerschmettern, ihn zu verfolgen und zu vernichten… auf große
bewegliche Verbände verzichten?…“
Jene Männer, die die ersten schweren Niederlagen hinnehmen
mußten, fanden dennoch die Kraft, daran zu glauben, daß eines
Tages, war die Zeit erst dafür reif, auch unsere mechanisierten
Korps auf das Territorium des Feindes vordringen würden. Die
Geschichte hat gezeigt, daß ihr Zukunftsglaube sie nicht trog.
Als ich die Reportage fertig hatte, ließ ich sie bei meinen Kameraden zurück, die sie an die „Iswestija“ weiterleiten sollten,
während ich selber noch am gleichen Morgen mit Surkow,
Troschkin und Kurganow in Richtung Borissow aufbrach. Gerüchten zufolge sollte irgendwo bei Borissow die Proletarische
Division kämpfen. Wir fuhren mit einem alten offenen Kombi
der „Iswestija“. Der Fahrer, Pawel Iwanowitsch Borowkow,
war ein lustiger Mann von fünfunddreißig Jahren, ein Schlauberger mit einem unwahrscheinlichen Mundwerk. Im Laufe
einer Stunde hatte er jedem im Fahrerhaus Mitfahrenden ein
Loch in den Bauch geredet, und stieg der nächste bei ihm ein,
machte er es mit ihm genauso. Zudem hatte er eine ausgeprägte
eigene Meinung. Seiner Meinung nach war nur eine Fahrt von
Ost nach West gefährlich, eine Fahrt von West nach Ost hingegen völlig ungefährlich. Ging es nach vorn, so hatte er Angst
vor Tiefangriffen durch Flugzeuge und fuhr bei halbgeöffnetem Türschlag mit einer Geschwindigkeit von 20 Stundenkilometern, immer absprungbereit. In umgekehrter Richtung aber
war er aus einem unerfindlichen Grund der Meinung, auf einen
von West nach Ost fahrenden Wagen würden keine Bomben
geworfen, und holte aus seinem Kombi beinahe achtzig Stundenkilometer heraus.
Zunächst fuhren wir auf einem Feldweg, hinter Smolensk aber
kamen wir auf die Minsker Chaussee. Der Straßenbelag war
durch die Bombenabwürfe der Deutschen verhältnismäßig wenig in Mitleidenschaft gezogen. Zweifellos schonten die Deutschen die Chaussee als ihre künftige Vormarschstraße. Ihre
Selbstsicherheit war doch ein wenig deprimierend.
Ohne besondere Zwischenfälle erreichten wir eine Straßengabelung, wo eine der Straßen nach Orscha abzweigte und dann
weiter über Schklow nach Mogiljow führte. Auf dieser Straße
waren ständige Truppenbewegungen und starker Verkehr.
Ganze Lkw-Kolonnen waren unterwegs und eine Menge leichte Panzer. Wir überquerten die Straße und kamen zu einem
Waldrand, wo mehrere leichte Stabspanzer standen. Wir waren
beim Stab der 73. Division angelangt. Das war eine gut ausgerüstete aktive Division in voller Gefechtsstärke, die allerdings
noch nicht im Kampf gestanden, noch kein Pulver gerochen
hatte.
Mir fiel ein, daß ich damals, von Borissow kommend, genau
hier zum erstenmal unsere Stellung beziehenden Truppen gesehen hatte. Auf meine Frage, seit wann diese Division hier
stehe, erhielt ich zur Antwort, seit dem 27. Also hatte ich damals sie gesehen. Zur Mittagszeit kamen wir an. Troschkin
ging los, um Aufnahmen von den Schanzarbeiten zu machen.
Im offenen Gelände vor dem Wald hoben Tausende von Bauern einen tiefen Panzergraben aus. Als Troschkin zurück war,
photographierte er im Wald Soldaten beim Lesen der Zeitungen, die wir aus der Redaktion mitgebracht hatten. Zum erstenmal sah ich einen Photoreporter bei der Arbeit. Bisher hatte
ich die naive Vorstellung gehabt, ein Photoreporter fange ganz
einfach verschiedene Augenblicke des Lebens ein und banne
sie auf seinen Film. Troschkin aber rückte die Soldaten wohl
an die zehnmal zurecht, nahm dem einen den Stahlhelm ab und
setzte ihn einem anderen auf, dann forderte er sie auf, ihre Gewehre in die Hand zu nehmen. So drangsalierte er sie wohl eine
gute halbe Stunde. Ich staunte, wie gern sich die Männer photographieren ließen, und über ihre bewundernswerte Geduld.
Das war damals noch etwas Neues. Im gleichen Wald lag auch
die Redaktion einer Divisionszeitung. Ein junger Redaktionsmitarbeiter kannte viele Gedichte und schrieb wohl auch selbst
welche. Wir unterhielten uns über dieses Thema und auch darüber, welcher Dichter sich zur Zeit wo aufhielt und was er
schrieb. Das Gespräch war irgendwie sonderbar, sinnlos. Nach
dem Photographieren versuchten wir herauszufinden, welche
Einheiten noch weiter vorn, näher auf Borissow zu lagen und
wo die Proletarische Division stand. Die Division unterstehe
ihren Aussagen nach einer anderen Armee, wo aber diese Armee sei, wisse hier niemand. Sie wüßten nur, was vor ihnen
war. Die Division, bei der wir uns gerade aufhielten, gehöre zu
einer anderen Armee. Sie habe an der Straße, links und rechts
der Minsker Chaussee, Stellung bezogen, wo sie die Deutschen
erwarten und sich ihren durchgebrochenen Truppen entgegenstellen sollte.
Bei der Division war im Umlauf, die höhere Führung habe beschlossen, den Deutschen hier eine Neuauflage der Schlacht
von Borodino zu liefern und sie zum Stehen zu bringen. Ich
weiß nicht, ob die höhere Führung das wirklich von sich gegeben hatte oder ob es ihr von den Männern zur eigenen Beruhigung in den Mund gelegt wurde, jedenfalls gab es hier, wovon
wir uns im Laufe des Tages überzeugen konnten, viel Technik
mit allem Drum und Dran, nur keine schweren und mittleren
Panzer. Es gab viel Panzerabwehrartillerie, hinter jedem Hügel
und jedem Strauch ragten ihre Rohre hervor. Vorschriftsmäßige Schützengräben und auch Panzergräben waren ausgehoben.
Die Brücken weiter vorn waren ebenso vermint wie die Straßen. Hier würden die Deutschen wirklich auf erbitterten Widerstand stoßen.
Offensichtlich waren sie später, um den 10. Juli, ebendeshalb
nicht hierher vorgestoßen, sondern waren weiter südlich, bei
Schklow, durchgebrochen und hatten diese Verteidigungslinie
umgangen. Und die hier stehenden Truppenteile mußten sich
aus dem Kessel herausschlagen.
Vor Sonnenuntergang wurde der Stab der Division, bei der
wir haltgemacht hatten, an einen Ort ganz in der Nähe verlegt.
Mit ihm brachen auch wir auf. Fuhren zunächst ungefähr drei
Kilometer auf der Chaussee in Richtung Borissow, bogen dann
nach links in einen Wald ab und gelangten auf eine kleine
Lichtung.
Als wir auf den Wald, auf den Waldrand zufuhren, bot sich
uns ein unvergeßliches Bild. Flache, vom roten Schein der untergehenden Sonne übergossene Hügel, dunkelgrüne Baum-
gruppen nahe einem kleinen Dorf. Junge Burschen trieben
Pferde über die Kuppe eines Hügels. Ein dünner Rauchschleier
lag über den Dächern. Es war das friedliche Bild der zentralrussischen Natur. Man konnte sich nur schwerlich vorstellen,
daß der Krieg so nahe war. In dem Wald, wohin man den Divisionsstab verlegt hatte, war es düster und feucht. Es war ein
dichter Hochwald. Wir aßen in aller Eile etwas, brachen Fichtenzweige ab, breiteten unsere Zeltbahnen darüber und legten
uns neben unserem Kombi aufs Ohr, denn wir wollten bei der
Division übernachten und erst am nächsten Morgen in Richtung Borissow weiterfahren. Obwohl die Lage weiter vorn unklar war, hatten wir keine Lust, umzukehren und den Armeestab zu suchen, bei dem wir sicherlich auch nicht mehr erfahren hätten. Wir erwachten am nächsten Morgen zeitig und fuhren gleich zur Chaussee. Anfangs sahen wir rechts und links
der Chaussee Artilleriestellungen, später Artilleristen, die offensichtlich die künftigen Feuerstreifen vermaßen. Sie trugen
ihr artilleristisches Gerät und wirkten wie Geodäsiestudenten.
Sonst weit und breit nichts. Ab und an neben der Chaussee
Trichter und Blutspuren. Leichen waren nicht zu sehen, sie
waren wohl bereits weggebracht worden.
So fuhren wir sechzig, fünfundsechzig, siebzig Kilometer.
Dann sahen wir links von der Chaussee in der Nähe einer kleinen Kirche drei schwere Geschütze, die nicht in Stellung gegangen waren, sondern samt ihren Zugmaschinen unmittelbar
an der Friedhofsmauer standen. Wir hielten an und wollten
Näheres erfahren, aber die Artilleristen wußten auch nicht
mehr als wir. Sie hatten Befehl erhalten, hier zu stehen, und so
standen sie eben hier. Sie sagten uns, weiter vorn hätte eben ein
schwerer Bombenangriff stattgefunden. Eine Flakbatterie sei
kurz und klein geschlagen worden.
Ein Stück weiter erblickten wir tatsächlich diese zerstörte Bat-
terie. Das lange Rohr einer der Kanonen war derart verbogen,
daß man sich nur schwer vorstellen konnte, wie dies mit Stahl
möglich war. Zehn Kilometer weiter sahen wir plötzlich in
einem lichten Wald zur Linken Männer in Uniformen. Wir
verließen die Straße und bogen in den Wald ab, von dem aus
man uns verzweifelt zurief, wir sollten unseren Wagen schleunigst tarnen.
In dem Wald herrschte ein Chaos. Die Bäume ringsum waren
entwurzelt oder abgebrochen. Nach den eben erst zu Ende gegangenen schrecklichen Bombenangriffen war der Wald mit
Trichtern übersät. Schließlich stießen wir auf einen Hauptmann. Er sagte, weiter vorn wichen die Unseren zurück, er habe bei dem Bombenangriff viele Männer verloren, sie hätten
sich gerade erst hierher zurückgezogen, als sie in den Bombenangriff gerieten, niemand wisse, wo der Regimentskommandeur abgeblieben sei. Wir fragten ihn, ob es weiter vorn noch
irgendwelche, wenn auch auf dem Rückzug befindliche Einheiten gebe. Er antwortete, ja, vorn seien Einheiten der Proletarischen Division.
Wir kehrten auf die Chaussee zurück. Surkow machte den
vernünftigen Vorschlag, nicht weiterzufahren, wenn die Lage
vorn nicht klar sei. Troschkin und ich stritten mit ihm. Nicht
etwa, weil wir so tapfer gewesen wären, aber wir wollten einfach nicht ohne jedes Material umkehren. Außerdem hatten
Troschkin und ich damals noch die naive Vorstellung, daß, da
wir ja nach vorn fuhren, erst der Divisionsstab kommen müsse,
dann ein Regimentsstab und dann erst die vorgeschobenen
Stellungen. Wir dachten, es existierten mehrere Linien – eine
erste, eine zweite und eine dritte –, die wir durchfahren müßten, bevor wir auf die Deutschen stießen.
Surkow beantwortete unsere Einwände mit Schweigen, worauf Troschkin und ich über Borowkow witzelten, der mit einer
Geschwindigkeit von zwanzig Stundenkilometern nach Westen, nach Osten aber mit achtzig Sachen fahre. Wie sich später
herausstellte, bezog Surkow, der unser Gespräch nicht von Anfang an mitbekommen hatte, diese Witzelei auf sich und
schwieg beleidigt – er würde nichts mehr von Anhalten sagen,
bevor wir nicht selbst davon anfingen. Wir fuhren weiter. Am
Himmel kreisten deutsche Flugzeuge. Mehrmals mußten wir
aus unserem Kombi springen und uns auf die Erde werfen. Bei
einer dieser Bauchlandungen zerkratzte ich mir das Gesicht.
Verärgert und völlig ahnungslos erreichten wir schließlich eine
Brücke über einen Fluß. Ich glaube, es war der Bobr. An jedem
Brückenpfeiler waren bereits große Kisten mit Sprengstoff
festgebunden. In der Nähe hielten sich Pioniere bereit. Ein
Stück abseits probierten Pionierkommandeure offensichtlich
aus, wie die Zündschnur brannte.
Wir hielten kurz an. Troschkin und ich meinten, wir sollten
vielleicht die Lage erst klären, bevor wir weiterfuhren. Jetzt
aber war Surkow dafür, weiterzufahren, dann würden wir ja
sehen. Was Kurganow betrifft, so verhielt er sich in unserem
Streit ziemlich passiv. Er wollte nur mit jemandem zusammentreffen, der wenigstens etwas sagen und ihm ein Interview für
die „Prawda“ geben konnte. Wir schlüpften über die Brücke.
Die Pioniere schienen uns etwas sagen zu wollen, aber sie sagten nichts, beziehungsweise kamen sie gar nicht dazu. Nachdem wir die Brücke passiert hatten, legten wir noch drei bis
vier Kilometer zurück. Weiter vorn, zur Linken und zur Rechten, war Geschützfeuer zu hören. Plötzlich blinkte rechts von
der Straße etwas in der Sonne. Wir hielten und sahen zwanzig
Schritt von der Straße weg ein Beiwagenkrad und neben ihm
einen hochgewachsenen Divisionskommandeur mit einer Karte
in der Hand. Seine goldenen Ärmeltressen funkelten in der
Sonne. Dieses Funkeln war uns aufgefallen. Bei dem Divisi-
onskommandeur stand ein Oberst. Wir sprangen aus dem Wagen und gingen zu ihnen. Surkow, unser Dienstgradältester,
stellte uns vor als Vertreter zentraler Zeitungen – der „Iswestija“ und der „Prawda“ – und bat die beiden Offiziere um ein
Gespräch. Der Divisionskommandeur musterte uns seltsam und
sagte: „Guten Tag, werte Genossen“, drückte uns kräftig die
Hand und setzte nach einer kurzen Pause hinzu: „Nun schert
euch aber schnellstens zum…“
Kurganow ließ sich nicht beirren, holte professionell sein Notizbuch hervor und fragte: „Vielleicht könnten Sie doch fünf
Minuten für ein Interview erübrigen?“
„Wie bitte?“ fragte der Divisionskommandeur zurück. „Ich
hab Ihnen doch schon gesagt, Sie sollen sich um Gottes willen
von hier wegscheren! Fahren Sie zwanzig Kilometer zurück.
Dort werde ich meinen Stab haben. Morgen können wir uns
dann dort unterhalten. Sind Sie über die Brücke gekommen?“
„Ja.“
„Dann sehen Sie zu, daß Sie über sie schnellstens wieder auf
die andere Seite kommen.“
Wir stiegen ein, wendeten, fuhren unter den verwunderten
Blicken der gleichen Pioniere wieder über die Brücke und hielten nach drei Kilometern bei einem Brunnen.
Nachdem wir uns von dem Divisionskommandeur verabschiedet hatten, waren wir wieder auf die Straße gefahren und
hatten auch den Divisionskommandeur in sein Beiwagenkrad
steigen sehen. Nun verstanden wir überhaupt nichts mehr, außer daß wir irgendwie ins Fettnäpfchen getreten waren. Später
klärte sich alles auf. Die Proletarische Division hatte sich nach
erbittertem. Kampf zurückgezogen und war, nachdem sie sich
von den Deutschen gelöst hatte, hinter den Bobr zurückgegangen, an dem die neue Verteidigungslinie verlaufen sollte. Die
Brücke, über die wir gekommen waren, befand sich bereits vor
der vordersten Linie. Sie sollte gesprengt werden, sobald die
Offiziere von vorn zurückgekehrt waren, die den Feuerbereich
der Artillerie ein letztes Mal überprüfen sollten. Dabei eben
hatten wir den Divisionskommandeur angetroffen, der in Eile
war. Entgegen unseren Korrespondentenvorstellungen von
Strategie und Taktik war die Division nicht auf der Straße,
sondern beiderseits davon durch die Wälder zurückgegangen.
Dort griffen die Deutschen bereits an, sicherlich nicht vermutend, daß die Straße frei war. Als uns der Divisionskommandeur zurückschickte, waren die Deutschen links und rechts
bereits hinter uns und näherten sich dem Fluß. Das alles erfuhren wir erst hinterher. Damals, als wir bei dem Brunnen anlangten, hatten wir lediglich das unbestimmte Gefühl, einer
Katastrophe entronnen zu sein. Wir ließen ein Kochgeschirr an
einem Strick in den Brunnen hinab und schöpften Wasser. Es
war kaltes Quellwasser, und wir tranken…
Vergleiche ich heute die Zeit unserer im Tagebuch beschriebenen Fahrt in Richtung Borissow mit den Berichten über die
Kämpfe in diesem Abschnitt, bin ich mir fast sicher, daß wir
uns am 6. Juli in diesem Raum aufhielten.
Surkow war später fest davon überzeugt, damals am Bobr L.
G. Petrowski getroffen zu haben, der zu Kriegsbeginn den alten
Dienstgrad eines Korpskommandeurs trug, weil er erst kurz
zuvor aus der Haft zurückgekehrt und sofort in den Kampf gezogen war, ohne seinen neuen Dienstgrad erhalten zu haben.
Auch ich hatte mich an den Gedanken gewöhnt, mit Petrowski
zusammengetroffen zu sein. Beim nochmaligen Lesen meines
Tagebuchs jedoch änderte ich meine Meinung. Erstens steht
darin wirklich nicht „Korpskommandeur“, sondern „Divisionskommandeur“, und zweitens operierte das 63. Schützenkorps
unter Petrowski damals weiter südlich, im Raum RogatschowShlobin.
Wie mir heute aus Archivmaterial klargeworden ist, konnten
wir damals, am 6. Juli, an der Minsker Chaussee, am Bobr, nur
einem Mann im Dienstgrad eines Divisionskommandeurs begegnet sein, und zwar dem Kommandeur des 44. Schützenkorps, W. A. Juschkewitsch, einem der sowjetischen Freiwilligen, die in Spanien gewesen waren. Aus den gleichen Gründen
wie Petrowski war ihm nicht der Generalsdienstgrad verliehen
worden, und er war als Divisionskommandeur an die Front
gegangen. Mit diesem alten Dienstgrad waren wir ihm an der
Minsker Chaussee begegnet. Einen Monat später, im August,
hatte er den Dienstgrad eines Generalmajors, und wieder vier
Monate später befreite die von ihm damals geführte Armee
eine der ersten Städte, die wir von den Deutschen zurückeroberten, nämlich Kalinin. Das ist in der Meldung des Informationsbüros vom 16. Dezember 1941 nachzulesen.
Armeegeneral J. G. Kreiser, der 1941 als Oberst die damals
Juschkewitsch unterstellte 1. motorisierte Schützendivision (bis
Mai 1940 hieß sie Moskauer Proletarische Division) führte, die
im Abschnitt Borissow die Hauptlast der Kämpfe zu tragen
hatte, schrieb später in seinen Erinnerungen, seine Division
hätte am 6. Juli am Bobr Verteidigungsstellungen bezogen.
Ich will nicht behaupten, daß der Oberst, den wir damals, am
6. Juli, jenseits der Brücke zusammen mit Juschkewitsch trafen, J. G. Kreiser war, aber er hätte es durchaus sein können.
… Nachdem wir am Brunnen Wasser getrunken hatten, fuhren wir weiter in Richtung Smolensk. Da wir müde und staubig
waren, machten wir in einem Dörfchen halt und betraten ein
Haus. Die Stube war mit alten Zeitungen tapeziert; an den
Wänden hingen bunte, mit einem Rahmen versehene Zeitungsausschnitte. In der rechten Ecke ein Wandbrett mit Heiligenbildern und eine Bank, auf der ein alter Mann saß, ganz in
Weiß – weißes Hemd und lange weiße Unterhosen –, mit grau-
em Vollbart und ziegelrotem faltigem Hals. Die Frau, ein altes
Weiblein mit flinken Bewegungen, bot uns neben dem Alten
auf der Bank Platz an und setzte uns Milch vor. Die Nachbarin
kam.
„Heult Dunka immer noch?“ fragte die Alte. „Ja, immer
noch“, antwortete die Nachbarin. „Ihr Bursche ist gefallen“,
klärte uns die Alte auf. Die Tür zum Flur ging auf, und wir
hörten in der Nähe, anscheinend vom Nachbargehöft her, die
durchdringenden Schreie einer Frau. Die Alte, die sich zu uns
auf die Bank gesetzt hatte, sah in aller Ruhe zu, wie wir gierig
die Milch tranken.
„Von uns sind alle im Krieg“, sagte sie. „Alle Söhne sind im
Krieg, und die Enkel sind im Krieg. Ob der Deutsche bald hier
sein wird?“
„Wir wissen es nicht“, sagten wir, obwohl wir glaubten, daß
es nicht mehr lange dauern würde.
„Sicher bald“, sagte die Alte. „Die Herden sind schon alle
weggetrieben. Wir trinken die letzte Milch. Haben unsre Kuh
auch zur Kolchosherde gegeben, solln sie sie doch wegtreiben.
Will’s Gott, bringt man sie auch wieder zurück. Wenig Leute
sind noch im Dorf. Alle gehen weg.“
„Und Sie?“ fragte einer von uns.
„Wo sollen wir schon hin? Wir bleiben hier. Kommen die
Deutschen, sind wir da, kommen Unsre zurück, sind wir auch
da. Der Alte und ich werden drauf warten, wenn wir’s erleben.“
Sie sprach, der Alte aber saß da und schwieg. Ich hatte den
Eindruck, ihm war alles egal. Aber auch alles. Er war sehr alt
und wäre wohl am liebsten auf der Stelle gestorben, den Blick
auf uns und unsere Rotarmistenuniform gerichtet, um die Deutschen nicht in seinem Haus zu erleben. Und daß sie kommen
würden, das konnte ich ihm vom Gesicht ablesen, davon war er
überzeugt.
So saß er stumm auf der Bank und wiegte seinen hundertjährigen grauen Kopf, als wolle er bekräftigen: Ja, ja, sie kommen,
sie kommen.
Uns war schwer ums Herz damals in dieser Hütte. Tränen
standen uns in den Augen, weil wir den Alten nichts, aber auch
gar nichts Tröstliches sagen konnten.
Auf dem Rückweg passierte nichts Bemerkenswertes mehr.
Im Kombi durchgeschüttelt, schrieb ich unterwegs nach Smolensk ein Gedicht darüber, daß man den Deutschen nichts hinterlassen, daß man alles niederbrennen müsse, damit sich die
verbrannte, verunstaltete Natur gegen sie auflehnte. Ich fand
die Verse ganz gut, besser als die üblichen Zeitungsgedichte.
Aber gerade weil es so ausdrucksstark war, brachte es die
„Krasnoarmejskaja Prawda“ nicht…
Nach vielen Jahren habe ich dieses Gedicht wieder gelesen,
das ich im fahrenden Wagen in mein Frontnotizbuch kritzelte.
Das, was ich entziffern konnte, bestätigte nicht meine damalige
Meinung, daß „die Verse ganz gut waren, besser als die üblichen Zeitungsgedichte“. In Wirklichkeit war das Gedicht
schlecht. Das Herz war übervoll von Kummer und Zorn, und
die Verse – eben weil sie unter dem unmittelbaren Eindruck
des an diesem Tag Erlebten geschrieben – waren nicht nur
nicht gut, sie waren mißlungen.
Und das lag nicht am starken Ausdruck, weswegen es „unsere
»Krasnoarmejskaja Prawda’ nicht abdruckte“, sondern weil
hinter diesem starken Ausdruck, hinter dem Aufschrei des
Schmerzes noch nicht jene innere Kraft stand, die ein Gedicht
erst zum Gedicht werden läßt.
So ein Gedicht entstand später wie von selbst und sah ganz
anders aus. Es war im November 1941, als wir auf dem Rückweg vom Murmansker Frontabschnitt auf der Fahrt nach Ar-
changelsk im Eis steckenblieben.
Damals eben erinnerte ich mich der ersten Kriegswochen und
all dessen, was ich durchlebt und was sich in meinem Herzen
geläutert hatte, eben all dessen und nicht nur unserer Fahrt in
die Gegend von Borissow, obwohl als genaueste und lebensnaheste Einzelheit in diesem Gedicht eben jener Tag und jenes
Dorf auferstehen:
Gedenkst du der Hütte noch vor Borissow?
Des armen verzweifelten Mädchengeschreis?
Die steingraue Alte im Tüchlein,
im plüschnen, der weiß wie als Leiche gekleidete Greis?
Wir wußten nicht, wie ihnen Trost zu spenden.
Doch die Herzen der Weiber verstanden uns gleich.
Die Alte ergriff uns nur sacht bei den Händen:
„Nun geht nur, ihr Lieben, wir warten auf euch!“
… Gegen Abend waren wir zurück in der Redaktion, und am
nächsten Morgen ging’s wieder los, diesmal in den Kreis Krasnopolje. Diese Fahrt, auf der wir nicht einen einzigen Schuß
hörten, ausgenommen das ferne Donnern der Kanonade irgendwo am Dnepr, bei Rogatschow, blieb doch im Gedächtnis
haften. Wir kamen durch Roslawl, Kritschew, Tscherikow und
Propoisk – Kleinstädte, in die ich, wäre der Krieg nicht gewesen, bestimmt nie im Leben gekommen wäre.
In Roslawl ging ich mit dem Photoreporter der „Prawda“ Mischa Kalaschnikow in einen Erfrischungsraum, wo man uns
aus einer Flasche die letzten Tropfen eines Likörs einschenkte.
Die Straßen waren staubig, und die von Kritschew nach Krasnopolje war unglaublich holprig. In dem Rayonstädtchen Krasnopolje hielten wir vor einem kleinen Buchladen und kauften
ein paar Karten des Gebietes Mogiljow und von Belorußland.
Es waren Karten für Kinder, wie wir sie einstmals in der Schule grün, blau und rot ausgemalt hatten. Nie wäre es mir jemals
in den Sinn gekommen, daß ich im Kriege ausgerechnet nach
so einer Karte bestimmte Städte und Dörfer suchen würde. Von
der Redaktion hatten wir den Auftrag, im Rayon Krasnopolje
die irgendwo dort liegenden Divisionen zu finden, die nach
dem Ausbruch aus dem Kessel komplettiert wurden. Man hatte
uns gesagt, sie verfügten über große Kampferfahrungen und
bei diesen Divisionen könnten wir genau das nötige Material
erhalten. Eine der Divisionen fanden wir wirklich in der Nähe
von Krasnopolje. Drei Mann von uns blieben bei dieser Division, während Aljoscha Surkow und ich zu einer anderen weiterfuhren. Auf dieser Fahrt wurden wir Freunde.
Der Weg führte durch entlegene, völlig unbekannte Dörfer.
Sie lagen noch weit hinter der Front, und ich glaube, die Deutschen kamen erst später, als sie Smolensk bereits besetzt hatten, sicherlich erst nach Wochen in diese in ihrem Hinterland
liegenden abgelegenen Orte. Doch obwohl die Front noch weit
war, zogen über alle von West nach Ost führenden Straßen,
über alle Feldwege und Pfade unzählige Flüchtlinge. Die Bewohner der umliegenden Dörfer rührten sich einstweilen noch
nicht von der Stelle, obwohl viele von ihnen bereits zum Aufbruch rüsteten.
Über die Straßen aber zogen Flüchtlinge, die aus der Gegend
um Belostok, um Lida kamen… Sie fuhren auf unvorstellbaren
zweirädrigen Arbas und Pferdefuhrwerken. Es fuhren oder gingen alte Männer, wie ich sie nie gesehen, mit Peies und Vollbärten, Schirmmützen aus dem vorigen Jahrhundert auf dem
Kopf. Erschöpfte, frühzeitig gealterte Frauen zogen auf den
Straßen dahin. Und Kinder, Kinder, Kinder… Kinder ohne
Ende. Auf jedem Fuhrwerk sechs, acht, zehn schmutzige,
braungesichtige, hungrige Kinder. Und gleich dahinter ein
Fuhrwerk, ungeschickt beladen mit hastig ergriffenem Hausrat
– kaputten Fahrrädern, gesprungenen Blumentöpfen mit ver-
trockneten oder abgebrochenen Gummibäumen, Teigrollen,
Bügelbrettern und allem möglichem anderen Krimskrams.
Das alles schrie und kreischte durcheinander und fuhr dahin
ohne Ende, was unterwegs entzweiging, wurde repariert, und
dann ging es wieder auf den Marsch nach Osten. Schließlich
kamen wir in eine entlegene Gegend, in der es nicht einmal
Flüchtlinge gab. Nur Einberufene zogen auf den Feldwegen dahin. Die Frauen waren in den Dörfern zurückgeblieben. Sie
kamen an die Straße, hielten den Wagen an, holten irdene Krüge mit kühler Milch aus den Kellern, gaben uns zu trinken,
bekreuzigten uns, und plötzlich, als geniere es sie auf einmal
nicht mehr, daß wir Militärangehörige und Genossen waren,
sagten sie zu uns: „Der Herr beschütze euch. Möge Gott euch
helfen“ und blickten uns noch lange nach. Geld für die Milch
lehnten sie ab, ohne gekränkt zu sein, aber keinen Widerspruch
duldend.
Die Dörfer waren klein, und in ihrer Nähe, gewöhnlich auf
einem Hang bei einem schiefen Kirchlein und manchmal auch
ohne Kirchlein, gab es große Friedhöfe mit gleichartigen, einander wie ein Ei dem anderen gleichenden Holzkreuzen. Ich
war erschüttert über das Mißverhältnis zwischen der Anzahl
der Häuser im Dorf und der Anzahl dieser Kreuze. Ich spürte
ein starkes Heimatgefühl in mir, empfand, wie sehr dieses
Land mein Land war und wie tief diese Menschen, die hier
lebten, in diesem Land verwurzelt waren. Das Unglück der
ersten beiden Kriegswochen ließ vermuten, daß die Deutschen
auch hierher kommen könnten, doch ich konnte mir dieses
Land einfach nicht als deutsches Land vorstellen. Was auch
immer geschah, es war russisches Land und würde es bleiben.
Auf diesen Friedhöfen lagen so viele unbekannte Vorfahren,
Großväter und Urgroßväter begraben – keiner der Alten wußte
zu sagen, wie viele es waren –, daß dieses Land nicht nur über
der Erde, sondern auch in einer Tiefe von vielen Sashen russisch zu sein schien. Gegen Abend kamen Surkow und ich bei
der von uns gesuchten Division an. Es war völlig still, und
zwar so still, daß man, obwohl der Dnepr noch in einiger Entfernung lag, doch von Zeit zu Zeit dort die schwere Artillerie
wummern hörte.
Die Division wurde neu formiert. Sie zählte zur Zeit nur zweitausendfünfhundert kampffähige Männer. Aber der Oberstleutnant, ein Armenier, der sie jetzt führte, weil der Divisionskommandeur noch im Kessel steckte, sagte uns gelassen, in
zwei, drei Tagen hätten sie wieder achttausend Mann. Als ich
ihn fragte, worauf sich seine Rechenkunststückchen gründeten,
gab er zur Antwort, dreitausend Einberufene seien bereits in
den umliegenden Dörfern zusammengeholt worden und weitere
dreitausend Mann würden sich in diesen Tagen bestimmt aus
dem Kessel herausschlagen.
Er sagte das mit einer solchen Sicherheit, als ginge es um einen Skiwettbewerb, bei dem die einen Teilnehmer bereits das
Ziel erreicht haben, während die anderen sich noch auf der
Loipe befinden. Damals kam mir das seltsam vor, aber später –
und zwar sehr bald – begriff ich, daß er recht gehabt hatte. Die
Kanonen und MGs blieben im Kessel zurück, die Männer aber
kamen heraus. Sie sickerten durch die motorisierten Einheiten
der Deutschen wie Wasser durch einen Kamm. Die Einschließung durch Panzer in den dichten Wäldern bei Minsk und
Smolensk war mehr eine Einschließung von Material als von
Menschen. Und täglich bahnten sich Tausende einen Weg
durch die dichten Wälder. Viele waren nicht einmal auf Deutsche gestoßen. Wir fuhren erst am nächsten Morgen vom Divisionsstab zu einem Regiment. Am Waldrand wurden wir von
dem eben erst eingesetzten Regimentskommandeur empfangen,
einem noch recht jungen, sympathischen Hauptmann.
Von seinem Regiment waren noch zweihundert Mann übrig.
Trotzdem war überall Ordnung und Disziplin zu spüren. Er und
sein Stabschef berichteten uns ausführlich von den schweren
Kämpfen, unter denen sich die Division von der Grenze bis
hierher zurückgezogen hatte, davon, wie tapfer und unter welch
blutigen Verlusten sich ihr Regiment schlug, kurz, sie berichteten all das, was ich später, von dieser Fahrt zurückgekehrt, in
meinem Artikel „Sicherungstruppen“ niederschrieb. Durch
einen reinen Zufall erschien dieser Artikel damals nicht in der
„Iswestija“, und mir tut es leid darum, weil ich diesen Artikel
für meinen einzigen halte, der mit der Beschreibung der ersten
Kämpfe zumindest annähernd an die Wahrheit jener Tage herankommt. Das Gesicht des Stabschefs, eines Leutnants, kam
mir sehr bekannt vor. Er erinnerte mich an jemanden, aber ich
kam nicht darauf, an wen. Nach unserem Gespräch fragte er
mich plötzlich, ob ich schon einmal im Verlag „Sowjetski Pissatel“ gewesen sei. Ich antwortete, ich sei nicht nur einmal dagewesen, sondern hätte vor dem Krieg dort in der Lyrikabteilung als Redakteur gearbeitet. Er meinte, daß ich dann sicher
seinen Bruder kenne. Erst jetzt fiel mir ein, an wen er mich
erinnerte. Der Stabschef war der Bruder des Leiters der Abteilung Ausstattung des Verlags, des Graphikers Morosow-Lass.
Es war schon merkwürdig, sich im Wald, unter einer Kiefer
sitzend, plötzlich daran zu erinnern, daß man sich erst unlängst
mit dem Bruder dieses Leutnants im Verlag über die Gestaltung des Umschlags und die Illustrationen zu meinem Poem
„Die erste Liebe“ herumgestritten hat.
Beim Abschied gab der Regimentskommandeur in einem Anfall von Gutmütigkeit Surkow für sein Gewehr eine Maschinenpistole. Ich war noch nicht geheilt von der Leidenschaft
eines Zivilisten für Waffen und beneidete Surkow sehr.
Auf den gleichen Straßen fuhren wir zurück. In einem Wäld-
chen begegneten wir Kindern – einem Jungen von sechs Jahren
und zwei etwas älteren Mädchen. Sie trugen Krüge voller Erdbeeren. Wir hielten an und fragten, ob sie uns die Erdbeeren
verkaufen würden. Der Junge war bereit, aber seine ältere
Schwester nahm ihn ein paar Schritt beiseite und redete ärgerlich auf ihn ein, dann überreichte sie uns die Erdbeeren, wollte
aber kein Geld dafür haben. Wir wiederum wollten die Erdbeeren von den Kindern nicht annehmen, ohne zu bezahlen, doch
das Mädchen sagte: „Kolka würde schon Geld dafür nehmen,
aber das geht nicht.“
„Und warum nicht?“ fragte ich.
„Die Mutter fragt bestimmt, wo er das Geld herhat, und da
muß er sagen, daß er es von Ihnen genommen hat. Die Mutter
wird böse sein und weinen, und Kolka kriegt Schimpfe. Nehmen Sie nur, wir können ja wieder welche sammeln.“ Also
nahmen wir die Beeren. Es war rührend, zugleich machte es
aber noch trauriger. Was würde wohl mit diesen Kindern in
einer Woche sein.
Als wir auf der Rückfahrt durch Krasnopolje kamen, sahen
wir zwei Frauen mit Kindern an der Hand. Die Kinder winkten
den Autos nach. Ich weiß nicht, warum mir gerade in diesem
Augenblick Tränen in die Augen traten und ich beinahe aufgeschluchzt hätte. Natürlich war es Kinderart, den vorbeikommenden Militärfahrzeugen zuzuwinken, und doch…
Auf dem Rückweg holten wir unsere Genossen ab, die zurückgeblieben waren, um Material über eine andere Division
zu beschaffen. Bei dieser Division machten wir eineinhalb
Stunden Rast. Wie sich herausstellte, war der Rückzug dieser
Division über Rogatschow verlaufen, wo das größte Kondensmilchwerk des Landes von uns gesprengt worden war, und so
konnten wir uns einen reichlichen Vorrat von dieser Milch anlegen, füllten alle verfügbaren Gefäße. Wir tunkten getrockne-
tes Schwarzbrot in die süße Kondensmilch und aßen mit Vergnügen. Danach machten wir uns wieder auf den Weg. Mir
war, als hätte ich schon lange nicht mehr etwas so Wohlschmeckendes gegessen. Ich erinnerte mich plötzlich an die
Zeit in der Mongolei, wo Kolja Krushkow und ich jeder eine
Büchse Kondensmilch öffneten und sie auf einen Ritt leer
machten, indem wir getrocknetes Schwarzbrot oder frisches
Brot in die Milch tunkten.
Gegen Abend kamen wir in Roslawl an. Es gab Streit. Surkow
und ich wollten im Hotel übernachten, die von der Frontzeitung
aber beim Kommandanten. Ich hatte mich mit Surkow bereits
in einem Zimmer mit zehn Betten einquartiert und Milch heiß
gemacht, als die anderen kamen und sagten, der Kommandant
sei der Meinung, die Lage sei besorgniserregend und wir sollten lieber nicht in der Stadt übernachten.
Später stellte sich heraus, der Kommandant hatte die Lage
deshalb für besorgniserregend gehalten, weil die Deutschen am
gleichen Tag zwei Bomben über dem Bahnhof abgeworfen
hatten. Das war der ganze Grund für die Aufregung. Uns ließ
das natürlich kalt, und wir legten uns aufs Ohr.
In der Nacht setzte MG-Feuer ein. Vierlings-MGs schossen
auf unsichtbare Flugzeuge. Die disziplinierteren Genossen gingen in den Park gegenüber dem Hotel und harrten dort gute
zwei Stunden in den kalten Splitterschutzgräben aus. Wir drei
weniger disziplinierten – Surkow, Kalaschnikow und ich –
blieben im Hotel in den Betten und taten richtig daran. Es war
nur ein blinder Alarm. Als wir anderntags zur Redaktion in der
Nähe von Smolensk zurückkehrten, hatten wir für den Hin- und
Rückweg, alle Umwege mitgerechnet, etwa achthundert Kilometer zurückgelegt. Ich ging früh schlafen, schlüpfte, sobald es
hell wurde, aus dem Zelt und schrieb, auf dem Bauch liegend,
den Artikel „Sicherungstruppen“. Danach verfaßte ich einen
Brief nach Hause. Plötzlich packte es mich, diese ersten zwei
Wochen des Krieges zu beschreiben, die unseren früheren Vorstellungen so wenig glichen. Ich hatte den Eindruck, auch ich
war nicht mehr der, der am 24. Juni von Moskau aufgebrochen
war. Nach allem, was ich in den zwei Wochen gesehen und
erlebt hatte – nicht meine physische Gefährdung, sondern meine seelische Verfassung betreffend –, hatte ich das Gefühl, als
könnte mir in meinem Leben nichts Schlimmeres mehr begegnen.
An den Inhalt des Briefes erinnere ich mich nicht mehr, ich
weiß nur, daß ich nicht auf Einzelheiten einging, sondern zu
verstehen gab, daß es schwer sei und man, obwohl man nicht
verzweifeln dürfe, doch auf das Schlimmste gefaßt sein müsse.
Nachdem ich den Brief geschrieben und ihn zu der Korrespondenz nach Moskau gelegt hatte, kamen mir plötzlich Zweifel. So sandte ich den Brief nicht ab, sondern zerriß ihn. Ich
hatte das unbestimmte Gefühl, daß, während der Brief unterwegs war, viel geschehen konnte und es sich nicht lohnte, ihn
abzuschicken.
Vormittags traf Boris Gromow von der „Iswestija“ ein, und
ich übergab ihm den Artikel „Sicherungstruppen“. Er versprach, ihn nach Moskau, in die Redaktion zu befördern. Später
stellte sich heraus, daß der Artikel dort nie eingetroffen war:
Gromow hatte ihn bei uns in der „Krasnoarmejskaja Prawda“
liegenlassen, und erst als ich von der Fahrt zurückkehrte, händigten ihn mir meine Kollegen aus, doch da war es zum Druck
schon zu spät…
Wie ich heute aus den Dokumenten ersehe, war jene Division,
die bei Krasnopolje nach dem Ausbruch aus dem Kessel neu
aufgestellt wurde, die 55. Schützendivision der 4. Armee.
Im Tagebuch schreibe ich, der Kommandeur der Division befinde sich noch im Kessel. Doch zu der Zeit, als wir dort eintra-
fen, war der erste Kommandeur der Division, Oberst D. I. Iwanow, bereits gefallen, nur war man sich im Divisionsstab noch
nicht sicher. Der Name des Offiziers, der am Tag unseres Eintreffens die Division führte, „der Oberstleutnant, ein Armenier“, lautete Ter-Gasparian. Im Laufe des Krieges übernahm
Gewor Andrejewitsch Ter-Gasparian eine andere Division, die
227. und wurde später Stabschef bei der 60. Armee unter General Tschernjachowski. Als wir im Frühjahr 1944 Tarnopol
stürmten, hielt ich mich bei dieser Armee auf und sah den
Stabschef wieder. Jedoch erinnerte ich mich später, im Jahre
1944, nicht mehr an die erste Begegnung mit ihm. Der General
und Stabschef der Armee, die Tarnopol stürmte, muß sich in
meinen Gedanken wohl nicht mit jenem Oberstleutnant assoziiert haben, der im Juli 1941 die Reste seiner Division von der
Stschara bis über den Dnepr zurückführte.
Vielleicht war das auch deshalb so, weil die Männer, die in
der zweiten Kriegshälfte den Dnepr und den Dnestr, den Neman und die Wisla, die Oder und die Neiße überschritten, nur
ungern auf ihre Erinnerungen an das Jahr 1941 zu sprechen
kamen. Auch in unserem Journalistengedächtnis scheinen die
Männer aus den ersten Monaten des Jahres 1941 und die Männer vom Ende des Krieges oft für sich zu existieren, die Männer von den Operationen an der Wisla und der Oder, in Schlesien, in Pommern, vor Berlin und Prag. Indessen stellt es sich
bei näherer Prüfung viel öfter heraus, daß die einen und die
anderen ein und dieselben waren! In dem Artikel „Sicherungstruppen“, den ich im Tagebuch erwähne, wurden die Kampfhandlungen des 228. Regiments der 55. Division „am Fluß
Stsch.“ beschrieben. Die geographischen Namen wurden damals verschlüsselt – gemeint war der Fluß Stschara. Dieses
Gefecht begann um die Mittagsstunde des 24. Juni und dauerte
bis zum Morgen des 25. In den Erinnerungen des Stabschefs
der 4. Armee, General Sandalow, heißt es speziell über dieses
Gefecht, die Deutschen seien von der zweiten Staffel der 55.
Schützendivision am Fluß Stschara zum Stehen gebracht worden und es sei ihnen bis zum Abend des 24. Juni nicht gelungen, den Fluß zu überwinden. Ich schrieb, daß es dem Regiment (gemeinsam mit zwei Abteilungen des 141. Artillerieregiments – diese Ergänzung mache ich heute) im Abschnitt
der Stsch. gelungen war, eine deutsche Division zwölf Stunden
lang aufzuhalten und dreißig Panzer sowie achtzehn Geschütze
der Deutschen kampfunfähig zu machen. Den Dokumenten
nach zu urteilen, kommt dies der Wirklichkeit nahe.
Das 228. Schützenregiment wurde in diesem Gefecht von G.
K. Tschaganawa geführt. Bekannt ist, daß er in diesem Gefecht
verwundet wurde. Alles Weitere ist unbekannt. Ich fand seine
Kaderakte, nach der Oberstleutnant Grigori Konstantinowitsch
Tschaganawa seit 1941 verschollen ist.
Am Schluß des Artikels sage ich, worin ich damals die
Hauptbedeutung des sich abspielenden Geschehens erblickte:
„Im Morgengrauen verließ das Regiment diesen von Granaten
zerfetzten und mit Trichtern übersäten Wald… Wir hatten
ebenfalls ernst zu nehmende Verluste erlitten, aber so schwer
sie auch gewesen sein mögen, die Soldaten fühlten sich in dieser Nacht als die Sieger… Sie wußten: Dort hinten entfalten
sich, die zwölf Stunden ausnutzend, die von ihnen im blutigen
Gefecht gewonnen wurden, die Hauptkräfte.“ Diese Worte gaben den leidenschaftlichen Glauben der von der Grenze zurückweichenden und im Kampf fallenden Männer wieder, daß
die gebrachten Opfer nicht vergeblich waren, daß jede von ihnen gewonnene Stunde unseren Hauptkräften half, sich bereit
zu machen und endlich jenen Gegenstoß zu führen, den wir
trotz allem, was über uns hereingebrochen war, immer noch
erwarteten. Und wirklich war jede gewonnene Stunde unend-
lich kostbar, und zwar nicht nur für die Vorbereitung und
Durchführung eines vernichtenden Gegenstoßes, zu dem wir
damals noch nicht imstande waren, sondern für ein realeres
Ziel, und zwar für die Errichtung einer stabilen Verteidigungslinie im Rücken der zurückweichenden Armeen unserer Westfront.
Der Armeen, und nicht der „Sicherungstruppen“ – die Überschrift meines Artikels war eine tröstende Unwahrheit, die ich
unbedingt für wahr halten wollte, die aber dennoch eine Unwahrheit war.
Ich kehre zum Tagebuch zurück.
Kaum hatte ich Gromow den Artikel ausgehändigt, als Mironow, der neue Redakteur der „Krasnoarmejskaja Prawda“,
meinte, es wäre nicht schlecht, wenn wir uns zur 13. Armee in
den Raum Mogiljow aufmachten; nach Informationen, die dem
Frontstab vorlagen, sollten dort irgendwo deutsche Fallschirmjäger abgesprungen sein, auf die jetzt erfolgreich Jagd gemacht
würde. Wie mir erst später klar wurde, waren das die ersten
Gerüchte von einem Durchbruch der Deutschen bei Schklow.
Für jene Tage war es überhaupt kennzeichnend, daß wir
Durchbrüche der Deutschen auf Grund ihres Überraschungsmoments und ihres weiten Vordringens oft für Luftlandeunternehmen hielten. Auch bei Jelnja war das später so.
Mehrere Wagen der „Krasnoarmejskaja Prawda“ waren bereits ausgefallen. Auch die Korrespondenten der zentralen Blätter verfügten nicht über genug Autos. Für die sechs Mann der
„Iswestija“-Brigade stand ein einziger Kombi zur Verfügung.
Ich beriet mich vor der Abfahrt nach Mogiljow mit den Genossen und ging anschließend mit dem Vorschlag zu Mironow, ich
wolle nach unserer Rückkehr aus dem Raum Mogiljow mit
dem Kombi für einen Tag einen Abstecher nach Moskau machen und von dort meinen kleinen Ford mit hierher an die
Front bringen, damit wir beweglicher wären. Der Wagen war
zwar schon alt, aber verläßlich, ich hatte ihn, zur Hälfte auf
Pump, unmittelbar vor dem Krieg erworben. Zu meiner großen
Freude wurde dieser Vorschlag akzeptiert. Wir hatten natürlich
nicht genügend Fahrzeuge für unsere Fahrten an die Front, aber
meiner Idee – meinen eigenen Wagen herzuholen – lag, warum
soll ich’s verhehlen, auch das starke Verlangen zugrunde, meine Angehörigen und Freunde in Moskau zu sehen, und sei es
nur für ein paar Stunden. Unsere Fahrt nach Mogiljow sollte
über Smolensk gehen, und wir hatten dafür zwei bis drei Tage
eingeplant.
Unterwegs luden wir in der Druckerei Zeitungen ein. Die
Druckerei war in einem riesigen grauen Gebäude auf einem
Platz untergebracht, das wie eine einsame Kerze aus Schutt und
Asche emporragte. Es war unbegreiflich, wieso es bis zum heutigen Tag noch nicht zerbombt war. Während meine Genossen
die Zeitungen holten, nahm ich, einer Eingebung folgend, den
Telephonhörer ab und bat das Fernamt, mir Moskau zu geben.
„Moment bitte“, bekam ich zur Antwort. Das kam so überraschend, daß ich verwirrt war und zurückfragte: „Was heißt
,Moment bitte’?“ Ich bekam zu hören: „Moskau kommt
gleich.“ Ich wartete ungefähr eine Viertelstunde und vernahm
endlich im Hörer: „Moskau, Moskau! Hier Smolensk. Bitte die
drei-sechs-null-acht-vier.“
Dann ein langes Tuten, eine bekannte Stimme – „Hallo“ –,
dann ein Dröhnen und gleichzeitig die Stimme der Telefonistin: „Ich habe Sie getrennt. In Smolensk ist Fliegeralarm.“
Wie sich herausstellte, hatte ein einzelnes Flugzeug mehrere
Bomben geworfen. Weitere deutsche Flugzeuge befanden sich
im Anflug auf die Stadt. Der Alarm zog sich in die Länge,
meine Genossen drängten zur Weiterfahrt, also sagte ich mir,
das Schicksal hat es eben so gewollt, und stieg zu ihnen in den
Kombi.
Unsere Fahrt nach Mogiljow führte uns durch Roslawl, und
als wir dort haltmachten und hörten, bei Rogatschow sollten für
uns erfolgreiche Kämpfe stattfinden, bogen wir in Richtung
Propoisk – Rogatschow ab. Als wir nach Propoisk kamen, war
es schon dunkel, und wir übernachteten dort. Die Redaktion
der Zeitung der 4. Armee war in einer Kirche untergebracht. In
Propoisk war alles ruhig, es war auch noch ziemlich belebt.
Wir übernachteten in der Kirche auf dem Boden, und am nächsten Morgen ging es weiter.
Gegen Mittag waren wir nahe an den Dnepr herangekommen.
Die Straße wurde kaum befahren, und doch standen an den
Abzweigungen Einweiser. Man spürte im Dickicht dieser Wälder die Truppen, die sich vor der deutschen Luftwaffe verbargen, die hier den ganzen Tag einzelne Flugzeuge über der Straße kreisen ließ. Wir kamen zum Stab einer Division, die zum
63. Korps gehörte, das vom Korpskommandeur Petrowski, dem
ehemaligen Kommandeur der Proletarischen Division, geführt
wurde, einem Sohn G. I. Petrowskis.
Mit seinen vorgeschobenen Einheiten stand das Korps am
Dneprufer beiderseits von dem von den Deutschen besetzten
Rogatschow. Vom Divisionsstab fuhren wir zu einem Regiment. Am Waldrand stießen wir auf einen Posten. Der Rotarmist rief einen Leutnant herbei. Dieser Leutnant unterzog
unsere Papiere einer lang dauernden und peinlich genauen Prüfung, verglich ein Dokument mit dem anderen und legte überhaupt eine Wachsamkeit an den Tag, die vielleicht überflüssig
war, uns aber dennoch freute. Dann tarnten wir unseren Wagen
und folgten dem Leutnant.
Wir waren ohne Surkow auf diese Fahrt gegangen, nur
Troschkin, Kriger, Beljawski und ich waren dabei. Surkow
hatte sich nach der Krasnopoljefahrt ans Dichten gemacht und
war vorläufig in der Redaktion geblieben, hatte uns aber seine
MPi mitgegeben. Wir waren an die zweihundert Schritt hinter
dem Leutnant hergegangen, als wir plötzlich angerufen wurden: „Wohin? Unter die Bäume! Sofort unter die Bäume!“
Am Waldrand saß unter einer dichten Kiefer ein großer,
stämmiger Mann in Reithose und blütenweißem Hemd auf einem Klappstuhl. An einem Ast in der Nähe hing seine Feldbluse. Der Regimentskommandeur, wie sich herausstellte, und er
empfing uns zunächst nicht sehr freundlich, knurrte uns mit
stark georgischem Akzent an, wir latschten hier herum und
verrieten die Stellung, und wenn wir hundertmal Korrespondenten seien, sollten wir uns nicht einbilden, daß für uns die
Tarnvorschriften nicht existierten. In seinem Regiment herrsche Ordnung, und er werde niemandem gestatten, gegen diese
Ordnung zu verstoßen.
Wie wir uns bald darauf überzeugen konnten, herrschte in
seinem Regiment wirklich eiserne Disziplin. Einige Minuten
später, als sich sein Zorn gelegt und Freundlichkeit Platz gemacht hatte, befahl der Oberst, ihm die Feldbluse zu reichen.
Er zog sie an, schloß alle Knöpfe, gebot, eine Zeltbahn auszubreiten, schlüpfte aus der Rolle des Regimentskommandeurs in
die des Hausherrn und lud uns zum Frühstück ein.
Er erwies sich nicht nur als gastfreundlicher, sondern auch als
vorsorglicher Hausherr. Außer Konserven und Braten wurde
uns auch eine Schachtel Konfekt vorgesetzt, was an diesem Ort
wahrlich sonderbar wirkte. Beim Frühstück kamen wir ins Erzählen. Der Oberst sagte, vor zwei Tagen hätte es bei ihm
wirklich ein interessantes Gefecht gegeben, an dem eines seiner Bataillone beteiligt gewesen wäre. Er berichtete Einzelheiten von dem Gefecht, in dem auf dem diesseitigen Ufer eine
Gruppe Deutscher vernichtet worden war. „Aber zur Zeit“, fuhr
er fort, „ist im Abschnitt des Regiments alles ruhig und wird
wohl auch ruhig bleiben. Die Deutschen ziehen jetzt an einer
anderen Stelle Kräfte zusammen. Hier setzen bloß Spähtrupps
mal von ihrem Ufer auf unsres, mal von unserem auf das ihrige
über.“
Später berichtete er von den in seinem Regiment praktizierten
Methoden zum Unschädlichmachen der deutschen, mit
Leuchtpistolen ausgerüsteten Signalschützen, wozu man sich
etwas ganz Simples hatte einfallen lassen: In der Nacht wurde
im Sumpf und an anderen abgelegenen Stellen ein Dutzend
unserer Soldaten mit Leuchtpistolen postiert, die gleichzeitig
mit den Deutschen die gleichen Leuchtzeichen abschossen, so
daß die deutschen Flugzeuge nicht wußten, wo sie ihre Bomben abwerfen sollten.
Der Oberst sagte uns auch noch, seine Männer hätten ganz in
der Nähe ein deutsches Flugzeug abgeschossen.
Troschkin machte Aufnahmen von dem Oberst und dem Regimentskommissar. Der Oberst – in Feldbluse, mit MPi und
funkelnagelneuem Stahlhelm, gewaltig und monumental – saß
auf dem Klappstuhl und hatte eine große Karte auf den Knien
ausgebreitet. Wer weiß, wo er jetzt ist, dieser gastfreundliche
Kartenleser, der so martialisch aussah und in Wirklichkeit ein
fröhlicher und poltriger Mann war, der Oberst Kipiani.
Von dem Oberst fuhren wir zu dem Flugzeug. Es lag etwa
zehn Kilometer vom Regimentsstab entfernt in offenem Gelände an einem Waldrand. Das Flugzeug sah aus wie unbeschädigt. Allem Anschein nach waren nur die Steuerungsseile zerfetzt, und die Tragflächen hatten ein paar Treffer abbekommen.
Die Flieger waren offenbar in den Wald geflüchtet. Man hatte
sie bis jetzt noch nicht aufgespürt. In dem Flugzeug war alles
noch an seinem Platz – die Uhr und auch die Kameras. Daß
sich das Flugzeug in diesem Zustand befand, war ebenfalls ein
Ausdruck der beim Regiment herrschenden Ordnung, denn es
wurde von Posten bewacht,
Troschkin machte ein paar Aufnahmen, und wir fuhren zurück
nach Propoisk, wo wir übernachten und dann in Richtung Mogiljow weiterfahren wollten.
Bei unserer Ankunft in Propoisk fanden wir die Redaktion der
Armeezeitung dort nicht mehr vor. Sie war irgendwohin verlegt worden.
Die Stadt war in heller Aufregung. Im Laufe des Tages war
sie bombardiert worden. Alle Fenster waren sorgfältig verdunkelt. Da wir nicht wußten, wo wir übernachten sollten, beschlossen wir, unser Glück in einem Hotel zu versuchen. Dort
waren nicht nur Zimmer frei, sondern das ganze kleine, ländlich anmutende Hotel war wie ausgestorben. Nur zwei junge
Frauen waren da: Anja, die Leiterin des Hotels, und Rosa, ihre
Gehilfin, die aus Belostok hierher evakuiert worden war.
Wir beschlossen, uns auszuschlafen, nahmen zu viert ein
Zimmer, unsere Waffen schoben wir unter die Polster. Borowkow wollte es sich im Kombi unter den Bäumen vor unseren
Fenstern bequem machen. Ich lag unmittelbar am Fenster. Es
stand offen. Borowkow saß mit Anja und Rosa auf der Vortreppe, und wie es seine Gewohnheit war, schwatzte er wie ein
Wasserfall und betätigte sich ganz nebenbei als Herzensbrecher.
„Sagen Sie“, fragte Anja träumerisch, „wie kommt es eigentlich, daß die Sterne einmal blendendweiß und dann wieder
bläulich sind?“
„Das macht die Entfernung“, antwortete Borowkow nach einer kurzen Pause im Ton eines Menschen, der über alles Bescheid weiß. Ich konnte nicht einschlafen, und so ging auch ich
hinaus auf die Vortreppe, saß eine Stunde bei ihnen und
schwieg, während sich die drei unterhielten. Besser gesagt,
Borowkow führte das Wort, und die Mädchen hörten zu. Dann
tauchte ein Mann auf, anscheinend der Nachtwächter, und forderte uns auf, ins Haus zu gehen, weil es in Kriegszeiten nicht
angehe, nachts im Freien herumzuhocken. Warum dies nicht
angehe, wußte er sicher selber nicht, aber seine Stimme klang
sehr überzeugt.
Wir gingen in ein Zimmer. Borowkow setzte sich mit Rosa
auf den Diwan und unterhielt sich weiter mit ihr, während ich
mich aufs Fensterbrett setzte. Anja kam zu mir und tuschelte
mir ins Ohr, diese Rosa wäre aus Belostok hierher gekommen
und sei bestimmt eine Spionin, sie traue ihr nicht über den Weg
und wäre bereits bei der Behörde vorstellig geworden, man
solle Rosa aus dem Hotel entfernen, doch keiner höre auf sie,
keiner glaube ihr, aber man werde schon noch sehen, wie recht
sie habe!
Ich hatte das Gefühl, daß Anja aus Gram, daß Krieg war und
ihr Mann wer weiß wo bei der Armee steckte, daß es in der
Stadt dunkel und zum Fürchten war, die Schuld an all dem,
einer sonderbaren Logik folgend, diesem völlig unschuldigen
Mädchen aus Belostok in die Schuhe schieben wollte, das sie
in diesem Moment für die Schuldige an ihrem ganzen Unglück
hielt, und man hätte sie wohl kaum vom Gegenteil überzeugen
können.
Ich war ihres Geschwätzes überdrüssig, und so ging ich zu
den anderen ins Zimmer und legte mich schlafen.
Am frühen Morgen verließen wir Propoisk. Alarmierende Gerüchte waren durch die Stadt gelaufen, die Bevölkerung war
geflüchtet. Die Menschen waren bereits auf alles gefaßt.
Wir sollten nach Mogiljow fahren, wo unseren Informationen
zufolge der Stab der 13. Armee lag. Mogiljow konnte man
entweder auf dem Umweg über Tschaussy oder durch die Wälder bei Bychow, den Dnepr entlang, erreichen. Der zweite Weg
war kürzer, und wir wählten ihn.
Die Straße war völlig leer, wir begegneten nicht einem einzigen Rotarmisten. Unsere Einheiten lagen anscheinend weiter
vorn, hier jedenfalls war niemand. Wie sich später herausstellte, fuhren wir auf dieser Straße wenige Stunden bevor die
Deutschen bei Bychow den Dnepr überschritten und die Straße
abschnitten. Damals aber wußten wir das noch nicht; auf der
Straße war alles ruhig, wir fuhren dahin, freuten uns der Ruhe
des Waldes und des für die Sommerszeit ungewöhnlich kühlen
Morgens.
Gegen ein Uhr mittags trafen wir in Mogiljow ein. Die Stadt
hatte keine Ähnlichkeit mehr mit jener, die wir kannten. Sie
war schon öde und verlassen. An den Kreuzungen standen Geschütze mit den dazugehörigen Bedienungen. Beim Garnisonschef, noch der gleiche Oberst Wojewodin, der mir seinerzeit
gesagt hatte, wo sich der Frontstab befand, erfuhren wir, daß
der Stab der 13. Armee nicht mehr in Mogiljow lag, sondern
weiter nach hinten, nach Tschaussy verlegt worden sei, siebzig
Kilometer von hier. Nach jenem Tschaussy, über das wir am
Morgen nicht hatten fahren wollen.
Uns war es nun schon zu dumm, wieder zurück ins Hinterland
zu fahren, dort den Armeestab zu suchen und uns sagen zu lassen, wohin und zu welcher Division wir fahren sollten.
Wieder zurück über den Dnepr, bogen wir nach Orscha ab
und wollten geradewegs zum Stab der nächst gelegenen Division fahren, die laut Auskunft des Garnisonschefs in eben jenem Wald liegen sollte, wo bis vor kurzem auch der Frontstab
gelegen hatte. Wir bogen in diesen Wald ab. Er war verlassen,
nur Fahrzeugspuren, ausgetrocknete Deckungslöcher im
Lehmboden und die welken Zweige der abgenommenen Tarnung waren noch zu sehen. Also fuhren wir wieder auf die
Landstraße und wollten auf ihr noch weiter nach Norden in
Richtung Orscha fahren, in der Hoffnung, in der Nähe der
Straße auf irgendeinen Divisionsstab zu stoßen.
Wir hatten weitere fünfunddreißig oder vierzig Kilometer zurückgelegt, als uns immer häufiger mit wahnwitziger Geschwindigkeit dahinrasende Fahrzeuge entgegenkamen. Nach
einer Weile beugte sich aus dem Fahrerhaus eines uns entgegenkommenden Wagens ein Mann heraus, schrie wie von Sinnen: „Vorn sind deutsche Panzer!“ und jagte weiter.
Wir fuhren weiter. Uns wollte nicht in den Kopf, daß auf dieser Landstraße deutsche Panzer auftauchen könnten, wo wir
doch wußten, daß den ganzen Dnepr entlang unsere Truppen
standen, die Befehl hatten, die Deutschen um jeden Preis aufzuhalten. Wir hielten eine ordentliche Geschwindigkeit – es
war eine ausgezeichnete Asphaltstraße –, als plötzlich vor uns
Granaten einschlugen. Die Einschläge lagen genau auf der
Straße. Die vor uns fahrenden Fahrzeuge machten kehrt; auf
der Straße entstand ein wahres Durcheinander. Kaum erblickte
Borowkow die Einschläge, als er auch schon ohne ein Wort zu
verlieren aus dem Fahrerhaus sprang. Ich kam gar nicht dazu,
ihn zurückzuhalten, aber da war auch schon Troschkin aus dem
Wagen gesprungen und brachte ihn zurück. Borowkow suchte
sich herauszureden, er sei auf den Wald zugelaufen in der Annahme, wir würden uns alle verstecken.
„Wir sitzen alle im Wagen“, hielt ihm Troschkin vor, „und
du? Weißt du auch, was darauf steht?“
Wir machten kehrt, fuhren zurück, vorbei an Panzerabwehrkanonen, die längs der Straße in den Straßengräben in Stellung
gegangen waren und so gut getarnt waren, daß sie von weitem
wie Sträucher aussahen. Auf der Hinfahrt hatten wir uns über
diese Kanonen gewundert. Jetzt aber, auf dem Rückweg, erschien es uns schon nicht mehr so unwahrscheinlich, daß die
Deutschen wirklich auf das diesseitige Dneprufer übergesetzt
waren. Auf alle Fälle mußten wir herauskriegen, was los war.
Nach anderthalb Kilometern trafen wir mitten auf der Straße
einen grauhaarigen Oberst, der sehr gelassen wirkte und den
anscheinend nichts aus der Fassung bringen konnte. Als wir
ihm sagten, vorn hätte deutsche Artillerie die Straße unter Beschuß genommen, zuckte er nur die Schultern und erwiderte
seelenruhig: „Schon möglich.“ Wir erkundigten uns bei ihm,
ob hier irgendein Divisionsstab liege. Er musterte uns aufmerksam und sagte nach kurzer Pause: „Irgendein Divisionsstab?
Na, dann kommen Sie eben mit zu unserem.“ Wir fuhren weitere vier Kilometer zurück, bogen von der Landstraße nach
links ab und kamen in einen lichten Kiefernwald. Dort saß auf
einem Klappstuhl an einem Klapptisch ein massiger, stark
schwitzender Oberst mit einigen Orden an der Brust. Er stand
auf, um uns zu begrüßen, und erkundigte sich nach unserem
Auftrag. Wir stellten uns als Korrespondenten vor. „Das ist
doch nicht die Möglichkeit!“ sagte der Oberst.
Er war sehr aufgeregt. Im ersten Moment dachten wir, er habe
jemand anderes erwartet und sei nun enttäuscht, weil wir bloß
Korrespondenten waren. Wie sich jedoch gleich darauf herausstellte, galt sein Ausruf gar nicht uns.
Bekümmert berichtete der Oberst, daß eben erst an seiner
rechten Flanke ein Bataillon, das in einem Dörfchen einen
deutschen Luftlandetrupp umzingelt hatte, drauf und dran gewesen sei, diesen Deutschen den Garaus zu machen, als die
Deutschen gleich mehrere weiße Fahnen auf einmal gezeigt
hätten. Erfreut sei der Bataillonskommandeur samt seinen Soldaten aufgesprungen und übers freie Feld gelaufen, um die
Deutschen gefangenzunehmen. Und da habe das überraschende
Feuer deutscher Granatwerfer und Maschinengewehre binnen
weniger Sekunden drei Viertel des Bataillons niedergemäht.
Die Reste des Bataillons mußten sich zurückziehen.
Auch hier hatte man zu der Zeit noch nicht erkannt, daß der
Durchbruch der Deutschen bei Schklow ein echter Durchbruch
war und kein Luftlandeunternehmen, weshalb man die Vorausabteilungen der Deutschen, die vor den Hauptkräften in verschiedenen Richtungen vorgingen, für Luftlandetrupps hielt.
Ich erinnere mich nicht mehr aller Einzelheiten dieses Tages,
einige aber habe ich gut behalten. Bislang hatte ich in den ersten Kriegstagen noch keine Gelegenheit gehabt, bei kämpfenden Truppenteilen zu weilen. Einmal gelang es uns nicht, zu
ihnen nach vorn durchzukommen, ein andermal handelte es
sich um Truppenteile, die bereits aus dem Kampf zurückgezogen waren. Nun sah ich hier zum erstenmal seit Chalchyn gol
einen Stab unter Gefechtsbedingungen arbeiten.
Der Oberst, der uns mitgenommen hatte, war der Chef der
operativen Abteilung des Divisionsstabes. Ich bin selten einem
so besonnenen Mann begegnet. Er sprach mit seinen Unterstellten, trug dann etwas in die Karte ein und erteilte ohne jede
Hast mit knarrender Stimme Befehle.
Etwa dreihundert Meter hinter uns stand eine Batterie der
schweren Korpsartillerie, und in kurzen Intervallen orgelten
ihre Granaten über unsere Köpfe hinüber auf die andere Seite
des Dnepr. Da wir nicht wußten, worüber wir uns in diesem
Durcheinander mit den Männern unterhalten sollten, standen
wir einfach herum, hörten ihren Gesprächen zu, gingen von
einem zum anderen. Bald darauf schlug hinter uns krachend die
erste deutsche Granate ein. Im Wald waren flache Deckungsgräben ausgehoben, in denen man nur hocken oder tiefgebückt
stehen konnte. Aber Deckungsgraben ist Deckungsgraben, und
als unmittelbar nach der ersten zwischen den Bäumen weitere
drei oder vier Granaten einschlugen, stiegen wir alle in diese
Gräben.
Die Deutschen hatten offensichtlich nicht den Stab unter Beschuß genommen, den sie wohl kaum hatten ausmachen kön-
nen, dafür aber die recht unglücklich dreihundert Meter hinter
dem Stab in Stellung gegangene schwere Batterie. Auch die
Deutschen feuerten mit schweren Granaten. So ging es ohne
längere Pausen an die zwei Stunden. Hin und wieder verließen
wir die flachen Gräben, steckten uns eine Zigarette an, doch
schon kam die nächste Gruppe herangeorgelt, und wir suchten
wieder Schutz in den Gräben.
In den zwei Stunden zählte ich fünfzehn solcher Feuerüberfälle. Eine Doppelrumpf-Focke-Wulf schwebte über dem Wald
und korrigierte das Feuer. Ob uns nun die Deckungsgräben
halfen oder ob wir einfach Glück hatten – jedenfalls gab es
nach dem zweistündigen Beschuß in dem ganzen von Menschen wimmelnden Wald nur einige wenige Verwundete.
Nach dem Beschuß machte man uns mit einem Mitarbeiter
der Divisionszeitung bekannt. Es ging auf den Abend zu, und
er schlug uns vor, in seine Redaktion zur zweiten Staffel zu
fahren, dort zu übernachten, am anderen Morgen wieder hierher zurückzukehren und eines der Regimenter aufzusuchen.
Wir willigten ein und wollten schon aufbrechen, Borowkow
hatte sogar schon den Kombi zwischen den Bäumen gewendet,
da wurden wir noch aufgehalten, weil uns der Chef der operativen Abteilung über die Lage informieren wollte. Der Divisionskommandeur hatte kurz zuvor befohlen, sein Pferd zu bringen, und war weggeritten. Kaum aber waren wir beim Chef der
operativen Abteilung angelangt, als plötzlich in nächster Nähe
lebhaftes Feuer aus Geschützen leichten Kalibers einsetzte und
gleich darauf per Fernsprecher die Meldung kam: Deutsche
Panzer vier Kilometer vom Stab auf der Landstraße und rechts
von ihr. Nun stand uns nicht mehr der Sinn danach, uns nach
der operativen Lage zu erkundigen. Wegzufahren aber wäre
auch peinlich gewesen. Immer alarmierendere Meldungen trafen ein. In drei Kilometer Entfernung. In zwei. In anderthalb.
Der grauhaarige Oberst befahl allen sich beim Stab Aufhaltenden, Handgranaten zurechtzulegen und mit Benzin gefüllte
Flaschen bereitzuhalten. Da stellte sich heraus, daß keiner mehr
Streichhölzer hatte. Beim Beschuß hatten die Männer viel geraucht, um die Nerven zu beruhigen, und dabei sämtliche
Streichhölzer verbraucht. Minutenlang beschäftigte sich jeder
mit der Mobilisierung innerer Reserven und vergaß dabei völlig die Panzer – alles war auf der Suche nach Streichholzschachteln und teilte die Streichhölzer auf, damit jeder welche
hätte. Dann hockten wir da und warteten. Das Schießen kam
immer näher. Dann war entfernter Motorenlärm zu hören. Nach
der letzten Meldung standen die Panzer achthundert Meter vor
dem Stab. Plötzlich aber wurde das Schießen schwächer, dem
Stab wurde gemeldet, die Panzer seien zurückgeschlagen worden und hätten kehrtgemacht.
Da meinten wir und der Mitarbeiter der Divisionszeitung, nun
brauche es uns nicht mehr peinlich zu sein wegzufahren, obwohl ich im Grunde meines Herzens auch nichts dagegen gehabt hätte, wenn wir vorher weggefahren wären, und wir fuhren aus dem Wald über einen Feldweg in einen anderen Wald
etwa zehn Kilometer ins rückwärtige Gebiet.
Kaum waren wir in diesem Wald bei der Redaktion angekommen, als mehrere Dreierketten deutscher Bomber im Tiefflug direkt über den Wald flogen. Sie flogen sehr niedrig. Der
Wald war jedoch so dicht, daß die unter den Fichten stehenden
Wagen der Redaktion von oben wohl nicht auszumachen waren.
Wir bauten uns unter einer Fichte aus abgebrochenen Zweigen eine Hütte, legten uns lang und schliefen ein. Eine Stunde
darauf traf der Chef der Politabteilung der Division ein, ein
Bataillonsoberkommissar, ein kleiner schwarzhaariger Südler
aus der Gegend von Cherson oder Nikolajew. Er berichtete uns
ausführlich und sehr temperamentvoll von den letzten Kämpfen.
Wir übernachteten im Wald und fuhren am nächsten Morgen
zusammen mit dem Chef der Politabteilung zurück zum Divisionsstab, der noch in dem gleichen Wäldchen lag.
Beljawski und Kriger blieben mit dem Kombi beim Stab zurück, um Material zu sammeln, während Pascha Troschkin und
ich mit dem Bataillonsoberkommissar in dessen Wagen weiter
in den Wald hinein zu den bewaldeten Anhöhen fuhren, über
die längs des Dneprufers die Verteidigungslinie der Division
verlief.
Nach wie vor feuerte vom anderen Dneprufer die deutsche
Artillerie herüber, doch unternahm sie seit dem Morgen dieses
Tages keine Feuerüberfälle mehr, sondern belegte Wald und
Straße lediglich mit Störfeuer. Zuerst schlugen mehrere Granaten in einiger Entfernung auf der Landstraße ein, dann detonierte eine hinter uns auf dem Waldweg, und schließlich mehrere an verschiedenen Stellen im Wald. Wir erreichten den steilen Anstieg zu einem bewaldeten Hügel, verließen den Wagen
und gingen zu Fuß weiter. Auf der Hügelkuppe waren Schützengräben mit vollem Profil ausgehoben. Ein Stück weiter befand sich der Bataillonsgefechtsstand in einem großen komfortablen Erdbunker, der mit zwei Lagen Baumstämmen überdeckt war.
Was zur Rechten vor sich ging, wußte man beim Bataillon
nicht. Das Bataillon hatte lediglich den Auftrag, den ihm zugewiesenen Uferabschnitt zu verteidigen.
Mir wollte es einfach nicht in den Kopf, wie es das fertigbringen sollte. Obwohl uns der Bataillonsoberkommissar zuvor
gesagt hatte, die Verteidigungslinie verlaufe unmittelbar am
Ufer, entsprach das nicht der Wirklichkeit. Von dem Hügel aus
war nur eine bewaldete Senke weiter vorn zu sehen. Im Blick-
feld lag dichter Wald, während das Dneprufer von hier aus
überhaupt nicht zu sehen war. Ich vermochte nicht zu begreifen, wie das Bataillon von diesen Stellungen aus das Übersetzen der Deutschen über den Dnepr verhindern sollte. Von diesem Bataillon begaben wir uns zum Nachbarbataillon. Als wir
aber dort anlangten, wo es eigentlich liegen sollte, war es nicht
da. Es wurde uns gesagt, das Bataillon sei weiter nach rechts an
die Landstraße verlegt worden. Da schlugen wir dem Bataillonsoberkommissar vor, der von sich behauptete, er kenne die
ganze Gegend und die Lage überhaupt wie seine Westentasche,
sich mit uns auf die Suche nach diesem Bataillon zu machen.
Wir wollten uns rechts halten und die Richtung einschlagen,
wo sich etwas zu tun schien. Er entgegnete jedoch, das Bataillon werde nach dem Stellungswechsel schwer zu finden sein, er
hätte noch bei dem Bataillon zu tun, von dem wir eben gekommen waren, und für uns sei es wohl am besten, zum Divisionsstab zurückzukehren, wo wir weitere Informationen erhalten würden und dann dorthin gehen könnten, wo unsere Anwesenheit angebrachter sei. Damit trennten wir uns von ihm und
sahen ihn nie wieder.
Im Divisionsstab erfuhren wir, zwei Kilometer entfernt befinde sich der Korpsstab. Die interessantesten Operationen fänden
jetzt nicht hier bei ihnen, sondern im Abschnitt anderer, dem
Korps unterstellter Divisionen statt, und wir sollten lieber dorthin fahren. Richtiger gesagt gehen, um nicht unnötig mit Fahrzeugen in der Gegend herumzukutschen und dadurch den
Standort des Stabs zu verraten. Wir wollten schon aufbrechen,
als plötzlich im Wald ein zurückkehrender Spähtrupp und weitere zwanzig Mann von einer anderen Division auftauchten, die
aus einem Kessel ausgebrochen waren und sich dem Spähtrupp
angeschlossen hatten. Diese Gruppe wurde vom Chef der motorisierten chirurgischen Abteilung des Regiments geführt.
Sein kleiner Trupp bestand aus einem Arzt, Sanitätern, Bäkkern, Schuhmachern und allen möglichen anderen Troßleuten.
Der Arzt war eine zierliche schlanke Frau. Alle Männer des
Trupps behandelten sie höflich und zuvorkommend, und wenn
sie von ihr sprachen, kamen sie ins Stottern. Sie stammte aus
Saratow. Ich hatte meine Jugend dort verbracht, und so tauschten wir Erinnerungen über diese Stadt aus. Dann erzählte sie
mit einfachen Worten, wie sie sich durchgekämpft hatten und
sie mit ihrem Nagant einen Deutschen tötete. Sie erzählte so
schlicht, daß man ihren Worten kaum glauben wollte. Sie
schilderte alle ihre Erlebnisse in einer Art, als wären sie Glieder einer sich aneinanderfügenden Kette. Nach Abschluß der
zahnärztlichen Fachschule hatte man die Komsomolzinnen in
die Armee geholt, und auch sie war gegangen. Dann brach der
Krieg aus. Und sie war wiederum dabei. Dann stellte sich heraus, daß im Krieg keiner zum Zahnarzt ging, und sie nahm den
Platz einer Krankenschwester ein – sie konnte ja nicht nur herumsitzen. Dann fiel der Arzt, und sie trat an seine Stelle, weil
sonst niemand da war. Und als dann die Verwundeten vorn
schrien, der Sanitäter aber gefallen und niemand da war, sie
zurückzuschleppen, hatte sie es eben getan. Als ein Deutscher
auf sie zugekommen war, hatte sie den Nagant genommen und
ihn erschossen, – denn hätte sie nicht geschossen, hätte er es
getan.
Dazwischen erzählte sie von ihrem Mann, von dem sie
schamerfüllt sagte, er sei noch nicht beim Militär, als sei das
ihre Schuld, und von ihrem Kind, das Ljalka hieß.
Ich konnte mir schwer vorstellen, daß sie ein Kind hatte, wo
sie doch selber noch ein halbes Kind war. Als ich mit der Fragerei aufhörte, bemächtigte sich Pascha Troschkin ihrer. Er
setzte sie auf einen Baumstumpf und machte mehrere Aufnahmen von ihr. Mit Stahlhelm, ohne Stahlhelm, mit Sanitätsta-
sche, ohne Sanitätstasche. Doch bevor er sie photographierte,
kramte sie aus ihrer Sanitätstasche lächelnd ein kleines Täschchen heraus, entnahm ihm einen vom Sommerstaub geschwärzten Lippenstift und eine Spiegelscherbe, wischte den Staub von
den Lippen und bemalte sich.
All das – Lippenstift und Nagant, den sie mit beiden Händen
halten mußte, weil er so schwer war und sie so zart, zudem
noch die riesige Sanitätstasche über ihrer Schulter hing – all
das war seltsam, rührend und unvergeßlich zugleich.
Kaum war Troschkin mit Photographieren fertig, als genau
wie am Vortag Artillerie den Wald unter Beschuß nahm. Ich
landete zusammen mit einem Oberst, dem Divisionskommandeur, in einem Deckungsgraben. Nach jedem neuerlichen Einschlag schob sich der Oberst aus dem Graben heraus und schrie
dem zehn Meter von uns in einem anderen Graben hockenden
Artilleriekommandeur nicht gerade schmeichelhafte Worte zu.
„Wieso haben Sie sie hier in Stellung gehen lassen?“ schrie
er, die Batterie meinend. „Einen feinen Platz haben Sie da ausgesucht!“
„Gestatten Sie, zu melden, daß ich sie deshalb hier in Stellung gehen ließ…“, setzte der Artilleriekommandeur zur Antwort an, doch indessen detonierte die nächste Granate, und
beide verschwanden in ihren Gräben. Eine halbe Minute später
aber schoben sie ihre Köpfe wieder heraus.
„Ich frage Sie nicht, wie und warum!“ schrie der Oberst. „Ich
befehle Ihnen…“
Der nächste Einschlag, wieder verschwanden beide in ihren
Gräben. Und obwohl der Artilleriebeschuß nicht gerade ein
Grund zur Fröhlichkeit war, hatte das Ganze doch etwas Komisches. Auch Pjotr Iwanowitsch Beljawski brachte uns diesmal
wieder zum Lachen. Er war der Älteste von uns und ein außerordentlich, ja geradezu peinlich korrekter Mann; beim Beschuß
kletterte er fast nach jedem Einschlag aus seiner Deckungsgrube und klopfte sich das Erdreich und den Lehm von der Uniform. Und das alles nur, um eine Minute darauf wieder in die
Grube zu springen, den Einschlag abzuwarten, wieder hinauszuklettern und sich wieder abzuklopfen. Der lustige Kriger
nannte das: „Petja putzt sein Jäckchen.“ Nach dem Artillerieüberfall blieben Kriger und Troschkin mit dem Kombi im
Wald, während Beljawski und ich zum Korpsstab hinübergingen. Beim Stab trafen wir auf den Korpskommissar, einen
nicht mehr jungen, ruhigen Brigadekommissar, und den Chef
der Politabteilung, einen Hünen mit einer Adlernase und einem
Stahlhelm auf dem Kopf.
Im Gespräch sagten sie uns, bei der Division an der linken
Flanke, die Mogiljow verteidige, gehe es am interessantesten
zu. Wir wollten keine Zeit verlieren, verabschiedeten uns mit
dem Versprechen, nach dem Abstecher dorthin noch einmal
vorbeizukommen, und gingen zurück zu Kriger und Troschkin.
Man hatte uns gesagt, der Stab dieser 172. Division liege an
der Ostseite des Dnepr, drei Kilometer vor Mogiljow. Zusammen mit den beiden anderen brachen wir dorthin auf. Als wir
am Morgen über die Straße gefahren waren, war sie noch völlig unversehrt gewesen. In der Zwischenzeit war sie von den
Deutschen bombardiert worden, am Straßenrand lagen die verbogenen Trümmer eines Lkw. Im Gebüsch hingen die Eingeweide von Pferden. Aber alle sieben von den Deutschen hier an
der Landstraße abgeworfenen Bomben waren exakt neben der
Straße detoniert, und die Trichter hatten nur den Straßenrand
ein wenig beschädigt. Die Straße war weiterhin befahrbar, man
brauchte nur die Trichter zu umfahren. Erst gegen Abend trafen
wir bei der Division ein…
Vor den folgenden Seiten des Tagebuches möchte ich eine
Einfügung machen, und diesmal eine etwas längere. Ich habe
mir über vieles hinterher Klarheit verschafft, bin den Spuren
von Menschen und Ereignissen gefolgt und will nun die Ergebnisse dieser Nachforschungen mitteilen.
Wenn ich heute die erbeuteten Berichtskarten des deutschen
Generalstabes des Heeres betrachte, vermag ich mir die Lage
im Raum Mogiljow in jenen Tagen real vorzustellen.
Als uns der Redakteur der „Krasnoarmejskaja Prawda“ in die
Gegend von Mogiljow schickte, sollten nach ihm vorliegenden
Informationen „dort irgendwo deutsche Fallschirmjäger abgesprungen sein, auf die jetzt erfolgreich Jagd gemacht würde“.
Nach den in die Karte übertragenen Meldungen der in diesem
Raum operierenden deutschen Truppenteile hatten in Wirklichkeit deren 29. motorisierte Division und die 10. Panzerdivision
am 11. Juli bereits nicht nur den Dnepr im Raum Schklow,
nördlich Mogiljow, überschritten, sondern waren nach dem
Übersetzen zehn bis zwanzig Kilometer ostwärts vorgestoßen.
Wie man der gleichen Karte entnehmen kann, hatten die 10.
motorisierte Division und die 4. Panzerdivision der Deutschen
nach dem Übersetzen über den Dnepr südlich Mogiljow an
jenem Morgen am Ostufer des Flusses einen ganzen Brückenkopf mit einer Breite von etwa vierzig Kilometern unter ihrer
Kontrolle.
Dies nicht ahnend, waren wir in den zu dieser Zeit bereits entstandenen Sack bei Mogiljow hineingefahren.
Oberst Schalwa Grigorjewitsch Kipiani, bei dem wir uns zu
Beginn dieser Fahrt, am 11. Juli, aufhielten, war Kommandeur
des 467. Schützenregiments der 102. Schützendivision. Das
Tagebuch enthält eine Ungenauigkeit. Diese Division gehörte
nicht zum 63. Korps Petrowskis, sondern war dessen rechter
Nachbar. Der operative Bericht des 467. Regiments für diesen
Tag stimmt völlig mit jener Atmosphäre der Kampfruhe überein, die wir dort antrafen: „… Das Regiment besetzte einen
Verteidigungsabschnitt am linken Dneprufer . , Es ist sonnig,
der Wind weht in Richtung des Gegners. Die Feldwege sind für
Panzer befahrbar.“
Im Regiment und bei der Division waren die Dinge erst zwei
Tage nach unserer Abfahrt in Bewegung geraten. Am 13. Juli
überschritt Petrowskis Korps den Dnepr, dabei in Hauptrichtung des Vorstoßes unserer 21. Armee operierend, befreite die
Städte Rogatschow und Shlobin und setzte die Offensive in
Richtung Bobruisk fort. Im Norden schirmte diese Offensive in
der Nacht vom 13. zum 14. Juli auch die 102. Schützendivision
ab, die den Dnepr zwischen Nowo-Bychow und Godilowitschi
überschritt und zu der auch das von Kipiani geführte Regiment
gehörte.
Die Einnahme von Rogatschow und Shlobin war einer unserer
ersten erfolgreichen Gegenstöße im Bereich der Westfront in
diesem Krieg. Später warfen die Deutschen neue Kräfte in diesen Raum, brachten die Offensive unserer 21. Armee zum Stehen und schlossen Petrowskis Korps ein. Petrowski, damals
gerade Generalleutnant geworden, fiel am 17. August 1941,
mit ihm ein Teil seines Korps, während sich der andere Teil
aus dem Kessel herausschlug und hinter den Dnepr zurückging.
Jetzt las ich Petrowskis Kaderakte und eine Reihe seiner im
Juli erlassenen Befehle, die eine Vorstellung von der Lage des
Korps und von seinem Führungsstil vermitteln. Hinter diesen
Befehlen stand ein strenger und gerechter Mann, der sowohl im
Moment des Erfolgs wie im Moment einer schwierigen Situation die Lage nüchtern beurteilte. Aus seinen Befehlen wird
deutlich, welche Bedeutung er dem Zusammenwirken der Infanterie und der Artillerie, den Fragen einer exakten Organisierung der Führung und der Nachrichtenmittel, der Arbeit der
rückwärtigen Dienste und dem Abtransport der Verwundeten
beimaß.
In einem seiner Befehle heißt es: „Alle Möglichkeiten… zur
Panzerbekämpfung sind restlos auszuschöpfen, wozu die 45mm-Kanonen und die 76-mm-Regimentsgeschütze als selbständige Panzerabwehrgeschütze zur aktiven Panzerbekämpfung nach vorn zu ziehen sind. In einzelnen Fällen sind 122und 152-mm-Haubitzen vorzuziehen.“ Bereits im Juli 1941 tat
Petrowski etwas, was viele andere erst wesentlich später lernten.
In einem in einer bereits schwierigen Lage herausgegebenen
Befehl heißt es: „In den vergangenen Kämpfen haben Truppenteile des Korps Verluste erlitten, zudem ist ein beträchtlicher
Teil der Soldaten im rückwärtigen Gebiet steckengeblieben.
Ich befehle: Im Laufe der Nacht auf den 20.7.41 sind von allen
Troßfuhrwerken die nicht unbedingt benötigten Soldaten und
unteren Kommandeurdienstgrade abzuziehen. Sie sind zur Auffüllung der Schützenkompanien nach vorn zu schicken. Für
jeweils zwei Troßfuhrwerke ist ein Fahrer einzusetzen. Die
MGs und Gewehre sind zur Bewaffnung der Schützenkompanien abzuliefern und ein Gewehr auf jeweils fünf Fuhrwerke
beim Troß zu belassen.“
Trotz des durch die Ungleichheit der Kräfte bedingten dramatischen Ausgangs dieser Kämpfe, die mit der Einnahme von
Shlobin und Rogatschow begannen, war die vor langer Zeit, im
Februar 1925, geschriebene Beurteilung Petrowskis, damals
noch Regimentskommandeur, im großen und ganzen zutreffend und entsprach der Wirklichkeit. „Ist willensstark, energisch und entschlossen. Versteht sich der operativen Lage geschickt anzupassen. Er kennt das Soldatenhandwerk und liebt
es. Entspricht voll und ganz der von ihm bekleideten Dienststellung.“
In dem erhalten gebliebenen Kriegstagebuch der 102. Division finden sich Angaben über das Schicksal des 467. Regiments
und seines Kommandeurs Kipiani. In einer Meldung vom 21.
Juli heißt es, daß das Regiment zum Angriff überging und Angehörige des 17. deutschen Infanterieregiments gefangennahm.
In einer Meldung vom 22. Juli an den Korpsstab wird mitgeteilt, daß keine Verbindung mit dem Regiment besteht, daß das
Regiment im Kessel weiterkämpft und um Panzerunterstützung
ersucht. Am 23. Juli übersendet der Divisionskommandeur
dem Korpsstab eine Mitteilung, wonach Teile des 467. Regiments, das im Kessel weitergekämpft und etwa anderthalb
feindliche Bataillone vernichtet hat, aus dem Kessel ausgebrochen sind, gesammelt wurden und nun neu formiert werden.
Daraus, daß es in der gleichen Meldung heißt, Hauptmann
Matwejez habe die Führung des Regiments übernommen, ist zu
entnehmen, daß Oberst Kipiani an diesem Tag bereits gefallen
oder verwundet war. Die letzte Eintragung in seiner Kaderakte
stammt aus der Vorkriegszeit: „Hat das Regiment in der Division auf den ersten Platz gebracht.“ Keine weiteren Eintragungen.
Nach der Veröffentlichung meines Tagebuchs in der Presse
erhielt ich einen Brief aus Georgien:
„… Ich kann nicht in Worten ausdrücken, was ich fühle. Die
Zeitschrift: ,Drushba Narodow’, Ihre ,Kriegstagebücher’. Vierunddreißig Jahre nach dem Tod meines Mannes Näheres über
die letzten Tage seines Lebens an der Front zu erfahren!
Am 20. Juni 1941 feierten wir in fröhlicher Stimmung unseren 14. Hochzeitstag, und am 22. Juni…
Am 24. mobilisierte er sein Regiment (mein Mann war Kommandeur des 467. Schützenregiments und Garnisonschef in
Chorol, Gebiet Poltawa) und ging mit ihm an die Front. Damit
er in der schweren Zeit an der Front wenigstens noch eine kleine Erinnerung hätte, packte ich ihm in den letzten Minuten vor
dem Abschied ohne sein Wissen alles in den Koffer, was noch
an Süßigkeiten von unserer Feier übrig war, so auch die Konfektschachtel, aus der er Ihnen beim Frühstück am 11.7.41 anbot. Ich ging mit den Kindern erst aus Chorol weg, als bereits
deutsche Panzer in der Stadt waren. Die ganze Zeit hatte ich
auf eine Nachricht von ihm gewartet und keine bekommen.
Wenige Tage später in den schweren Kämpfen am Dnepr ist
er bei der Sicherung des Rückzugs unserer Truppen mehrmals
verwundet worden und unter starkem Blutverlust gestorben.
Heldentaten hat er nicht vollbracht, er hat unsere Städte nicht
befreit, aber er hat jeden Fußbreit unseres Bodens und das Leben Tausender zurückweichender Menschen verteidigt. Es gibt
niemanden mehr, der sich seiner noch erinnert. Sein Regiment
ist aufgerieben worden. Und es ist mir nicht gelungen, jemanden vom Regiment ausfindig zu machen. Selbst der Ort seines
Todes ist nicht genau angegeben. Wissen Sie, was mein größter
Wunsch ist? Sein Grab zu finden, vor ihm niederzuknien und
wie ein treuer Hund am Grab seines Herrn für immer dort zu
bleiben. Ich kann nicht mehr! Der schwere Schmerz um den
Verlust klingt nicht ab! Ich hasse die Deutschen und werde sie
hassen, solange ich lebe.
Hochachtungsvoll
L. Kipiani Witwe von Oberst Seh. G. Kipiani“
Ich war erschüttert, als ich diese Zeilen las, hinter denen sich
der vierunddreißig Jahre währende Kummer eines Frauenherzens verbarg. Die Konfektschachtel, aus der uns Oberst Kipiani
mit echt georgischer Gastlichkeit angeboten hatte, uns, die wir
seine ersten und wohl auch letzten Gäste im Krieg waren, war
also von der Feier des vierzehnten Hochzeitstages in den Wald
am Dnepr geraten. Diese kleine, bittere Begebenheit ließ es mir
schwer ums Herz werden. Ich hatte diesen Brief im März 1975
erhalten, und als ich im Frühsommer nach Georgien kam,
konnte ich seine Schreiberin noch kennenlernen – Ljubow Fjodorowna Kipiani, eine wunderbare Frau. Ich sage, ich konnte
es noch, da sie heute nicht mehr unter den Lebenden weilt. Als
ich nach längerer Abwesenheit nach Moskau zurückkehrte,
fand ich auf meinem Schreibtisch ein Telegramm, das ihren
Tod mitteilte.
Außer diesem Telegramm aber lag seit geraumer Zeit ein
Brief da aus Krasnojarsk, geschrieben von dem Kriegsinvaliden Fjodor Pawlowitsch Shiwotow, einem Offizier aus der 102.
Schützendivision, der Kipianis Regiment angehört hatte:
„… Der Kommandeur des 467. Schützenregiments Oberst
Kipiani starb vor meinen Augen. Schwer verwundet (er hatte
beide Beine verloren) erteilte er, solange er noch bei Bewußtsein war, Hauptmann Matwejez Gefechtsbefehle. Er hat sich
gehalten wie ein wahrer Held des Vaterlandes. Solchen Menschen begegnet man im Kampf nur selten, und sein Andenken
wird immer bestehen. Angesichts des starken Blutverlusts
konnte sein Leben nicht mehr gerettet werden, und so hörte
sein Kämpferherz auf zu schlagen. Er fiel auf dem Höhepunkt
des Kampfes. Kennzeichnend für ihn ist, daß er, obwohl ihm
beide Beine weggerissen waren, nicht verlangte, zurückgebracht zu werden, sondern auf der Ausführung seiner Gefechtsbefehle bestand und sich nicht von der Stelle rühren
wollte! Diese Tragödie spielte sich innerhalb weniger Minuten
ab, er ließ niemanden zu sich und sagte: Ich muß hier sterben,
aber der Feind muß zerschmettert werden. Mir war es beschieden, ihn wenige Minuten vor seinem Tode noch lebend anzutreffen…“
Diesen Brief konnte ich nicht mehr an die Witwe Kipianis
weiterleiten. Es war zu spät…
Im Tagebuch schreibe ich, daß es uns am Morgen des n. gelungen war, auf dem kürzesten Weg von Propoisk nach Mogil-
jow zu kommen, wenige Stunden bevor die Deutschen den
Dnepr bei Bychow überschritten und die Straße abschnitten. In
Wirklichkeit hatten die Deutschen den Dnepr bei Bychow
schon am 10. also zwei Tage früher, überschritten. Zur Straße
Propoisk-Mogiljow waren sie, nach ihren Lagekarten zu urteilen, aber wirklich erst am 12. vorgestoßen. Übrigens wird der
heutige Leser, soviel er auch sucht, Propoisk auf den Nachkriegskarten nicht finden. 1941 gab es auf den Karten im Gebiet Mogiljow die Stadt Propoisk, und sie wurde wiederholt in
Berichten erwähnt, doch im Sommer 1944, nach der Zerschlagung der deutschen Heeresgruppe Mitte in Belorußland, wurde
das befreite Propoisk in Slawgorod umbenannt.
Wahrscheinlich spielte dabei die zu dieser Zeit zunehmende
Tradition eine Rolle, Truppenteile, die sich ausgezeichnet hatten, nach den von ihnen befreiten Städten zu benennen, und
dabei erhob sich plötzlich das Problem: Wie sollte man die
Division nennen, die Propoisk befreit hatte?… (Propoiza –
Säufer).
Im Tagebuch drücke ich mein Erstaunen darüber aus, auf der
Landstraße Mogiljow-Orscha, auf dem diesseitigen Dneprufer,
von deutschen Panzern zu hören. Im Laufe des 12. als wir in
dieser Gegend weilten, waren die 10. Panzerdivision und die
29. motorisierte Division der Deutschen mit ihren Vorausabteilungen tatsächlich bereits fünfzig Kilometer vom Dnepr ostwärts vorgestoßen und hatten die Eisenbahnlinie OrschaKritschew abgeschnitten. Ihren Hauptstoß nach Nordosten, auf
Smolensk zu führend, waren die Deutschen an diesem Tag offensichtlich nicht unbedingt darauf ausgewesen, nach Süden,
auf Mogiljow zu, abzudrehen. Der Zwischenfall mit den deutschen Panzern, die entlang der Orschaer Landstraße zum Divisionsstab vordrangen, wo wir uns aufhielten, war offenbar nur
ein Teilunternehmen. Die Deutschen tasteten einfach unsere
Verteidigungsstärke in diesem Abschnitt ab und zogen sich
zurück, nachdem sie im Artilleriefeuer mehrere Panzer verloren hatten. Die Division, deren Stab sich diese Panzer näherten,
war die no. Schützendivision der 13. Armee. Sie gehörte zu
dem von General Bakunin geführten Gl. Schützenkorps, das
Mogiljow verteidigte, in diesem Raum bis zum 26. Juli weiterkämpfte und dann aus dem Kessel ausbrach.
Der Kommandeur der 110. Division, Wassili Andrejewitsch
Chlebzow, den wir im Wald in seinem Gefechtsstand trafen,
erhielt für seinen Kampfeinsatz schon 1941 zwei Orden, was
damals eine Seltenheit war; 1942, nach dem Ausbruch aus dem
Kessel, führte er wieder eine Division, danach war er Stellvertreter des Kommandeurs eines Kavalleriekorps. Am 7. Mai
1942 wurde er zum Generalmajor ernannt und fiel am 25. Mai
im Abschnitt Isjum-Barwenkowo im Bereich der Südwestfront.
Der Oberst, dem wir auf der Landstraße begegneten und der
durch nichts aus der Ruhe zu bringen war, hieß Fjodor Trofimowitsch Kowtunow und war Chef der operativen Abteilung
des Stabs der 110. Division. In den folgenden Tagen führte er
bei Mogiljow ein Regiment, er wurde mit einem Orden ausgezeichnet, blieb bis November im Kessel, brach aus, kämpfte
weiter und beendete den Krieg in Ostpreußen als Generalmajor
und Kommandeur der 88. Witebsker Schützendivision.
Die Erinnerungen an eine flüchtige Begegnung im Wald bei
Mogiljow waren für mich später der erste Anstoß dazu, die
„kleine Ärztin“ Tanja Owsjannikowa zu einer der Hauptfiguren
aller drei Bände meines Romans „Die Lebenden und die Toten“ zu machen. Als ich damals im Juli 1941 aus dem Raum
Mogiljow zurückkehrte, schrieb ich über die Begegnung mit
dieser Militärärztin die Reportage „Valja Timofejewa“. Sie
wurde in der Frontzeitung unter meinem Namen und in der
„Iswestija“ unter dem Pseudonym S. Konstantinow veröffentlicht, weil gleich daneben mein Bericht von der Front unter
meinem richtigen Namen stand.
Ich vermutete, diese Frau sei gefallen. Zurückzuführen war
das vielleicht auf den allgemeinen Eindruck von der schweren
Lage bei Mogiljow, vielleicht aber auch darauf, daß ich von all
den Menschen, denen ich auf dieser Fahrt begegnet bin, nach
Jahren nur zwei wiedertraf.
Als ich das Tagebuch zur Herausgabe vorbereitete, fand ich
ein altes Notizbuch, das ich damals auf der Fahrt nach Mogiljow bei mir gehabt und schon als verloren geglaubt hatte, in
ihm entdeckte ich meine damalige Notiz über das Zusammentreffen mit der Ärztin.
Ausnahmsweise möchte ich sie in voller Länge wiedergeben.
Sie vermittelt eine gewisse Vorstellung von der Art und Weise
meiner in der ersten Zeit an der Front gemachten Aufzeichnungen, nach denen ich – so sie erhalten geblieben waren – im
Frühjahr 1942 mein Tagebuch diktierte. Hier diese Eintragung:
„443. Schützenregiment. 53. Division.
Das Wäldchen wird bombardiert. Hier liegen die rückwärtigen Dienste des Regiments. Rechts und links von uns Batterien. Eine Frau, die Zahnärztin Valentina Wladimirowna Timofejewa, dreiundzwanzig Jahre, ist aus der Deckung zu den
Verwundeten vorgekrochen und hat sie zurückgeschleppt.
,Uns fehlte es an Ärzten, ich mußte selbst Verbände anlegen,
und da habe ich verlangt: Schickt uns wenigstens einen Zahnarzt. Was auch geschah. Ich selber bin im dicksten Bombenhagel in ein Deckungsloch gekrochen, aber sie hat draußen weiter
verbunden. Ich sage: »Die werden Sie noch umbringen!« Sie:
»Nein, solange ich noch lebe, muß ich meine Arbeit tun«, und
verbindet weiter.’
,Die hatten eine Leuchtkugel hochgeschossen. Dann ging sie
aus. Ich kroch vor und schrie: »Wo stecken Sie?« Aber ich war
in der falschen Richtung gekrochen, und der Verwundete
schrie: »Hier bin ich, hier!« Ich krieche zu ihm, frage: »Wo
hat’s Sie erwischt, Lieber?…« Er sagt: »Ich hatte mich gerade
aufgerichtet, da kam die Leuchtkugel, und sie haben mich niedergemäht.« Sechs Wunden. Ich sehe, es ist hoffnungslos, verbinde ihn aber, um ihm Erleichterung zu verschaffen, die Brust
mit einem Handtuch. Er fühlt, daß sein Zustand hoffnungslos
ist, und fragt: »Muß ich sterben?« Ich: »Ach wo, was reden Sie
da…« In dem Moment kam ein Deutscher angekrochen. Ich riß
den Nagant raus und schoß. Er fiel um. Ich habe ihn umgebracht, weil er mich sonst erschossen hätte. Sicherlich hatte uns
der helle Verband verraten… Dann habe ich den Verwundeten
kriechend zurückgeschleppt, habe ihm gut zugeredet: »Wir
schaffen’s schon, mein Guter, nur noch ein Stückchen…« Er
sagt: »Ich schaffe es nicht.« Da habe ich ihn richtig angefleht.
Er war schwer, und dann noch die schwere Tasche, aber hätte
ich sie wegwerfen sollen? Schließlich hatte ich’s geschafft’
,Am 9. hat mir ein Splitter den Becher aus der Hand gerissen.’
,Nach meinem Eintreffen wollte ich Sprechstunde machen.
Aber niemand hatte Zahnschmerzen. Ich frage: »Was soll ich
dann machen?« Da sagte der Stabschef: »Das wird sich finden.« Und es hat sich ja auch gefunden.’
Die Ärmel der Feldbluse sind umgekrempelt. Die rechte Hand
ist blutverschmiert.
,Warum hat man Ihnen keine bessere Uniform gegeben?’ ,Ich
habe eine Uniform, und sie paßt mir. Bei meiner Größe ist das
schwierig. Sie ist über und über mit Blut befleckt.’ Ist seit 8.
März 1940 bei der Armee.
,Ich hatte eine kleine Ljalka, ein Jahr, zehn Monate alt, sie ist
tot. Jetzt habe ich nur noch einen Sohn von vier Monaten. Er ist
bei meiner Mutter. Mama hat gesagt: »Ich werde ihn schon
großziehen, wenn ihr nur die Deutschen wegjagt.« Die im
Kriegskommissariat haben gefragt: »Tut’s Ihnen nicht leid um
Ihre Ljalka?« Ich sage: »Was soll’s«, und dann bin ich zur Armee gegangen.’ Absolvierte 1936 die Zahnarztschule in Saratow. ,Ich werde jetzt wohl kaum Zähne behandeln, werde in
einem neuen Beruf arbeiten.’
Ein Hauptmann foppt sie: ,Ich habe Befehl, Sie beim Angriff
nicht mitzunehmen.’ – ,Wieso denn nicht?’ – ,Erstens weil Sie
eine Frau, und zweitens weil Sie so winzig sind.’
Kindliches, stupsnasiges Lausbubengesicht. Stammt aus Atkarsk, hat in Saratow gelebt.
,Ich will mit nach Berlin. Ihr könnt doch nicht einfach losziehen und mich hierlassen.’
Hat anfangs im Hinterland Verbände angelegt, später haben
die Bataillone ihre Verwundeten mit drei Lkws zu ihr geschickt, und sie hat alle versorgt.
Als der Photograph Aufnahmen machen will, erwacht die
weibliche Eitelkeit: ,Einen Moment, ich muß mich erst zurechtmachen!’ .Brauchen Sie vielleicht auch noch einen Spiegel?’ – .Natürlich!’ Ein freundliches, ruhiges Mädchen, hat vor
allem nie den Mut sinken lassen.“
Im Notizbuch fand ich Angaben, die mir völlig entfallen waren und die mir helfen konnten, die Timofejewa zu finden,
wenn sie noch lebte: Alter, Geburtsort, nähere Bezeichnung der
Schule, Datum des Eintritts in die Armee.
Im Archiv konnte ich unter Hunderttausenden von Kaderakten
die Kaderakte der Militärärztin Valentina Wladimirowna Timofejewa nicht finden. Also wandte ich mich an Kollegen, an
Journalisten in Saratow. Ich teilte ihnen alle mir vorliegenden
Daten mit, und innerhalb unwahrscheinlich kurzer Frist, buchstäblich innerhalb von drei Tagen, wurde Valentina Wladimirowna Timofejewa gefunden. Wie sich herausstellte, lebt sie
mit ihrem Mann, einem Oberstleutnant der Reserve, und drei
Kindern in Riga. Ihren ältesten Sohn Lew ließ sie, als sie in den
Krieg ging, mit vier Monaten zurück; er hat inzwischen den
Wehrdienst abgeleistet.
Ich möchte einen Teil des Briefes Valentina Timofejewas
wiedergeben. Der Brief vermittelt am besten eine Vorstellung
von dem weiteren Soldatenschicksal dieser Frau und wohl auch
von dem ihm ähnlichen Schicksal unzähliger anderer prächtiger Frauen, die 1941 die Soldatenuniform anzogen.
„… Ich beantworte Ihre Fragen. Sie haben recht: 1941 wußte
ich natürlich nichts von der Existenz der Reportage, ich konnte
auch nichts davon wissen, weil ich sechs Monate keinerlei
Verbindung zum Großen Land (so nannten wir es damals) hatte. Als ich sie später las, interessierte ich mich dafür, ob dieser
S. Konstantinow noch lebte, aber ich konnte nichts darüber in
Erfahrung bringen.
Jetzt zu mir. Nach der Begegnung mit Ihnen vereinigte sich
unsere Gruppe mit den Resten der 110. Schützendivision.
Kommandeur dieser Division war Oberst W. A. Chlebzow. Sie
hatten völlig recht, wenn Sie von einem heillosen Durcheinander sprachen, denn das war es damals wirklich.
Im Verband der 110. Schützendivision versuchten wir aus
dem Kessel auszubrechen, aber ohne Erfolg. Oberst Chlebzow
stellte eine Partisanenabteilung auf, die er selbst führte. In dieser Abteilung war ich Arzt und Soldat. Durch hinzustoßende
Angehörige versprengter Einheiten und der Zivilbevölkerung
wurde die Abteilung immer größer. Wir hatten eine einfache
und zugleich wichtige Aufgabe: Dem Feind auf unserem Boden keine Ruhe zu gönnen und nach Osten zu marschieren, was
wir auch taten. An die Orte, wo wir Gefechte oder Geplänkel
mit dem Feind hatten, kann ich mich nur schwer erinnern. Wir
wurden von der Bevölkerung versorgt, hauptsächlich aber ver-
sorgten wir uns auf Kosten der Deutschen. So schlugen wir uns
durch. Einmal schossen die Jungs mit MGs ein tieffliegendes
Flugzeug ab. Der deutsche Pilot kam am Fallschirm runter, er
wurde erschossen, weil wir kein Hinterland hatten. Aus dem
Fallschirm nähte ich Hemden für die Jungs, und sie waren froh
darüber, denn wir hatten ja keine Wäsche zum Wechseln. Wir
hatten in der Abteilung keine Kranken, das heißt, ich achtete
streng darauf, daß bei der ersten besten Gelegenheit die Wäsche und die Uniformen gewaschen und getrocknet wurden,
sah darauf, daß es in der Abteilung kein Ungeziefer gab, wozu
ich die Jungs oft inspizierte und obligatorische Badetage ansetzte.
Die ansässige Bevölkerung haßte den Feind und war uns in
allem behilflich, und wir kamen uns vor wie zu Hause und
nicht wie im Hinterland des Feindes.
Die Menschen setzten ihr Leben aufs Spiel, um uns zu helfen,
aber wie man so sagt, findet sich in jeder Herde ein schwarzes
Schaf, und so hat auch bei uns ein Gruppenältester versucht,
die Deutschen zu warnen und sie auf unsere Spur zu bringen.
Für so was gab es nur eine Strafe: ein Hund verdient den Hundetod.
In einem dieser Kämpfe wurde ich verwundet – eine Schußverletzung am rechten Bein. Ich mußte in einem Dorf bleiben,
es war wohl in Knjasewka, Gebiet Smolensk, bei einem Bauern. Es waren gute Leute, ich erinnere mich nicht mehr, wie sie
hießen, aber ich bin ihnen von Herzen dankbar. Die Jungs von
der Abteilung kamen mich besuchen, und als ich mich erholt
hatte, nahmen sie mich wieder mit zur Abteilung. Unsere Abteilung marschierte nachts, ganz selten auch bei Tage durch
den Wald. Bewaffnet waren wir mit deutschen MPis, wir hatten auch leichte deutsche MGs und sogar ein MG von uns – ein
Maxim.
Einmal war ich als Kurier in ein Dorf gegangen zu der Frau
eines Partisanen, des dortigen Lehrers (er war in unserer Abteilung und hatte einen Batterieempfänger mitgebracht, damit wir
Moskau hören könnten). Da kamen zwei Autos mit einer Strafexpedition ins Dorf. Alle Bewohner wurden auf die Straße getrieben, darunter auch ich. Wir mußten in einer Reihe antreten,
und die Deutschen ließen jeden zehnten vortreten und brachten
ihn um. Die zehnten waren nicht nur Erwachsene, sondern
auch Kinder… Ich war die sechste. Als Unsre von der Greueltat erfuhren, sperrten sie die aus dem Dorf herausführenden
Straßen und brachten alle Deutschen um, ließen sie gar nicht
erst aus den Wagen steigen.
Am 7. November hörten wir Stalins Rede auf dem Roten
Platz, und später gaben uns Einwohner eine von einem Flugzeug abgeworfene Zeitung, in der die Rede des Genossen Stalin abgedruckt war. Ja, der Glaube der sowjetischen Menschen
an diesen Mann war schon groß! Es gab keine durchgehende
Frontlinie, und unsere Abteilung konnte sich in der Gegend
von Tula nach einem kurzen Feuergefecht der Aufklärer mit
unseren Truppenteilen vereinigen. Man ließ uns genauso antreten, wie Sie es im Buch ,Die Lebenden und die Toten’ beschreiben, nahm uns die Waffen ab, sagte uns schöne Worte
und schickte uns nach hinten, aber wo die anderen hingekommen sind, weiß ich nicht. Ich als Angehörige des medizinischen Personals bin zur Reserve des Sanitätspersonals in Tula
gekommen. Zum erstenmal seit sechs Monaten sah ich wieder
elektrisches Licht, und das war für mich der glücklichste Augenblick – ich lebte, alles war wieder wie früher, das Leben
ging weiter…“ Valentina Wladimirowna Timofejewa erwähnt
in ihrem Brief den Kommandeur der 110. Schützendivision,
Oberst Chlebzow. Über sein weiteres Schicksal habe ich bereits geschrieben. Als ich aber später noch einmal im Archiv
stöberte, entdeckte ich, daß auch Oberst Chlebzow in seiner
Aufzeichnung „Über die Aktionen im Hinterland der faschistischen Okkupanten“, geschrieben nach der Vereinigung seiner
Abteilung mit unseren Truppen, die Ärztin Timofejewa erwähnt.
In Chlebzows Aufzeichnung werden die Taten seiner Truppe
aufgezählt: vier Transportzüge in den Rayons Orscha, Kritschew und Roslawl zum Entgleisen gebracht, eine Eisenbahnbrücke beim Kilometer vierunddreißig auf der Strecke Roslawl-Orscha gesprengt, neunundfünfzigmal Fernsprechkabel
durchschnitten, im Dorf Kusmitschi ein Flugzeug in Brand
gesteckt, drei Geschütze samt ihren Bedienungen geschnappt,
eine Draisine, siebenunddreißig Kraftfahrzeuge und dreizehn
Kräder zerstört.
Nach Chlebzows Berechnung hat seine Abteilung in den
dreimonatigen Operationen zweihundertacht Deutsche getötet,
nicht jene eingerechnet, die beim Entgleisen der Transportzüge
umkamen. Chlebzow brachte einhundertzweiundsechzig Mann
aus dem Kessel heraus, davon einhundertzwei Mannschaftsdienstgrade und untere Kommandeure, siebenundvierzig mittlere und höhere Kommandeure und Politoffiziere sowie dreizehn Zivilisten.
Nach der Liste der abgelieferten Waffen zu urteilen, ist
Chlebzows Abteilung gut bewaffnet zurückgekehrt – allein
achtzehn MGs waren dabei.
Ich bringe diese Angaben nach Chlebzows Aufzeichnung, um
an diesem Einzelbeispiel daran zu erinnern, welchen Schaden
die Männer jener eingekesselten Divisionen den Deutschen in
deren Hinterland zufügten. Deutschen Stabsdokumenten zufolge galten sie bereits für nicht mehr existent.
Da vom Schicksal Valja Timofejewas die Rede war, möchte
ich auf einige wesentliche Merkmale in der Geschichte jener
53. Division eingehen, bei der sie ursprünglich diente. Diese
Geschichte hatte verschiedene Aspekte, darunter auch bedrükkende, und auch über sie muß gesprochen werden.
Ich begegnete der Timofejewa zu einem Zeitpunkt, als ihre
Gruppe aus dem Kessel kam und in der Stellung einer anderen
Division eintraf. Die 53. Division hatte damals genau an der
Spitze jenes Vorstoßes gelegen, den die Deutschen über den
Dnepr auf die Stadt Gorki (im Gebiet Mogiljow – d. Üb.) unternahmen, die auf einer deutschen Karte am 12. Juli bereits als
von Teilen der 10. Panzerdivision und der 29. motorisierten
Division der Deutschen erobert eingezeichnet war. Mit weniger
als der Hälfte ihrer kriegsmäßigen Stärke, ohne Panzer und
ohne Schutz durch die Luftstreitkräfte, war die Division von
Luftwaffe, Artillerie und Panzern aufgerieben worden. Das
geschah 1941, und es widerfuhr Truppenteilen, die sich in der
Folgezeit tapfer schlugen.
Die 53. Division hat danach einen großen Kampfweg zurückgelegt, kämpfte bei der Verteidigung Moskaus, nahm bei unserer Gegenoffensive Tarutino ein, war bei der Einnahme von
Malojaroslawez und Medyn dabei, forcierte später, nach ihrer
Verlegung in den Süden, den Dnepr und den Bug, kämpfte in
Rumänien bei der Liquidierung der deutschen Gruppierung von
Iasi und Kischinjow, überschritt dann die Tisa und die Donau,
nahm die Stadt Györ und zog weiter in Richtung Wien. Ein
Regiment der Division erhielt Ende des Krieges den Namen
Wiener Regiment, der Division wurden der Rotbannerorden
und der Suworoworden verliehen.
Das ist die Geschichte der Division, vom Anfang bis zum Ende. Von den ersten Tagen an, als wir uns in einer verzweifelten
Situation befanden, bis hin zu den letzten, als die Lage der gesamten an der Ostfront kämpfenden deutschen Wehrmacht
hoffnungslos war. Mit einiger Schadenfreude könnte man noch
hinzufügen, daß die 10. Panzerdivision und die 29. motorisierte
Division der Deutschen, die unserer 53. Division damals, im
Juli 1941, am Dnepr einen so schweren Schlag zufügten, unter
folgenden Bedingungen ihr Dasein beschlossen: die 29. motorisierte Division wurde aufgerieben und von uns im Winter
1943 bei Stalingrad gefangengenommen, die 10. Panzerdivision kämpfte bis 1942 an der sowjetisch-deutschen Front, wurde
nach schweren Verlusten zur Neuaufteilung nach Südfrankreich herausgezogen, später wurde sie nach Afrika geworfen
und streckte im Mai 1943 vor den Engländern die Waffen.
Wie ich im Tagebuch erwähne, begegnete ich dem Kommissar des 61. Schützenkorps, Brigadekommissar Iwan Wassiljewitsch Woronow. Er fiel im Kampf in der Gegend zwischen
Mogiljow und Tschaussy, in der Nähe des Dorfes Moschok,
bei einem Ausbruchsversuch aus dem Kessel. Seinen Tod meldete später nach Moskau der Kommandeur des Korps, Generalmajor Bakunin. Ihm gelang es erst Ende November, an der
Spitze einer einhundertvierzig Mann starken Gruppe zu den
Seinen durchzubrechen.
Die Stelle, wo Woronow fiel, der von den Ortseinwohnern in
einem Brudergrab beerdigt wurde, haben viele Jahre später
Schüler und Spurensucher von der Oberschule in Gorbowitschi, Rayon Tschaussy, erkundet.
Auch Woronows Stellvertreter, der Regimentskommissar
Turbinin, den ich erwähne, ohne seinen Namen zu nennen, fiel
bei Mogiljow beim Ausbruch aus dem Kessel.
Woronows besonnen wirkendes Gesicht auf einem Photo in
seiner Kaderakte kommt mir bekannt vor. Damals, im Krieg,
schrieb ich über diesen Mann, er sei „nicht mehr jung“. Dieser
Meinung war ich mit fünfundzwanzig. Heute denke ich darüber
anders: Als Brigadekommissar Woronow bei Mogiljow kämpf-
te und dort fiel, war er neununddreißig Jahre alt.
Der Kommandeur des 61. Schützenkorps, Generalmajor Fjodor Alexejewitsch Bakunin, wird im Tagebuch nicht erwähnt.
Ihm bin ich nicht begegnet. Aber ich sehe es als meine Pflicht
an, zumindest hier, in den Erläuterungen, auf diesen Namen
einzugehen. Bakunin, in seiner Jugend Bergmann, war im ersten Weltkrieg Unteroffizier der Leibgarde des SemjonowRegiments, er nahm teil an der Oktoberrevolution und am Bürgerkrieg und hatte bis 1938 sieben Jahre als Regimentskommandeur gedient, dann avancierte er rasch und wurde im Laufe
eines Jahres Korpskommandeur. Zu Beginn des Krieges führte
Bakunin sein 61. Korps bereits seit mehr als zwei Jahren, und
im ersten Kriegssommer mußten er und seine Soldaten den
bitteren Kelch der Kesselschlachten bis zur Neige leeren. Aus
dem Kessel herausgekommen, wurde er als Lehrgangsleiter an
der Frunse-Akademie eingesetzt, bat aber, wieder an die Front
gehen zu dürfen, er kämpfte auf der Krim, befreite Sewastopol
und beendete den Krieg als Kommandeur eines Korps im Baltikum. Bakunin selbst schildert die Kämpfe in einem Brief, den
er mir auf meine Bitte hin schickte:
„Am 15. und 16. Juli wurden die Truppen des 61. Schützenkorps eingeschlossen. Am 16. Juli gaben unsere Truppen Kritschew und Smolensk auf. Damit befand sich das Korps im tiefen Hinterland des Feindes.
Am 16. Juli erhielt ich einen kurzen Funkspruch folgenden
Inhalts: ,An Bakunin. Befehl des Obersten Befehlshabers –
Mogiljow ist zur uneinnehmbaren Festung zu machen!’ Der
Kampf im Kessel ist der schwerste Kampf. Die eingeschlossenen Truppen müssen sich entweder dem Sieger ergeben oder
bis zum letzten Mann kämpfen. Ich faßte den Befehl so auf:
Wir müssen in diesem Abschnitt die feindlichen Truppen so
lange wie möglich aufhalten, um unseren Truppen die Mög-
lichkeit zu geben, ihre Kräfte zum entscheidenden Übergang
zur Offensive zu konzentrieren.“
Darauf, wie sich auf Grund dieser Auffassung des Befehls die
Truppenteile des 61. Schützenkorps bei Mogiljow bis zum letzten schlugen, werde ich im Zusammenhang mit verschiedenen
Menschenschicksalen noch mehrmals zurückkommen.
Beim Stab der 172. Schützendivision eingetroffen, machten
wir uns mit ihrem Kommissar bekannt, dem Regimentskommissar Tschernitschenko, einem mürrischen, wortkargen, ansonsten aber sehr tüchtigen Mann. So schätzte ich ihn zumindest damals ein. Er erzählte uns, am besten von der Division
schlage sich Kutepows Regiment, das mit einem weiteren Regiment am diesseitigen Dneprufer in Stellung lag und Mogiljow verteidigte. Beim Aufklärungsbataillon hätte sich gleichfalls Interessantes abgespielt, aber dorthin könnten wir ja am
nächsten Morgen fahren. Nach kurzer Beratung beschlossen
wir, uns aufzuteilen. Die einen sollten hierbleiben und am
nächsten Morgen die Aufklärer befragen gehen, die anderen
sollten zum Regiment fahren – gleichfalls am nächsten Morgen.
„Morgen früh?“ fragte Tschernitschenko zurück. „Morgen
früh kommen Sie nicht zu dem Regiment durch. Sie müssen
jetzt gleich, noch in der Nacht losfahren. Bei Tage kommen Sie
nie hin.“ Da wir die Aufteilung in zwei Gruppen schon vorgenommen hatten, konnten Troschkin und ich auf der Stelle, noch
in der Nacht, zu dem Regiment aufbrechen. Während Borowkow, der für Nachtfahrten nichts übrig hatte, mit Trauermiene
Benzin in den Tank füllte, wurden wir Zeuge eines Gesprächs
zwischen dem Divisionskommissar und dem Führer einer hiesigen Partisanenabteilung. Er war Ingenieur in einem der örtlichen Betriebe gewesen, ein blonder, gutaussehender Bursche in
einer Lederjacke mit Gürtel, bewaffnet mit Handgranaten und
Gewehr. Er sollte hierbleiben, falls die Deutschen kämen, im
Torfmoor ausharren, und die deutschen Signalschützen
schnappen. Er erzählte dem Divisionskommissar, in mehreren
umliegenden Dörfern trieben die Einwohner das Vieh weg;
unterdessen klauten die Kulaken, die nach der Enteignung verbannt wurden und erst vor kurzem aus der Verbannung zurückgekommen waren, im Sägewerk Holz. Seiner Meinung
nach lauerten sie offensichtlich auf das Kommen der Deutschen.
„Na, und was werden Sie mit denen machen?“ fragte der
Kommissar schroff. Ich war betroffen über den kalten und unbarmherzigen Ausdruck seines Gesichts. „Vorläufig nichts“,
sagte der Ingenieur.
„Vorläufig? Was heißt vorläufig? Solange die Deutschen noch
nicht da sind? Sind die Deutschen erst da, werden Sie gar
nichts mehr machen können. Dieses dreckige Gesindel muß
man auf der Stelle packen und ins Hinterland befördern.
Schließlich sind das unsere offenen und geschworenen Feinde.
Jetzt verhehlen sie sogar das nicht mehr. Was für gesetzliche
Grundlagen brauchen Sie da noch?“ Wie das Gespräch ausging, hörte ich nicht mehr. Troschkin hatte erfahren, Kutepows
Regiment habe eine Menge deutsche Panzer abgeschossen und
erbeutet, er drängte zur Eile. Noch bei der Abfahrt sagte er, er
werde nicht zurückkehren, bevor er zerstörte deutsche Panzer
aufgenommen habe. Den Zeitungsmeldungen nach seien längst
mehr als tausend Panzer vernichtet worden, aber es gab noch
keine Photos davon. Zwar waren feindliche Panzer in Brand
gesetzt oder abgeschossen worden, beim Rückzug aber in dem
von den Deutschen besetzten Gebiet zurückgeblieben.
Wir fuhren über die Mogiljower Brücke und kamen durch das
nächtliche, öde, schweigende Mogiljow. Vor einem Haus stand
ein Lkw, aus dem eine Trage mit Verwundeten nach der anderen geräuschlos ausgeladen wurde. In der Stadt war eiserne
Disziplin zu spüren. Keiner sprach mehr als nötig; an den Straßenkreuzungen dösten die Geschützbedienungen, Zeltbahnen
umgehängt, neben ihren Geschützen; sie rührten sich keinen
Schritt von ihnen weg. Alles ging geräuschlos vor sich. Geräuschlos prüfte man unsere Passierscheine. Geräuschlos wies
man uns den Weg.
Ein Mitarbeiter der Politabteilung begleitete uns, ohne ihn
hätten wir Oberst Kutepow in der Nacht bestimmt nie gefunden. Zuerst hielten wir am Stadtrand von Mogiljow an einem
der dunklen Häuser, in dem die operative Gruppe der Division
untergebracht war. Unser Begleiter ging hinein und fragte, ob
der Stab Oberst Kutepows noch an der alten Stelle liege, und
dann fuhren wir weiter über Mogiljow hinaus. Unglücklicherweise hatte unser Begleiter Borowkow gewarnt, ringsum sei
alles vermint, er solle möglichst vorsichtig fahren und sich genau an seine Anweisungen halten. Borowkow aber hatte eigene
Vorstellungen von der Gefährlichkeit der Minen. Wie sich später herausstellte, hatte er in einem Sammelband über den Finnischen Krieg eine Erzählung gelesen, in der ein Panzer den Minen entging, indem er mit hoher Geschwindigkeit über sie hinwegraste, so daß sie erst hinter ihm hochgingen. Von diesen
Überlegungen geleitet, preschte er zum Entsetzen unseres Begleiters mit Vollgas los und schaffte es dann nicht, zur rechten
Zeit abzubiegen, so daß er den Rückwärtsgang einlegen und
zurücksetzen mußte. Kurzum, wenn dort wirklich alles vermint
gewesen ist, haben wir in jener Nacht riesiges Glück gehabt.
Beim Kilometer fünf oder sechs hinter Mogiljow verließen wir
die Straße und fuhren in ein Dickicht hinein, wo wir sofort angehalten wurden. So, wie wir über die Disziplin und Ordnung
in Mogiljow erfreut gewesen waren, freuten wir uns auch hier
darüber, angehalten zu werden. Man schien bei diesem Regiment in der Nacht keinen Schritt machen zu können, ohne
auf einen Posten zu stoßen. Ein Posten führte uns drei zum
Stab des Regiments. Aus einem Graben erhob sich ein Riese
von Mann und erkundigte sich, wer wir seien. Wir antworteten,
Korrespondenten. Es war so finster, daß man die Gesichter
nicht erkennen konnte.
„Was für Korrespondenten?“ schrie er. „Was für Korrespondenten haben nachts um zwei hier was zu suchen? Wer erlaubt
sich, um zwei Uhr nachts zu mir zu kommen? Wer schickt Sie?
Auf der Stelle legen Sie sich hier her und bleiben liegen, bis es
hell wird. Schließlich kenne ich Sie nicht.“
Wir sagten, der Divisionskommissar habe uns zu ihm geschickt. „Sie bleiben hier liegen, bis es hell wird, und morgen
früh werde ich den Kommissar ersuchen, mir nachts ja keine
unbekannten Leute in die Stellung des Regiments zu schicken.“
Schließlich meldete sich unser ein wenig eingeschüchterter
Begleiter: „Genosse Oberst, ich bin’s, Mironow, von der Politabteilung der Division. Mich kennen Sie doch.“
„Ja, Sie kenne ich“, sagte der Oberst. „Sie kenne ich. Und nur
deshalb lasse ich die hier nicht bis zum Hellwerden liegen.
Sagen Sie doch selbst“, wandte er sich plötzlich, milder gestimmt, an uns, „urteilen Sie doch selbst, Genossen Korrespondenten. Wissen Sie, was hier los ist? Da muß man streng sein.
Es hängt mir schon zum Hals raus, ringsherum von nichts anderem zu hören als von Diversanten, Diversanten. Ich will
nicht, daß im Bereich meines Regiments auch nur das Gerücht
aufkommt, hier liefen Diversanten rum. Für mich gibt es keine
Diversanten. Wenn die Posten richtig aufgestellt sind, kann es
keine Diversanten geben. Kommen Sie mit in meinen Unterstand, dort werden wir Ihre Papiere prüfen, und dann können
wir uns unterhalten.“
Nachdem im Unterstand unsere Papiere geprüft worden waren, gingen wir wieder hinaus. Die Nacht war kalt. Sogar als
der Oberst uns aufgebracht angefahren hatte, war seine Art
sympathisch gewesen. Nun war sein Zorn endgültig in Wohlwollen umgeschlagen, und er erzählte uns von dem gerade zu
Ende gegangenen Gefecht, in dem sein Regiment neununddreißig deutsche Panzer vernichtet hatte. Er tat das mit jungenhaftem Eifer.
„Da heißt es immer: Panzer, Panzer. Wir aber schlagen sie.
Jawohl! Und werden sie weiter schlagen. Sobald es hell ist,
können Sie sich selbst ein Bild machen. Ich habe hier zwanzig
Kilometer Schützengräben und Verbindungsgänge ausgehoben.
Das stimmt genau. Und wenn sich die Infanterie erst einmal
entschlossen hat, nicht zurückzuweichen, und sich eingräbt,
dann können Panzer gar nichts ausrichten, das können Sie mir
glauben. Die werden morgen bestimmt dasselbe noch mal versuchen. Und wir werden auch wieder dasselbe machen. Sehen
Sie selbst. Da steht einer, bitte sehr.“ Er wies auf einen dunklen
Fleck, etwa zweihundert Meter von seinem Gefechtsstand entfernt. „Dort steht ein Panzer von denen. So weit ist er gekommen, und doch haben sie nichts ausrichten können.“
Fast eine Stunde erzählte er, wie schwer Kampfgeist und Disziplin im Regiment aufrechtzuerhalten waren, als sein Regiment an dieser Landstraße Stellung bezogen hatte und zehn
Tage lang Hunderte, Tausende aus dem Kessel Ausgebrochene
– mit und ohne Waffen – von West nach Ost an ihm vorbeizogen. Der Kampfgeist des Regiments, vor dessen Augen diese
Tausende vorüberzogen, zurück ins Hinterland, durfte deswegen nicht sinken.
„Es ist noch einmal gut gegangen“, schloß er. „Das gestrige
Gefecht ist der Beweis dafür. Hauen Sie sich hier hin, gleich
neben dem Graben. Bei MG-Feuer können Sie liegenbleiben.
Aber wenn die Artillerie anfängt reinzuhauen, dann nichts wie
in die Gräben, darum möchte ich doch herzlich bitten. Oder zu
mir in den Unterstand. Ich geh inzwischen die Posten ab. Entschuldigen Sie mich.“ Troschkin und ich legten uns hin und
waren sogleich eingeschlafen. Nach ungefähr einer Viertelstunde setzte irgendwo an der Flanke heftiges Gewehr- und
MG-Feuer ein. Wir blieben liegen. Wir waren zu kaputt, um
uns zu rühren. Das Knattern ließ bald nach, bald wurde es stärker, schließlich hielt es ständig an und war nun nicht nur links,
wo es begonnen hatte, zu vernehmen, sondern auch rechts.
Troschkin stieß mich an. „Kostja!“
„Ja?“
„Seltsam. Die Schießerei hat am Fußende angefangen, und
jetzt hör ich sie am Kopfende.“
Dann setzte der Beschuß aus. Es dämmerte schon ein wenig.
Wie sich später herausstellte, hatten die Deutschen in der Nacht
unsere Stellungen abgetastet, hatten gewaltsame Aufklärung
betrieben. Im Morgengrauen sahen wir unseren nächtlichen
Bekannten – Oberst Kutepow – schließlich wieder. Er war ein
großer, hagerer Mann mit freundlichen blaugrauen Augen und
gutmütigem Lächeln, sein Gesicht wirkte erschöpft. Ein alter
Haudegen, im ersten Weltkrieg Kriegsfähnrich, ein echter Soldat, und ich schloß diesen Oberst Kutepow sofort ins Herz. Wir
erzählten ihm, daß wir beim Überfahren der Brücke weder ein
Vierlings-MG noch eine einzige Flak bemerkt hätten. Kutepow
schmunzelte.
„Erstens, wenn Sie beim Überfahren der Brücke die MGs und
die Flaks sofort bemerkt hätten, hieße das, sie sind falsch aufgestellt, und zweitens…“ Den Ton, in dem er dieses „und zweitens“ sagte, werde ich wohl mein Leben lang nicht vergessen,
„und zweitens stehen dort wirklich keine. Was nützt uns diese
Brücke?“
„Was heißt nützt? Und wenn man sich nun über sie zurückziehen muß?“
„Man wird nicht müssen“, sagte Kutepow. „Darüber sind wir
uns schon einig: Was auch um uns herum geschieht, wer auch
immer zurückgeht, wir stehen hier bei Mogiljow und bleiben
hier stehen, solange wir leben. Gehen Sie doch und gucken Sie
sich um, wie wir uns eingegraben haben. Das sind Gräben, das
sind Unterstände! Kann man denn die aufgeben? Soldaten legen schließlich nicht Befestigungen an, um sie aufzugeben.
Eine alte Binsenwahrheit, und doch vergißt man sie bei uns. Da
wird gegraben und gegraben… Wir haben uns hier eingegraben
und werden nicht weichen. Was andere machen, ist nicht unsre
Sache.“
Wie mir später klar wurde, wußte Kutepow offensichtlich bereits etwas, was wir noch nicht wußten – und zwar hatten die
Deutschen zu beiden Seiten von Mogiljow den Dnepr überschritten, und er war mit seinem Regiment dazu verurteilt, eingekesselt zu werden. Aber er hatte den Stolz eines Soldaten,
der nicht wissen und nicht glauben will, daß neben ihm andere
Truppenteile schlecht kämpfen. Er hatte sich gut eingegraben,
sein Regiment schlug sich gut und würde das auch in Zukunft
tun. Er wußte das und meinte, die anderen müßten ebenso handeln. Handelten sie aber nicht so wie er, dann wollte er das
nicht wahrhaben. Er wollte glauben, daß sich die ganze Armee
so schlug wie sein Regiment. Andernfalls war er bereit zu sterben. Nur weil andere schlecht kämpften, würde er sein Verhalten nicht ändern. Kutepows Worte, mehr noch die Gesinnung,
die aus seinen Worten sprach, kamen mir in den folgenden
Monaten noch oft in den Sinn, als ich bald an dem, bald an
jenem Abschnitt der Front Männer sagen hörte, wenn sie über
ihre Schlappen sprachen: „Wir hätten ja standgehalten, aber
unser rechter Nachbar…“ Oder: „Wir wären nicht zurückge-
gangen, aber unser linker Nachbar…“ Mag sein, daß sie formal
recht hatten, aber ein inneres Gefühl sagte mir, daß in Wahrheit
nicht sie recht hatten, sondern Oberst Kutepow.
„Was denken Sie“, fragte ich den Oberst, „was sich heute vor
dem Abschnitt Ihres Regiments tun wird?“ Er zuckte die Achseln.
„Zwei Möglichkeiten: Entweder wiederholen die Deutschen,
wütend über ihre gestrige Schlappe, ihre Attacke, und dann
gibt’s den gleichen Trubel wie gestern, oder sie versuchen es
woanders, wo sie auf schwächeren Widerstand stoßen. Und
dann wird’s bei uns ruhig sein. Wenn Sie also die abgeschossenen Panzer aufnehmen wollen, rate ich Ihnen, jetzt hinzugehen, solange das noch möglich ist.“ Kutepow machte uns mit
dem Regimentskommissar Sobnin bekannt, und wir gingen
zum Bataillon. Auf dem Wege dorthin sahen wir das ganze
Verteidigungssystem des Regiments. Eigentlich nichts Besonderes, aber immerhin prächtige Schützengräben mit vollem
Profil und Verbindungsgräben in solcher Zahl, daß kein auch
noch so starkes Artilleriefeuer die Führung des Regiments völlig lahmlegen und ein Bataillon vom andern abschneiden konnte. Die Gefechtsstände der Bataillone und sogar der Kompanien befanden sich in Unterständen. Tags zuvor hatte sich erwiesen, daß ihnen auch etwa fünfzig von einem deutschen Panzer
abgefeuerte Granaten nichts anhaben konnten.
Das gesamte Verteidigungssystem zeigte, die Männer waren
nicht untätig gewesen, sie hatten sich so eingegraben, weil sie
von hier, komme, was wolle, nicht weichen würden. So hatte
sich die japanische Infanterie am Chalchyn gol eingegraben,
fleißig, hartnäckig, fest entschlossen, eher zu sterben als zu
weichen.
Die vorderste Verteidigungslinie des Regiments verlief an einem Waldsaum; der Wald war niedrig, dafür aber recht dicht.
Vorn lag ein Roggenfeld, dahinter erhob sich Hochwald. Dort
lagen die Deutschen, von dort hatten sie gestern die Angriffe
unternommen. Zur Linken lag ein Eisenbahndamm, hinter ihm
eine Brachlandfläche und hinter der eine Landstraße. Die Eisenbahnstrecke wie auch die Landstraße liefen im rechten
Winkel auf die Stellungen des Regiments zu. Weiter vorn im
Roggenfeld konnte man die Schützenlöcher der Gefechtsvorposten sehen.
Wir betraten den Gefechtsstand des Bataillons. Der Bataillonskommandeur Hauptmann Gawrjuschin war ein Mann von
dreißig Jahren mit müden Augen. Schon seit zwei oder drei
Tagen hatte er sich nicht rasiert, und seine Haare quollen unter
der Feldmütze hervor. Auf seinem Gesicht lag die Bereitschaft,
noch tagelang zu kämpfen, auf den Beinen zu sein, und zugleich die Bereitschaft, jede Sekunde einzuschlafen.
Bevor Troschkin Gawrjuschin photographierte, bat er ihn,
Koppel und Schulterriemen anzulegen, eine MPi über die
Schulter zu hängen und anstelle der Feldmütze den Stahlhelm
aufzusetzen. Diese Herausstaffierung wollte so gar nicht zu
dem Hauptmann passen, wie sie gewöhnlich nicht zu Menschen in vorgeschobener Stellung paßt, die tagtäglich dem Tod
ins Auge blicken… Wir sagten Gawrjuschin, daß wir die Panzer kurz vor der vordersten Linie des Bataillons photographieren wollten, solange noch alles ruhig war. Von dieser Stelle aus waren nur einige ausgebrannte Panzer zu sehen. Weitere
Panzer sollten etwas tiefer in einer Senke stehen, fünfzig bis
hundert Meter von den anderen entfernt; sie waren nicht zu
sehen.
„Ruhe?“ fragte Gawrjuschin zweifelnd zurück. „Ach so, das
meinen Sie. Aber die stehen doch vor unseren Gefechtsvorposten. Im Roggen dort könnten Deutsche hocken. MPi-Schützen.
Die können aus dem Wald feuern, aber auch von hier, aus dem
Roggen.“ Troschkin erklärte, er sei hergekommen, um die Panzer zu knipsen, und ob MPi-Schützen im Roggen hockten oder
nicht, interessiere ihn nicht. Er geriet in Eifer, weil er auf dieser
Fahrt von Anfang an richtig besessen gewesen war von der
Idee, die zerschossenen deutschen Panzer aufzunehmen, koste
es, was es wolle.
„Na ja“, meinte Gawrjuschin, „dann schick ich gleich ein paar
Männer vor, die in den Roggen kriechen und für alle Fälle vor
den Panzern in Stellung gehen sollen. Und Sie folgen ihnen
zehn Minuten später.“
Er rief einen Leutnant herbei, der Troschkin zu den Panzern
begleiten sollte.
„Und Sie“, fragte er mich, „müssen Sie auch photographieren?“ Ich verneinte und sagte, meine Aufgabe sei lediglich, mit
den Männern zu sprechen.
„Dann gehen wir zusammen zu Chorschows Kompanie“, sagte Gawrjuschin. „Ihr Kollege kann dann dorthin nachkommen.“
Im Grunde meines Herzens war ich froh über diesen Vorschlag. Von Anfang an hatte ich nicht das geringste Verlangen
gehabt, mit vorzugehen und dabeizusein, wenn Troschkin vor
den Augen der Deutschen die Panzer photographierte. Doch
plötzlich, Troschkin und der Leutnant hatten sich schon auf den
Weg gemacht, bekam ich gleichfalls Lust, mir diese Panzer aus
größerer Nähe zu besehen. Ich sagte dies Gawrjuschin, und
durch einen Verbindungsgraben folgten wir Troschkin. Der
Verbindungsgraben endete bei den Schützenlöchern der Gefechtsvorposten, von hier war es nicht mehr weit bis zu den
Panzern – etwa zweihundert Meter. Sieben standen hier, einer
dicht neben dem anderen.
Wir verließen den Verbindungsgraben und gingen übers Feld.
Zuerst gingen wir alle tiefgebückt, und bei den Panzern angelangt, knipste auch Troschkin sie zunächst aus der Hocke. Als
er aber in einem der Panzer eine deutsche Fahne entdeckte, bat
er die Rotarmisten, auf den Panzer zu klettern, er knipste sie
auf und neben dem Panzer, mit und ohne Fahne und wurde
dabei immer dreister. Die Deutschen schossen nicht. Ich bedauerte nicht, mitgegangen zu sein. Rachedurst hatte mich ergriffen. Ich war froh, endlich solche zerschossenen, verbogenen deutschen Kampfmaschinen zu sehen, zu fühlen, daß ihnen
unsere Granaten den Garaus gemacht hatten… Damit die Deutschen die Panzer nachts nicht abschleppten, hatte man sie gesprengt, und der Inhalt der stählernen Kolosse war teilweise
ringsum auf dem Feld verstreut. Unter allem möglichen Zeug
lag ein ganzer Ballen brauner Stoff im Roggen. Und gleich
daneben Lackschuhe und Damenunterwäsche.
Troschkin photographierte das, und ich schrieb später den
Text dazu. Ich glaube, das war eines der ersten Dokumente
über die Plünderungen der Deutschen. Danach gingen wir in
die Senke zu den anderen Panzern. Troschkin wollte auch sie
noch knipsen. Ich aber begab mich mit Hauptmann Gawrjuschin zu Chorschows Kompanie. Chorschow war ein junger
Bursche mit keck aufs Ohr geschobenem Käppi, er war noch so
jung, daß man ihm kaum zutraute, am Vortage erst bis zur letzten Patrone gekämpft und die halbe Kompanie verloren zu haben. Der Weg zu ihm führte über den aufgerissenen Bahndamm, vorbei an einem halb weggerissenen Streckenwärterhäuschen. Der alte Wärter hauste noch im Anbau dieses Häuschens. Chorschow hatte ihm nach dem Gefecht am Vortage
die Uniform eines deutschen Leutnants geschenkt; der Alte
hatte die Schulterstücke abgetrennt und stolzierte heute schon
in dieser Uniform herum. Chorschow und ich setzten uns ins
Gras, ließen die Beine in einen Graben baumeln, aßen Brot und
unterhielten uns über das gestrige Gefecht. Nach einer halben
Stunde kamen Aufklärer, ein paar deutsche Fahrräder schie-
bend. Vor zwei Stunden hatte ein deutscher Spähtrupp diese
Fahrräder auf der Landstraße im Stich gelassen. Die Deutschen
hatten, als sie von ihnen beschossen worden waren, zwei Tote
und die Fahrräder zurückgelassen und waren in den Wald getürmt.
Nach wie vor war alles ruhig. Plötzlich knatterten mehrere
MG-Feuerstöße. Über dem Feld kreiste eine „Messerschmitt“.
Bei Troschkins Rückkehr erfuhren wir, daß die Schießerei direkt mit ihm zusammenhing. Er wollte gerade die zweite Panzergruppe photographieren, als die „Messerschmitt“ über ihm
auftauchte und ihn im Sturzflug aus ihren MGs beschoß.
Troschkin kroch unter einen deutschen Panzer und hielt sich
dort so lange versteckt, bis der deutsche Flieger die Lust verlor
und abdrehte.
Wir gingen den ganzen Vormittag über durch die Stellungen.
Immer noch war alles ruhig. Dann kehrten wir zurück zum
Regimentsgefechtsstand. Troschkin knipste den Kommandeur,
den Kommissar und den Stabschef. Sie baten, die Abzüge nicht
ihnen an die Front, sondern ihren Frauen in die Garnisonsstadt,
ich glaube nach Tula, zu schicken. Ich weiß nicht, ob Troschkin das getan hat, aber wie ich mich erinnere, hatte ich damals
das Gefühl, daß ich diese bei Mogiljow zurückbleibenden
Männer niemals wiedersehen würde und daß sie, ohne es auch
nur mit einem Wort zu erwähnen, ja auch mir anzudeuten, im
Grunde darum baten, ihren Frauen ein letztes Photo von ihnen
zu schicken.
Als wir uns von Kutepow verabschiedeten, war ich niedergeschlagen. Er gab sich zwar nach außen hin fröhlich und meinte
beim letzten Händedruck scherzhaft: „Dann bis zum nächsten
Mal.“ Vom Regimentsstab fuhren wir zu den Artilleristen. Der
Stabschef des Artillerieregiments war schon in Chalchyn gol
dabeigewesen. Er hatte dort in der Abteilung des am Chalchyn
gol berühmten Hauptmanns Rybkin gekämpft. Zu unserer
größten Überraschung setzte er uns Bier vor und führte uns
dann zur B-Stelle, die sich auf dem Turm eines Elevators befand. Am Vorabend erst hatten die Deutschen dem Turm eine
Granate verpaßt, ein Podest war geborsten, doch der betäubte
Beobachter war heute noch höher hinaufgeklettert und beobachtete nun vom höchsten Podest aus.
Die Deutschen nahmen den Elevator nicht länger unter Beschuß. Sie vermuteten wohl nicht, daß nach dem Volltreffer
noch jemand oben sein könne.
Wir kehrten vom Regiment zurück, ohne den ganzen Tag
auch nur einen einzigen Kanonenschuß gehört zu haben. Diese
Stille begann beängstigend zu werden. Da wir auf dem Rückweg bei Tage durch Mogiljow kamen, fiel besonders auf, wie
verlassen die Stadt war. Nur hin und wieder patrouillierten
Streifen durch die Straßen. Außer diesen Streifen und den Geschützbedienungen an den Straßenkreuzungen schien es in der
Stadt keine Menschenseele mehr zu geben. Nachdem wir am
Abend noch Kriger und Beljawski beim Divisionsstab abgeholt
hatten, brachen wir gemeinsam zum Stab des Korps auf, von
wo aus wir auf der Straße zum Stab der 13. Armee nach
Tschaussy fahren und von dort mit unserem Material zur Redaktion zurückkehren wollten…
Und nun einige Ergänzungen und Gedanken zu den Mogiljower Seiten meines Tagebuchs.
Die dem 61. Schützenkorps angehörende 172. Schützendivision, bei deren Stab wir uns aufhielten, bevor wir zu Kutepows
Regiment fuhren, war speziell zur Verteidigung Mogiljows
eingesetzt und hatte die Hauptlast der Kämpfe um die Stadt zu
tragen.
Kommissar Leonti Konstantinowitsch Tschernitschenko blieb
bis in die letzten Tage der Verteidigung Mogiljows hinein in
der Stadt, er wurde verwundet, geriet in Gefangenschaft und
hatte dort schwere Prüfungen zu bestehen.
Divisionskommandeur Michail Timofejewitsch Romanow,
der die Verteidigung Mogiljows in jenen Tagen unmittelbar
leitete, bin ich nicht begegnet. Seiner im Archiv aufbewahrten
Kaderakte nach zu urteilen, war er ein hervorragend ausgebildeter Divisionskommandeur, der langsam, aber stetig die militärische Rangleiter Sprosse für Sprosse erklomm und für alle
Jahre seines Dienstes ausgezeichnete Attestationen erhielt. In
den Kämpfen um Mogiljow bestätigte er die aus der Vorkriegszeit stammenden Attestationen voll und ganz. Das läßt
sich auch aus buchstäblich allen Erinnerungen an ihn ersehen.
Seiner Kaderakte nach ist er verschollen. Alle Erinnerungen
aber stimmen zweifelsfrei in zwei Fakten überein, nämlich daß
Romanow Mogiljow an der Spitze seiner Division bis zum
Ende verteidigte, dann bei einem Ausbruchsversuch aus dem
Kessel schwer verwundet wurde und dieser Verwundung erlag.
Mit den Jahren kamen zu den Erinnerungen immer mehr Dokumente hinzu.
Schon vor längerer Zeit, vor zehn Jahren, hatte sich Tschernitschenko in einem Gespräch mit Marschall Jeremenko daran
erinnert, daß ihm in der faschistischen Kriegsgefangenschaft
im Winter 1941/42 eine deutsche Zeitschrift in die Hände gefallen war, die ein Bild General Romanows in Zivilkleidung
mit folgender Bildunterschrift enthielt: „Generalmajor Romanow, Kommandeur der 172. Schützendivision, wurde als Führer der Partisanenbewegung in Borissow gefangengenommen
und gehängt.“
Schließlich und endlich wurde diese Zeitschrift ausfindig gemacht, und die daraus entnommene Aufnahme wurde von belorussischen Filmleuten in dem Dokumentarfilm „Mogiljow.
Tage und Nächte der Tapferkeit“ reproduziert.
Die authentische Bildunterschrift in der deutschen Zeitschrift
lautet: „… In einem russischen Dorf konnte der bolschewistische Generalmajor Romanow gefaßt werden. Der ehemalige
Kommandeur der 172. russischen Division hatte die Uniform
abgelegt, Zivilkleidung angezogen und den Partisanenkrieg
organisiert…“ So starb General Romanow.
Als ich im Mogiljower Stadtzentrum in einer Grünanlage ein
Denkmal für General Lasarenko erblickte, der bei der Befreiung Mogiljows 1944 fiel, mußte ich denken, daß neben diesem
Denkmal noch eines für General Romanow stehen müßte, der
1941 alles Menschenmögliche tat, damit die Stadt nicht in die
Hände der Deutschen fiel. Ich zweifle nicht, daß dieses Denkmal eines Tages dort stehen wird. In dem letzten Brief von
Mogiljower Journalisten heißt es, daß bereits ein Beschluß über
die Errichtung dieses Denkmals gefaßt worden sei.
Beim Kommandeur des 388. Schützenregiments der 172. Division, Oberst Kutepow, trafen wir am 13. Juli abends ein und
verließen sein Regiment am folgenden Tag, am 14. Ein kurzer
Aufenthalt, nicht einmal ein ganzer Tag. Aber diesen Aufenthalt in Kutepows Regiment werde ich aus vielerlei Gründen nie
im Leben vergessen, weshalb ich hier von Kutepow wie auch
von anderen Männern seines Regiments das wenige berichten
will, was ich zusätzlich in Erfahrung bringen konnte.
Vor mir liegen aus den Kaderakten photokopierte alte Vorkriegsphotos von Regimentskommandeur Semjon Fjodorowitsch Kutepow, von Kommissar Wassili Nikolajewitsch Sobnin, Stabschef Sergej Jewgenjewitsch Plotnikow, Bataillonskommandeur Dmitri Stepanowitsch Gawrjuschin, Kompanieführer Michail Wassiljewitsch Chorschow… Der älteste von
ihnen – Kutepow – war damals, 1941, fünfundvierzig Jahre alt,
alle anderen aber waren wesentlich jünger. Gawrjuschin sechsunddreißig, Plotnikow – einunddreißig, Sobnin – acht-
undzwanzig und Chorschow – dreiundzwanzig.
Orte, an denen man vor dreißig Jahren weilte, erkennt man
zuweilen überhaupt nicht, zuweilen aber auf Anhieb wieder.
Als ich nach Mogiljow kam und über die Kampfstätten des
Jahres 1941 ging, konnte ich mich genau erinnern, wo sich dies
und jenes zugetragen hatte. Ich erkannte den Verteidigungsabschnitt zwischen der Eisenbahnstrecke und der Landstraße, den
das Bataillon Gawrjuschins bezogen hatte, ich erkannte das
Feld wieder, auf dem die abgeschossenen deutschen Panzer
gestanden hatten, ich erkannte auch jene Stelle wieder, wo
Chorschow und ich gesessen hatten und wo jetzt am Bahndamm nicht mehr das alte, von Granaten zerstörte Wärterhäuschen steht, sondern ein anderes, auch schon nicht mehr neues.
Unweit davon steht an der Straße heute ein Obelisk, dessen
Aufschrift berichtet, daß hier im Juli 1941 das 388. Schützenregiment „mit beispielloser Standhaftigkeit“ die Attacken der
deutschen Panzer zurückschlug. Die Namen der Gefallenen
stehen nicht auf dem Obelisken, und in diesem Fall wäre es
wohl auch kaum möglich gewesen: hier in den Kämpfen um
Mogiljow wurde das 388. Regiment fast völlig aufgerieben.
Im Tagebuch habe ich die Begegnung mit dem Kommandeur
des 340. Artillerieregiments, Oberst Iwan Sergejewitsch Masalow, nicht erwähnt, im Notizbuch aber finde ich eine kurze
Aufzeichnung des mit ihm geführten Gesprächs.
„Solange wir noch Granaten haben, werden die Deutschen
nicht nach Mogiljow hereinkommen. Die Infanterie ist mit uns
zufrieden. Die Anforderungen der Infanterie sind bis auf wenige Ausnahmen erfüllt worden, wie beispielsweise gestern: Da
kommen zwei Panzer und zwei Infanteriezüge an. Ich sage:
Wegen zwei Panzern vergeude ich keine Granaten. Brechen die
durch, ist’s nicht weiter schlimm, wir werfen Brandflaschen.
Der Infanterie aber geben wir Zunder. Und wir haben sie mit
Schrapnells eingedeckt!“
Ich machte die Kaderakte Oberst Masalows ausfindig, doch
sie enthielt wie viele andere Personalakten auch nur Eintragungen aus der Zeit vor dem Krieg. Offensichtlich ist er gefallen.
Ein Satz in einer der Attestationen fällt mir auf: „Hat eine außerordentlich gewissenhafte Einstellung zu seinem Dienst, verfügt über enorme Willensstärke.“
Nur einen der Männer des 388. Schützenregiments, die mich
jetzt von den alten Photos her anschauen, traf ich nach Mogiljow noch einmal wieder.
Im Juni 1945, aus der Armee nach Moskau zurückgekehrt,
fand ich einen Brief vor, der bereits im Winter eingetroffen
war, als ich noch an der Front weilte:
„… Ich bitte um Antwort, damit wir uns, falls ich am Leben
bleibe, treffen können und ich Ihnen als Schriftsteller Material
übergeben kann zum Gedenken an die Helden der schweren
Julitage, die die ganze Schwere der ersten Vorstöße haben tragen müssen. Das sind Ihre Worte. Man muß ihrer gedenken, sie
haben sich das gegenüber der Heimat verdient! Dies schreibt
Ihnen der Kommandeur jenes Bataillons, das Sie mit Troschkin
auf dem Schlachtfeld bei Mogiljow im Juli 1941 besuchten. Ich
bin in der ganzen Zeit keinem einzigen Teilnehmer an diesen
Kämpfen begegnet. Auch ich bin nur durch einen Zufall noch
am Leben. Habe viel durchgemacht. Wenn wir uns wiedersehen, und ich gebe die Hoffnung nicht auf, werde ich davon
erzählen. Zur Zeit bin ich an der Front, obwohl mein Gesundheitszustand das eigentlich nicht erlaubt. Ich soll abkommandiert werden, schicken Sie die Antwort auf diesen Brief doch
lieber an meine Heimatanschrift, und ich werde Sie bei der
ersten Gelegenheit aufsuchen.
Gruß an Troschkin, falls er noch am Leben ist.
17.1.45
Mit kommunistischem Gruß Gawrjuschin, Hauptmann“
Es war zu spät, Troschkin diesen Gruß zu bestellen, denn zu
der Zeit war er schon gefallen. Ich teilte dies Gawrjuschin mit,
als ich ihn zu mir einlud. Aber bis zu unserem Wiedersehen
sollte noch einige Zeit vergehen, denn er lag, nachdem er aus
dem Krieg heimgekehrt war, lange im Lazarett, und ich sah ihn
erst 1947 als schwerkranken Mann wieder.
Gawrjuschin litt sehr unter seiner hoffnungslosen Invalidität,
wobei er nicht so sehr an sich dachte als vielmehr an jene, die
ihn betreuen mußten.
Darüber schrieb er mir in seinem letzten Brief:
„… Ich bedaure sehr, daß ich nicht gefallen bin. Ich würde
friedlich unter der Erde liegen, keiner brauchte sich Gedanken
um mich zu machen. Und ich läge unter den Worten:
Weint nicht über den Leibern der gefallenen Kämpfer,
befleckt ihren Heldenmut nicht mit Tränen,
sondern steht auf und sprecht:
,Es fiel keine Träne der Trauer,
als wir dich senkten hinab.
Wir standen, geballt unsre Fäuste,
als deine Rächer am Grab’“…
Dann war kein Brief mehr gekommen. Und auf meine Briefe
erhielt ich keine Antwort…
Nach längerer Zeit schrieb ich noch einmal an die alte Anschrift, aber auch dieser Brief blieb unbeantwortet. Ich mußte
meine Suche im Archiv weiterführen, und schließlich fand ich
Gawrjuschins Kaderakte mit der letzten Eintragung: „Verstorben am 7. Mai 1953“
Eine Kaderakte enthält viele Einzelheiten, die ein Bild vom
Wesen und Schicksal eines Menschen vermitteln. Gawrjuschin
war Moskauer, Sohn eines Arbeiters, vaterlos aufgewachsen,
da der Vater bei den Streiks im Jahre 1905 getötet worden war.
Als Dreizehnjähriger war Gawrjuschin mit seiner Mutter nach
Bessarabien gekommen, trat dort Kotowskis Abteilung bei und
wurde in den Kämpfen bei Bendery verschüttet. 1924 trat er
dem Komsomol bei, 1930 der Partei. 1928 ging er zur Armee.
Absolvierte die Kiewer Infanterieschule und war seit Oktober
1939 in der Dienststellung, in der ich ihn an der Front antraf,
Kommandeur eines Bataillons im 388. Schützenregiment.
„Findet sich rasch und richtig in der Lage zurecht. Ein willensstarker Kommandeur, der hohe Anforderungen stellt“, schrieb
der Regimentskommandeur Kutepow im Oktober 1940 in die
Attestation über ihn und fügte hinzu: „Körperlich gesund, bedürfte aber wegen einer Neurose der Behandlung.“ Anscheinend war die Neurose eine Folge jener weit zurückliegenden
Verschüttung in seiner Jugend, die sich immer wieder bemerkbar machte.
Der Akte beigefügt ist ein Bericht Gawrjuschins, in dem er
seine Kämpfe und den Ausbruch aus dem Kessel beschreibt.
Ich zitiere einige Stellen daraus:
„… Nach vierzehn Tagen pausenlosen Kampfes erlitt ich eine
Quetschung, blieb aber bei der Truppe, wurde danach an Arm
und Bein verwundet. Kam am 24. Juli ins Lazarett nach Mogiljow. Am 26. Juli wurde die Stadt von den Faschisten genommen, das Lazarett aber nicht geräumt, da wir eingeschlossen
waren. Am 28. Juli flüchtete ich mit Angehörigen meines Bataillons aus dem Lazarett. Bei einer Frau aus der Stadt zogen
wir uns um und machten uns auf den Weg zu unseren Truppen.
Wir gaben uns als Häftlinge aus, die auf dem Flugplatz eingesetzt gewesen und bei einem Bombenangriff verwundet worden waren. Am fünften Tag schnappten uns die Faschisten an
der Frontlinie. Sie hielten uns drei Tage fest und schafften uns
in ein Lazarett nach Smolensk… Dort brachten wir drei Tage
zu, wobei wir alles gründlich auskundschafteten, flüchteten
dann aus diesem Lazarett, erreichten fünfzehn Tage darauf
wieder die Frontlinie im Raum Schmakowo, wo wir wieder
aufgegriffen wurden. Man ließ uns fünf Tage hungern, verfrachtete uns auf Lkws und fuhr mit uns Richtung Smolensk.
Als wir eine Gruppe Kriegsgefangener von uns einholten, hießen uns die Deutschen absteigen, wir mußten uns der Kolonne
anschließen und wurden weitergetrieben. Der Hunger und die
schmerzenden Wunden hinderten mich daran, mit den Gesunden Schritt zu halten, ich blieb zurück, aber die faschistischen
Posten trieben mich mit Kolbenstößen in den Rücken immer
wieder weiter… Nachdem wir in der Nacht ein wenig Kräfte
gesammelt hatten, flohen wir gegen Morgen. Waren mehrere
Tage unterwegs. Kamen in die Ortschaft Stodolistsche, wo wir
einen Arzt von uns fanden. Wir baten ihn, uns zu verbinden. Er
säuberte Wunden – die bereits eiterten…“ Im weiteren berichtet Gawrjuschin, wie er sich in dieser Ortschaft Stodolistsche
versteckt hielt, wieder genas und von einem Ortseinwohner,
„einem gewissen Shukow“, bei der faschistischen Kommandantur als Kommunist und Kommandeur denunziert wurde.
Gawrjuschin aber wurde rechtzeitig gewarnt und konnte im
letzten Moment fliehen. „Ortseinwohner kleideten mich ein,
weil ich so gut wie nackt war und wir schon Oktober hatten,
ich wollte mich noch einmal zu den Unseren durchzuschlagen
versuchen, was mir diesmal auch gelang. Am 6. Oktober 1941
erreichte ich endlich bei der Stadt Jefremow, Gebiet Tula, die
Linien unserer 3. Armee, die vom Helden der Sowjetunion
Generalleutnant Kreiser geführt wurde, meinem ehemaligen
Divisionskommandeur. Von Jefremow aus wurde ich zur Kur
geschickt…“
Hinzuzufügen wäre noch, daß Hauptmann Gawrjuschin,
nachdem er Tauglichkeitsstufe zwei erhalten hatte, trotzdem
seinen Einsatz an der Front durchsetzte, wo er Verbindungsof-
fizier im 63. Schützenkorps war. Es war ihm aber nicht beschieden, bis Kriegsende am Kampf teilzunehmen. Die Verwundungen und die Folgen der Verschüttung machten sich
bemerkbar, er wurde von einem schweren Nervenleiden befallen und wurde aus Gesundheitsgründen in die Reserve entlassen. So hatte sich das Schicksal des Hauptmanns Gawrjuschin
gestaltet.
Gawrjuschins Akte ausgenommen, brachen in allen anderen
Kaderakten die Eintragungen mit dem Jahr 1941, mit den letzten dienstlichen Beurteilungen aus der Vorkriegszeit ab…
Hier die dienstliche Beurteilung des Stabschefs des 388. Regiments, Hauptmann Sergej Jewgenjewitsch Plotnikow, aus der
Vorkriegszeit: „Ist als Stabschef eines Bataillons eingesetzt.
Bewältigt die Arbeit gut. Kennt sich in der Stabsarbeit aus und
liebt sie. Kreiser, Oberst und Regimentskommandeur.“
Ein mit dem 6. Juni 1941 datiertes Dokument: „Der Bataillonskommissar Wassili Nikolajewitsch Sobnin wird als Stellvertreter des Kommandeurs des 388. Schützenregiments für
Politarbeit zu Ihnen versetzt. Hat am 10. Juni dieses Jahres an
seinem neuen Einsatzort zu sein. Von seinem Eintreffen ist
Meldung zu machen.“ Die Kaderakte des Leutnants Chorschow. Das Photo zeigt einen kahlgeschorenen jungen Offiziersschüler. Der Fragebogen enthält nur lakonische Eintragungen: „nein“, „nein“, „nicht dort gewesen“ usw…. Am 23.
Februar 1939 legte er den Soldateneid ab. Und dann folgt eine
einzige Beurteilung: „Streng gegen sich selbst, diszipliniert,
taktische Ausbildung ,gut’, Schießausbildung ,gut’, kann zum
Leutnant befördert, als Zugführer eingesetzt werden.“ Das ist
alles, was die Akte des Leutnants Michail Wassiljewitsch
Chorschow enthält. Dann aber kam der Krieg, kam Mogiljow,
kamen Gefechte, in denen er, wie seine Kameraden auch, seine
Vorkriegsattestation bestätigte. Sie bestätigte und fiel. Kein
Zweifel, so war es.
Die Kaderakte des Kommandeurs des 388. Schützenregiments, Semjon Fjodorowitsch Kutepow, ist umfangreich,
umfaßt viele Seiten… Das kurze Zusammentreffen mit Kutepow war für mich eines der bedeutendsten während des Krieges. So, wie ich mich seiner erinnere, war Kutepow ein Mann,
der, hätte er bei Mogiljow überlebt, später zu Großem fähig
gewesen wäre.
Semjon Fjodorowitsch Kutepow entstammte einer Bauernfamilie im Gouvernement Tula, beendete 1915 die Handelsschule, wurde in die zaristische Armee einberufen, absolvierte die
Alexandrower Kriegsschule, kämpfte im Rang eines Unterleutnants (und nicht eines Fähnrichs, wie es in meinem Tagebuch
heißt) an der Südwestfront gegen die Deutschen. Ging 1918 als
Freiwilliger zur Roten Armee, kämpfte gegen die Weißpolen
und verschiedene Banden, führte einen Zug und eine Kompanie, wurde verwundet. Besuchte einen Weiterbildungslehrgang
für Stabsoffiziere und beendete das Studium an der Fernstudienfakultät der Frunse-Akademie mit Auszeichnung. Lernte
Deutsch. War vier Jahre Chef der Allgemeinen Abteilung eines
Divisionsstabes, zwei Jahre Bataillonskommandeur, drei Jahre
Stabschef eines Regiments, vier Jahre Gehilfe eines Regimentskommandeurs und zwei Jahre Regimentskommandeur.
In dieser Dienststellung ging er in den Krieg. Die Attestationen
Kutepows enthalten für seine verschiedensten Dienstjahre einträchtig die besten Beurteilungen. 1928 – „Befähigter Stabsoffizier“, „Versteht sein Handwerk“, „Exakt. Sorgfältig. Diszipliniert“, „Läßt sich von einer einmal gefaßten Idee nicht abbringen… Beweist in schwierigen Situationen Willensstärke…
Ist außer der Reihe zu befördern.“ 1932 – „Energisch, initiativreich, hat die Willensqualitäten eines Kommandeurs. Liebt und
beherrscht das Soldatenhandwerk.“ 1936 – „Orientiert sich
rasch in einer Situation und faßt überlegte Entschlüsse.“ 1937 –
„Energisch, ein fähiger Kommandeur. In jeder Beziehung entwickelt.“ 1941 – „Hat sich bei der Führung eines Regiments als
energischer, willensstarker, kulturvoller Kommandeur erwiesen. Ist durch sein persönliches Beispiel ein Vorbild an Beharrlichkeit und Disziplin. Sein Regiment nimmt in Gefechtsausbildung und politischer Schulung den ersten Platz innerhalb des
Korps ein, was bei Inspektionen wiederholt hervorgehoben
wurde.“
Diese letzte Beurteilung trägt die Unterschrift von F. A. Bakunin, dem Kommandeur jenes Korps, in dessen Verband Kutepow der härtesten aller Prüfungen unterzogen werden sollte,
die Krieg genannt wird. Als ich die Kaderakten von Oberst
Kutepow, General Romanow und noch einigen Militärs las, die
sich in den schwersten Tagen des Jahres 1941 besonders hervorgetan haben, überkam mich manchmal eine gewisse Verständnislosigkeit: Warum sind viele dieser Männer, verglichen
mit anderen, in ihrer dienstlichen Laufbahn vor dem Krieg so
langsam vorangekommen? Zurückblickend, unter dem Blickwinkel der im Kriege vollbrachten Taten, entstand sogar der
Eindruck, an ihrem langsamen Vorankommen in der Vorkriegszeit konnte irgend etwas nicht in Ordnung sein. Später
jedoch, nachdem ich mir das richtig durch den Kopf hatte gehen lassen, gelangte ich zu einem anderen Schluß: Dieses langsame Vorankommen mit der vollständigen und umfassenden
Beherrschung oder, wie die Soldaten sagen, dem „Abdienen“
jeder Leitersprosse war genau das Richtige. Eben diese Art der
Karriere ließ diese Männer in der schwierigsten Situation der
ersten Kriegszeit auch der von ihnen zu Beginn der Kämpfe
bekleideten Stellung vollauf gerecht werden. Eine solche Karriere eben müßte bei der Armee die Norm sein. Und bis 1936
war es sie auch. Von 1937 an war sie es jedoch nicht mehr. Das
zog im Krieg schwere Folgen nach sich.
Als in den Jahren 1937 bis 1938 die überwiegende Mehrheit
des höheren und die Hälfte des mittleren Kommandeurbestandes aus der Armee entfernt wurde, folgte darauf unvermeidlich
das für jene Jahre kennzeichnende massenweise Überspringen
einer, zweier, ja mitunter auch dreier sehr wichtiger Sprossen
der militärischen Stufenleiter.
Es wäre unklug, dies den Männern anzulasten, die so schnell
befördert wurden. Das war nicht ihre Schuld, vielmehr war es
ihr Unglück. Und jenen, die nicht zu Kriegsbeginn fielen, wurden unendliche Arbeit und Willenskraft, wurden gewaltige
moralische Anstrengungen abverlangt, um unter Kriegsbedingungen ihren Platz ausfüllen zu können, jene Lücken zu füllen,
die ein Mensch, der wichtige Sprossen der militärischen
Dienstleiter übersprungen hat, unvermeidlich aufweist.
Es braucht wohl nicht eigens betont zu werden, daß in der
Armee ohne die Jahre 1937 – 1938 von den ersten Kriegstagen
an weit mehr Männer wie Regimentskommandeur Kutepow
oder Divisionskommandeur Romanow auf ihrem Platz gestanden hätten. Damals, 1941, war ich sehr beeindruckt von Kutepows Entschlossenheit, jene Stellungen auf Leben und Tod zu
halten, die er bezogen hatte und die er befestigte; sie zu halten,
was links und rechts von ihm auch immer geschah. Ob ich
wohl mit meiner tiefen inneren Billigung dieser Auffassung
recht hatte?
Das Problem ist komplizierter, als es auf den ersten Blick
scheint. Es geht nicht darum, ob ein Befehl ausgeführt werden
muß oder nicht. Das war für Kutepow nicht Gegenstand von
Überlegungen. Es geht um das Gefühl, das bei mir aufgekommen war, daß dieser Mann im Grunde keinen anderen Befehl
erhalten wollte als den, auf Leben und Tod zu kämpfen, und
zwar hier, bei Mogiljow, wo er sich befestigt, den Deutschen
bereits schwere Verluste zugefügt hatte und wo er ihnen, wenn
er sich nicht von der Stelle rührte, bei all ihren neuerlichen
Versuchen, sein Regiment anzugreifen, noch weitere zufügen
würde.
In ihren Abhandlungen zur Kriegsgeschichte weisen deutsche
Generale immer wieder nachdrücklich darauf hin, daß wir
1941, indem wir in den von ihnen gebildeten „Zangen“ und
„Schläuchen“ verblieben und unsere Truppen nicht rasch genug einer sich abzeichnenden Einschließung entzogen, oft ihren Vorstellungen entgegengekommen seien: unsere Truppen
nicht hinauszulassen und uns unersetzliche Menschenverluste
zuzufügen.
In den gleichen Abhandlungen führen die gleichen Generale
kritisch gegenüber sich selbst und billigend gegenüber unserem
Oberkommando jene Fälle an, da es uns 1941 ihrer Meinung
nach „rechtzeitig“ gelang, unsere Truppen aus sich bereits abzeichnenden Einschließungsringen herauszuführen und damit
Soldaten für spätere Schlachten zu erhalten.
Diesen Urteilen ist natürlich die Logik nicht abzusprechen.
Betrachtet man aber die konkrete Lage zu Kriegsbeginn näher,
scheint mir doch, daß die deutschen Generale manchmal mit
der Dialektik auf Kriegsfuß stehen.
Hätten wir zu Kriegsbeginn danach trachten sollen, unsere
Truppen in aller Eile aus allen sich abzeichnenden Einschließungsringen herauszuführen? Einerseits hätten wir dies tun
sollen. Aber dann hätte man doch gleich in den ersten
Kriegstagen einen Befehl über den sofortigen allgemeinen
Rückzug aller drei im Grenzgebiet stehenden Armeen der
Westfront erlassen müssen. Meiner Meinung nach konnte in
diesen ersten Tagen nicht nur aus technischen Gründen, der
fehlenden Nachrichtenverbindungen wegen, sondern auch aus
psychologischen Gründen ein solcher Befehl nicht erlassen
werden. Lew Tolstoi schrieb 1854 in seinem Tagebuch: „Truppen, die noch kein Pulver gerochen haben, können sich nicht
zurückziehen, sie ergreifen die Flucht.“ Eine sehr richtige Bemerkung; der organisierte Rückzug ist die schwierigste Art von
Kampfhandlungen, und dies gilt um so mehr für Truppen ohne
jede Kriegserfahrung, wie es unsere Truppen zu Kriegsbeginn
zum größten Teil waren. Ein solcher allgemeiner Rückzug hätte sich in der Praxis in jener Lage, die in unseren Vorkriegsplänen nicht vorgesehen war, und unter den Schlägen der Deutschen in eine Flucht verwandeln können.
Natürlich kam es 1941 auch vor, daß wir die Flucht ergriffen.
Das geschah eben bei jenen Truppenteilen, die damals noch
kein Pulver gerochen hatten, es in der Folgezeit aber lernten,
sich standhaft zu verteidigen und energisch anzugreifen.
In dem gleichen Jahr 1941 erfüllten viele unserer Truppenteile, denen von den ersten Kriegstagen an die Aufgabe gestellt
war, Gegenangriffe vorzutragen und sich hartnäckig zu verteidigen, diesen Auftrag unter den schwierigsten Bedingungen
und eben in diesen Gefechten und erwarben später, bei den
Ausbrüchen aus den Kesseln ihre ersten Kampferfahrungen,
die sie allerdings teuer zu stehen kamen.
Hätten wir uns in den ersten Tagen und Wochen des Krieges,
nur um der drohenden Einschließung zu entrinnen, überall eiligst zurückgezogen und nirgends Gegenangriffe geführt, hätten wir uns nicht auf Leben und Tod verteidigt, dann wäre das
ohnehin schon hohe Vormarschtempo der Deutschen noch höher gewesen. Außerdem erhebt sich die Frage, wo wir in diesem Fall hätten zum Stehen kommen sollen.
Man braucht sich heute nicht für alle seinerzeit bei uns getroffenen Entscheidungen zu rechtfertigen, darunter auch nicht für
eine Reihe verspäteter Entscheidungen zum Rückzug, oder in
anderen Fällen für die gegen allen gesunden Menschenverstand
gehende Angst, die Verteidigungsfront zu verkürzen, zu begradigen, nur weil es die buchstäblich aufgefaßte, aus der Vorkriegszeit stammende Losung „Keinen Fußbreit hergeben“
verbot, die bei aller ihrer äußerlichen Anziehungskraft in ihrer
buchstäblichen Auslegung auf dem Schlachtfeld vom militärischen Standpunkt aus gefährlich und falsch zugleich war. Allein mir scheint, daß sich der reale Verlauf des Krieges in seiner ersten Periode als Resultante mehrerer Faktoren entwickelte. Die Summe unserer Rückzüge, der rechtzeitigen und der
verspäteten, und unserer Verteidigungen, der beweglichen und
der starren, der blutigen und der heldenhaften, darunter auch
der lang dauernden, bereits in den Kesseln, bestimmte sowohl
die Verzögerung des Vormarschtempos der Deutschen wie
auch den sie überraschenden ungebrochenen Geist unserer Armee nach den ersten Kampfwochen. So verspüre beispielsweise ich, ein Schriftsteller, der über den Krieg schreibt, nicht die
geringste Lust, den geradlinigen logischen Konzeptionen der
deutschen Generale zuzustimmen, die letztlich den Krieg verloren haben und hinterher sagen, zu Beginn dieses Krieges wäre
es der beste Ausweg für uns gewesen, vor ihnen allenthalben
so schnell wie nur möglich zurückzuweichen. Bei nüchternster
Beurteilung dessen, was in jener dramatischen Zeit geschah,
müssen wir uns verneigen vor dem Andenken jener, die bis
zum letzten Mann in starren Verteidigungsstellungen ausharrten und auf Leben und Tod in den Kesseln kämpften, damit
anderen Armeen, Truppenteilen und Verbänden und unzähligen Menschen die Möglichkeit gebend, sich von den Deutschen zu lösen und aus Schläuchen und Kesseln einzeln und in
Gruppen durch die deutschen Linien zu den Ihren durchzubrechen.
Der Heldenmut jener, die sich auf Leben und Tod verteidigten, ist über alle Zweifel erhaben. Unbestreitbar ist auch das,
was durch ihn errungen wurde.
Eine andere Frage ist, daß der gleiche Heldenmut, wären wir
von dem Krieg nicht überrascht worden und wären wir besser
auf ihn vorbereitet gewesen, noch bessere Ergebnisse gezeitigt
hätte.
Zum Korpsstab zurückgekehrt, trafen wir dort nur den Chef
der Politabteilung an, der in Eile war und uns nicht viel Zeit
widmen konnte. Wir erkundigten uns, wohin er fahre. Er wollte
nach vorn und war bereit, uns eventuell mitzunehmen.
Er wollte zur operativen Gruppe der Division aufs jenseitige
Dneprufer. Wir sagten ihm, daß wir gerade von dort, von der
anderen Seite zurückkämen. Er empfahl uns, noch zwei, drei
Tage bei seinem Korps zu bleiben, da dieses seiner Meinung
nach eine sehr interessante Operation durchführen werde – die
Einschließung einer deutschen Luftlandeabteilung. Wir wollten
es uns noch überlegen, verabschiedeten uns von ihm und gingen zu unserem Wagen, um uns zu beraten.
Unterwegs begegneten wir dem Kommissar des Korps. Er begrüßte uns und erkundigte sich nach unseren Plänen. Wir erzählten ihm, was wir vom Chef der Politabteilung gehört hatten, und baten um seine Meinung.
„So? Das hat er Ihnen gesagt? Na ja…“ Der Brigadekommissar dachte nach. „Haben Sie denn schon Material zusammen?“
Ja, wir hätten welches, sogar eine ganze Menge.
„Dann rate ich Ihnen, nach Tschaussy zu fahren und weiter
nach Smolensk. Aber wie Sie wollen. Meinen Rat haben Sie.
Wenn Sie Ihr Material beisammen haben, sollten Sie fahren.“
Er wirkte auf uns wie ein Mann, den etwas bedrückte, der uns
das, was er wußte, gern gesagt hätte, aber nicht sagen durfte
und sich deshalb gezwungen sah, über andere Dinge zu sprechen. Und er sprach es so aus, als wolle er uns klarmachen,
was zu sagen er nicht berechtigt war.
Wir folgten seinem Rat und bogen von der Landstraße auf die
nach Tschaussy führende Straße ab. Nach etwa zwölf Kilometern auf dieser Straße hörten wir vorn Geschütz- und MGFeuer. Wir fuhren noch ein Stück weiter und wurden von zwei
Kommandeuren in NKWD-Uniform mit Rhomben an den Kragenspiegeln angehalten. Sie erklärten, die Deutschen hätten
dort vorn eine Gruppe Fallschirmjäger mit zwei Kleinpanzern
abgesetzt, wir könnten auf diesem Weg nicht weiterfahren,
weil ihre Männer dort gegen die Deutschen kämpften und wir
sie unterstützen müßten. Wir sollten den Wagen hier stehenlassen, ein paar Männer zusammennehmen und mit ihnen vorgehen.
Wir stiegen aus. Indessen war ein Lkw mit zwei Dutzend Rotarmisten herangekommen und hatte gehalten. Die NKWDKommandeure traten an den Lkw und verlangten auch von den
Rotarmisten, abzusteigen und mit ihnen nach vorn zu gehen.
Der Leutnant, der das Kommando über die Rotarmisten hatte,
weigerte sich und erklärte, er habe Befehl, hier in Stellung zu
gehen und die Straße zu sichern. Es kam zu einem heftigen
Wortwechsel. Einer der beiden, die uns angehalten hatten, zog
seine Pistole und legte auf den Leutnant an. Ich weiß nicht, wer
von ihnen im Recht war. Der Leutnant blieb ruhig, war aber
blaß. Er sagte, er habe Befehl, hier zu stehen, und er werde sich
nicht von der Stelle rühren. Ich hatte in diesem Moment nicht
den Eindruck, daß er sich fürchtete vorzugehen, sondern daß er
wirklich meinte, diesen Befehl nun auch exakt ausführen zu
müssen. Sogar vor der Pistolenmündung wiederholte er hartnäckig, er fürchte nicht, erschossen zu werden, aber er werde
keinesfalls gegen den Befehl verstoßen.
Wir mischten uns ein und beendeten diese Szene. Dann kam
noch ein Lkw mit einigen Militärangehörigen. Ein Sergeant
kam angerannt und sagte, ihre Einheit stünde ganz in der Nähe
und hätte leichte Paks dabei. Wir setzten ihn und Shenja Kriger
in unseren Kombi und schickten sie los, eine Kanone an die
Straße zu holen, falls die deutschen Panzer wirklich herkämen;
wir anderen aber bildeten eine Schützenkette und gingen vor.
Zu diesem Zeitpunkt waren wir fünfzehn Mann, weil – kaum
daß wir ihnen den Rücken zugedreht hatten – der Wagen mit
den Rotarmisten und dem Leutnant im Nu verschwunden war.
Nach einem Kilometer erreichten wir den Waldrand. Zur
Rechten lag in einiger Entfernung ein Dorf, links dehnte sich
freies Feld, und dahinter erstreckte sich wieder Wald. Ein Reiter preschte in vollem Galopp direkt auf uns zu. Er sprang vom
Pferd und rang eine ganze Weile nach Luft. Es war ein Major
in NKWD-Uniform. Sein Wagen hatte von einem deutschen
Panzer einen Treffer abbekommen. Nach seinen Worten waren
es keine Kleinpanzer gewesen, sondern zwei schwere Panzer.
Der Fahrer sei auf der Stelle tot gewesen, der Major aber hätte
einige Zeit in Deckung gelegen, sei dann aus dem Feuerbereich
herausgekrochen, habe ein über die Wiese laufendes Pferd eingefangen und sei auf ihm hierher galoppiert.
Wir hatten alles in allem drei Handgranaten, ein leichtes Maschinengewehr, ein Maxim und zehn Gewehre. Da es sinnlos
war, mit dieser Bewaffnung gegen die beiden in offenem Gelände stehenden Panzer anzugehen, wollten wir auf Kriger warten, der eine Pak holen sollte. Wir legten uns so lange beiderseits der Straße an den Rand des hundertjährigen Kiefernwaldes. Hier konnte man sich sicherer fühlen. Selbst wenn die
Panzer auf der Straße aufgetaucht wären, hätten wir sie durchgelassen, die MPi-Schützen und Kradschützen aber, die, wie
der Major gesagt hatte, die Panzer begleiteten, mit unserem
Feuer zurückhalten können.
Wir warteten etwa eine Stunde. In der Zeit baute sich Pjotr
Iwanowitsch Beljawski eine Schützenmulde. Er schüttete eine
Brustwehr auf, hob dahinter eine Vertiefung aus und machte es
sich mit dem Gewehr darin bequem. Erst jetzt stellte sich heraus, daß er schon am ersten Weltkrieg teilgenommen hatte.
Ein deutsches Flugzeug flog die Straße entlang und beschoß
uns. Nach zwei Stunden kam Kriger zurück. Inzwischen war es
neun Uhr abends geworden. Er sagte, dort, wo den Worten des
Sergeanten zufolge Paks hätten stehen sollen, stünden nur
Lkws. Nach einigem Überlegen beschlossen wir schließlich, in
den Divisionsstab zu Regimentskommissar Tschernitschenko
zurückzukehren und über die Lage Meldung zu machen, damit
man von der Division etwas schicke, womit man gegen die
Panzer vorgehen könne.
Der NKWD-Major setzte einen Verantwortlichen ein und begleitete uns. Tschernitschenko empfing uns recht kühl, sagte, er
wisse bereits, daß sich deutsche Fallschirmjäger mit Panzern in
der Gegend herumtrieben, die Division aber andere Aufgaben
hätte und die Bekämpfung solcher Gruppen Sache des Chefs
der Mogiljower Garnison sei; wir sollten dorthin fahren und
das melden.
Wir meinten, das könne der NKWD-Major übernehmen, während wir über Nacht bei der Division bleiben würden. Tschernitschenko hielt uns entgegen, er habe kein Fahrzeug für den
Major, so daß wir das schon tun müßten. Sein Gesicht verriet,
daß er uns auf keinen Fall im Divisionsstab behalten wollte.
Zudem hatte er, wie mir schien, unsere Meldung erstaunlich
gelassen aufgenommen. Ich war überzeugt, daß, hätten wir ihm
am Vortage eine solche Meldung überbracht, er sich ganz anders dazu verhalten hätte. Die Art und Weise, in der er mit uns
sprach, war mir absolut unverständlich.
Wir erkundigten uns nach den in Richtung Tschaussy führenden Straßen und ob sie frei seien.
Tschernitschenko entgegnete, er wisse überhaupt nichts, ihm
sei nur bekannt, was im Bereich seiner Division vorgehe, und
die Straßen nach Tschaussy gehörten nicht dazu. Er habe keine
Verbindung mit der Armee, die Verbindung gehe über das
Korps, und über die Straßen nach Tschaussy könne uns am
besten jener Garnisonschef Auskunft geben, zu dem wir fahren
würden. Wir verabschiedeten uns und fuhren nach Mogiljow.
Beim Garnisonschef trafen wir in stockfinsterer Nacht ein.
Wieder – nun schon zum drittenmal – das gleiche Zimmer und
der gleiche, von den schlaflosen Nächten erschöpfte Oberst. Er
hörte den Major und uns an und sagte: „Denken Sie etwa, ich
würde bewegliche Geschütze dorthin schicken? Für so was
habe ich keine Geschütze! Darüber kann ich nicht verfügen.
Ich kommandiere schließlich keine Division. In den Straßen
habe ich Kanonen stehen; wenn sie hier eindringen, werden wir
schießen. Das wär’s denn wohl.“
Und ohne uns weiter zu beachten, erkundigte er sich bei einem seiner Mitarbeiter, ob die Männer an den Zugängen zur
Stadt und an den Brücken bereit wären, die Panzer mit Brandflaschen zu empfangen. Sechzig Mann stünden bereit, erhielt er
zur Antwort. „Gut“, sagte er und wandte sich an uns. „Was
stehen Sie noch hier herum?“
Wir fragten ihn, wie man am besten nach Tschaussy käme. Er
darauf: Das wisse er nicht. Wir fragten, wo man in der Stadt
übernachten könne.
„Gehen Sie in ein x-beliebiges Haus und übernachten Sie
dort.“ Der Major blieb bei ihm, wir aber gingen hinaus. Es war
eine dunkle Nacht. Die Stadt war verlassen und finster. Geschütze, von ihren Bedienungen geschoben, ratterten durch die
Straße. Ich hatte nur einen einzigen Wunsch – zu Kutepows
Regiment zurückzufahren und bis zum Ende dort zu bleiben.
Bei ihm herrschte wenigstens Ordnung, und ich sagte mir,
wenn ich schon sterben müsse, dann hätte es da wenigstens
einen Sinn.
In jener Nacht wurde mir wahrscheinlich ein für allemal klar,
daß es in den schweren Tagen des Rückzugs, der Einkesselung
und einer tödlichen Gefahr in der vorderen Linie bei der kämpfenden Truppe immer noch am besten ist und daß nichts
schlimmer ist als die Ungewißheit bei den zurückweichenden
rückwärtigen Diensten. Dort ist es in solchen Tagen so scheußlich, derart unerträglich, daß einem die Lust am Leben vergeht.
Nach dem Gespräch mit Tschernitschenko waren wir uns
nicht sicher, ob der Divisionsstab in den zwei, drei Stunden,
die wir uns in Mogiljow aufgehalten hatten, nicht aus dem
Wald an eine andere Stelle verlegt worden war. Wir verspürten
keine Lust, in Mogiljow zu übernachten. Vielleicht wären wir
zu Kutepow gefahren, aber in der Nacht und ohne Begleiter
konnten wir nicht hoffen hinzukommen. Jetzt war uns endgültig klargeworden, daß sowohl das Herumgerede des Brigadekommissars beim Korps und das, was uns Tschernitschenko
gesagt hatte, der uns so offensichtlich von der Division weghaben wollte, wie auch der Ton, in dem der Garnisonschef eben
mit uns gesprochen hatte, alles Glieder einer Kette waren; irgend etwas, was wir noch nicht wußten und was sich nur
schwer korrigieren ließ, war geschehen, und die Männer hatten
jetzt andere Sorgen als uns.
Schließlich beschlossen wir doch, zum Divisionsstab zurückzukehren, dort bis zum Hellwerden zu warten und auf Feldwegen nach Tschaussy zu gelangen.
In der Dunkelheit konnte man kaum die Hand vor Augen sehen. Wir fuhren über die Mogiljower Brücke. Merkwürdigerweise wurden wir von niemandem angehalten. Die Posten waren von der Brücke verschwunden. Wir bogen auf die Landstraße ab, fuhren in den Wald, wo der Divisionsstab gelegen
hatte. Zur Linken und zur Rechten, wo noch vor kurzem die
Stabsfahrzeuge gestanden hatten, war alles leer. Tiefer im
Wald machten sich Menschen zu schaffen, standen Autos. Alle
waren noch nicht fort.
Wir legten uns neben dem Kombi auf die Erde und schliefen
bis zum Morgen. Vor dem Einschlafen, noch in der gedrückten
Stimmung, mit der wir über die leere, von den Posten verlassene Brücke aus Mogiljow hinausgefahren waren, ahnte ich
plötzlich, daß irgendeine Katastrophe heraufzog und wir, was
durchaus möglich war, von hier nicht mehr wegkämen, und bei
dem Gedanken, daß der Inhalt meiner Taschen den Deutschen
in die Hände fallen könnte, war mir nicht sehr wohl. Im Dunkeln legte ich die vom Korpsstab mitgenommene Karte mit den
eingezeichneten Stellungen unserer Truppen auf meine Knie
und radierte blindlings alles weg. Dann holte ich den nicht
nach Moskau abgesandten Brief aus der Feldblusentasche und
zerriß ihn. Am Morgen fuhren wir aus dem Wald auf die Landstraße hinaus. Zu beiden Seiten, anscheinend bereits auf dem
diesseitigen Dneprufer, war undeutlich das Wummern der Artillerie zu hören. Wir bogen auf einen Feldweg ab und fuhren
nach der Karte auf ausgefahrenen Fahrrinnen von einem Dorf
zum anderen. Die Straße war miserabel, das Benzin war
schlecht, der Kombi hustete. Wir säuberten die Vergaserdüse,
konnten nur langsam fahren, kamen aber trotzdem bis kurz vor
Tschaussy. Eine Frau, bei der wir uns an einer Kreuzung nach
dem Weg erkundigten, sagte, „gradeben“ seien Deutsche auf
Motorrädern vorbeigefahren. „In welcher Richtung?“
„Na doch in die, aus der Sie kommen, bloß sind Sie von links
gekommen, und die sind nach rechts abgebogen. Heute früh
sind andere auf der Straße dort gefahren.“ Sie wies nach Osten.
Das klang sehr glaubhaft, besonders, wenn man die Ereignisse
der vergangenen Nacht bedachte. Aber das Gerede von deutschen Luftlandeabteilungen, von Kradschützen, Fallschirmjä-
gern und Kleinpanzern am ganzen gestrigen Tag war uns so auf
die Nerven gegangen, daß wir den Worten der Frau keine Beachtung schenkten. Kradschützen hin, Kradschützen her. Sollten wir auf sie stoßen, hatten wir eben Pech gehabt.
Ich saß im Fahrerhaus des Kombi neben Borowkow, beobachtete fortwährend den Weg und die Abzweigungen. Ich war
wohl unmerklich eingenickt, denn als ich plötzlich wieder aufschreckte – ich hatte vielleicht ein paar Minuten vor mich hin
geduselt –, waren wir statt nach links, wohin wir der Karte
nach hätten abbiegen müssen, nach rechts abgebogen und standen nun vor einer über ein Flüßchen führenden Brücke, die
aber gesprengt war. In meinem Zorn bedachte ich Borowkow
nicht gerade mit herzlichen Worten, doch schon zwanzig Minuten später sollte sich herausstellen, daß diese Verzögerung
und der Umweg, den wir deswegen machen mußten, uns sehr
wahrscheinlich das Leben gerettet hatten.
Wir machten kehrt und fuhren zurück bis zu einer Stelle, wo
ein anderer Weg abzweigte, der nach der Karte zu einer Landstraße führen mußte. Auf dieser Landstraße waren es bis
Tschaussy nur mehr ganze zwölf Kilometer. Zumindest auf der
Karte.
Wir kamen durch ein kleines Dorf und quälten uns einen
Hang hinauf. Hinter der Anhöhe stieß der Feldweg auf die
Landstraße. Schon beim Berganfahren sah ich rechts in einiger
Entfernung auf der Landstraße dichte Staubwolken, als fahre
dort eine Lkw- oder Panzerkolonne. Ich sagte zu Troschkin,
meiner Meinung nach rollten dort Panzer. Auch er blickte in
die Richtung. „Ach wo, das wird wohl nur vom Wind aufgewirbelter Staub sein.“
Na gut, dann eben aufgewirbelter Staub!
Wir alle hatten noch nicht die dumme Gewohnheit abgelegt,
über so etwas nicht zu diskutieren, weil wir fürchteten, für ei-
nen Feigling gehalten zu werden.
Borowkow gab Gas, noch die letzte Steigung, und wir erreichten die Landstraße. Ich blickte gerade angestrengt auf die Karte, um die verbleibenden Kilometer bis Tschaussy auszurechnen, hob den Blick und sah auf der Straße, hundert Meter vor
uns, vier deutsche Panzer in Richtung Tschaussy rollen.
Borowkow trat auf die Bremse, und stumm, ohne aus dem
Wagen zu springen, sahen wir die Panzer an uns vorbeirollen.
Ob sie nun nichts mit uns im Sinn hatten oder sie uns in diesem
Staub nicht bemerkten – jedenfalls rauschten sie mit Vollgas
dicht an uns vorbei. Augenblicke später war von ihnen nicht
mehr zu sehen als Staub, der in dichten Wolken hinter ihnen
hochwirbelte.
Wir stiegen aus und diskutierten recht unangemessen darüber,
was wir nun tun sollten: hier abwarten, auf einem anderen Weg
nach Tschaussy durchzukommen versuchen oder nach Mogiljow zurückfahren? Es kam sogar der Vorschlag, auf der Landstraße hinter den Panzern herzufahren, weil es möglicherweise
keine deutschen, sondern unsere wären. Ohne Zweifel waren es
deutsche Panzer gewesen, aber wir konnten einfach nicht begreifen, wie sie hier, in nächster Nähe des Armeestabes, auftauchen konnten. Die Diskussion wäre sicherlich noch lange
weitergegangen, doch ich erblickte in der Ferne neue Staubwolken über der Straße und brüllte plötzlich, für mich selbst
überraschend, ich sei hier der Dienstgradälteste, befehle allen,
einzusteigen, den Wagen zu wenden und loszufahren. Wir
wendeten, fuhren einen guten Kilometer bis zu einem Dörfchen
und stellten den Wagen hinter einem Haus ab. Troschkin kletterte auf das Dach des Hauses, um die Straßen zu beobachten.
Wenige Minuten später rief er mir von oben zu, weitere vier
Panzer rollten auf der Straße in Richtung Tschaussy.
Auf dem Feldweg, auf dem wir eben gekommen waren,
tauchte eine Frau auf. Sie kam von der Landstraße her, also
mußten wir sie überholt haben, ohne es zu merken. Sie erzählte
uns, vor kurzem seien unzählige Panzer auf der Straße gefahren. „Wie viele denn?“
„Schwer zu sagen. Ungefähr ein Dutzend. Was sollen wir
bloß machen, ihr Lieben?“
Diese Frage hatten wir gerade ihr stellen wollen. Ein Anderthalbtonner mit fünf Rotarmisten und einem Artilleriehauptmann kam, der nach Tschaussy zum Artilleriekommandeur der Armee unterwegs war. Wir hielten den Anderthalbtonner an und berichteten dem Hauptmann von den Panzern.
Wir beschlossen, uns zusammenzutun, breiteten die Karte im
Maßstab i: 500 000 aus, um außer dieser Landstraße, auf der
eben die Panzer gefahren waren, noch einen anderen Weg nach
Tschaussy zu ergründen. Der Lkw als der geländegängigere
Wagen sollte vorausfahren, der Kombi sollte ihm folgen. Die
Karte gehörte mir, also setzte ich mich in das Fahrerhaus des
Lkw, und der Hauptmann kletterte in den Wagenkasten.
Wir hatten ausgemacht, den Feldweg zu verlassen, einen halb
ausgetrockneten Bach und einen Acker zu überqueren, durch
einen Wald, über einen zweiten Feldweg und dann einen dritten zu fahren, was uns auf einem Umweg nach Tschaussy bringen mußte. Wir hatten auf diesem Umweg acht Kilometer zurückgelegt. Rechts von uns, von der Landstraße her, klangen
von Zeit zu Zeit Abschüsse herüber und stiegen Rauchsäulen
auf. Wir rätselten, was das sei: brennende Panzer oder brennende Häuser?
Plötzlich links von uns Geschützfeuer und MG-Feuerstöße.
Zu der Zeit verließen wir gerade ein Waldstück, überquerten
eine mit niedrigem Strauchwerk bestandene Fläche, um zu einem anderen Wäldchen zu gelangen, hinter dem der Karte nach
wieder ein Weg beginnen sollte. Kaum waren wir in dieses
Wäldchen hineingefahren, als uns zwei junge Soldaten entgegenkamen, die einen dritten stützten. Er war an Schulter und
Arm verwundet. Wir gaben ihnen Verbandzeug, und sie verbanden ihren Kameraden und berichteten, was sie eben erlebt
hatten.
Sie gehörten einer Panzerjägerabteilung an. Man hatte ihnen
gesagt, zwei deutsche Panzer kämen den Weg entlang, und da
hatten sie sich zu viert mit Brandflaschen an der Böschung auf
die Lauer gelegt. Aber nach ihren Worten waren es nicht zwei
Panzer gewesen, sondern an die zwanzig. Als auf dem Feldweg
eine ganze Kolonne deutscher Panzer auf sie zurollten, seien
ihnen die Nerven durchgegangen, sie seien aus dem Straßengraben aufgesprungen und in den Wald gerannt, wobei sie von
dem ersten Panzer mit dem MG beschossen wurden. Einer sei
gefallen und der, den sie hierhergeschleppt hatten, verwundet
worden.
Wir fragten, wo das passiert sei.
„Anderthalb Kilometer von hier“, sagten die Soldaten. „Ein
paar sind dort auf der Straße stehengeblieben und schießen das
Dorf in Brand, die andern sind weitergerollt.“
Sie hatten es eilig, den Verwundeten weiterzubringen, und wir
trennten uns von ihnen. Das Geschützfeuer von beiden Seiten
bewies, dass die Deutschen offensichtlich von zwei Seiten her
auf Tschaussy vorrückten. Wir wurden immer unruhiger.
Schlimmstenfalls konnten wir natürlich die Fahrzeuge stehenlassen und uns zu Fuß durchschlagen, aber das wollten wir
nicht. Wir stellten die Wagen unter Bäumen ab. Troschkin ging
mit einem Rotarmisten vom Kommando des Artilleriehauptmanns ins nächste Dorf auf Erkundung, wir anderen blieben
zurück und warteten.
Der Hauptmann hatte ein paar Handgranaten, die er an uns
verteilte. Wir warteten vierzig Minuten. Plötzlich rauschten
links von uns, anscheinend auf einem Waldpfad oder durch
eine Schneise, die nicht in der Karte verzeichnet war, hintereinander zwei Panzer durch den Wald.
Hinter den Bäumen kaum zu sehen, fuhren die Panzer ganz
dicht an uns vorbei. Der Hauptmann wurde nervös und schrie,
wir hätten einen Spähtrupp losgeschickt und ihm eine halbe
Stunde Zeit gegeben, nun aber sei er nach einer geschlagenen
Stunde noch nicht zurück, ich könne tun, was ich für richtig
halte, er jedenfalls werde losfahren. Würden wir noch länger
warten, so kämen wir nicht mehr nach Tschaussy durch und er
könne seine Befehle nicht mehr ausführen. Ich fragte ihn, was
dann aus den Männern werden solle, die auf Erkundung gegangen waren. Die müßten eben zusehen, wo sie blieben und wie
sie da rauskämen, gab er mir zur Antwort, schließlich hätten sie
die gestellte Frist überzogen.
Wer weiß, möglicherweise war er den Buchstaben des Gesetzes nach im Recht, aber mir schnürte es die Kehle zu, und ich
sagte, er könne von mir aus mit seinem Wagen losfahren, aber
ich würde hier so lange warten wie nötig, und um seinen Rotarmisten brauche er sich keine Sorgen zu machen, den würden
wir schon mitnehmen. Als Antwort darauf befahl der Hauptmann seinen Soldaten aufzusteigen, aber er ließ den Wagen
nicht abfahren, sondern saß abwartend auf der Bordwand.
Wahrscheinlich drückte ihn nun doch das Gewissen.
So hockten wir schweigend weitere zwanzig Minuten da, bis
schließlich Troschkin und der Rotarmist zurückkamen. Sie
berichteten, die Panzer seien in den Wald gefahren und von
dem Hügel dort könne man ein brennendes Dorf an der Landstraße sehen. Wir beschlossen, trotzdem weiter Richtung
Tschaussy zu fahren, bestiegen die Fahrzeuge und fuhren weiter wie zuvor: ich im Fahrerhaus des Lkw. Wir durchfuhren
noch mehrere Waldstücke. In einem kam uns ein Wagen ent-
gegen, der erst vor kurzem in Tschaussy losgefahren war. Die
Männer darin sagten uns, in Tschaussy seien nur ferne Abschüsse zu hören gewesen, erst als sie aus der Stadt heraus waren, hätten sie den Rauchschleier über den Straßen gesehen.
Aber Panzer seien ihnen nicht begegnet.
Wir fuhren weiter. Endlich, wir kamen aus einem Wäldchen
in offenes Gelände, sahen wir vor uns ein Flüßchen mit einer
Brücke und hinter der Brücke Tschaussy. Wenn wir den nur
schwach ausgefahrenen Fahrspuren folgten, waren es noch
dreihundert Meter bis zur Brücke, doch mit einem Blick nach
rechts und links sahen wir Panzer auf zwei Straßen heranrollen,
die sich an der Brücke treffen mußten. Wir rasten auf die Brükke zu, entschlossen, hinüberzukommen, komme, was da wolle.
In voller Fahrt erreichten wir die Brücke, rasten über sie hinweg, und augenblicks setzte hinter uns wütendes MGGeknatter ein, und wir hörten Granaten einschlagen. Der Kombi, der etwas hinter unserem Lkw zurückgeblieben war,
schlüpfte bereits im Pfeifen von Splittern über die Brücke. Die
Deutschen feuerten aus der Bewegung, wohl mehr, um uns in
Panik zu versetzen, als gezielt, und deshalb ging für uns noch
einmal alles gut ab. Wir schlängelten uns durch die Straßen
von Tschaussy, die vollgestopft waren von Pferdefuhrwerken
und Autos. Wir wollten die Stadt möglichst schnell durchqueren und sie am anderen Ende wieder verlassen, da wir wußten,
daß in einem Wäldchen zwei oder drei Kilometer hinter der
Stadt der Armeestab lag. In der Stadt herrschte Panik, die Menschen stürzten aus den Häusern. Alles mögliche Zeug flog aus
den Fenstern, Koffer lagen mitten auf der Straße. Diese Panik
war zu verstehen, da man hier noch eine halbe Stunde zuvor
angenommen hatte, die Front verlaufe noch auf der anderen
Seite des Dnepr, hinter Mogiljow, und Tschaussy befinde sich
im tiefen Hinterland der Armee.
Über der Stadt krepierten Schrapnells. In der Ferne, an der
Brücke, stand irgend etwas in Flammen.
Bei der Schlängelei durch die Straßen von Tschaussy verloren
wir den hinter uns fahrenden Kombi und kamen mit unserem
Lkw als erste an dem Wäldchen an, in dem der Stab lag. Den
Lkw mußten wir am Waldrand stehenlassen – weiter hinein
ließ man uns nicht. Als ich auf einen Oberst stieß, sagte ich
ihm, daß ich Korrespondent der „Iswestija“ sei, daß wir deutsche Panzer von Mogiljow auf Tschaussy hätten zufahren sehen und daß dies schnellstmöglich weitergemeldet werden
müsse. Er entgegnete, der Gefechtsstand liege fünfhundert Meter weiter in dem Wäldchen, und wir liefen zusammen hin.
Außer Atem vom raschen Lauf kam ich beim Gefechtsstand
an. Auf einer Bank vor einem Tisch saßen ein Generalleutnant,
ein General, ein Flieger und mehrere Kommandeure. Wie ich
später erfuhr, hatte der Generalleutnant entweder gerade erst
oder am Abend zuvor die Führung der Armee von ihrem früheren Oberbefehlshaber übernommen, der verwundet worden
war.
Ich meldete, ich hätte Panzer gesehen. Offenbar war der Umstand, daß ich so außer Atem war, nicht gerade vertrauenerweckend. Irgendwie ironisch hörten sie mir zu.
Obwohl ringsum eine gewisse Nervosität zu verspüren war,
hatte hier doch noch niemand eine Vorstellung vom Ausmaß
des Geschehens. Ich beharrte auf meiner Darstellung, entfaltete
die Karte und zeigte die Stelle, wo wir die Panzer gesehen hatten. Da fragte mich der Generalleutnant: „Wieviel Panzer waren es?“
Ich antwortete, mit eigenen Augen hätte ich acht gesehen,
doch müßten es, nach dem Feuer zu urteilen und auch danach,
was wir von den Dorfbewohnern gehört hatten, viel mehr sein.
„Hat da nicht die Angst zu große Augen?“ sagte der General-
leutnant, befragte mich aber doch näher, was ich gesehen hätte
– schwere Panzer oder Kleinpanzer. Ein anderer aus seiner
Umgebung sagte, das könnten unmöglich schwere Panzer sein,
sondern höchstens Kleinpanzer.
Aus diesem Zweifel sprach das Nichtglaubenwollen, daß die
Deutschen durchgebrochen waren, und der Wunsch, das alles
möchten bloß Fallschirmjäger sein. Ich blieb dabei, daß es
mittlere Panzer waren und ich mir dessen so sicher sei, weil ich
mir genausolche Panzer vor zwei Tagen bei Mogiljow aus
nächster Nähe in allen Einzelheiten angesehen hatte. Ich wurde
entlassen, und nun begann man Maßnahmen einzuleiten. Worin
diese bestanden, ist mir nicht bekannt. Die folgenden Ereignisse zeigten, daß entweder keine ernsthaften Maßnahmen eingeleitet wurden oder aber keine Mittel für solche Maßnahmen
vorhanden waren.
Aus Richtung Tschaussy waren unsere Geschütze zu hören.
Als ich durch das Wäldchen zum Waldrand zurückging,
herrschte bereits ein hektisches Treiben. Da wurde nach Brandflaschen geschrien, nach der Begleitkompanie und nach was
weiß ich noch. Zum Waldrand zurückgekehrt, sah ich dort weder den Lkw noch den Hauptmann, dafür aber zu meiner großen Freude den Kombi und meine Genossen. Wir beratschlagten, was wir nun tun sollten. Einerseits hätten wir unverzüglich
zur Redaktion zurückkehren und in Richtung Kritschew, Roslawl und von dort nach Smolensk fahren müssen, andererseits
hätte das in der entstandenen Lage wie Flucht ausgesehen, so
daß wir uns erst an eine höhere Dienststelle wenden wollten.
Zehn Minuten später empfing uns hier, im gleichen Wäldchen,
in der Politabteilung ein hochgewachsener Brigadekommissar
mit einem Rotbannerorden auf der Brust, der uns aufmerksam
anhörte und uns riet, vor unserer Abfahrt noch etwas zu essen
und nicht auf dem direkten Weg über Kritschew zur Redaktion
zu fahren, sondern auf dem Umweg über Tscherikow; auf dem
gleichen Weg habe schon am Morgen die zweite Staffel des
Armeestabs mit der Verlegung begonnen. Er meinte, wir würden diese zweite Staffel unterwegs bestimmt noch einholen.
Aus der Tatsache, daß die zweite Staffel des Stabes schon seit
dem Morgen evakuiert wurde, entnahm ich, daß hier bereits
Informationen über das Überschreiten des Dnepr durch die
Deutschen vorlagen, aber offenbar niemand eine reale Vorstellung vom Tempo ihres Vormarsches hatte.
In der Politabteilung trafen wir einen Kameramann und dessen Assistenten, die am Vortag vom Frontstab hierher zur 13.
Armee gekommen waren. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit vertrauten sie uns an, der Stab, die Politverwaltung der
Front und wohl auch die Redaktion der „Krasnoarmejskaja
Prawda“ hätten schon vorgestern Smolensk in Richtung Wjasma verlassen, seien zur Bahnstation Kasnja gefahren.
Wir konnten die Bedeutung dessen noch nicht recht begreifen,
aber schon diese Nachricht an sich war für uns ein schwerer
Schlag. Einen Satz von Smolensk bis Wjasma hatte der Frontstab gemacht – ganze zweihundert Kilometer! Wjasma war in
unserer Vorstellung in jenen Tagen schon fast Moskau. Wir
konnten einfach nicht begreifen, was, wie und warum. Schon
allein die Tatsache war beklemmend, daß der Frontstab von
Smolensk in die Gegend von Wjasma verlegt worden war.
Wir aßen gleich etwas beim Zelt der Politabteilung, als sich
plötzlich herausstellte, daß Borowkow, der in dem Wäldchen
herumgekurvt war und die Sachen im Kombi umgepackt hatte,
sein Gewehr an einen Ast gehängt und es dort vergessen hatte.
Ich mußte mit ihm das Gewehr holen gehen, damit er allein
nicht etwa festgenommen wurde. Als wir zurückkamen, bot
sich mir folgende Szene: Vor dem Brigadekommissar am Zelt
stand ein untersetzter, dicklicher Mann. Ohne die Stimme zu
heben, sagte der Brigadekommissar ruhig und energisch zu
ihm: „Zu einer anderen Zeit würde man Sie ohne viel Federlesens erschießen, aber danach ist mir jetzt nicht. Was soll ich
noch lange mit Ihnen herumreden. Gehen Sie erst mal Ihre
Einheit suchen, von der Sie abgehauen sind.“
„Ich bin nicht abgehauen“, stammelte der Knirps. „Natürlich
sind Sie abgehauen! Sagen Sie mir doch, wo Ihre Einheit liegt.
Und wenn Sie mir noch einmal ohne Ihre Einheit unter die Augen kommen, lasse ich Sie erschießen. Nur mit Blut können Sie
Ihre Schuld gegenüber der Heimat wiedergutmachen!“ Der
Kleine nahm Haltung an und faselte so etwas wie, er schwöre,
das wiedergutzumachen, es sei ihm ja klar, daß die Heimat…
Und das mit fast versagender Stimme. Der Brigadekommissar
fuhr ihn verächtlich an: „Verschwinden Sie!“
Im Gehen sagte der Mann noch, und schon mit festerer Stimme, sich anscheinend bewußt, daß er der unmittelbaren Gefahr
entronnen war, er werde seine Einheit bestimmt finden, er werde sich bewähren, jawohl, und wenn es ihm das Leben kosten
solle, und so weiter… Als er gegangen war, wandte sich der
Brigadekommissar an uns: „Wieso sind Sie noch hier?“
Wir sagten ihm, wir seien gerade im Begriff loszufahren. Borowkow kurbelte schon den Motor an, einer saß schon im Fahrerhaus, einer hielt den Wagenschlag auf, als plötzlich in dem
Wäldchen ganz in unserer Nähe hintereinander mehrere Granaten einschlugen. Das kam so überraschend, da in der letzten
Stunde beruhigende Meldungen eingetroffen waren, nach denen die deutschen Panzer am Fluß aufgehalten worden und
nicht über die Brücke bei Tschaussy gekommen waren, daß sie
nun am Fluß entlang weit nach rechts beziehungsweise links
rollten, anscheinend auf der Suche nach einer Furt. In der letzten halben Stunde waren nicht einmal Schüsse zu hören gewesen, und die Panik hatte sich etwas gelegt. Und auf einmal die-
se Einschläge.
Wir warfen uns auf die Erde.
Das Wäldchen war klein und licht – nur ein paar Bäume und
Sträucher. Weit und breit weder Schutzgräben noch Deckungslöcher. Und auf dieses Wäldchen feuerten nun eine ganze Viertelstunde pausenlos Granatwerfer, von den Deutschen, wie wir
später erfuhren, auf Panzer montiert, und Geschütze. Die Männer lagen platt auf dem Bauch, an die dünnen Stämmchen gepreßt, als könnten die ihnen Schutz bieten.
Dann hörte der Beschuß auf. Das Wäldchen belebte sich. Unter den Bäumen kamen, Äste knickend, Autos hervor. Unser
Kombi war schon angekurbelt. Der Motor lief bereits, seitdem
sich Borowkow mit hingeworfen hatte. Wir stiegen ein und
nahmen einen Waldweg zu der nach Tscherikow führenden
Straße. Die Straße führte am Wald entlang, kaum aber war der
Wald zu Ende, rannte in einer Kurve ein Mann, sich an der
Seitenwand festklammernd, stolpernd neben dem Wagen her.
Sein Gesicht war so angstverzerrt, daß ich nur mit Mühe den
Mann wiedererkannte, der dem Brigadekommissar eben erst
hoch und heilig geschworen hatte… Er schrie, wir sollten ihn
mitnehmen, weil er kein Fahrzeug habe, er müsse aber fahren,
da er laut Befehl eine Meldung zur zweiten Staffel überbringen
müsse. Ich weiß nicht, wie das ausgegangen wäre, aber plötzlich bemerkte er einen anderen Wagen, der gerade versuchte,
uns zu überholen; er ließ von unserem Kombi ab und sprang
auf das Trittbrett des Wagens.
Das Schießen setzte nicht wieder ein. Wir fuhren erst an einem Wald, dann an einem Fluß entlang auf eine Brücke zu. Es
war nicht die Brücke, über die wir nach Tschaussy hineingefahren waren, sondern eine Brücke auf der anderen Seite der
Stadt, und sie führte wohl auch über einen anderen Fluß.
Das hügelige Gelände fiel zum Fluß hin ab. Da wir ohne Zwi-
schenfälle vorankamen, gewannen wir langsam den Eindruck,
alles käme wieder in Ordnung. Da stieß mich Troschkin an.
„Sieh doch!“
Direkt unter uns, zwischen uns und dem Fluß, bewegten sich
auf dem langgezogenen Hang des Hügels, dessen Kuppe wir
gerade erreicht hatten, etwa fünfzehn deutsche Panzer, sie rollten genau auf uns zu und sahen aus wie Spielzeugpanzer, adrett
wie auf einem Bild. Wieso sie auf dieser Seite der Stadt auftauchen konnten und warum sie bis dahin niemand bemerkt hatte,
weiß ich bis heute nicht. Vielleicht hatten sie auf der anderen
Seite der Stadt die Panik ausgelöst, die Stadt dann aber nicht
frontal angegriffen, sondern sie unter Ausnutzung des Durcheinanders umgangen, wer konnte das schon wissen. Jetzt jedenfalls, in den Abendstunden, kamen zweihundert Meter vor uns
von dem ruhig dahinziehenden Fluß her deutsche Panzer in
exakten Abständen wie bei einer Parade den Hügel zu uns herauf. Borowkow riß den Kombi herum, wir rasten, die Kurven
schneidend, bergab und erreichten so schließlich die Brücke.
Doch die Brücke war entweder gesprengt oder abgerissen,
und mit dem Wagen war kein Hinüberkommen. Aber es mußte
noch eine andere Brücke über diesen Fluß geben – es mußte
einfach eine geben –, und wir rasten nun, da wir die Panzer
hinter uns gelassen hatten, in nicht mehr gar so mörderischem
Tempo am Fluß entlang. Schließlich erreichten wir wirklich
eine Brücke. Eigentlich war es mehr ein Notsteg aus zusammengenagelten Bohlen, die dicht über dem Wasser lagen. Wir
rumpelten über sie hinweg wie über ein Xylophon, die Räder
tauchten ins Wasser, und waren endlich auf dem anderen Ufer.
Borowkow hielt den Kombi an, löste seine Feldflasche vom
Koppel und nahm einen langen Schluck. Da begann es hinter
uns zu wummern. Geschütze und Granatwerfer feuerten. Über
Tschaussy loderten Flammen und quoll Rauch empor. Was
sich in diesen Stunden dort abgespielt hat, wer noch hinausgekommen ist und wer nicht – ich weiß es nicht.
In unserem Rücken brannte Tschaussy, und wir mußten nun
nicht mehr nach Smolensk fahren, das wir erst vor einer knappen Woche verlassen hatten, sondern bereits nach Wjasma.
Unsere Stimmung war denkbar schlecht. Wir fuhren in einen
Wald hinein, und als wir auf dem Waldweg die langsamen Autokolonnen der zweiten Staffel der Armee einholten, war es
mittlerweile dunkel geworden. In der ersten Stunde lief
Troschkin vor unserem Kombi her, um ihn durchzuschleusen,
dann setzte er sich in den Fond und schlief, die andere Zeit
ging ich vor dem Wagen her. Von Zeit zu Zeit schlief Borowkow vor Müdigkeit am Lenkrad ein. Er hatte in diesen Tagen
mehr ausstehen müssen als wir anderen.
An diese Nacht erinnere ich mich gut. Weit hinter uns, über
Tschaussy, lag ein hoher Feuerschein, vernahm man das dumpfe Wummern der Artillerie. Der Wald war hoch und dunkel,
der Weg schmal, viele Fahrzeuge waren unterwegs, sich zwischen ihnen durchzulavieren war schwierig, und das ewige
Anhalten zehrte an den Nerven. So sind wir die ganze Nacht
gefahren oder, was mich betrifft, gegangen.
In dieser Nacht ging mir vieles durch den Kopf, und ich
machte mir so meine Gedanken. Ich war müde und recht abgestumpft. In letzter Zeit hatten wir so viele Überraschungen und
Enttäuschungen erlebt, daß es schien, wir würden uns über
nichts mehr wundern. Im Morgengrauen erreichten wir Tscherikow und fuhren von dort ohne Aufenthalt weiter nach Roslawl. Roslawl glich nicht mehr der Stadt, durch die wir vor
einer Woche gekommen waren. Sie war aufgescheucht. Es war
zu spüren, daß man zwar keine rechte Vorstellung von dem
Geschehen hatte, Gerüchte darüber aber doch schon bis hierher
gedrungen waren.
Unsere seelische Verfassung besserte sich ein wenig, als wir
an das Regiment Kutepows dachten, daran, daß sich unsere
Männer auch schlagen können, und wohl auch, weil wir die
Gewißheit hatten, das Material für die Zeitung mitzubringen,
so daß wir zumindest in dieser Hinsicht nicht umsonst unterwegs gewesen waren. Wir hielten in Roslawl an, um eine Entscheidung über die weitere Route zu treffen. Unserer Meinung
nach hatte der Rückzug begonnen und war der Frontstab tiefer
ins Hinterland verlegt worden, aber wir konnten uns einfach
nicht vorstellen, daß die Deutschen bereits in Smolensk waren,
das uns unlängst noch als uneinnehmbare Stadt erschienen war
– wir hatten gesehen, wie sie befestigt wurde. Deshalb war die
Frage, welche Straße wir nach Wjasma nehmen sollten, für uns
in diesem Augenblick nicht weiter entscheidend: entweder die
über Juchnow oder die über Smolensk.
Für Smolensk sprach, daß wir uns dort rasieren und vielleicht
auch ganz auf die Schnelle in einer Badestube gründlich waschen konnten. Außerdem hofften wir in Smolensk doch noch
jemanden von unserer Redaktion zu finden – gut möglich, daß
nur ein Teil des Stabes und der Politabteilung, lediglich die
zweiten Staffeln, nach Wjasma aufgebrochen waren.
So machten wir uns also auf in Richtung Smolensk. Zuerst
war die Straße so gut wie frei, dann aber kamen uns Lkws, am
Straßenrand entlangziehende Flüchtlinge und große Rinderherden entgegen. Je mehr wir uns Smolensk näherten, desto dichter wurde der uns entgegenkommende Strom. Wir hielten des
öfteren an und erkundigten uns nach der Lage in Smolensk,
erhielten aber keine vernünftige Antwort. Die Militärangehörigen kamen nicht direkt aus Smolensk, sondern aus verschiedenen Orten weiter ostwärts, und auch die Zivilisten waren nicht
aus Smolensk geflüchtet, sondern aus den umliegenden Kreisen. Die Gerüchte vom Näherrücken der Deutschen hatten sie
nach Osten aufbrechen lassen, aber aus welcher Richtung und
wie weit sie gekommen waren, wußten sie nicht. Wir fuhren
noch ein paar Kilometer und stießen auf riesige Herden, die die
Straße blockierten. Wir schafften nicht mehr als zwei, drei Kilometer in der Stunde, und unser Kombi tauchte in den Rinderköpfen und Hörnern förmlich unter. Nach einigen so hinter uns
gebrachten Kilometern hielten wir an, stellten den Wagen am
Straßenrand ab und beratschlagten.
Wenn wir auch nach wie vor nicht daran glaubten, daß die
Deutschen in Smolensk sein könnten, und nur widerwillig nach
Roslawl zurückfahren wollten, da uns nur noch vierzig Kilometer von Smolensk trennten, war es doch sinnlos, weiterzufahren und sich durch diese riesigen Herden zu drängeln. So
würden wir vor Einbruch der Nacht Smolensk nie erreichen.
Unsere Zweifel wurden endgültig zerstreut von einem Pionierhauptmann, der mit einem Wagen aus Richtung Smolensk
durch diese Herden fuhr, oder besser gesagt kroch. Nach seinen
Worten hatte es keinen Sinn weiterzufahren, denn zwanzig
Kilometer vor Smolensk sei die Straße für den Verkehr gesperrt und werde in aller Eile vermint. So machten wir kehrt.
Wir brauchten weitere zwei Stunden, um uns durch die Herden den Weg zurück nach Roslawl zu bahnen. In der Stadt war
gerade Fliegeralarm. Am Himmel kreisten deutsche Flugzeuge.
Nachdem sie über die Stadt hinweggeflogen waren, gingen sie
im Sturzflug herunter und nahmen ein Ziel unter Beschuß, das
außerhalb der Stadt lag und das wir nicht sehen konnten. Trotz
des Fliegeralarms ging auf dem Stadtplatz die Ausbildung von
Einberufenen an Handfeuerwaffen weiter. In Gruppen drängten
sie sich, noch ohne Waffen und in Zivil, vor dem Kriegskommissariat und anderen Gebäuden, in denen die Sammelstellen
untergebracht waren.
Wir entfalteten die Karte und entschieden uns, auf der Chaus-
see bis Juchnow zu fahren, dort abzubiegen und Wjasma auf
Feldwegen zu erreichen.
Bei der Ausfahrt aus Roslawl hielt man uns an und kontrollierte unsere Papiere.
Es war ein heißer Sommertag. Hinter Roslawl war die Straße
nach Osten völlig friedlich. Zu beiden Seiten der Straße sah
man Dörfer, und so gut wie nichts erinnerte an den Krieg. Die
Nachrichten vom Durchbruch der Deutschen waren noch nicht
bis hierher gedrungen, und noch konnte sich niemand vorstellen, daß diese Gegend binnen weniger Tage unmittelbares
Fronthinterland sein würde. Die Diskrepanz zwischen dem,
was wir in den letzten Tagen gesehen hatten, und dieser friedlichen, nichtsahnenden ländlichen Stille war beklemmend.
Die letzten Tage waren wir pausenlos unterwegs gewesen,
hatten keine Zeit zum Nachdenken gefunden, wir waren gefahren, hatten uns durchgeschlagen, waren wieder gefahren und zu
den Unseren gestoßen. Jetzt, da wir über diese ruhige Landstraße fuhren, über der ein stiller, heißer Sommertag lag, und
Troschkin und Kriger den vor Müdigkeit eingeschlafenen Borowkow am Lenkrad ablösten, spürten wir auf einmal, wie erschöpft wir nach diesen Tagen waren, aber noch wichtiger war,
wir spürten, daß ein großes Unglück geschehen war. Erst jetzt,
da wir uns noch einmal durch den Kopf gehen ließen, was die
Verlegung des Frontstabs von Smolensk nach Wjasma wohl zu
bedeuten habe, schwankten wir: Sollte auch Smolensk gefallen
sein? Noch vor kurzem war von Smolensk keine Rede gewesen, nur von Minsk hatte man gesprochen und gemeint, dort
irgendwo verlaufe die Front.
All diese Gedanken deprimierten mich in einer noch nie dagewesenen Weise. Wie es aussah, gingen die Deutschen im
Sturmschritt vor. Wer konnte absehen, wann sie zum Stehen
gebracht wurden? „Werden sie etwa auch hierherkommen“ –
schon der Gedanke war beklemmend. Und ein Gefühl tiefen
Mitleids und der Liebe zu allem, was ich hier sah, überkam
mich: zu diesen Dorfhäusern, zu den Frauen, zu den an der
Straße spielenden Kindern, zum Gras, zu den Birken, zu allem
Russischen, zu all dem Friedvollen, das uns umgab und das nur
mehr kurze Zeit so sein würde, wie es heute war… Wir fuhren
und schwiegen. Schwiegen lange, sehr lange. Dann überhitzte
sich unser schon alter Motor durch die pausenlose Fahrt bei
dieser Hitze, und ungefähr siebzig Kilometer hinter Roslawl
mußten wir anhalten und ihn abkühlen lassen.
Wir stiegen aus, und Pascha Troschkin sagte: „Na Jungs, nun
wären wir wohl raus, oder?“
Aber das kam müde und ohne alle Freude heraus. Wir freuten
uns nicht darüber, daß wir rausgekommen waren. Wir wollten
nur so schnell wie möglich nach Wjasma kommen und dort, in
Wjasma, etwas zu begreifen versuchen. Etwas begreifen, das
wir bis jetzt nicht begreifen konnten.
Troschkin baute uns am Kombi auf und knipste uns mehrmals
so, wie wir an dem Tag waren – müde, unrasiert und, wie mir
damals schien, plötzlich, innerhalb weniger Tage gealtert.
Wir fuhren weiter. Um wenigstens für ein paar Augenblicke
alles vergessen zu können, was uns bedrückte, las ich den
Jungs unterwegs Gedichte vor, zuerst fremde, dann aber auch
welche von mir, unmittelbar vor Kriegsbeginn geschrieben.
Die Gedichte gefielen ihnen, aber wegen einem, dem letzten,
geschrieben am Morgen des 22. als ich noch nicht wußte, daß
Krieg war – „Was kümmerte mich denn die Welt, hab nicht des
Tratschs gefragt, nicht an den Fingern abgezählt, wer ,du’ zu
dir gesagt…“ –, gerieten sich Pjotr Iwanowitsch Beljawski und
Shenja Kriger in die Haare. Beljawski meinte, diese Verse seien nicht das Ergebnis einer inneren Überzeugung, sondern nur
der Versuch, die Lage, in die ich in meinem Privatleben gera-
ten war, vor mir selbst zu rechtfertigen. Kriger bestritt das, ich
aber schwieg dazu, nicht, weil ich keine Lust zum Streiten gehabt hätte, sondern weil mir dieser Streit über Verse hier, auf
dieser Straße, nach all unseren Erlebnissen seltsam erschien.
Verglichen mit dem, was uns widerfahren war und was um uns
herum geschah, schien es mir so überaus unwichtig, ob mich
nun die Welt nicht kümmerte und ob ich etwas auf Klatsch gab,
und überhaupt hatte ich das Gefühl, daß ich niemals mehr weder solche Verse noch andere schreiben würde. Dann kamen
wir durch eine Gegend, wo Pjotr Iwanowitsch Beljawski in
jungen Jahren gelebt hatte. Er gab sich seiner lyrischen Stimmung hin, gedachte der Zeiten, da er an einer Schule hier in der
Nähe Lehrer war, erzählte von der Schule, wer hier gewohnt
und wen er gekannt hatte. Er sprach gerührt, fast kamen ihm
die Tränen, doch ich fühlte aus diesen hervorquellenden Erinnerungen, die sich über gute vierzig Kilometer hinzogen, nicht
so sehr den echten Wunsch heraus, sich all dessen zu erinnern,
als vielmehr das Bedürfnis, an etwas anderes zu denken, an
weit Zurückliegendes, nur nicht an das Gestern und nicht an
das Heute.
Wir verließen die Landstraße und fuhren über Feldwege in
Richtung Wjasma. Zunächst kamen wir durch einen Wald,
dann fiel der Weg zu einem Fluß hin ab. Wir überfuhren eine
Brücke und hielten an. Inzwischen war es fünf Uhr nachmittags
geworden. Die Hitze hatte etwas nachgelassen, der Fluß zog
ruhig, still dahin, und plötzlich kamen wir auf den Gedanken,
hier zu baden. Ein verblüffender Gedanke. In dieses ruhige
Wasser steigen, baden… Das Wasser war warm, das Flüßchen
seicht, an den tiefsten Stellen reichte einem das Wasser gerade
bis an die Brust. Wir wuschen uns gründlich mit einem Stückchen Seife und merkten erst jetzt, wie verdreckt wir waren. Wir
setzten unsere Fahrt fort und sahen hinterm Wald eine TB-3
landen. Irgendwo in dieser Gegend lag der Flugplatz eines
Nachtbombenfliegergeschwaders. Schon vor unserer Fahrt
nach Mogiljow hatten wir im Frontstab von ihm gehört. Dieses
Geschwader sollte in den letzten Nächten großartig gekämpft
und so gut wie keine Verluste gehabt haben. Wollte man den
Jagdfliegern glauben, die sich über die „Nachtfalter“ lustig
machten, lag das Geheimnis ihres Erfolges darin, daß die deutschen Flaks mit ihrer automatischen Voreilung auf schnellere
Flugzeugtypen eingerichtet waren, während die lahme TB-3
nachts sozusagen über dem Ziel vor Anker lag. Sie lag vor Anker und spuckte ihre Bomben aus. Hatte sie die abgeladen, sah
sie zu, daß sie wegkam. Die Flaks aber trafen sie nicht, weil
deren Granaten ein ganzes Stück vor ihr lagen.
Als wir die TB-3 über dem Wald erblickten, fielen uns sofort
diese Gespräche ein. Es waren Flachsereien gewesen, aber ich
hatte, wenn ich diese großen, schweren, sehr zuverlässigen und
sehr langsamen Maschinen erblickte, immer das schreckliche
Bild von der Bobruisker Chaussee vor Augen.
Wir kamen an Walddörfern vorbei. Unzählige Menschen waren auf den Straßen. Frauen nahmen von jungen Männern Abschied, die in den Krieg zogen. Zunächst wollten wir noch am
gleichen Tag bis Kasnja kommen, wo unseren Informationen
zufolge der Frontstab lag, doch da während der Fahrt über die
Feldwege die Dunkelheit hereingebrochen war, beschlossen
wir vernünftigerweise, direkt nach Wjasma zu fahren, da wir
im Wald bei Nacht und noch dazu ohne Stabspassierscheine
ohnehin nirgends hingekommen wären. Unsere wenn auch bislang geringen Erfahrungen sagten uns bereits, daß man der
Frontzeitung oder einer Armeezeitung fast immer in der nächsten Druckerei auf die Spur kommen konnte, und so machten
wir uns in den nächtlichen, stockdunklen Straßen von Wjasma
auf die Suche nach einer Druckerei. Wir fanden eine. Und tat-
sächlich wurde unsere „Krasnoarmejskaja Prawda“ hier gedruckt. In der Druckerei trafen wir in der Nacht jedoch nur
einen einzigen Mann an – den uns nur flüchtig bekannten
Diensthabenden. Müde ließen wir uns in der Setzerei auf den
Fußboden sinken und schliefen wie tot bis zum anderen Morgen um sechs…
An dieser Stelle, beim Eintreffen in Wjasma, wo unsere
Dienstreise nach Mogiljow zu Ende ging, möchte ich unterbrechen, um über die wahre Lage zu berichten, in der wir uns damals nur so schwer zurechtfinden konnten.
In der zweiten Tageshälfte des 14. Juli, als wir bei Mogiljow
noch einmal dem Kommissar des 61. Schützenkorps begegneten, der uns zur Fahrt nach Tschaussy riet, hatte die 29. motorisierte Division der Deutschen nach dem Durchbruch nördlich
Mogiljow mit ihren Vorausabteilungen Smolensk bereits erreicht, während ihre 10. Panzerdivision nach Südosten abgeschwenkt war und sich nun nicht nur im Rücken des Korpsstabes befand, sondern auch den in Tschaussy liegenden Stab unserer 13. Armee in einem weiten Bogen umgangen hatte.
Die südlich Mogiljow durchgebrochenen deutschen Truppenteile rückten gleichfalls weiter vor, und Einheiten der 3. Panzerdivision der Deutschen hatten die Straße MogiljowTschaussy bereits abgeschnitten.
Weder wir noch die Deutschen besaßen volle Klarheit über
die Lage in diesem Raum. Jedenfalls ist Mogiljow auf der Lagekarte des deutschen Generalstabs von der Abendlage am 13.
Juli bereits als von den Deutschen genommen eingezeichnet.
Das heißt, als wir beim Regiment Kutepows in Mogiljow eintrafen, war man im deutschen Hauptquartier bereits der Meinung, Mogiljow sei genommen. Auf unseren Telegraphenstreifen ist vom gleichen Tag – vom 13. Juli – der Wortlaut einer
vom Frontstab aufgenommenen Meldung erhalten geblieben:
„… Raum Mogiljow. Lage unklar, Delegierter noch nicht eingetroffen… Mogiljow in unserer Hand…“
Im erhalten gebliebenen operativen Bericht des Stabes der 13.
Armee vom 14. Juli heißt es: „Die Armee hat im Abschnitt
Schklow-Bychow hartnäckig weitergekämpft, um den Gegner
zu vernichten und die Lage am ostwärtigen Dneprufer wiederherzustellen. Das 61. Korps steht weiter im Kampf…“ Im Bericht der Heeresgruppe Mitte vom gleichen Tage heißt es, daß,
während die 29. Division um 10.00 Uhr das westliche Randgebiet von Smolensk erreicht habe, das XXXXV. Armeekorps
weiterkämpfte gegen den im Raum Mogiljow hartnäckig Widerstand leistenden Gegner.
Äußerst bezeichnend ist ein Satz aus dem gleichen Bericht:
Bei der russischen Armee sei bisher noch keine Zerrüttung des
Kampfgeistes zu beobachten.
Während sich mir das Gelände um Mogiljow, wo wir uns bei
Kutepows Regiment aufhielten, in allen Einzelheiten eingeprägt hatte und ich aus dem Gedächtnis genau rekonstruieren
konnte, wo sich was abgespielt hatte, kann ich das von
Tschaussy nicht sagen. Als ich vor kurzem in diese Gegend
kam, fand ich nicht heraus, aus welcher Richtung wir damals,
1941, nach Tschaussy hineingefahren waren. Aus der Richtung, aus der wir meiner Meinung nach damals gekommen
waren, hatte eine Brücke über den Fluß geführt, die jetzt nicht
da war, und aus der anderen Richtung, wo heutzutage eine
Brücke steht, wäre der Umweg zu groß gewesen! Obwohl es
durchaus möglich ist, daß es doch so war: Wir hatten, von Mogiljow kommend, von Dorf zu Dorf einen immer größeren Bogen beschrieben und waren schließlich aus der entgegengesetzten Richtung nach Tschaussy hineingefahren.
Aus Archivunterlagen geht hervor, daß die deutschen Panzer
am 15. um 17.00 Uhr überraschend bei Tschaussy und beim
Armeestab aufgetaucht waren. In den Dokumenten des Stabes
der Westfront befindet sich eine schriftliche Mitteilung von der
13. Armee: „An Zugängen nach Tschaussy Gefecht gegen Panzer entbrannt. 17.00 Uhr, 17. VII. d. J. Verbindung mit Korps
abgerissen. Petruschewski, Stabschef.“
Ungefähr zu dieser Zeit oder etwas früher war ich außer Atem
im Gefechtsstand der 13. Armee angekommen und hatte meine
Beobachtungen Generalleutnant Gerassimenko gemeldet, der
die Führung der Armee erst am Abend Zuvor übernommen
hatte. Die 13. Armee war in jenen Tagen überhaupt vom Pech
verfolgt: Am S.Juli war der Oberbefehlshaber der 13. Armee,
Generalleutnant Filatow, auf der Rückfahrt vom Frontstab von
„Messerschmitts“ beschossen und tödlich verwundet worden.
Generalleutnant Remesow hatte die Führung der Armee übernommen. Als er zu den Truppen nach vorn fuhr, war er auf
durchgebrochene Deutsche gestoßen und gleichfalls schwer
verwundet worden, worauf er am 14. Juli von Gerassimenko
abgelöst wurde. Auf dem Höhepunkt der deutschen Offensive
war er nun der dritte Oberbefehlshaber innerhalb einer Woche.
In aller Kürze möchte ich über das Schicksal einiger Teilnehmer der Ereignisse jener Tage bei Tschaussy berichten.
Generalleutnant Fjodor Nikitowitsch Remesow, der die 13.
Armee noch kommandierte, als wir auf dem Weg zu ihr waren,
war bereits verwundet, als wir dort eintrafen. Er ließ sich, ohne
seine schweren Verwundungen auszuheilen, aus dem Lazarett
entlassen und übernahm die Truppen des Nordkaukasischen
Militärbezirks. Mit seinem Namen verknüpft war eine der ersten Meldungen vom 28. November 1941, die die Überschrift
„In letzter Stunde“ trug. „Truppenteile der Rostower Front unter Führung von General Remesow haben den Don überschritten und sind in das südliche Randgebiet von Rostow eingedrungen.“ Das war die erste Nachricht von unserem ersten Ge-
genstoß bei Rostow.
Ein interessantes Zusammentreffen: Generalleutnant Wassili
Filippowitsch Gerassimenko, der damals im Juli 1941 den
verwundeten Remesow als Oberbefehlshaber der 13. Armee
ablöste, wird in den Berichten des Informationsbüros ebenfalls
im Zusammenhang mit der Befreiung Rostows durch unsere
Truppen genannt, allerdings erst 1943: „Heute, am 14. Februar,
haben unsere Truppen, nachdem sie den hartnäckigen Widerstand des Gegners gebrochen haben, die Stadt Rostow am Don
genommen. In den Kämpfen um Rostow haben sich die Truppen des Generalleutnants W. F. Gerassimenko ausgezeichnet.“
Das Mitglied des Kriegsrates der 13. Armee, Brigadekommissar Porfiri Sergejewitsch Furt, mit dem wir im Wald bei
Tschaussy zusammengetroffen waren, wechselte nach Abschaffung der Kommissardienstgrade in den Truppendienst
über und führte zuerst die 112. und später die 4. Schützendivision im Kampf.
Alexander Wassiljewitsch Petruschewski, im Juli 1941 Stabschef der 13. Armee, bekleidete auch noch im Juli 1943 diese
Dienststellung, als die 13. Armee bei der Zurückschlagung des
Vorstoßes der Deutschen im Nordabschnitt des Kursker Bogens, bei Ponyri und Maloarchangelsk, die Hauptrolle spielte.
Zu dieser Zeit stand die Armee unter dem Oberkommando von
Generaloberst Nikolai Pawlowitsch Puchow. Unter seiner Führung beendete sie den Krieg am 9. Mai 1945, als sie, den Panzerverbänden Rybalkos und Leljuschenkos unmittelbar folgend, nach Prag hineinstürmte.
Doch zurück zum Tagebuch.
… Um sechs Uhr morgens fuhren wir zusammen mit dem
Expedienten von der Druckerei zur Redaktion nach Kasnja.
Dort hatte man uns bereits abgeschrieben, hatte uns im Kessel
vermutet und war in großer Sorge. Und in Moskau, bei der
„Iswestija“, war, wie ich später erfuhr, jemand sogar auf die
Idee gekommen, meiner Mutter, die sich nach einer Nachricht
von mir erkundigte, zu sagen, sie möge sich auf das Schlimmste gefaßt machen.
Anstatt zwei bis drei Tage, wie ursprünglich geplant, waren
wir die dreifache Zeit weg gewesen, und eine solche Verzögerung konnte in jenen Zeiten alles mögliche bedeuten.
Kaum waren wir in Kasnja eingetroffen, setzte, oder richtiger,
legte ich mich sofort an die Arbeit, und gegen sechs Uhr
abends lieferte ich zwei Artikel ab – für die Frontzeitung und
für die „Iswestija“. Unser Kombi bedurfte nach dieser Fahrt
dringend einer Instandsetzung, so daß eine Moskaufahrt doppelt gerechtfertigt war – einmal, um meinen Wagen zu holen,
und zum anderen, um den Kombi innerhalb von vierundzwanzig Stunden instand setzen zu lassen. Troschkin wollte mitkommen, um in Moskau seine Aufnahmen selbst zu entwickeln
und zu kopieren.
Der Redakteur bestätigte seine Genehmigung und ließ die Papiere für uns ausschreiben. Troschkin und ich wollten noch am
gleichen Abend nach Moskau aufbrechen. Bis zum Anbruch
der Dunkelheit wollten wir auf der Minsker Chaussee sein, die
Nacht durchfahren, gegen Morgen in Moskau ankommen,
vierundzwanzig Stunden dort bleiben und uns am darauffolgenden Morgen auf die Rückfahrt nach Wjasma machen.
So brachen wir gegen Abend zu dritt auf – Troschkin, Borowkow und ich; unsere Kartentaschen waren vollgestopft mit
Briefen… Von Kasnja gelangten wir über lange Umleitungen
auf die Chaussee. Überall standen Regulierungsposten. Mehrmals wurden wir gestoppt, weil die Umgebung von Wjasma
und die Zufahrten zur Chaussee vermint wurden. Aus all dem
war zu schließen, daß man hier mit einer Annäherung der
Deutschen rechnete.
Als wir auf die Minsker Chaussee einbogen, wurde mir plötzlich bewußt, wie weit die Front herangerückt war, wie nahe wir
Moskau waren: nur eine einzige Nachtfahrt mit dem alten
Klapperkasten trennte uns von Moskau.
Die Minsker Chaussee, breit und schnurgerade, hatte in diesem einen Monat stark gelitten und war stellenweise ein einziges Schlagloch. Die Nacht war stockdunkel, der Mond schien
nicht. Borowkow, von der vorangegangenen Fahrt noch recht
mitgenommen, war tagsüber kaum zum Schlafen gekommen –
er hatte den Kombi für die Moskaufahrt notdürftig repariert.
Endlose Lkw-Kolonnen mit Munitionskisten kamen uns ohne
Licht entgegen, so daß sie erst zehn Schritt vor einem zu sehen
waren. Hin und wieder schien es, als müßten wir im nächsten
Augenblick mit einem dieser Lkws zusammenstoßen. Troschkin und ich beschlossen, uns die Fahrt über bei geöffnetem
Wagenschlag auf dem Kotflügel des Kombis abzuwechseln,
denn durch die Windschutzscheibe war so gut wie nichts zu
erkennen. Mit Mühe und Not hatte man Sicht auf zwanzig Meter.
Vor kurzem waren wir nachts mit Verdunkelungskappen über
den Scheinwerfern die Minsker Chaussee entlanggefahren und
hatten das für völlig normal gehalten. Jetzt aber herrschte auf
der Chaussee eine andere Atmosphäre, und auch wir selbst
hatten eine andere Einstellung zu diesen Dingen. Als wir vor
uns auf der Chaussee einen schwachen Lichtschein wahrnahmen und gleich darauf einen Wagen überholten, der mit Abblendlicht und Verdunkelungskappen über den Scheinwerfern
fuhr, hielten wir ihn an und zwangen die Männer im Wagen
mit gezogenen Pistolen, die Scheinwerfer aufzuschrauben und
die Glühlampen herauszunehmen. In dieser Situation, auf der
stockdunklen Straße, glaubten wir wirklich, jeder noch so kleine Lichtschein könne einen Bombenangriff auslösen. Das war
natürlich Unsinn, aber nicht weiter verwunderlich, hatte uns
doch in diesen Wochen die ständig über den Straßen lauernde
deutsche Luftwaffe so viel zugefügt.
So wechselten wir uns bis zur Dämmerung auf dem Kotflügel
des Kombis ab.
Ein paar Worte über Pawel Iwanowitsch Borowkow. Die
Fahrt nach Mogiljow war meine letzte Frontfahrt mit dem Fahrer unseres Kombis. Im Tagebuch bin ich ihm gegenüber wohl
nicht ganz gerecht gewesen. Da ich jung war, habe ich damals
seine schwachen Seiten überbewertet – eine gewisse Ängstlichkeit beim Fahren auf unbekannter Straße, besonders in
Richtung Feind, und mitunter eine übertrieben schnelle Reaktion, sobald Flugzeuge dröhnten. Im großen und ganzen war er
zweifellos umsichtiger und vorsichtiger als manch einer von
uns, was ich damals für eine schwere Sünde hielt. Im Tagebuch
steht jedoch nichts über einen anderen, viel wesentlicheren
Charakterzug unseres Fahrers. Bei Bombenangriffen und Beschuß wurde er leicht nervös, aber was den ihm anvertrauten
Wagen anging, kannte er nichts. Solange er am Lenkrad saß,
hatte uns der Wagen dorthin zu bringen, wo wir hinwollten.
Und obwohl der Wagen in den letzten Tagen wiederholt Pannen gehabt hatte, obwohl er hustete und prustete und der beinahe herausfallende Motor mit einem Keil aus Kiefernholz
abgestützt und der Benzinkanister aufs Dach gebunden werden
mußte, weil die Kraftstoffpumpe nicht mehr mitmachte, ließ
Borowkow auch nicht für einen Augenblick den Gedanken
aufkommen, man müsse den auf dem letzten Loch pfeifenden
Wagen stehenlassen und zu Fuß weitergehen. Er war ein großartiger Fahrer, der sich selbst und der ihm anvertrauten Technik
felsenfest vertraute, und wer weiß, vielleicht war gerade das
die Voraussetzung dafür gewesen, daß Troschkin letzten Endes
sagen konnte: „Na Jungs, nun wären wir wohl raus, oder?“
Ich habe Pawel Iwanowitsch Borowkow erst vor kurzem wiedergesehen, nunmehr ein älterer und kranker Mann – der Krieg
hatte ihm arg mitgespielt. Er kam auf den Tod von Pawel
Troschkin zu sprechen, der auf der Fahrt nach Mogiljow mit
dabei war. Troschkin fiel 1944 auf einer Fahrt nach Lwow
durch die Hand von Bandera-Leuten, die den Wagen überfielen. Er hatte nicht mehr durchschlüpfen können, weil der Motor streikte; Troschkin war ausgestiegen und hatte, sich neben
dem Wagen auf die Straße werfend, das Feuer mit der MPi
erwidert. Das hatte später einer berichtet, der mit dabeigewesen
und davongekommen war. Und als Borowkow vom Tode
Troschkins sprach, förmlich nach etwas suchend, was Troschkin hätte das Leben retten können, hörte ich seine Gedanken
heraus: „Mit mir als Fahrer wäre das nicht passiert…“
Die Dienstreisepapiere besitze ich heute nicht mehr, die mir
damals, im Juli, der Regimentskommissar Mironow für die
Fahrt nach Moskau ausgefolgt hatte. Aber in dem alten Notizbuch mit den Aufzeichnungen aus Mogiljow steht mein handschriftlicher Entwurf dafür: „Genosse K. M. Simonow und
Genosse P. A. Troschkin befinden sich in Ausführung eines
dringenden Auftrags der Redaktion der ,Krasnoarmejskaja
Prawda’ auf einer Dienstreise nach Moskau. Dauer der Dienstreise vom 18. bis 20. Juli 1941.“ Und auch der Entwurf eines
anderen Papiers: „Die Redaktion der Frontzeitung ,Krasnoarmejskaja Prawda’ beauftragt Genossen K.M. Simonow mit
der Überführung des Kraftfahrzeugs Nr…. von Moskau zur
Redaktion der ,Krasnoarmejskaja Prawda’.“
Im gleichen Notizbuch finden sich auf der letzten Seite bruchstückhafte Notizen, die von der Unmenge an Aufträgen zeugen,
die ich in Moskau erledigen sollte:
„Alles in Ordnung. Versuchen, Nina zu erreichen, soll mir
übermitteln, wie und was.“
„Aljoscha war krank, ist jetzt wieder wohlauf.“
„Vorläufig keine Post mehr. Wird zu einer anderen Zeitung
versetzt.“
„Brief abgeben, Adresse soll an Familie weitergegeben werden. Falls Verbindung zur Frau besteht, ihr mehr Geld schikken.“
„Fahren nach Kaluga, wohin dann, weiß ich nicht.“
„Mark lebt. Alles in Ordnung.“
„Erzählen, was passiert ist, sollen Briefe mitgeben.“
„In allen Abteilungen fragen, ob Post da ist.“ Für A. – Papirossy. Für B. – Tabak. Für C. – dito.
Für D. – Briefumschläge und Marken. Für E. – Vollmacht beglaubigen lassen. Im Parteikomitee ausrichten, daß…
Das Notizbuch enthält Familiennamen, Vor- und Vatersnamen, Anschriften, Telefonnummern – Dutzende von Telefonnummern. Es mag merkwürdig scheinen, daß ich mich plötzlich entschloß, an diese Eintragungen zu erinnern, aber schließlich ist auch in ihnen ein Stückchen jener Zeit enthalten.
Schließlich fuhr ich als erster von allen meinen Genossen nach
Moskau. Briefe erreichten die Front noch nicht. Die Feldpost
funktionierte noch nicht richtig, und wir waren es auch noch
nicht gewohnt, uns ihrer zu bedienen.
Surkow hatte mir und Troschkin aufgetragen, auf unserer
Moskaufahrt kurz in Wnukowo Station zu machen, den dort
auf einer Datsche wohnenden Schwiegereltern einen Brief zu
überbringen und auszurichten, wir hätten ihn gesund und lebendig gesehen. So eilig wir es auch hatten, nach Moskau zu
kommen, fuhren wir doch in Wnukowo vorbei. Es war früh am
Morgen. Eine friedliche Datsche im Wald. Die alten Leutchen
stellten eine Schüssel mit großen Gartenerdbeeren vor uns auf
den Tisch und baten uns, auf dem Rückweg vorbeizukommen
und für den Schwiegersohn ein Körbchen voll Erdbeeren mit
nach Kasnja zu nehmen. Wir hielten uns fünf Minuten bei ihnen auf und fuhren dann weiter nach Moskau. Es war noch
früh, und Moskau wirkte verlassen. Troschkin und ich fuhren
geradewegs zur Redaktion der „Iswestija“. Ich lieferte dort
einen Artikel ab, versprach, noch einen zweiten vorbeizubringen, und Troschkin ging seine Filme entwickeln. Sicherlich
waren wir zwei die ersten von der Westfront nach Moskau zurückkehrenden Journalisten.
In den vierundzwanzig Stunden unseres Aufenthalts in Moskau standen wir vor einer schwierigen Aufgabe – Dutzende
Fragen zu beantworten, auf die wir manchmal keine Antwort
wußten, oder wenn wir sie wußten, nicht das Recht hatten, sie
auszusprechen, weil man sich hier keine Vorstellung von den
Ereignissen an der Front machen konnte. Nicht die entfernteste
Vorstellung. So wurden wir gefragt, ob Minsk gefallen sei, ob
Borissow gefallen sei, ob es wahr sei, daß die Deutschen Smolensk im ersten Ansturm genommen, an einigen Stellen den
Dnepr überschritten hätten und weiter vordrängten. Wir aber
hatten kurz vor Moskau einander fest versprochen, unsere
Zunge im Zaum zu halten und kein Wort zuviel zu sagen, und
wir haben, wie ich glaube, unser Wort gehalten.
Nachdem ich in der Redaktion die ersten überstürzten Fragen
beantwortet und mich zwanzig Minuten dort aufgehalten hatte,
suchte ich die Menschen auf, die mir am nächsten standen.
Es war ein verrückter Tag. Ich beantwortete unzählige Fragen,
schrieb den zweiten Artikel für die „Iswestija“, in der Redaktion schrieb ich noch ein paar Zusätze, war bei meinen Eltern
und kümmerte mich um die Reparatur des Kombis. Bei der
„Iswestija“ schlug man mir vor, ich sollte ihnen meinen Ford
überlassen und sie würden mir dafür zusätzlich zu dem Kombi
einen redaktionseigenen „Emka“ zur Verfügung stellen. Der
Wagen sollte am anderen Morgen bereitstehen und mit Tarn-
farbe gespritzt sein. Außerdem wurde beschlossen, die Mitte
des Wagendachs herauszuschneiden und dort an Flügelmuttern
ein aufrollbares Verdeck anzubringen. Auf Grund unserer bisherigen Erfahrungen hatten wir uns dazu entschlossen, um beweglicher zu sein, um uns nicht immer vorzukommen wie in
einer Mausefalle und nicht jedesmal beim Näherkommen von
Flugzeugen aussteigen zu müssen, sondern einfach das Verdeck zurückzurollen und den Luftraum während der Fahrt beobachten zu können.
Ich hörte, Ortenberg wäre als Redakteur der „Krasnaja Swesda“ eingesetzt worden. Am Abend vor meiner Abfahrt an die
Front war ich ihm im Korridor der Politverwaltung, wo ich
meine Marschpapiere abholen wollte, begegnet und hatte ihn
gebeten, falls er zu einer Soldatenzeitung versetzt werden sollte, mich mitzunehmen. Ich hatte ihn vom Chalchyn gol her, wo
er unsere „Geroitscheskaja Krasnoarmejskaja“ redigierte, noch
in guter Erinnerung und hätte auch in diesem Krieg gern mit
ihm zusammengearbeitet.
Am Abend suchte ich ihn in der „Krasnaja Swesda“ auf. Als
ich eintrat, erhob er sich vom Tisch und sagte, als hätte er mich
erwartet: „Ah, Simonow! Du hast meine Telegramme bekommen?“ Ich fragte, was für Telegramme.
„Ich habe zwei Telegramme für dich an die Redaktion der
,Bojewoje Snamja’ geschickt.“ Ich sagte ihm, ich sei zwar ursprünglich für diese Armeezeitung vorgesehen gewesen, wüßte
aber nichts von ihrem Aufenthaltsort, und Telegramme von
ihm hätte ich nicht bekommen. „Wieso bist du dann von der
Front zurückgekommen?“ Ich klärte ihn darüber auf.
„Ich wollte gerade im Namen von Mechlis ein drittes Telegramm abschicken. Du wirst jetzt bei uns in der ,Swesda’ arbeiten.“ Ich sagte ihm – und das war meine ehrliche Meinung –
, daß ich mich riesig freuen würde, mit ihm zusammenarbeiten
zu können, doch arbeitete ich bereits bei einer Frontzeitung und
für die „Iswestija“.
„Kein Problem“, sagte er. „Von der Frontzeitung versetzen
wir dich durch Befehl hierher zu uns, und mit der ,Iswestija’…
Ich ruf dich in der Nacht noch an. Gib mir deine Telephonnummer.“ Ich gab ihm die Telephonnummer nicht, sondern
sagte, am besten würde ich ihn am Morgen selbst anrufen.
Von starken Zweifeln geplagt, verließ ich ihn. Die Sache mit
der „Iswestija“ war eingerührt, ich hatte von denen einen ständigen Korrespondentenausweis für die Westfront bekommen,
und es war mir gar nicht angenehm, die dort aufsitzen zu lassen…
Ich konnte mich an jenem Abend und auch in der Nacht nicht
entschließen, meinen Nächsten die ganze Wahrheit über meine
Erlebnisse an der Front zu erzählen.
Erst spät in der Nacht schlief ich ein und wurde, wie mir
schien, schon nach ein paar Minuten wieder geweckt. Das Telephon klingelte. Wie sich zeigte, war es nicht mehr Nacht,
sondern halb sieben Uhr morgens.
„Hier spricht der stellvertretende Redakteur der ,Krasnaja
Swesda’, Regimentskommissar Schifrin. Ich lese Ihnen einen
Befehl des Stellvertreters des Volkskommissars vor: ,Der Intendant 2. Ranges, Schriftsteller K.M. Simonow, wird mit Wirkung vom 20. VII. 1941 zum Sonderkorrespondenten der Zeitung »Krasnaja Swesda« ernannt.’ Des weiteren“, fuhr Schifrin
fort, „befiehlt Ihnen Brigadekommissar Ortenberg, zu schlafen,
heute nirgendwohin zu fahren und sich morgen, Montag, um
elf Uhr in der Redaktion zu melden.“ Ich kam gar nicht dazu,
etwas zu äußern, kam nicht einmal dazu, verwundert zu fragen,
wie man mich hier gefunden habe, der Hörer am anderen Ende
war schon wieder aufgelegt.
Ich zog mich an, stieg in die Straßenbahn und fuhr in die
„Krasnaja Swesda“. Hier erfuhr ich, daß Ortenberg noch bei
Mechlis war. Also hatte er von dort, von der Politverwaltung
aus, mich ausfindig machen lassen. Bald darauf kam er und
sagte, die ersten zwei Wochen würde ich hier in Moskau, in der
Redaktion, gebraucht, später aber würde ich auch an die Front
fahren. Vergebens machte ich ihm klar, daß ich unmöglich jetzt
gleich in Moskau bleiben könne, ungeachtet dessen, daß ich
sehr gern bei der „Krasnaja Swesda“ arbeiten würde. „Kein
Problem“, sagte er, „du bist jetzt unser Mitarbeiter. Mit denen
von der ,Iswestija’ bringen wir das noch in Ordnung, mit der
,Krasnoarmejskaja Prawda’ ist das bereits geschehen. Ich habe
der Politverwaltung der Front telegraphisch mitgeteilt, daß du
jetzt bei uns und nicht mehr bei ihnen arbeitest.“
Im Grunde meines Herzens freute ich mich über den Wechsel
zur „Krasnaja Swesda“, hatte aber trotzdem das Gefühl, ich
könne jetzt nicht in Moskau bleiben, sondern müsse heute noch
wie versprochen nach Wjasma zurückkehren. Da ich Ortenbergs Charakter kannte, spielte ich meinen einzigen Trumpf
aus, sagte ihm einfach, man werde mich für einen Feigling halten, wenn ich nicht noch heute an die Front zurückkehre. Nach
kurzem Überlegen sagte er: „In Ordnung, fahre. Und damit du
mit den Iswestija-Leuten keine Scherereien kriegst, kannst du
es auf dieser Fahrt so halten: für mich schreibst du Gedichte
und für die Prosa. Dauer der Dienstreise eine Woche, dann
kommst du ganz zu uns, da spielt sich nichts ab!“ Ich mußte
mich beugen. Die Marschpapiere wurden unverzüglich ausgefertigt.
Da mir auf dieser Fahrt das Recht eingeräumt war, für die
„Iswestija“ zu schreiben, ging ich den Weg des geringsten Widerstandes und sagte ihnen noch nichts, ich wollte dieses für
mich unangenehme Gespräch bis zu meiner Rückkehr aufschieben.
Der Wagen war fertig. Die Zeitung brachte von mir einen
ganzen „Keller“ über Kutepows Regiment unter der Überschrift „Ein heißer Tag“ und über eine ganze Spalte Troschkins
Großaufnahmen von den abgeschossenen Panzern. Das war das
erste Material dieser Art, und ich empfand die Befriedigung
eines beginnenden Journalisten, als ich sah, wie sich die Menschen an den Schaukästen mit den ausgehängten Zeitungen
drängten…
An dieser Stelle möchte ich abermals meine Tagebuchaufzeichnungen unterbrechen.
Meinem Tagebuch nach waren Troschkin und ich am 19. Juli
in Moskau eingetroffen und am 20. zurück nach Wjasma gefahren. Da ich auf Dokumenten möglichst immer das Datum
angebe, sehe ich jetzt, daß unsere Ankunft in Moskau und die
Rückkehr nach Wjasma haargenau mit dem Entwurf des
Marschbefehls übereinstimmt, den ich in meinem Notizbuch
fand: „Vom 18. bis 20. Juli“. Wir hatten einen halben Tag eingespart und waren mit diesem Marschbefehl in der Tasche in
der Nacht vom 17. zum 18. in Wjasma losgefahren. Am 18.
morgens waren wir in Moskau, verbrachten dort zwei Tage und
kehrten am 20. nach Wjasma zurück.
Im Tagebuch verwandelten sich diese beiden in Moskau verbrachten Tage in einen Tag. Alles war so turbulent, daß mir die
beiden Tage offenbar schon ein halbes Jahr später wie ein Tag
vorkamen. Offensichtlich war ich zu Ortenberg in die „Krasnaja Swesda“ nicht am Abend meines Ankunftstages in Moskau
gegangen, sondern erst am nächsten Tag, als meine ersten beiden Berichte und Troschkins erste Photos bereits in der „Iswestija“ erschienen waren. Wahrscheinlich hatte dies auch den
Redakteur der „Krasnaja Swesda“ in seinem Entschluß bestärkt, mich zu sich zu holen.
Meinen dritten Bericht „Ein heißer Tag“ schrieb ich dann
schon am 19. in Moskau, und er erschien in der „Iswestija“ am
20. am Tag unserer Rückkehr an die Front. Unter den ersten
beiden Beiträgen stand: „Kämpfende Armee, 18. Juli“, unter
dem dritten stand: „Kämpfende Armee, 19. Juli“, obwohl sich
die in diesen Artikeln beschriebenen Ereignisse, wie aus dem
Tagebuch ersichtlich, in Wahrheit am 13. und 14. Juli abgespielt hatten. Damals aber war diese möglichst nahe an den Tag
der Veröffentlichung herangerückte Datierung allgemein üblich. Ich habe das nachgeprüft, als ich die Ausgaben aller zentralen Zeitungen vom 19. Juli 1941 durchblätterte. Unter buchstäblich allen Berichten von der kämpfenden Armee steht das
Datum 18. Juli.
Die Situation der Redaktion in diesen Tagen ist durchaus verständlich; Material traf nur spärlich ein, seine Heranschaffung
war mühevoll und erfolgte oft sogar unter Einsatz des Lebens,
und der Charakter des Materials mit dem Vermerk „Kämpfende Armee“ war in der Regel so, daß eine Verschiebung der
Daten keine große Rolle spielte. Die Frontkorrespondenzen
enthielten keine Versuche, den allgemeinen Gang der Ereignisse zu entstellen, und die Berichte über einzelne Gefechte wiesen keine konkreten geographischen Angaben auf. Im Gegenteil, um das militärische Geheimnis zu wahren, wurden bei der
Veröffentlichung nähere Ortsbestimmungen und Gefechtsbedingungen weggelassen.
In meiner Korrespondenz „Ein heißer Tag“ beispielsweise
hieß es, „das von Oberst Kutepow geführte Regiment verteidigt
schon seit Tagen die Stadt D.“. Wenn ich diesen Artikel heute
überlese, fällt mir auf, daß er auch nicht den geringsten Hinweis auf die Kämpfe um Mogiljow enthält.
Auch der am gleichen Tag von der „Krasnaja Swesda“ gebrachte „Brief von der Front“, den die Korrespondenten dieses
Blattes, die Schriftsteller Boris Lapin und Sachar Chazrewin,
unter der Überschrift „Im Abschnitt N.“ geschickt hatten, enthielt auch nicht die kleinste Andeutung, daß es sich hier um
einen unserer Gegenangriffe an den Kiewer Zugangsstraßen
handelte.
Aus den von unseren Zeitungen am 19. Juli mit dem Vermerk
„Kämpfende Armee“ veröffentlichten Korrespondenzen ging
hervor, daß wir uns an allen Fronten verteidigten, daß die Verteidigung hartnäckig war und von Gegenangriffen begleitet.
Das in jener schweren Zeit natürliche Bestreben eines jeden
von uns, ja keinen Versuch eines Gegenstoßes unerwähnt zu
lassen, rief bei den Lesern, wenn unser Material gleichzeitig
auf den Zeitungsseiten veröffentlicht wurde, den Eindruck einer viel größeren Anzahl von uns vorgetragener Gegenstöße
hervor, als es der Wirklichkeit entsprach. Trotzdem enthielten
diese Korrespondenzen die objektive Wahrheit, daß die Aktivität unserer Verteidigung entgegen den Erwartungen der Deutschen nicht abnahm, sondern stärker wurde.
Zu Schlußfolgerungen, die von der Realität am weitesten entfernt waren, konnten in jenen Tagen die Zeitungsleser durch
das Material gelangen, das sich mit unseren Luftstreitkräften
beschäftigte. Von allen Waffengattungen befanden sich unsere
Fliegerkräfte zu Kriegsbeginn in der schwierigsten Situation,
und ich hätte das, was ich im Luftraum über der Bobruisker
Chaussee gesehen hatte, in Moskau nicht einmal meinen besten
Freunden, ja nicht einmal meiner Mutter erzählen können, weil
ich mir bewußt war, welch tiefe seelische Erschütterung das bei
ihnen bewirkt hätte, da sie immer noch in den Vorkriegsvorstellungen lebten.
Um Troschkins und meine Lage verständlich zu machen, in
der wir als Frontkorrespondenten nach Moskau kamen und
Hunderte von Fragen zu beantworten hatten, möchte ich einige
Dokumente aus jener Zeit miteinander vergleichen.
In einer am 19. Juli veröffentlichten Meldung des Informationsbüros war unter anderem von anhaltenden Verteidigungskämpfen in den Abschnitten Smolensk und Bobruisk die Rede.
Allgemein gesehen entsprach das der Wahrheit, insbesondere,
was Smolensk angeht. Unsere Truppen versuchten gerade in
jener Zeit, die Stadt den Deutschen wieder zu entreißen.
In den Vorstellungen jener aber, die uns in Moskau immer
wieder fragten, entsprach das alles nicht ganz der Wirklichkeit.
Ich konnte ihnen ja nicht sagen, daß wir erst vor zwei Tagen
nicht nach Smolensk hineinkonnten, weil die Deutschen bereits
in der Stadt waren, und noch weniger durfte ich sie wissen lassen, daß die Deutschen schon vor zwanzig Tagen die Beresina
bei Bobruisk überschritten hatten.
Im „Kriegstagebuch der Westfront“ heißt es unter dem 19. Juli, daß die 172. Division, über deren Kampfhandlungen ich an
diesem Tag in Moskau meine Reportage schrieb, Mogiljow
und „einen Brückenkopf westlich Mogiljow hält… und dabei
im Kessel kämpft“. Oberst Kutepow kämpfte dort weiter, wo
ich ihn fünf Tage zuvor aufgesucht hatte. Aber ich hatte nicht
das Recht, meinen Verwandten und Bekannten zu sagen, daß
die Deutschen den Oberlauf des Dnepr überschritten hatten,
worüber die Zeitungen noch nichts verlautet hatten, noch durfte
ich von den deutschen Panzern sprechen, die in Tschaussy,
fünfzig Kilometer östlich von Mogiljow, bis zum Stab unserer
Armee durchgebrochen waren.
Fast alles, dessen wir Zeuge geworden waren, galt am 19. Juli
jedenfalls noch als militärisches Geheimnis, und ich will mir
nicht anmaßen, jetzt darüber zu rechten, wo damals in jedem
einzelnen Fall die Grenze lag zwischen wahrheitsgetreuer und
hinausgezögerter Bekanntgabe, zwischen dem, was wirklich
ein Geheimnis war, und dem, was nicht mehr geheimgehalten
zu werden brauchte. Nimmt man Smolensk als Beispiel, ist
angesichts jener kriegsgeschichtlichen Analogien, die mit Smolensk als dem Schlüssel zu Moskau zusammenhängen, im
nachhinein begreiflich, daß man eine Meldung über den Verlust dieser Stadt nicht in die Welt hinausposaunen wollte zu
einer Zeit, da wir immer noch hofften, sie zurückzuerobern.
Und dieser Hoffnung gab man sich im Hauptquartier wie auch
bei der Westfront immer noch hin. Wie Dokumente beweisen,
hatten Truppenteile der 16. Armee, deren Oberbefehlshaber
damals General M.F. Lukin war, gerade in diesen Tagen die
Deutschen aus dem Nordteil der Stadt zurückgedrängt und die
Außenbezirke von Smolensk erst am 28. Juli endgültig aufgegeben. Die Nachricht vom Verlust der Stadt Smolensk wurde
erst am 13. August in einer Meldung des Informationsbüros
publiziert. Dabei ist aber zu bedenken, daß fast in der ganzen
nachfolgenden Periode im Raum Smolensk erbitterte Gefechte
stattfanden, deren Ende auch von den deutschen Militärhistorikern erst mit dem 5.-8. August datiert wird. Nicht nur wir, sondern auch die Deutschen bezeichnen diese Periode als die Smolensker Schlacht, wobei sie deren große Bedeutung für den
Verlauf des ganzen Sommerfeldzuges von 1941 betonen. Das
„Kriegstagebuch der Westfront“ vermittelt am 19. Juli ein von
realen Widersprüchen erfülltes Bild, wie es an diesem Tag um
die einige Tage zuvor begonnene Smolensker Schlacht stand.
In den Aufzeichnungen sehen wir unter diesem Datum sowohl
das Maß unserer Mißerfolge als auch das Maß unserer hartnäkkigen und wütenden Bemühungen, die Deutschen zum Stehen
zu bringen und zurückzuwerfen – kurzum, all das, was Stalin
einen Tag zuvor, am 18. Juli, in seiner ersten persönlichen Botschaft an Churchill schrieb, er müsse ihm mitteilen, daß die
Lage der sowjetischen Truppen an der Front auch weiterhin
angespannt bleibe.
Aus Platzgründen möchte ich in diesem Fall von einer Zitie-
rung des Kriegstagebuches absehen und versuchen, einen
Überblick über die darin unter dem 19. Juli enthaltenen kennzeichnendsten Daten zu vermitteln.
Im Kriegstagebuch heißt es, daß die Deutschen im Raum Newel und Welikije Luki kämpfen, um die an der rechten Flanke
stehenden Truppenteile unserer 22. Armee einzuschließen, und
daß die 22. Armee, die sich an ihrer rechten Flanke erfolgreich
verteidigt, im Zentrum und an der linken Flanke bereits im
Kessel kämpft und in Richtung Newel auszubrechen versucht.
Vom 51. Schützenkorps dieser Armee heißt es, daß es in der
Einschließung gegen überlegene Kräfte des Gegners kämpft.
Von der 19. Armee heißt es, daß im Laufe des Tages einzelne
ihrer Teile im Raum Smolensk weiterkämpfen und daß gleichzeitig das Sammeln versprengter Soldaten und Einheiten der
Armee im Raum Dorogobush und Wjasma fortgesetzt wird.
Von der 20. Armee heißt es, daß sie umgruppiert worden ist
und daß sie ihre Truppenteile auf eine neue Verteidigungslinie
zurückgezogen hat.
Über das 5. mechanisierte Korps, das zur 20. Armee gehörte,
wird gesagt, daß es zurückgegangen ist und am nördlichen
Dneprufer zusammengezogen wurde.
Von der 13. und der 4. Armee heißt es, daß sie im Abschnitt
Mogiljow in der Einschließung als einzelne Nester weiterkämpfen und an verschiedenen Abschnitten bemüht sind, die
Lage wiederherzustellen. Vom 45. Schützenkorps der 13. Armee heißt es, daß die intakt gebliebene Führung dieses Korps
und die Begleitkompanie des Stabes zum Sammeln und Neuaufstellen der von Westen zurückweichenden Truppenteile
eingesetzt werden.
Das sind die zusammengefaßten Meldungen von verschiedenen Abschnitten der Westfront, die von Durchbrüchen und
Ausbrüchen aus Kesseln, von Ermittlung, Sammlung und Neu-
aufteilung von Truppenteilen und anderen betrüblichen Dingen
berichten. Das Kriegstagebuch für den 19. Juli enthält aber
auch andersgeartete Berichte.
Die Reste der 179. Schützendivision haben westlich Welikije
Luki fünfzehn deutsche Panzer abgeschossen.
Die 3. und 4. Panzerdivision unter Guderian, die im Abschnitt
Mogiljow operierten, mußten infolge des Widerstandes unserer
Truppen ihren Vormarsch einstellen.
Die deutsche 7. Panzerdivision ist nach schweren in den
Kämpfen bei Jarzewo erlittenen Verlusten zur Verteidigung
übergegangen. Die deutsche 18. Panzerdivision hat ihren Vormarsch eingestellt, als sie im Raum Jelnja auf einen Panzerabwehrraum stieß. Die 129. Division der 16. Armee hat im Laufe
der Nacht um Smolensk gekämpft und gegen 8.00 Uhr morgens den Nordwestteil der Stadt und den Flugplatz besetzt.
Ein Angriff des Gegners im Raum Kritschew wurde zurückgeschlagen.
Ein Gegenangriff der Deutschen im Raum Rogatschow und
Shlobin wurde zurückgeschlagen.
Die 21. Armee rückte, wenn auch langsam, auf Bobruisk vor.
Die 144. Schützendivision der 20. Armee hat nach Kampf
Rudnja besetzt, mußte jedoch unter dem Druck des Gegners in
die Ausgangsstellung zurückgehen.
Eine Gruppe unter dem Kommando von Generalmajor Rokossowski hat nach Artillerievorbereitung die Deutschen angegriffen, die einen starken Panzerabwehrraum nordwestlich Jarzewo
besetzt hatten. Das 4. Luftlandekorps griff an, um die Lage am
Fluß Sosh zu bereinigen.
So finden sich in dem gleichen Kriegstagebuch unter dem
gleichen Datum Berichte, die von unseren und deutschen Angriffen und Gegenangriffen sprechen, hauptsächlich aber von
der Hartnäckigkeit, mit der wir im Bereich der Westfront nach
dem blitzartigen Durchbruch der Deutschen auf Smolensk
kämpften.
Unsere operativen Dokumente haben sogar trotz der Ungenauigkeiten – verursacht durch Unklarheiten über die Lage und
Störungen der Nachrichtenverbindung – im großen und ganzen
ein Bild der wahren Lage an der Front gezeichnet.
Und gerade diese dramatische, aber ehrliche Berichterstattung
nötigt heute, viele Jahre später, Hochachtung ab vor der Tapferkeit unserer Armee und ihren beharrlichen Anstrengungen,
die Deutschen zum Stehen zu bringen.
Die Anerkennung dieser Standhaftigkeit und der Größe dieser
Anstrengungen ist jedenfalls auch in vielen der nach dem.
Krieg geschriebenen Arbeiten unserer Gegner enthalten. Auf
die ersten Meinungsverschiedenheiten in der höheren Wehrmachtführung zu sprechen kommend, schreibt Tippelskirch:
„Die vorgetriebenen Panzerkeile wirkten sich nicht so entscheidend aus, wie man nach den Erfahrungen früherer Feldzüge angenommen hatte. Die Russen hielten mit unerwarteter
Härte und Zähigkeit, selbst wenn sie umgangen und eingeschlossen waren, gewannen durch dieses Verfahren Zeit und
führten zu Gegenangriffen aus der Tiefe des Raumes neue
Kräfte heran, die obendrein weit stärker waren, als man es ihnen zugetraut hatte.“ Darin und auch in anderen Nachkriegsbekenntnissen deutscher Generale spielt natürlich auch ein solcher psychologischer Faktor eine Rolle wie die spätere Zerschlagung der deutschen Wehrmacht an der gleichen Front. Die
Wehrmachtgenerale, die bei Kriegsbeginn allen Anlaß hatten,
ihre Armee für die stärkste Armee der Welt zu halten, die dann
später doch von uns zerschmettert wurde, befänden sich in einer fatalen Lage, würden sie nicht in dieser oder jener Form die
Stärke ihres künftigen Besiegers sogar in der Zeit seiner ersten
Niederlagen anerkennen.
Diese Wertungen sind jedoch nicht nur mit dem psychologischen Faktor zu erklären, der sich nach der Niederlage der
deutschen Wehrmacht einstellte. Die ersten dieser Wertungen,
die den Stempel der objektiven Wahrheit tragen, beziehen sich
schon auf den Juli 1941. Wenn noch am 8. Juli Brauchitsch
und Halder Hitler meldeten, daß von 164 bekannten russischen
Schützendivisionen 89 vernichtet und nur 46 kampffähig seien,
erklärte Hitler bereits am 23. Juli gegenüber Brauchitsch: „Bei
hartnäckiger Verteidigung und rücksichtslosem Einsatz von
Menschen durch die russische Führung muß ein Operieren mit
weitgesteckten Zielen zurücktreten, solange der Gegner noch
über Reserven zum Gegenangriff verfügt.“
Zwischen diesen beiden Zitaten, von denen das eine mit dem
8. das andere mit dem 23. Juli datiert ist, liegt eben die erste
Etappe der erbitterten Smolensker Schlacht, deren Verlauf und
Ergebnisse die ersten Meinungsverschiedenheiten im deutschen Oberkommando hervorriefen.
Liest man nach, was an diesem von mir zur näheren Betrachtung herangezogenen 19. Juli 1941 amerikanische und britische
Zeitungen über die Schlachten an der sowjetisch-deutschen
Front schrieben, dann sieht man, daß die seriösesten von ihnen
die Ereignisse ziemlich objektiv beurteilten.
Die „New York Times“ vom 19. Juli 1941 erschien mit einer
Schlagzeile, die die halbe erste Seite einnahm: „Die Russen
gestehen ein, daß ihre Streitkräfte bei Smolensk zurückgegangen sind, aber sie tragen Gegenangriffe vor.“ In der gleichen
Nummer schrieb die „New York Times“ in einer Meldung ihres Berliner Korrespondenten (den zeitlichen Ablauf der Ereignisse bringt man zuweilen unwillkürlich durcheinander und
vergißt, daß sich Amerika zu der Zeit, im Juli 1941, noch nicht
im Kriegszustand mit Deutschland befand), daß sich „angesichts der erdrückenden Überlegenheit der zur Sicherung der
Einnahme von Smolensk vorgezogenen deutschen Reserven
die russischen Truppen im nördlichen Teil des Dreiecks Witebsk-Smolensk-Orscha unter Nachhutgefechten geordnet zurückziehen…“, und setzte hinzu, daß die „in Richtung Leningrad vorrückenden deutschen Kolonnen zum Stehen gebracht
wurden“.
Die Londoner „Times“ erschien am 19. Juli mit der Schlagzeile: „Die Deutschen behaupten, Smolensk genommen zu haben.“ Im Wortlaut der Meldung wurde betont, daß „die deutschen Kräfte in den Hauptrichtungen auf Leningrad und Moskau nicht weiter vorgerückt sind als bis Pskow und Smolensk,
von wo schwere Kämpfe gemeldet werden… In einer gestern
verbreiteten Sondermeldung des deutschen Oberkommandos
wird behauptet, Smolensk sei am Freitag genommen worden
und die russischen Versuche, die Stadt zurückzuerobern, seien
erfolglos geblieben.“
Der Militärkorrespondent der „Times“ schrieb von einem
„sich verringernden Tempo des deutschen Vormarsches“ und
betonte gleichzeitig, daß „auf russischer Seite kein Mangel an
Selbstvertrauen zu bemerken ist“.
Der gleiche Gedanke zog sich auch durch den Leitartikel der
„Times“. Darin hieß es, daß „die russischen Armeen allerorts
Widerstand leisten“ und daß in Rußland „keinerlei Anzeichen
auf einen Zusammenbruch an der militärischen oder politischen Front hindeuten, womit Hitler offenbar gerechnet hat“.
Aber nun zu den Gefühlen, die ich heute empfinde beim Lesen des Materials über die Arbeit unseres Hinterlandes, das am
gleichen Tag, am 19. Juli, in unseren Zeitungen erschien.
Der Ton dieses Materials ist im allgemeinen sachlich und fest,
man spürt das Wissen um die Schwere der an der Front entstandenen Lage heraus.
Der „Iswestija“-Leitartikel „Die Kampfaufgaben der Hütten-
werker, Erdölarbeiter und Bergleute“ beginnt mit einem Zitat
Lenins: „Im Krieg siegt derjenige, der die meisten Reserven,
die meisten Kraftquellen, den größten Rückhalt in den Volksmassen hat.“ In der gleichen Nummer erscheint eine Meldung
aus Krasnojarsk: Die Frauen erlernen einen zweiten Beruf.
Die „Prawda“ schreibt, daß die Frauen der Hüttenwerker den
schweren, gar nicht weiblichen Beruf ihrer Männer erlernen,
eine zweite Meldung berichtet von Arbeitern, die die Werkhalle sechsunddreißig Stunden nicht verlassen, um einen dringenden Auftrag auszuführen, und eine dritte schließlich berichtet
von den ersten Schülergruppen, die Traktor fahren lernen, um
an Stelle der an die Front gegangenen Traktoristen auf den Feldern zu arbeiten. Aus Tbilissi wird berichtet, daß Frauen von
Kommandeuren eine Arbeit in der Produktion aufgenommen
haben. Eine Meldung aus Swerdlowsk trägt die Überschrift:
„Mit jedem Körnchen Metall haushalten“ und eine Notiz aus
Charkow: „Den Rohstoff maximal nutzen.“
Einige Zeitungen bringen Artikel über die Verwertung örtlicher Ressourcen und über die Arbeit der lokalen Industrie. Diese Artikel zeugen ebenso wie ein Beitrag über die Getreideernte in der Ukraine von dem Bemühen, mit allen uns verbliebenen Mitteln das zu ersetzen, was wir durch den Vormarsch der
Deutschen verloren hatten. Beim Lesen der Artikel fielen mir
unwillkürlich die Zeilen des Liedes ein, das, kaum bekannt
geworden, in unserem Bewußtsein sozusagen zur zweiten
Hymne der Kriegszeit wurde: „Steh auf, mein Land, unendliches, zum Kampf um Gut und Blut…“
Und so war es wirklich: Das ganze riesige Land, das sich allmählich der über ihm schwebenden Gefahr bewußt wurde, erhob sich zu diesem Ringen auf Leben und Tod.
Und ungeachtet der für uns heute mitunter nicht akzeptablen
Schattierungen in der Phraseologie jener Jahre, die zurückzu-
führen waren auf den Personenkult oder, genauer gesagt, auf
den Unfehlbarkeitskult um diese Person, erklang von den Zeitungsseiten die Erhabenheit jener Zeit, deren ganze Größe man
vielleicht erst heute richtig empfindet.
Diese Erhabenheit sprach auch aus den aus dem Ausland eingetroffenen Telegrammen, die von unseren Zeitungen nur an
einem Tag, am 19. Juli, veröffentlicht wurden.
„Im Namen des Allgemeinen Arbeiterverbandes. Nehmt den
Gruß des spanischen Proletariats entgegen. Eure Sache ist auch
unsere Sache. Es lebe die Rote Armee!“ schrieben die Spanier.
„Die Londoner Bauarbeiter sind begeistert über die Tapferkeit
der Roten Armee. Wir verpflichten uns, Euch jede nur denkbare Hilfe zu leisten. Wir bestehen auf der restlosen Erfüllung der
von unserer Regierung gemachten Versprechungen. Sind vom
Sieg über den Faschismus überzeugt.“
Eine Meldung von einem Meeting der Völker des britischen
Imperiums, auf dem Vertreter Indiens und Westafrikas, Zyperns, Burmas und Westindiens sprachen: „Wir sind überzeugt
vom Sieg des Sowjetvolkes, der ein Sieg der Völker der ganzen
Welt sein wird.“
Die Resolution einer Versammlung von in den USA, in Pittsburgh, lebenden Tschechen, Slowaken und Serben: „Die Befreiung Jugoslawiens und der Tschechoslowakei hängt von den
Erfolgen der Roten Armee ab.“
Das Manifest des Arbeiterbundes Mexikos: „Angesichts des
heimtückischen Überfalls der Faschisten auf die UdSSR ruft
der Bund das mexikanische Volk auf, eine gesamtnationale
Front zur Herbeiführung einer totalen Niederlage der Regimes
Hitlers und Mussolinis zu gründen.“
Natürlich hatten wir an diesem Tag in der Welt nicht nur
Freunde, sondern auch Feinde. Es gab noch unzählige Menschen, die es völlig unberührt ließ, was an jenem Tag auf den
blutgetränkten Feldern Rußlands geschah. Es gab in der Welt
Zeitungen, die auch die Ansichten unserer Feinde veröffentlichten, Stimmen von Gleichgültigen, und es wäre naiv, das nur
deshalb nicht wahrhaben zu wollen, weil das alles an jenem
Tag nicht in unseren Zeitungen, in den Zeitungen der kämpfenden Länder stand und auch nicht stehen konnte. Das aber,
was letztgenannte Zeitungen brachten, sprach vom Ausmaß der
Erschütterung, die in der ganzen Welt ausgelöst worden war
durch den in seinem Umfang und seiner Erbarmungslosigkeit
beispiellosen Krieg zwischen dem faschistischen Deutschland
und der Sowjetunion. Diese Erschütterung löste nicht nur Mitgefühl mit uns aus, sondern auch einen Hoffnungsschimmer,
daß, ungeachtet des für uns unglückseligen Kriegsbeginns, es
von nun an nicht nur um Leben und Tod der Sowjetunion, sondern auch um Leben und Tod des faschistischen Hitlerreichs
ging. So berichteten unsere Zeitungen am 19. Juli 1941.
Ich kehre zum Tagebuch zurück.
Gegen 12.00 Uhr mittags war die Reparatur unseres Kombis
beendet, und wir fuhren los. Der Kombi wurde bis Wjasma von
Borowkow gefahren, während den „Emka“ der zweite Iswestija-Fahrer fuhr, Michail Pankow, der später an der Westfront
verwundet wurde. Infolge von verstopften Straßen und Umleitungen kamen wir erst bei Anbruch der Nacht in Wjasma an.
Da wir dort in der Druckerei Kriger und Beljawski antrafen,
die mit Moskau telefoniert hatten, fuhren wir nicht weiter nach
Kasnja, sondern übernachteten alle in Wjasma, in einem Häuschen neben der Druckerei, in dem die Mitarbeiter der Zeitung
der 24. Armee einquartiert waren. Wir gingen nicht gleich
schlafen, hockten noch die halbe Nacht zusammen. Bei uns
saßen noch der gescheite Redakteur der Zeitung, Regimentskommissar Iljin, ein weiterer Mitarbeiter der Redaktion
und die Korrektorin – ein hübsches, nettes Mädchen namens
Shenja. Wir leerten sämtliche Flaschen, die wir aus Moskau
mitgebracht hatten. Dann las ich Gedichte vor. In dieser Nacht
gab es heftige Bombenangriffe auf Wjasma, doch wir verließen
unser Zimmer nicht. Später summte der Samowar, und wir
tranken Tee, Den Rest der Nacht schliefen Pascha Troschkin
und ich zu zweit in einem Bett, und um acht Uhr früh brachen
wir nach Kasnja auf, zur Redaktion.
An dieser Stelle möchte ich ein Gedicht einfügen, das, zwei
Jahre später geschrieben, diese Nacht beschreibt:
Oft hab ich an das Haus gedacht in Wjasma,
Heim für eine Nacht.
Wir aßen, was uns Gott geschenkt,
der Fahrer sorgte fürs Getränk.
Es war die Nacht vor einer Schlacht.
Für manchen war’s die letzte Nacht.
Doch noch im Sterben – schwöre ich –
erinnerte ein jeder sich,
wie wir die Todesfurcht besiegt…
Für uns war es nicht die Nacht vor einer Schlacht, aber fast
der ganze Krieg lag noch vor uns, und nicht alle, die in jener
Nacht mit uns am Tisch saßen, haben sein Ende erlebt.
In Kasnja eingetroffen, fanden wir Surkow dort nicht vor. Er
war in die Gegend von Welikije Luki gefahren und hatte dort
das Glück, eine der ersten Städte zu besuchen, die zunächst den
Deutschen in die Hände gefallen waren, zwei Tage später jedoch von uns zurückerobert wurden. In der Redaktion legten
wir für alle Fälle eine Rundumverteidigung an, hoben Schützengräben und Deckungslöcher aus. Am nächsten Tag fuhren
wir ein Stück über Wjasma hinaus, besuchten die umliegenden
Feldflugplätze und ein kleines Kriegsgefangenenlager drei Ki-
lometer vor der Stadt, das in alten, mit Stacheldraht eingezäunten Baracken untergebracht war. In dem Lager waren einhundertfünfzig Deutsche. Diejenigen, mit denen ich sprechen
wollte, wurden ins Freie gebracht.
Die meisten der Kriegsgefangenen – etwa einhundert – waren
beim Vorstoß eines unserer Truppenteile in das Hinterland der
Deutschen mit einem Mal geschnappt worden. Es war eine
große Fahrzeugkolonne gewesen, die hinter den ersten Staffeln
der Panzer und der Infanterie hergefahren und nur schwach
bewaffnet gewesen war. Die Hälfte der Männer war innerhalb
weniger Minuten gefallen, die andere Hälfte gefangengenommen worden.
In den ersten Kriegsmonaten verhehlten diese Gefangenen
nicht ihre Verblüffung, in unsere Gefangenschaft geraten zu
sein. Sie konnten es nicht fassen, sie hielten es für ein peinliches Mißgeschick. Sie waren so verblüfft, daß sie ausgesprochen frech auftraten. Aus all dem wurde eine vorausgegangene
längere Beeinflussung deutlich. Sie waren erzogen in dem Bewußtsein, daß, sollte es zu einem Krieg mit Rußland kommen,
dies ein Blitzkrieg und sie die Sieger sein würden.
Die mühelosen Erfolge, mit denen alle vorausgegangenen
Siege Deutschlands in diesem Krieg verbunden waren, hatten
die Männer an sich schon demoralisiert. Hinzu kam noch, daß
die gesamte Erziehung der deutschen Soldaten auf der Schilderung und Hervorhebung dieser Erfolge basierte. Jetzt, im zehnten Kriegsmonat, kann man sich auch ohne Kenntnis der deutschen Presse oder der deutschen Propagandaliteratur allein auf
Grund eines bloßen Vergleichs der mit Kriegsgefangenen heute
und damals, zu Kriegsbeginn, geführten Gespräche ein Bild
davon machen, welch gewaltige und erzwungene Wende im
System zur Erziehung der Soldaten in der deutschen Propaganda eingetreten ist. Sie mußte sich umstellen, sowohl was das
Feindbild anbelangt als auch hinsichtlich der Kriegsdauer und
vor allem hinsichtlich eines möglichen Todes, denn in der ersten Zeit des Rußlandfeldzugs war der Tod als Zufall deklariert
worden, nunmehr aber war von ihm als von etwas durchaus
Möglichem die Rede. An dieses Gespräch mit den Deutschen
im Lager bei Wjasma erinnere ich mich recht gut. Da sitzen sie
vor mir am Tisch, diese Etappenhengste, Teilnehmer am ersten
Weltkrieg sind darunter, aber auch ein paar junge Burschen.
Ich frage sie, ob sie diesen Krieg gewollt hätten. Nein, gewollt
hätten sie ihn nicht. Das glaube ich ihnen gern. Ich frage sie,
warum sie dann Krieg angefangen hätten. Weil die Russen erst
versprochen hätten, die deutschen Truppen nach Iran durchmarschieren zu lassen, aber als die deutschen Truppen russisches Gebiet betreten hätten, über sie hergefallen wären. Andere sagten, die Sowjetunion hätte Deutschland zuerst angegriffen. Anscheinend sind diese Meinungsunterschiede auf unterschiedliche Propagandamethoden zurückzuführen.
Einer der Gefangenen brachte mich regelrecht in Wut. Leider
war ich kein Schuljunge mehr, ich durfte ihn nur fragen, und er
hatte zu antworten, alles trug sich hier und heute zu, in einem
Kriegsgefangenenlager, und nicht zehn Jahre früher in der Pause auf dem Schulhof. Mit welchem Genuß hätte ich ihm eins
verpaßt, wenn ich das damals von ihm zu hören bekommen
hätte.
Er war ein unverschämter, blauäugiger Bursche, ein Feldwebel, den man mit seinem Flugzeug heruntergeholt hatte. Er kam
mir nicht dumm vor und war auch kein Jammerlappen, aber ein
Mensch, dessen Urteile, Meinungen, Vorstellungen und Gedanken sich in einem ein für allemal festgelegten Kreis bewegten, aus dem nichts nach außen drang – kein einziger Gedanke,
kein einziges Gefühl. Seine Gedanken bewegten sich nur innerhalb dieses Kreises. Aber schlau war er. Er sagte nicht,
Rußland habe Deutschland überfallen. Er sagte, Deutschland
habe angegriffen. Aber es habe angegriffen, weil es genau
wußte, daß Rußland zehn Tage später über Deutschland herfallen wollte. In den Grenzen dieses Kreises war er gebildet. Das
heißt, er hatte ein paar Gedichte von Goethe und Schiller und
auch „Mein Kampf“ gelesen und war nicht auf den Kopf gefallen. In den Grenzen dieses Kreises war er nicht aller Gefühle
bar. Das heißt des Patriotismus, der Kameradschaft und so weiter.
Was über diesen Kreis hinausging, interessierte ihn nicht. Er
wußte davon nichts. Er konnte und wollte es nicht wissen.
Kurzum, er war eine perfekte Maschine, eingestellt, auf die
bestmögliche Weise Menschen zu töten.
Am meisten aber brachte mich an ihm in Rage, daß er es uns
als Schwäche und Feigheit auslegte, wenn wir sie normal behandelten. Es wollte nicht in seinen Schädel, wie man gut sein
kann nicht aus Schwäche, menschenfreundlich nicht aus Feigheit und gut nicht aus Berechnung. Das Erziehungssystem,
durch das er gegangen war, hatte ihm das nicht beigebracht.
Die Gespräche mit diesem Feldwebel und anderen Kriegsgefangenen ließen folgendes erkennen: Erstens rechneten sie damit, der Krieg sei in einem Monat aus, und glaubten fest daran,
in der Gefangenschaft keine allzu lange Gastrolle spielen zu
müssen, und zweitens meinten sie, man gebe ihnen nur zu essen und zu trinken, erschieße sie nicht und behandle sie überhaupt menschlich, weil man die Rache der Deutschen fürchte,
wenn die in einem Monat den Krieg gewinnen und Moskau
einnehmen würden. Troschkin machte ein Gruppenphoto von
den im Hof angetretenen Kriegsgefangenen. Währenddessen
sprach in der Baracke ein Vertreter der 7. Abteilung, der Abteilung Propaganda, mit Männern, die schon am Weltkrieg teilgenommen hatten und jetzt um die Fünfzig waren. Er schlug ih-
nen vor, ein Flugblatt abzufassen, und sie erklärten sich ohne
viele Umstände dazu bereit.
Wir kamen gerade zum Ende, als deutsche Flugzeuge über
dem Lager auftauchten. Die Kriegsgefangenen im Hof wurden
in die Baracken geschickt. Ängstlich zum Himmel schielend,
hasteten sie nur zu gern hinein.
Am Abend saß ich in Wjasma und schrieb eine Reportage für
die „Iswestija“. Als ich fertig war, ging ich hinaus. Es war eine
dunkle Nacht. Hoch am Himmel zogen deutsche Flugzeuge
Welle um Welle in Richtung Moskau. Wir wußten bereits von
der Bombardierung Moskaus in der letzten Nacht. Von hier,
von Wjasma aus schien uns dieser Luftangriff viel schlimmer
und schrecklicher, als er in Wirklichkeit war. Gegen Mitternacht fielen auch in Wjasma Bomben. An zwei Stellen brachen
Brände aus. Eine Bombe war unweit der Druckerei heruntergekommen. Die Scheiben hatten geklirrt. In kurzen Abständen
zogen hoch über uns immer noch die Flugzeuge.
Am 5. August 1941, bereits nach meiner Rückkehr von der
Westfront, brachte die „Krasnaja Swesda“ meine Ballade „Das
Geheimnis des Sieges“ mit dem Untertitel: „Dem Jagdflieger
Nikolai Terjochin gewidmet“. In der Ballade wird der Luftkampf eines unserer Jäger gegen drei „Junkers“ beschrieben, in
dem, wenn ich mich richtig erinnere, zum erstenmal im Krieg
ein doppelter Rammstoß ausgeführt wurde. Im Tagebuch sind
keine Einzelheiten darüber erhalten geblieben, nur die Fahrt zu
den Flugplätzen in der Nähe Wjasmas. Und als mich 1965 anläßlich des 20. Jahrestages des Sieges Landsleute Terjochins
baten, ihnen von der Begegnung mit Terjochin zu erzählen,
war ich dazu nicht in der Lage. In den langen Jahren waren die
Einzelheiten so aus meinem Gedächtnis geschwunden, daß ich
nicht einmal mehr überzeugt war, Terjochin gesehen zu haben;
vielleicht hatte man mir nur von seiner Heldentat erzählt.
Erst jetzt, da ich mein Notizbuch wiedergefunden habe, das
aus der Zeit der Fahrt an die Westfront zwischen dem 20. und
22. Juli 1941 stammt, fand ich darin doch eine Eintragung über
Terjochin: „Oberleutnant Terjochin. Abschuß eines Flugzeuges. Nachdem ihm Munition ausgegangen war, rammte er ein
zweites mit der Tragfläche gegen den Schwanz. Bei ihm selbst
nur eine Verstrebung gebrochen. Ein drittes mit dem Motor in
den Schwanz gerammt. Beim Absprung Rißwunde am Bein,
erhebliche Gesichtsverletzungen, Blutergüsse, verschwollene
Augen. Flugverbot. Sieben Tage Genesung, gleich am ersten
Tag nach seiner Genesung – er hatte in der Zeit Flugplatz nicht
verlassen – einen weiteren Bomber abgeschossen. Legte sich in
der Genesungszeit nicht ins Bett, sondern betätigte sich als
Gehilfe des Geschwaderkommandeurs und flog eine U-2. Es
langweilte ihn, auf dem Boden herumzulaufen. Nikolai Wassiljewitsch Terjochin, geb. 1916, Gebiet Saratow.“
Im Tagebuch schreibe ich, daß uns in Wjasma der erste Bombenangriff auf Moskau viel schrecklicher und schlimmer
schien, als er in Wirklichkeit war.
Eines der Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht ist
eine Notiz, datiert vom 4. Juli 1941, also eine Woche vor dem
ersten Bombenangriff, in der der Führer Luftangriffe auf Moskau für notwendig hält, um einen Schlag gegen das Zentrum
des bolschewistischen Widerstandes zu führen und eine geordnete Verlegung des russischen Regierungsapparates zu behindern. Wie aus dieser Notiz ersichtlich, hatte Hitler weitreichende Pläne. Schon die Annahme, durch die Bombardierung Moskaus könne die organisierte Evakuierung des Regierungsapparates aus der Stadt behindert werden, zeigte, mit was für vernichtenden Schlägen aus der Luft sie rechneten; sie sollten das
Leben der riesigen Stadt und des wichtigen Eisenbahnknotenpunktes lähmen.
In Wirklichkeit war der erste Luftangriff der Deutschen auf
Moskau ebenso wie die folgenden Angriffe im Juli und August
wenig erfolgreich. Im Gefechtsbericht des Oberkommandos
unserer Luftstreitkräfte über den ersten Luftangriff heißt es:
„Vom 21.7. 22.25 Uhr, bis 22.7.41, 3.25 Uhr, unternahm die
Luftwaffe des Gegners einen Angriff auf die Stadt Moskau.
Der Angriff erfolgte in vier aufeinanderfolgenden Wellen. Insgesamt etwa zweihundert Flugzeuge.
Die erste Welle ging vor Moskau in die Formation für den
Bombenabwurf über, wurde aber von den Jagdfliegerkräften
und der Flak-Artillerie empfangen und zerstreut. Nur einzelnen
Flugzeugen gelang es, zur Stadt durchzubrechen.
Die nächsten Wellen – die zweite und dritte – kamen einzeln
bzw. in kleinen Gruppen und warfen, aus dem Sturzflug in den
Horizontalflug übergegangen, aus einer Höhe von eintausend
bis dreitausend Metern Brand- und Sprengbomben ab. Der
Bombenabwurf auf einige Objekte erfolgte nach vom Boden
aus gegebenen Lichtsignalen. Im Raum Swenigorod und Kubinka wurden Flugblätter abgeworfen. Die Jagdfliegerkräfte
starteten einhundertdreiundsiebzigmal. Den Meldungen der
Flieger zufolge wurden zwei Flugzeuge des Gegners abgeschossen. Nach einer Meldung der Truppenteile der FlakArtillerie wurden siebzehn gegnerische Flugzeuge abgeschossen. Eine zusätzliche Präzisierung dieser Angaben ist erforderlich.“ Die deutschen Wehrmachtsberichte und Zeitungsmeldungen, aber auch die Ausgaben der Deutschen Wochenschau,
die ich dreißig Jahre nach diesen Ereignissen sehen konnte, mit
denen man diesen ersten Luftangriff auf Moskau als etwas
Fürchterliches darzustellen versuchte, waren im wesentlichen
Fälschungen.
Am 23. Juli 1941 erschien der „Völkische Beobachter“ mit
den schreienden Schlagzeilen: „Erster großer Luftangriff auf
Moskau“, „Schwerer Vergeltungsschlag der deutschen Luftwaffe gegen Moskau“, „Keine einheitliche Führung mehr beim
Feind“. Wunsch wurde für Wirklichkeit ausgegeben.
Die Mißerfolge der Deutschen beim ersten wie auch bei den
folgenden Luftangriffen wurden mit dreierlei Ursachen erklärt:
Erstens mit den ungenügenden Kräften, die sie auf ein so riesiges Objekt wie Moskau zum Einsatz brachten, zweitens mit der
Stärke der Luftverteidigung Moskaus, deren Wirkung noch
dadurch erhöht wurde, daß die Deutschen keine rechte Vorstellung hatten von der Ausdehnung der Stadt, und drittens
schließlich durch die Ruhe und Entschlossenheit, mit der die
Moskauer die Brandbomben bekämpften. Die Wirkung der
Brandbomben war vor allem darauf berechnet, Panik auszulösen. Diese von den Deutschen eingeplante Panik aber war nicht
ausgebrochen.
… Ich gab die Verse für die „Krasnaja Swesda“ einer Stenographin in der Redaktion telephonisch durch, und gegen Mittag
fuhren wir mit Zwei Wagen, mit dem Kombi und dem „Emka“,
in die Jelnjaer Gegend, wo eine operative Gruppe der von Generalmajor Rakutin geführten 24. Armee im Einsatz war. Unterwegs teilte man uns beim Stab der 24. Armee den genauen
Standort der operativen Gruppe mit. Wir machten uns dorthin
auf den Weg.
An der Gabelung der Straßen nach Dorogobush und nach
Jelnja stießen wir in einem Wald auf den Stab der vor kurzem
aus dem Kessel ausgebrochenen 100. Division, die hier aufgefüllt wurde, jener Division, die bis zum 1. Juli im Raum Minsk
gekämpft hatte und später unter schweren Kämpfen ausgebrochen war. In diesem Wald kamen wir mit einem Oberst ins
Gespräch, den wir für den Divisionskommandeur hielten. Er
sagte uns, daß immer noch Teile der Division aus dem Kessel
herauskämen. Wir nahmen uns vor, auf dem Rückweg noch
einmal bei der Division vorbeizufahren, und richteten uns für
die Nacht im Wald ein, am nächsten Morgen wollten wir zu
Rakutin weiterfahren. Wir nächtigten im Freien bei unseren
Fahrzeugen. Holten Brunnenwasser und bereiteten uns unser
übliches Mahl aus Schwarzbrotzwieback, Butter, Zucker und
eben diesem Wasser. In der Frühe brachen wir auf. Kurz danach hielten wir in einem Dorf, kauften einen Topf Milch und
leerten ihm im Stehen neben unseren Fahrzeugen. Plötzlich
kam ein Lkw in das Dorf gerast. Er hielt bei uns an, und eine
im Fahrerhaus sitzende Militärperson schrie: „Genosse Kommandeur, kommen Sie bitte zu mir!“
Ich ging zu ihm. Er fragte: „Haben Sie was von der 100. Division gesehen?“
Er war recht beleibt, machte einen erschöpften Eindruck, war
lange nicht rasiert und hatte einen Rotarmistenmantel über die
Schultern geworfen. Dieser Mann saß neben dem Fahrer. Im
Fahrerhaus lehnten Gewehre. Im Wagenkasten saßen noch etwa zwölf Mann in durcheinandergewürfelter Kleidung, aber
alle mit Gewehren und Handgranaten. Sie sahen aus wie Männer, die geradewegs aus dem Kessel kamen.
Bevor ich über den Standort der 100. Division Auskunft gab,
verlangte ich von dem in der Kabine sitzenden Mann die Papiere. Er holte einen Ausweis heraus; als sich dabei sein Mantel
öffnete, erblickte ich verblichene rote Generalskragenspiegel.
„Haben Sie nun was von der Hundertsten gesehen oder nicht?“
fragte er mich ungeduldig.
Ja, wir hätten sie gesehen, sieben Kilometer von hier, in einem Wäldchen an der Straße, dort liege der Divisionsstab, und
wir hätten gestern erst mit ihrem Kommandeur gesprochen.
„Mit was für einem Kommandeur?“ schrie der General. „Ich
bin ihr Kommandeur.“
Ich antwortete, wir hätten mit einem Oberst gesprochen, den
wir für den Divisionskommandeur gehalten hätten. „Wie sah er
aus? Groß, stämmig?“
Ich bestätigte, er wäre in der Tat groß und stämmig gewesen.
„Dann war das mein Stabschef. Wo ist er? Na?“ Ich wies die
Richtung, in die er fahren mußte. Ungeduldig ließ der General
sofort wenden und den Wagen mit Vollgas losrasen, ohne sich
verabschiedet zu haben. Wie sich später herausstellte, war das
der Kommandeur der 100. Schützendivision gewesen, Generalmajor Russijanow; in den letzten Tagen im Kessel war er
mit einer der Gruppen vom Divisionsstab abgeschnitten worden und einige Zeit später ausgebrochen. Der Zufall hatte es
gewollt, daß wir die ersten waren, von denen er nach dem Ausbruch aus dem Kessel den Standort seiner Division erfragte…
Auf der Fahrt nach Jelnja führte uns das Schicksal dreimal mit
Angehörigen der 100. Schützendivision zusammen. Zuerst landeten wir bei ihrem Stab, wo wir den Stabschef Oberst Grusdjow für den Divisionskommandeur hielten, danach begegneten
wir dem Divisionskommandeur General Russijanow, und
schließlich trafen wir bei Jelnja auf das 355. Schützenregiment
dieser Division. In meinem Tagebuch findet das nur flüchtige
Erwähnung, doch als ich später in den Archiven arbeitete, erwachte das Bedürfnis, über einige mit der Geschichte dieser
Division zusammenhängende Einzelheiten zu schreiben.
Der Kommandeur der 100. Schützendivision, Generalmajor
Russijanow, war erst am Morgen des 24. Juli, an dem wir mit
ihm zusammentrafen, endgültig aus der Einschließung herausgekommen. Im Kriegstagebuch der Division ist festgehalten:
„24.7.41… Generalmajor Russijanow und Oberbataillonskommissar Filjaschkin wieder bei der Truppe…“
Als ich im Archiv den Lebenslauf des Generalleutnants Iwan
Nikititsch Russijanow las, von ihm nach dem Krieg eigenhän-
dig geschrieben, den er als Korpskommandeur beendete, stieß
ich darin auf folgende Zeilen:
„Ich wurde sechsmal mit der Truppe eingeschlossen, 1941 in
den Kämpfen beim Rückzug von Minsk, 1942 in den Kämpfen
beim Rückzug von Lebedjan und in den Kämpfen bei Pawlograd-Kirowograd. Ich kam mit der Truppe – in einzelnen
Gruppen –, mit sämtlichen Unterlagen und in vollständiger
Generalsuniform heraus.“. Aus dem Lebenslauf geht hervor,
daß Russijanow 1900 im Dorf Schupki, Amtsbezirk Koschinsk,
Ujesd Smolensk, geboren wurde, von 1916 an als Tagelöhner
arbeitete, 1919 zur Roten Armee einberufen wurde, nach Beendigung des Bürgerkrieges in der Woche des „Roten Kursanten“ an eine Schule für Infanteriekommandeure ging und im
Mai 1941, unmittelbar vor Kriegsbeginn, einen Weiterbildungslehrgang für das höhere Kommandeurkorps an der Akademie des Generalstabs absolvierte. In der gleichen Akte fand
ich zwei Photos von Russijanow. Das eine Photo eine Porträtaufnahme aus der Vorkriegszeit, vielleicht anläßlich der Ernennung zum General aufgenommen: neue Generalskragenspiegel, neuer Uniformrock, sorgfältig gezogener Scheitel, elegant, stramm, jugendlich, noch jünger wirkend, als er so schon
war. Das zweite Photo aber weckte in mir sofort die Erinnerung an jenen Mann im Lkw: staubige Feldbluse, verblichene
Generalskragenspiegel, nicht nur um ein Jahr, sondern um ganze zehn Jahre gealtert, erschöpftes, aber energisches Gesicht.
Möglich, daß dieses Photo damals gemacht wurde, unmittelbar
nach dem Ausbruch aus dem Kessel, aus dem ersten von sechs.
Dieses Photo zeigt nicht nur das Gesicht eines Mannes, sondern das Gesicht des Krieges selbst, es zeigt ihn so, wie er war
und wie ich mich seiner vom Juli 1941 erinnere. Zwei Photos,
ein und dieselbe Uniform, und doch zwei verschiedene Menschen: einer, der sich noch auf den Kampf vorbereitet, und ein
anderer, der durch das Feuer der ersten Kriegstage gegangen
ist, der Kummer mehr als genug geschluckt und daneben alles
getan hat, was in seinen Kräften stand… Ein anderer, ein ganz
anderer Mensch… Ich möchte auf das Schicksal der 100.
Schützendivision eingehen, weil ihre Geschichte typisch ist für
eine ganze Reihe unserer Truppenteile, die sich ehrenvoll aus
der schwierigen Lage befreiten, in die sie geraten waren.
Vor dem Krieg war die Division in Minsk stationiert, und am
dritten Kriegstag, als sie in den Kampf eingreifen mußte, nahm
sie die Kampfhandlungen bei weitem nicht in voller Gefechtsstärke auf. Sie hatte einen Fehlbestand von dreitausend Mann
und vierzig Prozent der Transportmittel, ihr Aufklärungsbataillon verfügte über keinen einzigen Panzer, sondern lediglich
über ein paar gepanzerte Fahrzeuge. Ungeachtet dessen zerschlug die Division in den ersten Tagen in den Gefechten im
Raum Minsk das deutsche 25. Panzerregiment der 7. Panzerdivision, wobei der Kommandeur dieses Regiments, Oberst Rothenburg, fiel und die Stabsunterlagen des Regiments erbeutet
wurden. Später machte die Division Teilen des 82. motorisierten Infanterieregiments der Deutschen schwer zu schaffen. Übrigens wurden in diesen Kämpfen erstmals mit Benzin gefüllte
Flaschen und gläserne Feldflaschen gegen die deutschen Panzer eingesetzt. Die Division führte im Verlauf der ersten vier
Kampftage hartnäckige Gegenangriffe gegen die Deutschen
und rückte dabei sogar vor, und erst am fünften Tag mußte sie
sich befehlsmäßig zurückziehen. In zwölf Tage währenden
Kämpfen machte sie sich den Weg frei und drängte hartnäckig
aus dem Einschließungsring heraus. Ihre gelichteten Truppenteile wurden zu einem Regiment zusammengefaßt, und als Regiment brachen sie kämpfend aus dem Kessel aus.
Doch damit nicht genug. Andere Teile der Division, die die
Deutschen voneinander getrennt hatten, brachen in den folgen-
den Tagen ebenfalls kämpfend an verschiedenen Frontabschnitten aus dem Kessel aus. Im Endergebnis umfaßte die
Division am Morgen des 21. Juli, zwei Tage nachdem sie zur
Rast und zur Neuaufstellung zurückgegangen war, den Unterlagen nach zu urteilen, bereits rund vierzig Prozent des Mannschaftsbestandes, rund sechzig Prozent des Kommandeurbestandes und dreißig Prozent an Waffen und Gerät. Bereits am
dritten Tag der Rast und der Umgliederung wurde, wie aus
einem Befehl des Befehlshabers der 24. Armee hervorgeht,
eines der Regimenter der Division – das 355. – erneut in den
Kampf geworfen, und bald darauf ging die ganze Division
wieder in Einsatz. Im Kriegstagebuch der 100. Schützendivision finden wir unter dem 20. Juli eine interessante Eintragung:
„Marschall der Sowjetunion, Genosse Timoschenko… begegnete bei Dorogobush dem Leutnant Chabarow. Als er erfuhr,
welchem Truppenteil er angehörte…. sagte der Marschall: „Die
100. Division schlägt sich nicht nur gut, sondern auch mit
Verstand. Sobald ich Zeit habe, komme ich mir ansehen, wie es
jetzt bei ihr steht. Übermitteln Sie den Soldaten und Kommandeuren einen Gruß.“ Timoschenkos Äußerung gab die allgemeine Meinung wieder, die sich bereits damals an der Westfront über die Kampfhandlungen der 100. Schützendivision
herausgebildet hatte. Bald darauf wurde sie in einem Tagesbefehl des Hauptquartiers erwähnt und in 1. Gardeschützendivision umbenannt. Die Division und später das auf ihrer Grundlage
neugebildete 1. mechanisierte Gardekorps stand bis Kriegsende
im Kampf. Ihre Angehörigen schlugen sich bei Stalingrad, eroberten das Donezbecken zurück, kämpften vor Budapest,
Szekesfehervär und Sopron… Obwohl ich mich schon lange
auf diese oder jene Weise mit der Geschichte dieses Krieges
befaßte, war ich doch vorher nie mit dem Archivmaterial in
Berührung gekommen, und erst jetzt wurde mir klar, welch
unermeßliche, unentdeckte Fundgrube auf jene wartete, die
einen Blick in diese Archive des Krieges warfen. Archive, Archive… Da beginnt man nach der Bestätigung einer Vermutung zu suchen und versinkt ganz unmerklich in der Atmosphäre jener Zeit. Die mit dem Kriegsbeginn zusammenhängenden
Details klären sich und fügen sich eines ans andere; je weiter
man voranschreitet, desto bedrückender wird das Bild, bis es
unendlich schwer wird, schier unerträglich… Dann aber stößt
man unvermittelt auf die ersten, nicht erwarteten Freuden: einer, den man längst für tot gehalten hat, überlebte, er kam zurück, er brach aus oder schlug sich durch die deutschen Linien… Zwischen den bitteren Meldungen finden sich nun schon
erfreulichere: deutsche Panzer abgeschossen, Gefangene gemacht, Stabsunterlagen erbeutet, den Kommandeur eines deutschen Regiments getötet, ein deutsches Flugzeug auf dem
Flugplatz in Brand gesteckt… Nein, sie zogen keineswegs so
ungestraft in unser Land ein, das Ganze sah für uns keineswegs
so hoffnungslos aus, wie sie es damals darzustellen suchten.
Telegraphenstreifen, Anfragen, Rüffel, Forderungen, die Lage
zu präzisieren; nach vielen Mißerfolgen Meldungen über die
ersten Erfolge, Berichte über Verluste des Feindes, mitunter
übertriebene, und über die eigenen Verluste, mitunter untertriebene, und daneben wahrheitsgetreueste Berichte, die von
der furchtlosen Entschlossenheit zeugen, um der Sache willen
zu sagen, wie es war, die Dinge beim Namen zu nennen. Neben
den Streifen, auf denen die Gespräche per Telegraph verzeichnet sind, Zettel mit Meldungen, mit Bleistift hingeworfen in
großer, eiliger Schrift, aber dennoch kurz und eindringlich, das
Geschehen in militärischer Knappheit darlegend… Und das
alles – in allen seinen bisweilen überraschenden Kontrasten –
läßt das lebendige Bild jener Tage vor deinen Augen wiedererstehen.
Ich will mich jedoch wieder dem Tagebuch zuwenden….
Nach dem Zusammentreffen mit General Russijanow fuhren
wir durch mehrere Dörfer, kamen durch eine überaus malerische Landschaft mit einer verfallenen Mühle und einer baufälligen Brücke über blühendem grünlichem Wasser, in dem die
vom Alter und von der Feuchtigkeit gleichfalls grünen Holzpfeiler verschwanden. Wir zweifelten, ob wir es über die Brükke schaffen würden, doch es gelang. Im nächsten Dorf trafen
wir auf Teile einer Volkswehrdivision, ich glaube, es war die 6.
Moskauer. Es waren vorwiegend ältere Männer, Vierzig- bis
Fünfzigjährige. Rückwärtige Dienste bei den Regimentern und
der Division hatten sie nicht. Sie trugen Feldblusen, die eigentlich längst ausgedient hatten und teilweise bläulich schimmerten, als seien sie gefärbt. Ihre Kommandeure waren auch keine
jungen Männer mehr, waren Reservisten, deren Truppendienst
schon lange zurücklag. Diese Truppenteile mußten noch ausgebildet, ergänzt werden, man mußte ihnen ein militärisches
Aussehen geben. Ich war später sehr verwundert, daß diese
Volkswehrdivision buchstäblich innerhalb von zwei Tagen zur
Unterstützung der 100. Schützendivision in den Kampf geworfen worden war und bei Jelnja kämpfte…
Dazu noch ein paar Worte. Meine Verwunderung erwies sich
bei näherer Prüfung als nicht ganz gerechtfertigt.
Als wir den Volkswehrmännern begegneten, die uns von Jelnja her in Richtung Wjasma entgegenkamen, waren wir wohl
wirklich Teilen der 6. Volkswehrdivision begegnet, die zwei
Tage zuvor Befehl erhalten hatte, in den Raum Wjasma zu ziehen.
Davon war die Rede in dem gleichen Bericht des Armeestabs
der Reservefront, in dem auch der Durchbruch der Deutschen
in Richtung auf Jelnja und Jarzewo erwähnt wurde: „Die 6.
Volkswehrdivision wird in den Raum Wjasma und die 4.
Volkswehrdivision in den Raum Sytschowka verlegt.“ Offensichtlich war die Verlegung der Volkswehrdivisionen, die Arbeiten zur Befestigung der Verteidigungslinie leisten sollten,
eben durch das überraschende Vordringen der Deutschen an
diese Linie motiviert worden. Aus dem Wortlaut des operativen Berichts geht hervor, daß die Führung der Reservefront
zunächst beabsichtigte, diese noch nicht ausgebildeten Truppen
aus dem Gefahrenbereich des deutschen Vorstoßes abzuziehen;
sie warf sie erst später, infolge der weiteren entscheidenden
Verschlechterung der Lage, doch noch in den Kampf.
Nachdem die Volkswehrtruppen vorbeigezogen waren, setzten wir unsere Fahrt fort. Das Gelände wurde immer offener.
Vom letzten Dorf aus, durch das wir kamen, sahen wir in der
Ferne Hügel aufragen. In diese Richtung ging das häufige und
monotone Artilleriefeuer, und in der Ferne waren die hochspritzenden Erdfontänen der Einschläge zu erkennen.
Endlich erreichten wir Rakutins vermeintlichen Standort. Ein
altes Herrenhaus mit Nebengebäuden, ein kleiner grüner Teich
und ein dichtes Wäldchen. Das Haus erhob sich frei auf einer
Anhöhe und war als der einzige auffallende Punkt im weiten
Umkreis der ständige Zielpunkt von Feuerüberfällen der Deutschen.
Kaum waren wir vorgefahren, als der übliche Feuerüberfall
einsetzte. Aber die Deutschen schossen schlecht, und die Einschläge lagen zweihundert bis dreihundert Meter links vom
Haus. Dann zog eine Staffel deutscher Flugzeuge über uns
hinweg; wir dachten schon, sie würden ihre Bomben auf uns
abwerfen, aber sie flogen weiter, irgendwohin in unser rückwärtiges Gebiet.
Es war ein heißer Sommertag. Hier waren weder Rakutin
noch seine operative Gruppe. Das Kommando hatte ein Oberstleutnant, der uns sagte, der Einsatzplan sei geändert worden,
der Hauptstoß werde jetzt nicht von hier, sondern direkt auf
Jelnja vorgetragen, dort stünden unsere KW, schon bald, in der
zweiten Tageshälfte, werde die Infanterie im Zusammenwirken
mit ihnen zum Angriff vorgehen, und Rakutin habe sich vor
anderthalb Stunden dorthin begeben. Man erwarte hier einen
Verbindungsoffizier, der von dort kommen solle. Es wäre wohl
sinnvoll, mit dem zu fahren, damit wir uns nicht verirrten. Wir
warteten ungefähr eine Stunde auf ihn; da er dann noch immer
nicht in Sicht war, wollten wir allein losfahren.
Bei einem weiteren Feuerüberfall hatten doch Splitter das
Haus erreicht, und ein Posten war durch zwei Splitter verwundet worden. Man bat uns, ihn in unserem Wagen zum Sanitätsbataillon oder zu einem Verbandplatz zu bringen, obgleich, das
muß gesagt werden, in jenen Tagen kaum jemand deren genauen Standort kannte. Der Verwundete stöhnte, sein Zustand war
ernst, und so nahmen wir ihn mit. In sengender Hitze mußten
wir nun auf der Fahrt zu Rakutin einen Umweg machen. Hinter
uns die Jelnjaer Höhen und über ihnen die Rauchpilze der Einschläge. Wir kamen durch ein Dorf, durch ein zweites, doch
vom Sanitätsbataillon keine Spur. Auf einem Verbandplatz,
den wir schließlich fanden, lehnten sowohl der Feldscher als
auch die Sanitäter es ab, den Verwundeten zu übernehmen, sie
sagten, wir sollten ihn weiterschaffen, wir würden bald auf das
Sanitätsbataillon stoßen.
Doch das Sanitätsbataillon war nicht zu finden, der Zustand
des Verwundeten verschlechterte sich immer mehr, und so verlangten wir schließlich beim nächsten Verbandplatz energisch,
uns den Mann abzunehmen. Nach unseren Beobachtungen in
jenen Tagen arbeitete das Personal gut, sogar heldenhaft, wenn
die Verwundeten erst einmal bei einem Sanitätsbataillon oder
im Lazarett untergekommen waren. Sehr wenig aber wurde
dafür getan, den unverzüglichen Transport der Verwundeten zu
den Sanitätsbataillonen oder in die Lazarette in die Wege zu
leiten. Man hatte den Eindruck, der Abtransport der Verwundeten klappe überhaupt nicht. Zumindest in der Gegend, durch
die wir kamen.
Gegen drei Uhr nachmittags waren wir wieder an der Straßengabelung, in deren Nähe wir übernachtet hatten. Keine Spur
mehr von der 100. Schützendivision, offensichtlich war sie
bereits von hier abgerückt.
Wir bogen auf die andere Straße ab, die uns zu dem vermeintlichen Standort Rakutins führen mußte, und fuhren auf ihr weiter. Links und rechts stand der Wald wie eine Mauer. Nach ein
paar Kilometern kamen wir an liegengebliebenen leichten Panzern BT-7 vorbei. Es waren sechs. Die Panzerleute plagten sich
mit der Behebung irgendwelcher Defekte. Dann überholten wir
Soldaten, die sich in der gleichen Richtung bewegten wie wir.
Schließlich befanden wir uns unseren Berechnungen nach sieben bis acht Kilometer vor Jelnja, vorn war nicht mehr nur Artilleriefeuer, sondern auch entferntes MG-Feuer zu hören, und
da sahen wir auch schon unmittelbar an der Straße zwei Autos
und eine Gruppe Militärpersonen.
Wir stellten unseren Wagen unter den Bäumen ab und gingen
zu ihnen. Es waren fünf. General Rakutin, der Divisionskommissar-Mitglied des Kriegsrates – und drei Grenzer – ein
Hauptmann und zwei Sergeanten. Das war Rakutins ganzer
Feldstab, den wir gesucht hatten.
Der General ist mir noch gut im Gedächtnis. Er gefiel mir. Ein
noch junger Mann, sah aus wie dreißig – in Wirklichkeit war
er, glaube ich, wesentlich älter –, blond, hochgewachsen,
schneidig, in Generalsmantel, eine Mauser über die Schulter
gehängt, und ohne Mütze. Die Mütze und der vernickelte Generalssäbel lagen in seinem Wagen. Als er hörte, wir seien
Korrespondenten, informierte er uns mit ein paar Worten über
die Lage. Er war, wie die anderen, mit denen wir in jenen Tagen sprachen, der Meinung, Jelnja sei von einer starken deutschen Luftlandeabteilung besetzt worden – man rechnete ungefähr mit einer deutschen Division –, um die jetzt der Ring unserer Truppen geschlossen werde.
Rakutin nahm an, es würde gelingen, die faschistischen Fallschirmjäger binnen ein bis zwei, längstens binnen drei Tagen
zu vernichten. Ich entnahm seinen Worten, daß die deutsche
Landetruppe in Jelnja saß, daß unsere Truppen den Ring um sie
bereits immer enger schlössen und alles zusammen eine im
nahen Hinterland der Armee durchgeführte Operation zur Vernichtung einer starken Luftlandeabteilung darstelle. Irgendwo
weiter westlich aber wurde eine durchgehende Front der einander gegenüberstehenden eigenen und deutschen Truppen angenommen. Es schien damals niemand zu wissen, daß Jelnja
nicht von einer, sondern von mehreren Divisionen genommen
worden war und es sich hier nicht um eine Luftlandeabteilung,
sondern um durchgebrochene Einheiten handelte, die bereits
Verbindung mit den deutschen Hauptkräften hatten.
Erst im September in Sewastopol, als ich von einem U-BootEinsatz zurückkehrte und die sich in der Zwischenzeit angesammelten Zeitungen las, fand ich einen Beitrag Stawskis über
die Einnahme von Jelnja durch unsere Truppen. Damals erst
hatten wir es wirklich genommen, während ich im Juli Zeuge
der allerersten Kämpfe um diese Stadt gewesen war.
Nachdem uns Rakutin die Lage erläutert und mit müder
Stimme in absentio die Funker verflucht hatte, weil ihretwegen
die Deutschen im Laufe des Tages seine operative Gruppe nach
Anpeilung ihres Standorts bereits zweimal mit Bomben überschüttet hatten, fragte er nach unseren Plänen. Wir sagten, wir
wollten zu seinen Truppenteilen und später weiter zu den
Truppenteilen der 100. Schützendivision. „Der Hundertsten?“
fragte er zurück. „Ja, die ist gerade im Anmarsch hierher. Die
Männer haben viel Kampferfahrung, die können Ihnen was
erzählen. Was aber meine Truppenteile angeht, können Sie mit
dem Wagen nicht weiter – Sie würden zerbombt und kurz und
klein geschossen, Sie werden sich schon zu Fuß hinbemühen
müssen.“ Wir hatten nicht viel Lust, einen kilometerlangen
Fußmarsch zu machen und den Wagen hier zurückzulassen.
Wir wollten näher heranfahren. Ich weiß nicht, wie das ausgegangen wäre, aber Rakutin sagte plötzlich, als fiele ihm gerade
etwas ein: „Der Hauptmann hier“, er wies mit dem Kopf auf
den Grenzer, „muß zu dem Brigadekommandeur…“ Rakutin
nannte einen ungewöhnlichen Namen, den ich vergessen habe.
„Der Alte kämpft nicht gut. Haut nicht so rein, wie es nötig
wäre. Ich. schicke den Hauptmann als meinen Beauftragten
hin. Bei ihm ist das meiste los – an der Dorogobusher Straße,
an der rechten Flanke. Mein Wagen ist zerschossen. Sie könnten mir also sogar behilflich sein. Lassen Sie es uns so machen:
Ihr einer Wagen soll von mir aus zur Hundertsten fahren, und
mit dem anderen fährt einer von Ihnen mit dem Hauptmann
zum Brigadekommandeur. Dort erledigen Sie, was Sie zu erledigen haben, und kommen dann zurück.“ Wir waren einverstanden. Rakutin gab dem Hauptmann Instruktionen.
Inzwischen berieten wir rasch, wer zur 100. und wer zum Regiment, zum Brigadekommandeur, fahren sollte. Wir beschlossen, daß Kriger und Beljawski im Kombi zur 100. Troschkin
und ich zum Regiment fahren sollten. Am nächsten Tag wollten wir uns dann bei der 107. Sibirischen Division treffen, über
die Rakutin, als er uns über die Lage informiert hatte, des Lobes voll gewesen war. Sie hatte sich erst unlängst in der Nähe
von Dorogobush großartig geschlagen. Kurz gesagt, über sie
gab es etwas zu schreiben. Falls wir uns nicht bei der 107. treffen sollten, würden wir uns auf alle Fälle in zwei Tagen in
Wjasma wiedersehen. Das war also abgemacht.
Troschkin, der Hauptmann und ich stiegen in unseren „Emka“
und fuhren los. Ich sah mich noch einmal um. Rakutin stand an
der Straße und übergab einem Sergeanten einen Brief. Darauf
lief dieser mit dem Brief zu einer U-2, die eben erst auf einem
Feld neben der Straße gelandet war.
Im Gegensatz zum Stab der 13. Armee, der viele Kilometer
hinter der Front, in Tschaussy, lag und wo man, wie mir
schien, nur eine vage Vorstellung davon hatte, wo und wie die
Truppenteile der Armee kämpften, gefielen mir der Feldstab
Rakutins und er selbst auch – ein lebhafter junger Grenzergeneral, der kein Sitzfleisch zu haben schien. Nach vier Kilometern trennten wir uns von Kriger und Beljawski. Wir winkten
uns noch einmal zu, dann schlugen unsere Wagen verschiedene
Wege ein. Die anderen fuhren auf der Straße nach Wjasma
weiter zur 100. der Hauptmann, Troschkin und ich bogen ab
nach Norden, auf einen Feldweg. Auf denkbar schlechten Wegen durchquerten wir Wälder und sumpfiges Gelände. Mehrmals mußten wir den Wagen aus Löchern herausschieben. Der
Hauptmann aber wollte unbedingt auf kürzestem Weg fahren,
und dieser kürzeste Weg kam uns recht teuer zu stehen. Erst in
der Dämmerung gelangten wir auf die Jelnjaer Landstraße, drei
Kilometer hinter der vordersten Linie der Einheiten, die Jelnja
belagerten.
Troschkin machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.
Ich konnte mir erst nicht erklären, was ihm über die Leber gelaufen war, und foppte ihn. Da wurde er fuchtig und brüllte
mich unvermittelt an: Ich hätte gut reden! Brauchte bloß was
hinzukritzeln, und damit hätte es sich! Feine Sache, wenn man
auf die Meteorologie, auf Tageszeit und Wetter pfeifen könne,
aber er müsse schließlich Photos machen! Was aber solle er
denn photographieren, wenn es in einer Stunde so finster war,
daß man nicht mal mehr die Hand vor Augen sah? Was solle er
dann wohl knipsen? Danach beruhigte er sich wieder.
Bei unserer Fahrt auf der Landstraße kamen wir an Geschützstellungen vorbei, und nach zwei Kilometern stießen wir auf
einen Einweiser, der uns den Weg zum Regimentsstab wies.
Der Stab lag links von der Jelnjaer Straße. Nach weiteren zwei
Kilometern Fahrt durch Wald und Feld kamen wir in ein Wäldchen. Hier vernahmen wir heftiges MG- und Gewehrfeuer.
Achthundert Meter weiter vorn am jenseitigen Waldsaum bei
einem Dörfchen lösten Angriffe und Gegenangriffe einander
ab.
Unsere in dem Wäldchen in Stellung gegangenen Granatwerfer blafften dumpf, während die deutschen Granatwerfer das
Wäldchen eindeckten. Wir sprachen mit dem Regimentskommissar und erfuhren von ihm, wir hätten das Dorf am Waldsaum zurückerobert, dann hätten es die Deutschen wieder genommen, dann wieder wir, und jetzt seien wieder die Deutschen drin.
Die Stimmung beim Regiment war gut. Wie mir erst später
klar wurde, bestand das ganze Unglück darin, daß den Männern eine falsche Zielstellung gegeben worden war – sie sollten
eine kleine hier gelandete deutsche Fallschirmjägereinheit vernichten. Deshalb konnten sich die Männer, als sie auf zähen
Widerstand der Deutschen stießen und einen ihrer Gegenangriffe nach dem anderen zurückschlagen mußten, einfach nicht
erklären, wie das möglich war, und sie waren wütend auf ihre
Nachbarn, weil sie meinten, die lägen auf der faulen Haut, deshalb könnten die Deutschen ihre sämtlichen Kräfte gerade hier,
in diesem Abschnitt konzentrieren.
Meiner Meinung nach hatte da die Aufklärung versagt. Niemand, von Rakutin bis hin zu den Bataillonskommandeuren,
kannte die wahre Lage bei Jelnja. So war es jedenfalls – das
wage ich zu behaupten – an dem Tag, da wir uns dort aufhielten.
Der Hauptmann übermittelte den Befehl des Befehlshabers,
und als er zu seinem Erstaunen erfuhr, daß das Regiment von
Zeit zu Zeit einem orkanartigen Geschützfeuer aus der Richtung ausgesetzt sei, wo eigentlich unsere Truppenteile stehen
müßten, war der Hauptmann beunruhigt und hatte es eilig, zum
Befehlshaber zurückzukommen, um ihm Meldung zu machen.
Wir saßen schon wieder im Wagen, als jemand angelaufen kam
mit der Meldung, die Deutschen hätten das Regiment an der
rechten Flanke umgangen, wären zu der von Jelnja nach Dorogobush führenden Straße vorgestoßen und hätten sie abgeschnitten.
Aus dieser Richtung war tatsächlich Schußwechsel zu vernehmen. Ich weiß nicht, ob die Deutschen diese Straße wirklich abgeschnitten hatten oder ob dort nur ein Spähtrupp von
ihnen aufgetaucht war. Jedenfalls sagte man uns, auf dem
Feldweg, den wir von der Straße bis hierher gefahren waren,
erreichten wir die Straße jetzt nicht mehr, wir müßten einen
Kilometer durch den Wald zurück, dann nach einem großen
Bogen erst sechs Kilometer weiter ostwärts auf die Straße einbiegen.
Der Gedanke, bei völliger Dunkelheit einen uns völlig unbekannten Weg zu nehmen, behagte uns nicht sehr, und wir sagten uns, an der Stelle, wo wir erst vor ganz kurzer Zeit von der
Straße abgebogen waren, könnten doch wohl kaum schon
Deutsche sein. Wir wollten es wagen und zurück den gleichen
Weg fahren, um so mehr, als der Hauptmann es eilig hatte, dem
Befehlshaber Meldung zu machen. Der Regimentskommissar
zuckte nur die Achseln. Wir stiegen ein und erreichten nach
fünfundzwanzig Minuten wohlbehalten die Landstraße. Beiderseits war Schußwechsel zu hören, von Deutschen jedoch keine
Spur, sie hatten die Straße wohl an einer anderen Stelle abgeschnitten.
Bis zwei Uhr früh fuhren wir ohne Halt durch. Wie sich am
nächsten Morgen herausstellte, hatten wir beim Verlassen der
Landstraße an und für sich schon die Richtung auf das Dörfchen eingeschlagen, wohin Rakutins operative Gruppe verlegt
werden sollte. Um zwei Uhr früh aber glaubten wir, die Orientierung verloren zu haben, und als am Weg dunkle Häusersilhouetten auftauchten, fuhren wir zu den Häusern links von uns,
weil sie näher lagen. Es war ein verlassener Weiler. Nur ein
lahmer, hinkender Wächter war zurückgeblieben, der uns einen
Schuppen wies, wo wir den Wagen unterstellen und uns selbst
daneben hinlegen konnten.
Und wir hatten gut daran getan, in eben diesem Weiler links
des Weges zu übernachten und nicht in dem rechter Hand liegenden Dorf. Eine bewegliche Gruppe der Deutschen, aus Jelnja zur Erkundung vorgestoßen, hatte in eben dieser Nacht dieses Dorf und noch zwei weitere Dörfer besetzt.
Gegen vier, kaum daß es dämmerte, waren wir wieder auf den
Beinen und fuhren weiter. Jetzt orientierten wir uns nach der
Karte und verirrten uns nicht noch einmal. Um sechs Uhr morgens erreichten wir das Dörfchen an der Straße Wjasma-Jelnja,
wo nunmehr Rakutins Feldstab lag. Am Dorfausgang standen
vor den zwei Häusern, in denen sich der Stab einquartiert hatte,
Grenzer auf Posten. Wir traten in eine niedrige Stube. Am
Tisch war der Divisionskommissar über einer Karte eingenickt,
und auf dem russischen Ofen, angekleidet, nur die Feldbluse
hatte er ausgezogen, schlief der General. Auf dem Tisch stand
noch ein Rest Rührei mit Wurst, den man uns anbot, da wir
nach der langen Fahrt Hunger hatten.
Der Hauptmann machte dem Divisionskommissar Meldung
über die Lage. Dann fragte mich der Divisionskommissar nach
meiner Meinung. Ich schilderte ihm meinen Eindruck, daß sich
die Männer gut zu schlagen schienen, aber nervös geworden
seien, weil sie meiner Meinung nach keine klare Vorstellung
von der Lage hätten. Wir weckten den General, der sich erst
vor einer halben Stunde hingelegt hatte. Er war nur schwer
wachzubekommen, endlich kam er zu sich, setzte sich an den
Tisch und vertiefte sich sofort in die Karte. Nachdem er den
Bericht des Hauptmanns angehört hatte, fragte er mich, ob ich
zur 107. fahren wolle, wie er mir gestern geraten. Ich stimmte
zu.
„Dann geb ich Ihnen einen Befehl für die mit“, sagte er.
„Aber liefern Sie ihn möglichst bald ab.“
Das sicherte ich ihm zu. Wenn mich mein Gedächtnis nicht
trügt, war es der Befehl, daß die 107. Division mit einem ihrer
Regimenter das Regiment, bei dem wir gerade waren, unterstützen und verhindern sollte, daß die Deutschen es entlang der
Chaussee umgingen…
Wie aus dem Tagebuch hervorgeht, war es üblich, uns Korrespondenten dorthin zu schicken, wo nach dem Redakteur vorliegenden Informationen ein Erfolg vermutet wurde. Unsere
Fahrt zur 24. Armee, zu General Rakutin, wohin uns der Redakteur der „Krasnoarmejskaja Prawda“ geschickt hatte, war
eben auf solche Informationen zurückzuführen.
Im Morgenbericht des Stabs der Reservefront vom 22. Juli
heißt es, daß der Gegner „den Raum Jelnja immer noch hält“
und daß sich der Oberbefehlshaber der Front entschlossen habe, „den Gegner in Jelnja einzuschließen und zu vernichten…“
Die unmittelbare Leitung der Operation wurde dem Befehlshaber der 24. Armee, Generalmajor Rakutin, übertragen.
Am 24. und 25. Juli wurden Troschkin und ich, für uns völlig
überraschend, Zeugen des Beginns der Kämpfe um den sogenannten „Jelnjaer Zipfel“, die erst eineinhalb Monate später,
am 6. September, mit der Einnahme Jelnjas durch unsere Truppen enden sollten. Jelnja an sich war alles in allem ein Rayonstädtchen. Der Jelnjaer Zipfel aber war in den Augen der Deutschen ein wichtiger Straßenknotenpunkt, ein Brückenkopf für
den kommenden Angriff auf Moskau.
Und obwohl die Deutschen im letzten Augenblick einen großen Teil ihrer im Kampf stark mitgenommenen Truppen zurückziehen und einer Einschließung entgehen konnten dank
ihrer Methodik und ihres Könnens, das sie später noch oft benötigten bis hin zu der alle ihre bisherigen Vorstellungen über
den Haufen werfenden, himmelschreienden Katastrophe von
Stalingrad – Tatsache bleibt Tatsache: Wir zwangen sie, etwas
zu tun, dem sie sich mit allen Mitteln widersetzten – Jelnja
aufgeben. Und es wäre unhistorisch, das Ausmaß unseres damaligen Erfolgs in den Kämpfen um Jelnja, sagen wir, mit den
späteren Ereignissen hier, an der gleichen Stelle im Streifen der
Westfront, nämlich der Einschließung und dem Zusammenbruch der ganzen deutschen Heeresgruppe Mitte im Jahr 1944,
zu vergleichen. Das Ausmaß des einen und des anderen lassen
sich genausowenig miteinander vergleichen wie die Zeiten. Die
Liquidierung des Jelnjaer Zipfels im September 1941 war unsere erste Offensivoperation, die damals große, grundsätzliche
Bedeutung besaß. Im Gefechtsbericht des Stabes der Reservefront vom Abend des 20. Juli ist erstmals von Kämpfen bei
Jelnja, im Rayon Koskowo, die Rede. Rund zwanzig deutsche
Panzer und etwa ein Regiment Infanterie seien dort aufgetaucht, und der Kommandeur der 107. Schützendivision habe
zur Beseitigung des Durchbruchs zwei Schützenbataillone unter Oberst Nekrassow eingesetzt.
In der Meldung der Politabteilung der 107. Division, über die
sich Rakutin so lobend geäußert hatte, heißt es über dieses Gefecht, daß der Gegner über „ein mit motorisierter Infanterie,
Artillerie, Granatwerfern und MPis ausgerüstetes Bataillon“
verfüge. Gegen dieses deutsche Bataillon wurde ein Bataillon
des 86. Schützenregiments in den Kampf geworfen. Im Ergebnis „wurde dem Gegner eine schwere Niederlage zugefügt. Die
Faschisten zogen sich in panischer Flucht zurück. Sie ließen
auf dem Schlachtfeld zurück… an Gefallenen: drei Offiziere,
acht Soldaten. Eine große Anzahl Verwundeter und Gefallener
konnten sie noch mitnehmen. Drei Soldaten wurden gefangengenommen.“ Unser Bataillon hatte vier Gefallene und siebenundvierzig Verwundete.
Weiter wird berichtet, daß die Kompanie von Regimentskommandeur Oberst Nekrassow persönlich zum Angriff geführt wurde, daß er Mut und Zähigkeit an den Tag legte und
„an der Spitze der Soldaten zum Angriff vorging… Er erschoß
im Nahkampf eigenhändig mit der Pistole zwei Offiziere und
nahm einen Soldaten gefangen.“
Dieses Dokument ist von Interesse, weil es gewisse Besonderheiten dieses ersten erfolgreichen Gefechts widerspiegelt, in
das Teile der eben erst an der Front eingetroffenen Division
eingriffen. Sowohl der vom Verfasser des Berichts übersehene
Widerspruch, daß sich seinen Worten nach die Faschisten in
panischer Flucht zurückzogen, dabei aber eine große Anzahl
Verwundeter und Toter mitnehmen konnten, als auch der Umstand, daß der Regimentskommandeur persönlich vor den Soldaten zum Angriff vorging und eigenhändig zwei deutsche
Offiziere erschoß und einen Soldaten gefangennahm – ist überaus charakteristisch.
Es war eine gute Division, eine Kaderdivision, der Regimentskommandeur war ein alter, erfahrener Soldat. Das Gefecht aber war für ihn in diesem Krieg sein erstes Gefecht, und
sein Ausgang war moralisch für die nachfolgenden Einsätze
nicht nur dieses Regiments, sondern auch der ganzen Division
von außergewöhnlicher Bedeutung. Besonders wenn man bedenkt, daß die erste Begegnung dieser Division mit den Deutschen stattfand, nachdem diese in den neunundzwanzig
Kriegstagen sechshundertfünfzig Kilometer Luftlinie von West
nach Ost hatten vormarschieren können. Nach einem solchen
gewaltigen und lang dauernden Rückzug kann die Bedeutung
nicht hoch genug eingeschätzt werden, die dieser erste vom
Erfolg gekrönte Gegenangriff besaß für die Männer, die zum
erstenmal in den Kampf eingegriffen und drei deutsche Offiziere getötet und Gefangene gemacht hatten. Berücksichtigt man
die Zeit, zu der dieses Gefecht stattfand, wird man begreifen,
daß dieses Ereignis damals, im Juli, für das Bataillon und sogar
für das Regiment ein kleines Stalingrad war.
Später, im September, drang gerade dieses Regiment Nekrassows als eines der ersten in Jelnja ein und machte eine, an den
Vorstellungen dieser Zeit gemessen, riesige Beute.
Als General Rakutin mit uns Korrespondenten sprach, war er
erfüllt von Optimismus und dem Glauben daran, daß wir die
Fallschirmjäger der Deutschen in ein bis zwei Tagen vernichten und Jelnja zurückerobern würden.
Bei der Einschätzung seiner Worte muß man wissen, daß diese ersten Gefechtstage die Feuertaufe waren nicht nur für den
Regimentskommandeur, sondern auch für den Befehlshaber
der Armee. Zudem muß man wissen, was damals mit dem
Wort „Luftlandeabteilung“ gemeint war.
Die Deutschen, die in rasendem Tempo von Schklow auf
Smolensk und von Bychow ins Hinterland unserer 13. und 4.
Armee vorgestoßen waren, sprangen für die Armeen der Reservefront völlig überraschend an vielen Stellen ab, wo diese
Armeen gerade erst Verteidigungsstellungen bezogen hatten.
Die Lage war voller Überraschungen, und in dieser Situation
sah man die Durchbrüche kleiner und sogar großer deutscher
Panzer- und motorisierter Gruppen eben oft als Luftlandetruppen an.
„Fallschirmjäger“, „Fallschirmjäger“, „Fallschirmjäger“…
Dieses Wort klang einem in diesen Tagen buchstäblich in den
Ohren. Das Wörtchen „Luftlandeabteilung“ verschwand allmählich, man sprach einfach von „Fallschirmjägern“, und je
weiter die Zeit voranschritt, desto häufiger verstand man unter
diesem Wort etwas, von dessen Herkunft man keine klare Vorstellung hatte. Von oben wurde angefragt: „Wie steht’s mit der
Vernichtung der Fallschirmjäger, von denen Sie berichtet haben?“ Von unten aber meldete man die eingeleiteten Maßnahmen, ohne sich weiter um eine Klärung zu bemühen, ob es nun
Fallschirmjäger waren oder nicht.
Ich möchte durchaus einräumen, daß General Rakutin zum
Zeitpunkt unserer Begegnung bereits wußte, daß es sich nicht
um Fallschirmjäger handelte (um so mehr, als er von einer
ganzen deutschen Division sprach), aber im Gespräch gebrauchte er weiterhin dieses Schlagwort.
Im Tagebuch habe ich den Namen jenes Brigadekommandeurs vergessen, zu dem uns Rakutin geschickt hatte. In Dokumenten bin ich wieder auf diesen mir damals ungewöhnlich
vorkommenden Namen gestoßen. Der Brigadekommandeur
hieß Nikolai Kontschiz. Rakutin nannte ihn den „Alten“; für
den wesentlich jüngeren Rakutin war er wirklich nicht mehr
jung, denn er war damals wohl 52. Die Personalakte von Kontschiz fand ich im Archiv, sie enthält interessante Fakten. In der
zaristischen Armee Berufsoffizier, führte er zu Beginn des ersten Weltkriegs im Range eines Leutnants ein Bataillon; wurde
bei Lodz verwundet und geriet in deutsche Gefangenschaft. Im
Kriegsgefangenenlager erkrankte er an Tuberkulose und kam
direkt aus dem Lazarett ins Gefängnis, weil er sich dagegen
aufgelehnt hatte, daß die Kommandanten des deutschen Laza-
retts die Kranken aus den Betten scheuchten und zum Appell
antreten ließen. 1919 aus der Gefangenschaft zurückgekehrt,
trat Kontschiz freiwillig der Roten Armee bei und kämpfte in
Turkestan als Stabschef und Kommandeur einer Brigade gegen
die Basmatschen. Von 1925 bis 1927 war er Militärberater bei
der chinesischen Roten Armee, wurde mit dem Rotbannerorden
ausgezeichnet und war mehrere Jahre in Moskau militärischer
Leiter der Kommunistischen Universität der werktätigen Chinesen.
In den Kämpfen vor Jelnja führte er, als mich Rakutin zu ihm
schickte, eine in aller Eile aus dem 355. Schützenregiment der
100. Schützendivision und mehreren selbständigen Bataillonen
aufgestellte operative Gruppe.
Rakutin war ungehalten darüber, daß „der Alte nicht so reinhaut, wie es nötig wäre“. Nach den Unterlagen der 100. Schützendivision zu urteilen, lagen die Dinge jedoch keineswegs so.
Danach operierte das 355. Schützenregiment im Verband einer
Gruppe unter dem Kommando von Brigadekommandeur Kontschiz vom 24. bis 30. Juli im Raum Uschakowo; Uschakowo
wechselte mehrere Male den Besitzer, und durch die Kampfhandlungen des 355. Schützenregiments wurden drei feindliche
Infanteriekompanien aufgerieben, sechs Panzer und vier Granatwerfer vernichtet.
In meinem alten Notizbuch ist neben anderen unmittelbar vor
diesem Dorf Uschakowo gemachten Eintragungen eine Eintragung enthalten, die mit diesen Dokumenten übereinstimmt:
„355. Schützenregiment. Oberst N. A. Schwarjow, Kommissar
G. A. Gutnik. Das 2. Bataillon hatte die Aufgabe, das Dorf
Uschakowo zu nehmen… Heute um 11.00 begann der Angriff.
Das 2. Bataillon griff frontal an, das I. umfaßte den Gegner
links. Der Vormarsch des Gegners wurde zum Stehen gebracht.
Gegen 17.00 Uhr besetzten unsere Soldaten den Südrand des
Dorfes… Im Dorf blieben ein Munitionslager und etwa hundert
Tote zurück. Die Deutschen waten überrascht worden. Viele
Waffen. PPD von denen (gemeint sind anscheinend deutsche
MPis. -K. S.), Panzerabwehrkanonen, Schützenpanzerwagen.
Um 18.30 tauchte die feindliche Luftwaffe auf. Dreißig Minuten später waren unsere ,Habichte’ da. Haben sie auseinandergejagt, einen abgeschossen.“
Dieses Notizbuch enthält noch eine weitere Eintragung, wonach „sich das eingetroffene kommunistische Bataillon der
Leningrader prächtig schlägt. Sind an die fünf Kilometer pro
Tag vorgerückt.“ Anzunehmen ist, daß auch dieses Bataillon
zur Gruppe von Brigadekommandeur Kontschiz gehörte. Andernfalls hätte ich es nicht auf der gleichen Seite des Notizbuchs erwähnt.
Unlängst erhielt ich einen Brief von Viktor Michailowitsch
Dogadajew, der als Soldat jenem 355. Schützenregiment angehörte, welches wir seinerzeit aufsuchten. Er erinnert sich jener
Tage und nennt den Namen seines Kommissars: „Bald darauf
kam müde, unrasiert und staubbedeckt der Kommissar unseres
Regiments, Gutnik, und sagte zu uns: Genossen, ihr seid die
letzte Reserve des Regiments. Sollten die Deutschen unsere
Hauptverteidigungslinie durchbrechen, seid ihr die letzte Kraft,
die sie hier aufzuhalten vermag. Einen Monat danach ist er
gefallen…“
Was den Brigadekommandeur Kontschiz angeht, wurde er
später General, Stellvertreter eines Korpskommandeurs und
beendete den Krieg im Baltikum, wo er die Samlandgruppierung der Deutschen vernichtete.
Der Befehlshaber der Armee Rakutin war ungehalten über die
Aktionen des Brigadekommandeurs Kontschiz, während man
im Stab der Reservefront mit Rakutins Aktionen unzufrieden
war. Die Berichte des Stabs der Reservefront an den General-
stab waren recht widersprüchlich: Am 24. wurde dorthin gemeldet, daß laut Bericht des verwundet beim Armeestab eingetroffenen Oberst Botschkarjow unsere Truppenteile seit dem
Morgen einen energischen Angriff vortrügen und unsere Panzer in das nördliche und nordöstliche Randgebiet von Jelnja
eingedrungen wären, wo sie im Kampf stünden. Im Zusammenhang damit gab der Befehlshaber der Armee Rakutin den
Befehl, eine Abteilung zur Verfolgung des Gegners einzusetzen. Am 25. hingegen wurde dem Generalstab gemeldet, daß
die 24. Armee die Versuche des Gegners vereitle, im Raum
Jelnja nach Osten durchzubrechen.
Immer wieder fragte der Generalstab beim Oberbefehlshaber
der Reservefront an: Was ist bei Jelnja los? Hier einer der
Streifen, auf dem die hierüber geführten Gespräche aufgezeichnet worden sind. „Hier Generalleutnant Bogdanow…’
Ja?’ ,Ich weiß nichts über Jelnja. Vom Armeestab der Vierundzwanzigsten habe ich bis jetzt, obwohl ich mich sehr darum
bemüht habe, keine näheren Angaben erhalten. Werde weiter
darum bemüht sein… Über Rakutins genauen Standort kann
ich nichts sagen. Genosse Rakutin hat seinen Gefechtsstand
heute verlegt, und der Armeestab der Vierundzwanzigsten ist
nicht in der Lage, zu melden, wohin. Ich werde gleich noch
einmal beim Armeestab der Vierundzwanzigsten anfragen, wo
sich Rakutin aufhält.“
Beim Lesen dieser Telegraphenstreifen erinnerte ich mich jener Tagebuchstelle, wo ich Erstaunen darüber äußere, daß der
Feldstab des Befehlshabers der Armee aus ganzen drei Männern bestand, und wo ich sage, Rakutin hätte kein Sitzfleisch.
Persönliche Tapferkeit und das Trachten, möglichst alles mit
eigenen Augen zu sehen, sind natürlich attraktive menschliche
Eigenschaften. Besieht man sich die Sache jedoch genauer, ist
der Führungsstil der Armee, mit dem ich mich damals bei Ra-
kutin konfrontiert sah, ein zweischneidiges Schwert. In jener
Nacht vom 24. zum 25. Juli, als wir vom 355. Schützenregiment zu Rakutin zurückwollten und ihn nicht fanden, waren
sowohl für den Stabschef der Armee als auch für Rakutin vom
Stab der Front zornerfüllte Telegramme eingetroffen mit der
Forderung, „den Gegner im Raum Jelnja zu vernichten“.
Die Deutschen waren überraschend aufgetaucht und ihre
Kräfte ungenau eingeschätzt worden.
Dies alles wurde verstärkt durch die im allgemeinen unklare
Lage: deutsche Panzer- und motorisierte Divisionen waren in
den Raum eingebrochen, der noch vor kurzem als rückwärtiges
Gebiet der Westfront gegolten hatte. Noch wenige Tage zuvor
hatten sich sowohl der Stab der Reservefront als auch die Stäbe
ihrer Armeen gänzlich auf die Aufklärungsdaten der vor ihnen
stehenden Westfront orientiert und hatten sich daran gewöhnt,
von ihr sämtliche Informationen über den Gegner zu erhalten.
Deshalb wohl hatte die eigene Aufklärung der Truppenteile der
Reservefront in den im Tagebuch behandelten Tagen schlecht
gearbeitet.
Auf einem Telegraphenstreifen erhalten ist die Antwort des
Chefs der operativen Abteilung des Stabes der Reservefront,
Oberst Bogoljubow, auf die Anfrage des Generalstabs: Was ist
bei Jelnja los? „Ich antworte… Bei Jelnja steht der Gegner mit
etwa einem Regiment und rund hundert Panzern. Ich habe vor
zwei Stunden meinen Gehilfen Oberstleutnant Winogradow
hingeschickt…“ Und unmittelbar darauf folgt eine Ergänzung:
„Wie soeben gemeldet, ist der Gegner nach Jelnja zurückgedrängt und wird in den nächsten Stunden vernichtet werden.“
Auf einem Telegraphenstreifen ist der unvollständige Wortlaut
der per Telegraph geführten Gespräche eben jenes Oberstleutnants Winogradow, von dem in dem vorangegangenen Telegraphenstreifen die Rede war, mit einem Mitarbeiter des Front-
stabes, allem Anschein nach mit Oberst Bogoljubow, erhalten
geblieben: „Genosse Winogradow, sehen Sie jetzt klar, was los
ist?“ Winogradow antwortet, sich offenbar auf eine vorangegangene wahrheitsgetreue Meldung an die vorgesetzte Stelle
beziehend: „Ich habe mich gescheut, die Dinge beim Namen zu
nennen (bei welchem Namen, läßt sich nur vermuten – K. S.).
Na, ich hab vielleicht was zu hören bekommen! Das unter uns.
Für drei Viertel (offenbar der Wahrheit – K. S.) habe ich mir
das sagen lassen müssen. Was raten Sie mir? Wie soll ich mich
in solchen Fällen verhalten? Soll ich ,unblutig’ sagen, oder soll
ich sagen, was ist…?“
Auf diese Frage antwortet sein Gesprächspartner im Frontstab: „Du hast richtig gehandelt. Geht in Ordnung. Schwindeln
führt zu nichts. Besser, man sagt die Wahrheit. Wenn man euch
dafür einen Rüffel gibt, macht Meldung… an ein Mitglied des
Kriegsrats.“ Ich habe ein Bruchstück dieses in kameradschaftlichem Ton über die militärische Leitung geführten Gesprächs
wiedergegeben, weil es das ganze Ausmaß der Widersprüche
deutlich macht zwischen der Lage, wie man sie gerne sehen
wollte, und der Lage, die real entstanden war, zwischen den
erwarteten Meldungen und dem, was manchmal gemeldet werden mußte, wollte man die Wahrheit nicht vertuschen. Wollte
man die Deutschen wirklich aus dem Jelnjaer Zipfel vertreiben,
mußte man ernsthafte Vorbereitungen treffen, einen Angriff
mit den Kräften zweier Armeen vorzutragen und wochenlang
erbittert zu kämpfen.
Im Frühjahr 1942, als ich das Tagebuch diktierte, erreichten
mich Gerüchte, wonach sich Rakutin nach schwerer Verwundung im Kessel von Wjasma erschossen haben soll. Aber soviel ich später auch in den Archiven stöberte, genaue Informationen darüber konnte ich nicht finden, wie der Befehlshaber
der 24. Armee Konstantin Iwanowitsch Rakutin gestorben ist.
Bekannt ist lediglich, daß er im Oktober 1941 fiel. Er war damals neununddreißig Jahre alt, von denen er zweiundzwanzig
im Militärdienst verbracht hatte. Vor dem Krieg befehligte
Rakutin die Grenztruppen im Baltischen Besonderen Militärbezirk, und die Führung der Armee hatte er während des Krieges übernommen.
Rakutins letzte Meldung ging am 9. Oktober 1941 beim Stab
der Reservefront ein: „Mit fünf Panzerdivisionen… greift der
Gegner weiterhin an, darauf aus, die Truppen der 24. Armee
völlig einzuschließen… Teile der 24. Armee stehen in erbittertem Kampf im Verteidigungsstreifen, sie sind eingeschlossen
und werden frontal und an den. Flanken angegriffen… Rakutin,
Iwanow, Kondratjew.“ Diese Meldung traf erst am 9. Oktober
ein, Rakutin aber hatte sie bereits am 7. abgesandt. Die Armee
befand sich offenbar in einer schwierigen Lage, und man war
bemüht, ihr beizustehen. Vom 8. Oktober liegt folgendes Telegramm des Stabes der Reservefront an den Generalstab vor:
„Sofort über die direkte Leitung durchgeben. An Schaposchnikow. Kann Rakutin per Kfz nicht mit Munition, Treibstoff und
Verpflegung versorgen. Bitte, unverzüglich Abwurf von Flugzeugen aus zu veranlassen… Abwurfzeitpunkt voraussichtlich
9. Oktober, 4.00 Uhr. Budjonny.“
Wenig später ging ein Telegramm vom Stabschef der Reservefront an den Generalstab ab: „Per Flugzeug zu Rakutin entsandte Verbindungsoffiziere haben nach Eintreffen nicht die
vereinbarten Signale gegeben, das Flugzeug ist nicht zurückgekehrt. Daher keine Vereinbarung von Signalen zur Kennzeichnung der Abwurfstelle für Munition, Treibstoff und Verpflegung möglich gewesen. Der Oberbefehlshaber ersucht, den für
9.10. 4.00 Uhr, vorgesehenen Abwurf von Lasten für Rakutin
nicht vorzunehmen, sondern auf 10. zu verlegen. Für Morgen
des 9. Absendung neuer Kommandeure mit Flugzeugen vorge-
sehen. Anissow.“
Das nächste Dokument: „Keinerlei Berichte über Rakutin erhalten. Sein Funkgerät antwortet seit 8.10. 14.00 Uhr, nicht.
Heute mit U-2 in vermutetes Aufenthaltsgebiet Rakutins entsandte Funker und Chiffreure haben Eintreffen bisher nicht
gemeldet.“
Und schließlich ein letztes Dokument: „Bis 19.00 Uhr Rückkehr von Hauptmann Burzew, der mit Flugzeug auf Suche nach
Rakutin war. Im Raum südostwärts Wjasma wurde Burzews
Flugzeug beschossen… Burzew verwundet, Flugzeug beschädigt… Übrige Abgesandte (offenbar die Verbindungsoffiziere,
die gleichfalls mit Flugzeugen gestartet waren – K. S.) bis
21.00 Uhr nicht zurückgekehrt.“
Liest man das alles, läßt einen der Gedanke nicht los, welch
unmenschliche Anstrengungen uns abverlangt wurden, um die
Deutschen vor Moskau schließlich doch zum Stehen zu bringen
und sie zu zerschlagen.
Über Rakutins Schicksal konnten mir die Stabsunterlagen also
keine Auskunft geben. Da wandte ich mich den Berichten seiner aus dem Kessel herausgekommenen Kameraden zu.
Das Mitglied des Kriegsrats der 24. Armee, Nikolai Iwanowitsch Iwanow, im Januar 1942 mit dem Flugzeug von einer
Partisanenabteilung nach Moskau gebracht, sah Rakutin zum
letztenmal am 7. Oktober und schrieb darüber folgendes: ……
„Die 24. Armee geriet in eine äußerst schwierige Lage. Der
Stab und mit ihm auch ich und der Befehlshaber, Generalmajor
Rakutin, ging mit einer Volkswehrdivision zurück… Am 7.10.
erreichten wir den Rayon Semljowo. Als die Truppenteile der
Division, die zu dieser Zeit schon schwer angeschlagen waren,
feststellten, daß der Einschließungsring geschlossen war, stellten sie den Kampf ein und gingen nicht weiter vor. Angesichts
dieser Lage begaben sich Befehlshaber Rakutin und ich unmit-
telbar zu den Truppenteilen, um bei der Führung der Division
an Ort und Stelle behilflich zu sein… In der zweiten Tageshälfte wurde ich verwundet…“
Mehr ist über Rakutins Schicksal in diesem Bericht nicht enthalten. Im weiteren berichtet Iwanow davon, wie seine Kameraden ihn, den Schwerverwundeten, durch den Wald schleppten und alles nur Menschenmögliche unternahmen, so daß sie
ihn letztlich doch retten und zu einer Partisanenabteilung bringen konnten.
Der Stabschef der 24. Armee, Generalmajor Kondratjew, der
am 18. Oktober zusammen mit einer Gruppe in Stärke von einhundertachtzig Soldaten und Kommandeuren aus dem Kessel
herauskam, erinnert sich ebenso wie Iwanow, Rakutin am
Morgen des 7. Oktober zum letztenmal gesehen zu haben.
Der Chef der Politabteilung der 24. Armee, Divisionskommissar Abramow, hat Rakutin noch früher – am 4. Oktober – zum
letztenmal gesehen.
Konstantin Kirillowitsch Abramow – er wurde später Held
der Sowjetunion – befand sich damals, im Herbst 1941, mit
einer sechs Mann starken Gruppe länger als einen Monat im
Kessel von Wjasma, schlug sich schließlich doch heraus und
kämpfte weiter. Nur wenig mehr als ein Jahr später nahmen die
Truppen der 64. Armee, bei der er zu dieser Zeit Mitglied des
Kriegsrates war, in Stalingrad Feldmarschall Paulus gefangen.
Wie viele andere auch erlebte Rakutin diese Zeit nicht mehr.
Gleich nach der Veröffentlichung des Tagebuchs in der Presse
schrieb mir über Rakutin der Minsker Journalist A. Suslow, der
im Krieg Bitteres erlebte, schwer verwundet wurde und viele
Auszeichnungen erhielt.
Suslow war bei Jelnja Soldat beim Begleitbataillon des Stabes
der 24. Armee und hatte Rakutin am letzten Tag, vielleicht
sogar in der letzten Stunde seines Lebens gesehen: „… Ich
glaube, es war im Rayon Semljowo, wir gingen zum Angriff
vor, um aus dem Kessel auszubrechen. Ich ging etwa zehn bis
fünfzehn Meter von ihm entfernt. Er ging aufgerichtet, trug
Generalsuniform, in der Hand die Mütze und die Pistole.
Der Ausbruch gelang nicht, und auf Befehl der Führung verbrannten wir in großen, eigens ausgehobenen Gruben die
Stabsunterlagen, nachdem wir sie mit Dieselöl und Benzin
übergossen hatten. Nach dem Angriff habe ich General Rakutin
nicht mehr gesehen. Im Kessel und auch später in der Gefangenschaft hat man alles mögliche über ihn erzählt. Manche
sagten, er sei bei diesem Angriff gefallen, nachdem wir uns
gleich wieder zurückgezogen hatten; andere meinten, er sei
schwer verwundet worden und habe sich erschossen; dritte
wieder sagten, er sei mit einem Flugzeug nach Moskau geflogen. Die dritte Version scheidet aus, weil unsere Flugzeuge in
diesem Schlamassel gar nicht landen konnten…“
Ich habe das Tagebuch dieser Archivunterlagen wegen für eine ganze Weile aus der Hand gelegt, und ich wende mich wieder jenem Morgen des 25. Juli 1941 zu, an dem ich den Bericht
unterbrach.
… Nachdem wir uns von Rakutin verabschiedet hatten, bogen
wir gegen neun Uhr vormittags von der Jelnjaer Straße auf die
Dorogobusher Straße ab und fuhren in Richtung Dorogobush.
Bis dorthin war es nur ein Kilometer. Vor uns lag ein hübsches,
in Grün gebettetes Städtchen mit ein paar Kirchen und wenigen
Häusern aus Stein, das übrige waren vorwiegend Holzhäuser.
In den Fensterscheiben spiegelte sich die Sonne. Ich hab mir
das Bild gut eingeprägt, weil es vielleicht die letzte Möglichkeit war, Dorogobush so unversehrt zu sehen. In den Abendstunden des nächsten Tages existierte es nicht mehr…
Der Stab der 107. Schützendivision hatte einen günstigen
Standort in den tiefen Schluchten, die die Hügel vor Dorogo-
bush durchschnitten.
Wir ließen den Wagen oben an einem Gebüsch stehen und
stiegen hinab in die Schlucht. Überall Posten. Uns fiel auf, daß
tadellose Ordnung und strenge Disziplin herrschten, allerdings
machte sich auch jene gewisse Affektiertheit, jener Übereifer
bemerkbar, die Kadertruppen eigen sind, welche eben erst in
den Kampf eingegriffen haben… Zwei Regimenter der Division hatten noch nicht im Kampf gestanden, das dritte aber hatte
vor zwei Tagen schon an einem ersten erfolgreichen Gefecht
teilgenommen.
Ich lieferte den Brief beim Stabschef der Division ab und wartete auf den Divisionskommandeur, der sich gerade rasierte.
Wenige Minuten später kam er. Er war ein drahtiger, untersetzter, blauäugiger, besonnener Oberst von ungefähr vierzig Jahren. Er gefiel mir, weshalb ich mich später auch freute, daß
seine Division zu einer Gardedivision ernannt worden war.
Ein eigenartiges Gefühl ist es schon: Du nimmst eine Zeitung,
schlägst sie auf, suchst nach bekannten Namen, findest sie oder
auch nicht. Wie konnte ich beispielsweise damals, als ich mich
in der Hütte von Rakutin verabschiedete und er mir den Brief
für die 107. Schützendivision gab, ahnen, daß ich ihn nie mehr
wiedersehen sollte? Der Kommandeur der 107. Schützendivision, Oberst Mironow, empfing uns freundlich, wies uns in die
Lage der Division ein und riet uns, zuerst zu ihrem Vortrupp
und hinterher zu dem Aufklärungsbataillon zu fahren, das vierzig Kilometer weiter an einem Dneprübergang lag.
„Wenn Sie zurück sind, können Sie hier hei uns die reiche
Beute besichtigen, die Nekrassows Regiment gemacht hat.
Wenn Sie jetzt gleich losfahren, nehmen Sie doch bitte einen
Brief mit einem Befehl an den Kommandeur des Aufklärungsbataillons mit.“ Wir wollten sofort losfahren und den Brief
überbringen. Der Oberst wies an, uns vor der Abfahrt noch
etwas zu essen zu geben. Für uns völlig überraschend, breitete
eine Ordonnanz auf dem Abhang einen Teppich aus, den er
wohl von zu Hause, aus Sibirien, mitgebracht hatte, und von
diesem Teppich zog uns ein Duft entgegen wie bei einem Manöver in Friedenszeiten…
Mein Notizbuch enthält eine Eintragung, die von fremder
Hand geschrieben ist: „Befehl des Armeebefehlshabers vom
25. 7. 41, 8.00 Uhr, erhalten am 25-7. 10.20 Uhr. Chef d. OpAbt. – Hauptmann Lissin. 25.7.41.“ Diese Eintragung kann
nichts anderes sein als die Quittung eines Mitarbeiters der operativen Abteilung des Stabs der 107. Division darüber, daß ich
ihm den Brief General Rakutins ausgehändigt habe. Nimmt
man noch hinzu, daß die gleichen Korrespondenten am gleichen Tag zunächst einen Befehl des Befehlshabers der Armee
an die Division überbrachten und danach einen Befehl des Divisionskommandeurs an dessen Aufklärungsbataillon, erhält
man eine gewisse Vorstellung davon, wie es in jenen Tagen um
die Nachrichtenmittel und die Übermittlung von Befehlen bestellt war. Jedenfalls dort, wo wir uns aufhielten.
Das soll kein Vorwurf sein. Wir waren stolz auf das Vertrauen, das uns der Befehlshaber der Armee und der Divisionskommandeur entgegenbrachten. Ich möchte nur daran erinnern,
daß es damals, noch im Juli, Dinge gab, die wenige Monate
später einfach undenkbar waren.
… Nachdem wir von den Konserven gegessen und Tee getrunken hatten, fuhren wir nach vorn, zum Dneprübergang bei
Solowjewo. Wir waren darauf hingewiesen worden, daß uns
beim Vortrupp auf der Straße ein Einweiser empfangen werde,
und wir zweifelten nicht daran. Bei der Division herrschte absolute Ordnung, die Tarnung war ausgezeichnet, die Erdunterstände und die Deckungsgräben waren sicher in die Hänge eingebaut, in der Stellung des Stabes war keine unnötige Bewe-
gung zu bemerken.
Wie sich später herausstellte, sollte das eine große Rolle spielen, denn die Deutschen machten den Standort des Stabes tatsächlich nicht aus. Gestützt auf die Angaben ihrer Aufklärung,
waren sie der Meinung, er läge direkt in Dorogobush.
Die ersten fünfzehn Kilometer fuhren wir ohne jeden Zwischenfall, sieht man davon ab, daß wir auf der Straße plötzlich
einem den Deutschen weggeschnappten Stabswagen begegneten, dem ersten, den wir zu Gesicht bekamen. In ihm saßen
Genossen von der Politabteilung der Front, die tollkühne Männer sein mußten, denn in jenen Tagen im Bereich unserer Stellungen einen deutschen Beutewagen zu benutzen hieß riskieren, beschossen zu werden und für nichts und wieder nichts
umzukommen.
Der Einweiser stand dort, wo er zu stehen hatte. Wir kamen
zum Vortrupp, sprachen dort mit den Männern und fuhren weiter zum Aufklärungsbataillon.
Auf den folgenden fünfzehn Kilometern ging es nicht mehr so
glatt. Die Luftwaffe belegte die Straße mit Bomben, und wir
mußten mehrmals aus dem Wagen springen.
Flugzeuge flogen die Straße entlang, warfen Bomben und
schossen mit Bordwaffen. Ein Stück vor uns waren Bomben
mitten auf der Straße und am Straßenrand detoniert, umgestürzte Bäume versperrten die Straße. Wir mußten diese Stelle
umfahren und uns einen Weg durch Gebüsch und Wald bahnen. Später gerieten wir noch dreimal in einen Bombenangriff.
Endlich erreichten wir einen Waldrand, hinter dem ein Kilometer völlig offenes Gelände lag, und danach folgte ein weiteres Waldstück auf der anderen Seite der Straße. Pausenlos belegten die Deutschen den Flußübergang mit Bomben. Und dieses Waldstück in der Ferne, nach dem bis zum Übergang wieder offenes Gelände kam, war der Ort, wo sich die 2. Staffeln
der schon auf dem jenseitigen Flußufer, hinter dem Übergang,
stehenden Truppenteile sammelten. Straße und Feld waren von
Trichtern übersät. Vom Waldrand aus sahen wir über dem
Wäldchen zwei Dreierketten „Junkers“ auftauchen. Sie flogen
hintereinander, griffen im Sturzflug an und schwangen sich
wieder in die Lüfte. Dann drehte die eine Kette der „Junkers“
ab, die anderen drei Maschinen griffen noch einmal im Sturzflug an, machten kehrt und flogen zurück. Ihnen entgegen aber
kam schon die nächste Dreierkette geflogen, und das Karussell
begann sich erneut zu drehen. Ein Kontrollposten an der Straße
legte uns nahe, den Wagen hier stehenzulassen und zu Fuß
weiterzugehen. Troschkin, Pankow und ich wollten es trotzdem
auf einen Versuch ankommen lassen, wir kamen auch gut
durch, erreichten aber den Waldrand gerade in dem Augenblick, da über der Waldmitte die nächste Bombenladung herunterkam.
Der Stab des Aufklärungsbataillons lag genau dort, in der
Mitte des Waldes. Bei dem letzten Anflug war beim Erdunterstand des Stabes ein Melder ums Leben gekommen. Als die
Bomben einschlugen, hatte er, anstatt in einen Deckungsgraben
zu springen oder sich auf die Erde zu werfen, einem kindlichen
Instinkt folgend, hinter einem Baum Schutz gesucht und war
mitsamt dem Baumstamm von einem Splitter oberhalb des
Koppels durchbohrt worden. Der Stabsunterstand, nur drei Meter von dem Trichter entfernt, war zwar etwas verschüttet, aber
im großen und ganzen unversehrt. Der Wald war im ganzen
Umkreis von Deckungsgräben durchzogen und mit Trichtern
übersät, die von leichten 50-Kilo-Bomben stammten. Die
Bombardierungen richteten offenbar viel Schaden an, weshalb
man tiefe Deckungsgräben in ausreichender Menge ausgehoben hatte. Damit waren auch die geringen Verluste in den letzten beiden Tagen zu erklären. Wir sprachen mit zwei Aufklä-
rern, die am Vortag tolldreist mit einem „GAS“ im Hinterland
der Deutschen herumgekurvt und wohlbehalten zurückgekommen waren. Troschkin photographierte sie hier im Wald, und
ich schrieb anschließend über sie meinen letzten Bericht für die
„Iswestija“. Ich unterhielt mich eine Stunde lang mit den Aufklärern, und in der Zeit mußten wir drei- oder viermal in die
Deckungsgräben springen. Ganz in der Nähe schlugen noch ein
paar 50-Kilo-Bomben ein, aber es wurde niemand verletzt.
Anschließend machten wir uns auf den Rückweg nach Dorogobush zum Divisionsstab. Nach einigen Kilometern sahen wir
aus Richtung Dorogobush zurückkehrende „Junkers“ und am
Horizont eine Rauchwolke, die immer größer wurde. Die „Junkers“ kamen in Dreierketten zurück und luden den Rest ihrer
leichten Bomben über der Straße ab. Zunächst in einiger Entfernung von uns, aber dann mußten wir doch aus dem Wagen
springen und Deckung suchen. Wir waren weitere zwei Kilometer gefahren. Da tauchte vor uns erneut eine Kette „Junkers“
auf. Sie flogen ausgesprochen dreist in zweihundert Meter Höhe und bestreuten die Straße mit MG-Feuer.
Wir sprangen aus dem Wagen. In diesem Augenblick begann
eine vierte „Junkers“, die etwas höher flog, in etwa vierhundert
Metern, plötzlich zu qualmen und verlor stark an Höhe. Offensichtlich hatte das MG-Feuer vom Boden sie erwischt. Vier
Punkte lösten sich von ihr, vier Fallschirme öffneten sich. Das
alles spielte sich in unmittelbarer Nähe ab und war deutlich zu
erkennen. Eine der drei anderen „Junkers“ flogen weiter, die
beiden anderen aber machten kehrt und kreisten über der Absturzstelle. Dort, einen oder anderthalb Kilometer von uns entfernt, stieg eine schwarze Rauchsäule auf. Die „Junkers“ gingen tief herunter und beschrieben in einer Höhe von fünfzig bis
siebzig Metern weite Kreise über dieser Stelle. Die Luft war
erfüllt von Motorengedröhn und wütendem MG-Geknatter. Die
„Junkers“ feuerten hinunter, alle Feuernester, alle Soldaten
aber schossen nach oben auf die Flugzeuge.
Sie beschrieben mehrere Kreise. Möglicherweise hatten sie
keine Vorstellung von der Dichte der Truppen in dieser Gegend und dachten, eines der Flugzeuge könne unter dem Feuerschutz des anderen auf einem Feld landen und die abgesprungenen Flieger aufnehmen. Von weitem glaubte ich zu sehen,
daß die eine „Junkers“ zur Landung ansetzte, aber sofort wieder hochzog. Gleich darauf zog sie eine Rauchfahne hinter sich
her und suchte im Tiefflug hinter den Hügeln das Weite. Wie
wir später hörten, ist sie ein paar Kilometer von dieser Stelle
entfernt gleichfalls abgestürzt.
Der zweite Deutsche zog immer noch Kreise über der Absturzstelle. Unser Fahrer Pankow, sonst sehr ruhig und beherrscht, holte sein Gewehr aus dem Wagen und nahm die
„Junkers“ aufs Korn. Troschkin rannte los – seitlich von der
Straße, näher zur Absturzstelle, stand ein Steingebäude, an dem
eine Außenleiter aufs Dach führte. Troschkin kletterte die Leiter hinauf. Ich hinter ihm her. Fieberhaft schraubte er das Teleobjektiv an die Kamera, und in diesem Augenblick war das
Flugzeug, das wieder gewendet hatte, unmittelbar über uns.
Wir befanden uns hier auf dem Dach etwa zehn Meter über der
Erde, und es fegte in einer Höhe von etwa dreißig Metern über
uns hinweg. Der Lärm war ohrenbetäubend, und wir konnten
jedes Detail erkennen, sahen Seile, die Kanzel des Piloten und
die riesigen Balkenkreuze an den Tragflächen.
Troschkin warf sich hin, um im Liegen zu knipsen, aber eine
Sekunde zu spät, er bekam bloß noch den Schwanz des sich
entfernenden Flugzeugs auf den Film. Er wollte warten, bis es
wieder zurückgeflogen kam, doch das Flugzeug kehrte nicht
noch einmal um, beharkte die Erde immer noch mit seinem
Feuer und entfernte sich in Richtung Dnepr. Anscheinend hatte
der Pilot sein Vorhaben aufgegeben, die Flieger zu retten. Ich
glaube, wenig später ist auch er abgeschossen worden. An diesem Tag wurden über der Straße zwischen dem Dnepr und Dorogobush insgesamt drei „Junkers“ heruntergeholt. Troschkin
tobte, weil er das Flugzeug nicht hatte knipsen können, wie er
es eigentlich vorgehabt hatte. Wir rannten zum Wagen und
jagten querfeldein dorthin, wo im Weizen das Flugzeug brannte und Menschen zu sehen waren, die die Flieger zu suchen
schienen. Am Feldrain machten wir halt. Troschkin sprang als
erster hinaus und rannte los. Er hatte diese Fahrt angetreten in
einer über die Feldbluse gezogenen Lederjacke mit Reißverschluß, eine deutsche „Leica“ auf der Brust und ein blaues
Fliegerkäppi auf dem Kopf. Nicht Sorge, mehr ein Schatten
von Sorge streifte mich, und ich rief ihm nach: „Warte auf
mich!“ – aber er rannte weiter, ohne sich umzusehen. Ich stieg
auf die Motorhaube, um zu sehen, wo auf dem Feld die meisten
Menschen zu sehen waren, und gab Pankow die Richtung an.
Von dort waren Schüsse und Geschrei zu vernehmen, ein paar
Reiter kamen angaloppiert. Die Leute drängten sich zusammen,
ein Lkw fuhr heran.
Ich ließ den Wagen halten und ging zu Fuß übers Feld. Bei
dem Lkw kam ich in dem Augenblick an, als drei geschnappte
Flieger hineinverfrachtet wurden. Ihre Hände waren mit Koppeln gefesselt. Troschkin saß bereits im Wagenkasten. Ohne zu
begreifen, was da vor sich ging, trat ich zu dem Lkw und sagte
zu Troschkin, er könne in unseren Wagen umsteigen, ich hätte
ihn rangeholt.
„Kostja, hol mich raus“, sagte er. „Die haben mich festgenommen.“
„Was heißt festgenommen?“
„Der da.“ Troschkin wies mit dem Kopf auf einen Mann mit
Stahlhelm, der sich wie ein Verrückter gebärdete. An den Kra-
genspiegeln hatte er drei Würfelchen. Fünfzehn Mann umringten uns.
„Was ist denn los, Genosse Politleiter?“ erkundigte ich mich.
„Warum halten Sie ihn fest?“
Der Politleiter, wie sich herausstellte, Bevollmächtigter der
Sonderabteilung des hier liegenden Regiments, musterte mich
mit einem wilden, absolut verständnislosen Blick: „Nehmt den
auch fest! Nehmt den auch fest! Festnehmen, aber rasch!“
Er hatte eine Pistole in der Hand, und die Männer um ihn
fuchtelten ebenfalls mit Waffen herum. Sie alle waren so erregt, als wäre hier mindestens eine ganze Abteilung Fallschirmjäger abgesprungen. Ich sagte zu dem Bevollmächtigten,
er habe den Verstand verloren, ich würde ihm gleich meine
Papiere zeigen. „Hände hoch!“ brüllte er. „Hände hoch!
Schießt auf ihn ohne Warnung, wenn er die Hände nicht hochnimmt!“ rief er den unmittelbar neben ihm stehenden zwei oder
drei unteren Kommandeuren zu. „Nehmt ihm den Nagant ab!
Das ist ein Diversant!“ An den Nagant hatte ich gar nicht gedacht.
Ich sagte noch einmal, er solle keinen. Blödsinn reden. Da
bohrte er mir die Pistole in die Rippen und brüllte: „Sie nehmen jetzt sofort die Hände hoch, oder ich leg Sie um!“
Umringt von Männern, die mich für einen Diversanten hielten, wäre jeder Versuch eines Widerstandes sinnlos und gefährlich gewesen. So einen dummen Tod hatte ich schon immer am
meisten gefürchtet. Ich mußte die Hände heben. Dann erst zogen sie meinen Nagant aus der Pistolentasche. Vorher war ihnen das nicht in den Sinn gekommen. Offenbar meinten sie, ich
müsse erst die Hände heben, bevor man mich entwaffnen könne.
Ein letztes Mal an die Überreste des gesunden Menschenverstands appellierend, nahm ich die Arme herunter und griff in die
Feldblusentasche nach meinen Papieren, unter denen sich, nebenbei bemerkt, auch der nunmehr leere Briefumschlag des
Divisionskommandeurs befand, auf dem mir der Kommandeur
des Aufklärungsbataillons die Aushändigung des Inhalts quittiert hatte.
„Ich werde Ihnen gleich etwas zeigen“, sagte ich, bemüht, ruhig zu bleiben, in der Annahme, diese Ruhe könnte mir helfen.
„Ich schieße Sie nieder“, schrie der Bevollmächtigte. „Hände
hoch!“ Ich hob wieder die Hände. Es war ein ganz idiotisches
Gefühl: dumm, lächerlich und schrecklich zugleich. Erst als ich
mir später die ganze Geschichte in aller Ruhe durch den Kopf
gehen lassen konnte, habe ich eine Erklärung für diesen Vorgang gefunden. Dieser Bevollmächtigte war sicherlich kein
schlechter, aber ein nicht sehr intelligenter Bursche. Sein Regiment war erst drei Tage zuvor hier eingetroffen, hatte noch
an keinem einzigen Gefecht teilgenommen, und da hatten die
Soldaten mit ihrem Feuer vom Boden aus eine „Junkers“ heruntergeholt, noch dazu eine, die aus dem soeben in Flammen
aufgegangenen Dorogobush zurückkehrte, und aus diesem
Flugzeug waren leibhaftige Deutsche abgesprungen. Dieses
Regiment aber war erst vor einer Woche durch Gorki gekommen. Und sie hatten diese Deutschen umzingelt und gefangengenommen. Da kam auch noch ein unbekannter Mann in einer
Lederjacke aufs Feld gerannt, die unseren Jacken so gar nicht
glich, ein blaues Fliegerkäppi auf dem Kopf und eine ausländische Kamera auf der Brust, und begann die Deutschen zu knipsen. Der seltsam gekleidete Mann photographiert die Deutschen! Dann nähert sich ein seltsamer Wagen – gewiß spielte
hierbei auch der Umstand eine wesentliche Rolle, daß unser
„Emka“ ein ungewöhnliches aufrollbares Verdeck aus Segeltuch hatte –, und diesem Wagen entsteigt ein keinem hier bekannter Bataillonskommissar und will diesen verdächtigen
Mann befreien, ihn zu sich in den Wagen holen. Zweifellos
will er ihn entführen. So hatte der Bevollmächtigte Verdacht
geschöpft und ließ uns festnehmen. Und hätten wir damals
nicht wenigstens eine Spur von Kaltblütigkeit bewahrt, hätten
uns etwa einfallen lassen, Widerstand zu leisten, diktierte ich
wohl jetzt nicht dieses Tagebuch, und der Bevollmächtigte
hätte gemeldet, er habe – abgesehen davon, daß er drei deutsche Flieger gefangengenommen hatte – auch noch zwei Diversanten auf der Stelle niedergeschossen, weil sie Widerstand
leisteten.
Den Deutschen im Wagen wurden sicherheitshalber die Hände noch einmal am Rücken gebunden, und ich stand wie ein
Dummkopf daneben – mit erhobenen Händen. Das ging so
zwei Minuten. Ich fragte den Bevollmächtigten, wie es nun
weiterginge, ob er sich meine Papiere nicht ansehen wolle.
„Ich liefere Sie beim Divisionsstab ab! Dort wird man mit Ihnen reden!“
Das beruhigte mich etwas, und ich sagte ihm, beim Divisionsstab abgeliefert zu werden sei ja mein einziger Wunsch, ich sei
erst vor ein paar Stunden dort gewesen. Aber vorher ersuche
ich ihn doch, sich meine Papiere näher anzusehen und meinen
Genossen und mich nicht wie Diversanten, sondern schlimmstenfalls wie Verdächtige zu behandeln.
„Ich verdächtige nicht!“ schrie er, „ich weiß, ich weiß! Haben
sich sogar einen Orden angehängt, bilden sich ein, wir merkten
nicht, daß sie Diversanten sind! Haben sich Rhomben angesteckt! In den Wagen! Augenblicklich in den Wagen!“
Ich schlug vor, uns eine Bewachung mitzugeben, und wir
würden ihnen in unserem Wagen folgen.
„Nein!“ Er befahl einem Leutnant, mit unserem Wagen hinter
dem Lkw herzufahren. „Und den Fahrer bringt auch her, damit
er ja nicht abhaut!“
Sie schleppten Pankow herbei, der überhaupt nichts verstand,
und wir mußten alle in den Wagenkasten steigen.
Das werde ich wahrscheinlich mein Leben lang nicht vergessen: An der rechten Bordseite saßen die drei Deutschen,
Troschkin neben ihnen, an der linken zwei Rotarmisten mit
Gewehren und zwischen ihnen Pankow, und an der hinteren
Bordwand ich und ein Sergeant aus Mittelasien, eine MPi in
den Händen, der nur schlecht Russisch verstand. Und mir gegenüber, ans Fahrerhaus gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, stand in Napoleonpose der Bevollmächtigte.
Vor uns – der Feuerschein des brennenden Dorogobush. Über
der Straße – vom Einsatz zurückkehrende deutsche Flugzeuge.
Auf der Erde und in der Luft – wütendes MG-Geknatter. Hinter
dem Lkw unser „Emka“ mit seinem verdächtigen Äußeren. Am
Lenkrad des „Emka“ – der Leutnant, und um den Lkw und den
„Emka“ herum – an die fünfzig Rotarmisten und untere Kommandeure, berauscht und erregt von ihrem ersten erfolgreichen
Zusammentreffen mit den Deutschen.
Sie warfen sowohl uns als auch den deutschen Fliegern, die
eben erst Dorogobush in Brand gesetzt hatten, haßerfüllte Blikke zu, und wäre es zur Selbstjustiz gekommen, wären wahrscheinlich von uns wie von den Deutschen gleichermaßen nur
Fetzen übriggeblieben. Der Fahrer schob den Kopf aus dem
Fenster und erkundigte sich bei dem Bevollmächtigten, ob er
losfahren könne.
„Warte noch“, sagte der Bevollmächtigte und befahl den im
Wagenkasten sitzenden Rotarmisten: „Nehmt eure Koppel ab
und bindet den dreien die Hände!“
Damit waren wir gemeint. Als erster wurde Troschkin gefesselt. Wie sich später herausstellte, war er an diesem Tag krank.
Am Abend wurde in der Sanitätsabteilung der Division seine
Temperatur gemessen, er hatte vierzig Grad Fieber, eitrige An-
gina. Damit war wohl auch sein eigenartig fiebriger Zustand
den ganzen Tag über zu erklären. Troschkin streckte die Hände
vor und sagte zu dem Bevollmächtigten mit vor Wut stockender Stimme: „Du Idiot! Führst dich recht kindisch auf! Hier,
fesselt nur. Bist ein Idiot. Ich mach meinen dritten Krieg mit,
aber du siehst die ersten Deutschen. Hast eine Panik ausgelöst,
du Trottel.“
„Maul halten!“ schrie der Bevollmächtigte.
„Schon gut, bin ja schon ruhig“, sagte Troschkin. „Fesselt
mich nur. Bloß setzt mich weg von den Faschisten. Ich will
nicht neben diesem Gesindel sitzen.“
Der nächste war Pankow. Schweigend zuckte er die Achseln,
streckte die Hände hin. Dann war ich dran. Und auf einmal,
statt dieses Theater nun schon bis zum Ende mitzumachen,
zum Divisionsstab zu fahren und ihm dort richtig die Leviten
zu lesen, auf einmal fühlte ich, bevor ich mich fesseln ließ,
würde ich ihn niederschlagen, worauf man mich umlegen würde. Und während ich den Rotarmisten zurückstieß, der sich
schon mit dem Koppel in der Hand zu mir vorbeugte; sagte ich
zu dem Bevollmächtigten: „Bevor ich mir die Hände fesseln
lasse, haue ich Sie in die Fresse. Sie werden mich niederschießen und dann dafür geradestehen müssen. Weil ich im Auftrag
von Mechlis hier bin.“
Ich weiß nicht, wieso mir dieser Satz rausrutschte, wohl weil
der Befehl über meinen Einsatz bei der „Krasnaja Swesda“ die
Unterschrift von Mechlis trug. Ich weiß nicht, was von beiden
mehr Eindruck auf den Bevollmächtigten gemacht hat – daß
ich auf Mechlis’ Befehl hier sei oder daß ich ihm vorher noch
die Fresse einschlagen wollte –, jedenfalls sagte er auf einmal:
„Schön, dann fesselt ihn nicht. Aber dafür hältst du ihm die
MPi vor den Bauch“, schrie er den Sergeanten an, „wenn er
nicht will, daß ihm die Hände gebunden werden! Und Sie
nehmen die Hände hoch! Sobald er sie sinken läßt (dies galt
wieder dem Sergeanten), schießt du auf der Stelle!“ Der Wagen
ruckte an, und mit der von einem Lkw erreichbaren Höchstgeschwindigkeit jagten wir auf der von Schlaglöchern übersäten
Straße in Richtung Dorogobush. Erst jetzt begriff ich, daß mir
die Weigerung, mich fesseln zu lassen, teuer zu stehen kommen konnte. Ich saß im Wagenkasten des Lkw an der Rückwand, hinter mir lagen MG-Trommeln. Der Wagen wurde hin
und her gerüttelt, und ich stieß mit dem Rücken gegen die
Trommeln – noch etwa zwei Wochen danach hatte ich
Schmerzen in der Nierengegend, so wurde ich dagegengeworfen. Ich saß da mit erhobenen Händen, wurde bald
nach links, bald nach rechts geschleudert, ich durfte die Hände
nicht herunternehmen, weil ich sonst befürchten mußte, eine
Portion Blei in den Bauch zu kriegen. Der Sergeant, der mir die
MPi-Mündung in den Bauch drückte, hatte den Finger ständig
am Abzug. Der Wagen rüttelte und schüttelte, und jeden Augenblick konnte er unversehens den Abzug drücken.
„Sichern Sie wenigstens“, sagte ich. Der Sergeant sah mich
weiter schweigend an.
„Sagen Sie ihm, daß er die MPi sichern soll“, wandte ich mich
an den Bevollmächtigten.
Der Bevollmächtigte musterte mich argwöhnisch und nickte
dem Sergeanten zu.
„Nicht sichern! Wie ist sie eingestellt?“
„Auf Einzelfeuer“, sagte der Sergeant. „Stell auf Dauerfeuer.“
Jetzt war ich mir gewiß, bei einem überraschenden Ruck einen ganzen Feuerstoß in den Bauch zu kriegen. So fuhren wir
etwa vierzig oder fünfzig Minuten. Unser einziger Trost war,
während der ganzen Fahrt den Bevollmächtigten zu beschimpfen, er sei ein Grünschnabel, habe vom Krieg noch nichts gesehen und hoffe vergeblich darauf, für diese Heldentat Held der
Sowjetunion zu werden.
Man muß diesem Mann Gerechtigkeit widerfahren lassen. Da
er nun mal entschlossen war, in uns gefährliche Diversanten zu
sehen und uns beim Stab abzuliefern, nahm er diese persönlichen Beleidigungen standhaft hin und unternahm keinen Versuch, mit uns abzurechnen; seinem Gesichtsausdruck nach zu
urteilen, hätte er das nur zu gern getan. Er wiederholte nur von
Zeit zu Zeit: „Maul halten! Sonst schieß ich!“
Oder er brüllte, an uns alle gewandt – sowohl an die Faschisten wie auch an uns drei –, und wies auf das vor uns brennende Dorogobush: „Seht nur, was ihr angerichtet habt, ihr Schurken. Seht nur, was ihr angerichtet habt, ihr Halunken!“
Je mehr wir uns Dorogobush näherten, desto gewaltiger wurde der Feuerschein, und als ich den Bevollmächtigten so
schreien hörte, überkam mich ein dummes Gefühl. Einerseits
wäre ich bereit gewesen, jeden der drei Faschisten eigenhändig
umzubringen, die gerade dieses grüne, friedliche Städtchen in
Brand gesteckt hatten. Andererseits war der unverhohlene Haß,
der aus der Stimme des Bevollmächtigten sprach, gleicherweise an die Faschisten wie an Troschkin, Pankow und mich
adressiert. Die Fahrt an sich war schon heller Wahnsinn. Ungeachtet der Gefahr, in der sich die deutschen Flieger selbst befanden, musterten sie uns, wie mir schien, nicht nur verwundert, sondern sogar mitleidig. Wahrscheinlich glaubten sie, wir
wären wirklich Diversanten oder so was Ähnliches, und dadurch wurde mir noch blödsinniger und widerwärtiger ums
Herz.
Am meisten hatte ich davor Angst, daß unterwegs eines der
aus der Gegend von Dorogobush zurückkehrenden deutschen
Flugzeuge plötzlich unseren Wagen angriff und unsere Wachposten – wer kennt sich in denen schon aus? –, bevor sie in den
Straßengraben sprangen, die Deutschen und mit ihnen auch uns
umlegten. Endlich waren wir kurz vor Dorogobush. Die Stadt
brannte. Am Morgen erst hatten wir dieses friedliche, ruhige,
hölzerne Städtchen verlassen, und jetzt war nichts mehr von
ihm übrig. Ein einziges Feuermeer. Die ganze Stadt brannte.
Ganz und gar. Viele Häuser waren bereits niedergebrannt, nur
die Schornsteine waren stehengeblieben, andere brannten noch.
Dort, wo die Wände noch nicht eingestürzt waren, hatte man
den Eindruck, die leeren Fenster wären von innen mit rotem
Stoff bespannt. Durch diese feurigen Fensterhöhlen und über
die zusammengestürzten Häuser hinweg war die Stadt in ihrer
ganzen Ausdehnung zu übersehen. Ein unheimliches Knistern
und Rauschen lag in der Luft. Wenn Hunderte von Blechdächern gleichzeitig glühen und sich krümmen, hört sich das an
wie eine Salve. Der nächste Weg zum Divisionsstab führte
direkt durch die Stadt, aber es war einfach unmöglich, durch
dieses Feuermeer zu kommen. Der Lkw machte einen Umweg,
am Stadtrand entlang, vorbei an kleinen Häusern, die links und
rechts der Straße gleichfalls in Flammen standen. Von hier,
vom Stadtrand, der sich an einem Hang etwas über die Stadt
erhob, war die brennende Stadt von oben zu sehen, und dieser
Anblick war noch schrecklicher. Vor unseren Augen begann
der Kirchturm zu wanken und stürzte ein.
Endlich erreichten wir die Abfahrt zu der Schlucht, wo der
Divisionsstab lag, und stiegen aus. Ich riß mich zusammen und
sagte zum Bevollmächtigten so ruhig, wie mir das nur möglich
war: „Zu den Vorgesetzten müssen Sie uns durch den ganzen
Stab, mitten durch die Soldaten führen. Ich verlange erstens,
daß Sie uns gesondert von den Faschisten hinbringen, und
zweitens dürfen die Soldaten keinesfalls merken, daß Sie festgenommene Kommandeure führen. Das ist unnötig.“
Die Nähe des Stabes schien auf den Bevollmächtigten ernüchternd zu wirken, denn er antwortete, das hätte er sowieso getan.
Man nahm Troschkin und Pankow die Fesseln ab. Troschkin
konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.
Die Deutschen mußten vorangehen, und als wir bei der Sonderabteilung der Division ankamen, mußten sie sich auf den
Boden legen, und Posten zogen bei ihnen auf. Wir mußten uns
beim Unterstand der Sonderabteilung hinsetzen und warten, bis
man sich mit uns befassen würde.
Ein Unglück kommt selten allein. Der Divisionskommandeur,
Oberst Mironow, war zu einem Regiment gefahren und wurde
erst gegen Morgen zurückerwartet. Nach Überprüfung unserer
Papiere und halbstündigem Warten kam endlich der Leiter der
Politabteilung der Division, Regimentskommissar Poljakow. Er
prüfte lange und sorgfältig unsere Papiere, und als alles völlig
geklärt war, machte er uns auch noch Vorwürfe: Das sei unsere
eigene Schuld, was hätten wir die Deutschen auch photographieren müssen? Wer hätte uns denn zu dem abgeschossenen
Flugzeug gerufen? Das sei nicht unsere Sache. Und so weiter
und so fort.
Ob er sich aus der ganzen Geschichte herauswinden wollte
oder ob er nur seiner entflammten Phantasie freien Lauf ließ,
jedenfalls begann der Bevollmächtigte in Anwesenheit des
Leiters der Politabteilung herumzufaseln, auf dem Feld sei
auch noch ein Oberst mit zwei Orden gewesen, ebenfalls ein
Diversant, der aber entkommen wäre, Troschkin und ich hätten
die Deutschen befreien wollen, und ähnlichen, völlig unglaublichen Unsinn.
Ein Skandal lag in der Luft, doch glücklicherweise erschien
endlich der Divisionskommissar und entspannte die Atmosphäre. Der Gipfel unseres Unglücks war erreicht, als niemand
wußte, wo unser Wagen abgeblieben war. Der Leutnant, der
sich auf dem Feld ans Lenkrad gesetzt hatte, war mit ihm in
unbekannter Richtung davongefahren.
Troschkin konnte nicht mehr stehen. Er saß, vom Fieber geschüttelt, auf der Erde. Die Dämmerung brach herein. Eine
stupsnasige Sanitäterin erkannte, in welchem Zustand er sich
befand, brachte ihm ihren Mantel und dann noch ein Kochgeschirr voll Suppe. Im Freien war es kühl. Die Nacht würde kalt
werden. Von unserem Wagen aber immer noch keine Spur.
Troschkin wurde das Thermometer in die Achselhöhle geschoben, man gab ihm ein paar Pulver zu schlucken, und da wir drei
uns sagten, wir würden wohl nicht darum herumkommen, hier
zu übernachten, verkrochen wir uns in einem Winkel eines
Unterstandes der Politabteilung.
Wir schliefen, zusammengedrängt wie die Heringe im Faß,
auf der blanken Erde. Ich hatte mich als letzter hineingezwängt, nachdem ich noch eine halbe Stunde am Eingang zum
Unterstand gestanden hatte. Von hier, aus der tiefen Schlucht,
war Dorogobush nicht zu sehen, doch so weit das Auge reichte
– links, rechts und auch vorn –, war der Himmel blutrot. Die
Stadt brannte immer noch. Als der Morgen graute, konnte
Troschkin, dem die Pulver nicht geholfen hatten, nur mit Mühe
aus dem Unterstand kriechen, er sank um und döste auf einer
Böschung, von der Sonne erwärmt, sofort wieder ein.
Mir wurde gesagt, der Divisionskommandeur sei zurück, und
ich ging zu ihm. Wie sich zeigte, hatte man ihm von dem Vorfall noch nicht Meldung gemacht. Er war sehr erstaunt und
verärgert. Ich sagte ihm, sobald ich wieder in der Redaktion
sei, würde ich das Auftreten des Bevollmächtigten und das
Verhalten des Leiters der Politabteilung Korrespondenten gegenüber weitermelden. Äußerst erbost über den Vorfall, sagte
der Oberst, das könne ihn nur freuen. An jenem Morgen war
ich fest entschlossen, das wirklich zu tun. Doch später, als ich
wieder in Moskau und der erste Zorn über die Sache verraucht
war, gewann unsere russische Einstellung – auch das geht vor-
über – die Oberhand, und ich machte niemandem Meldung.
Der Divisionskommandeur befahl den Bevollmächtigten sofort
zu sich und ordnete an, unseren Wagen herbeizuschaffen. Wir
wurden bewirtet. Ich war gleich wieder munterer und betrachtete den ganzen Vorfall nunmehr bereits mit einer gewissen
Ironie. Troschkin aber war nach wie vor äußerst verstimmt.
Nicht nur, daß man ihn daran gehindert hatte, die von der Zeitung so dringend benötigten Aufnahmen der deutschen Flieger
bei dem brennenden Flugzeug zu machen, man hatte auch noch
alle seine Filme belichtet – alle bisher gemachten Aufnahmen
waren hinüber. Nun hatte er überhaupt, keinen Film mehr, und
um sich neue zu beschaffen, mußte er extra nach Moskau fahren.
Unser Wagen war noch immer nicht aufgetaucht, bei verschiedenen Truppenteilen der Division wurde danach gesucht.
Ich ging zur Politabteilung, wo ich unvermittelt von einem
Mann begrüßt wurde, der sich sogleich entschuldigte. Ich wußte nicht, wer es war, und erfaßte im ersten Moment gar nicht,
wofür er sich entschuldigte. Nach einer Weile erkannte ich in
ihm den Bevollmächtigten vom Vortage. Da er einen Stahlhelm getragen hatte und sein Gesicht vor Erregung verzerrt
gewesen war, erkannte ich ihn jetzt, im Käppi und mit normalem Gesichtsausdruck, einfach nicht wieder.
Wir mußten unser Gespräch abbrechen, weil ich zum Divisionskommandeur gerufen wurde. Unser Wagen hatte sich angefunden, und wir konnten die Rückfahrt antreten…
Der von mir im Tagebuch erwähnte Bericht erschien in der
„Iswestija“ vom 29. Juli unter der Überschrift „Aufklärer“.
Jetzt, da ich seinen Wortlaut mit meinen Notizbucheintragungen vergleiche, möchte ich auf alle Fälle präzisieren – vielleicht melden sich die Männer doch noch. Der eine Aufklärer,
der stellvertretende Politleiter Palashenko, hieß mit Vor- und
Vatersnamen Wassili Jemeljanowitsch, und der andere, der
Unterleutnant Grischanow, hieß Leonid.
Ich füge heute hinzu, daß mir die Präzisierung meines in der
Zeitschrift abgedruckten Tagebuchs um so notwendiger erscheint, als 1941 die Stenotypistin bei der „Iswestija“ mit meiner Handschrift anscheinend Schwierigkeiten hatte und aus
Grischanow Grischakow und aus Palashenko Polashenko wurde.
Bald nach Erscheinen des Tagebuchs erhielt ich die erste
Nachricht, beide Aufklärer seien noch am Leben; kurz darauf
bekam ich eine „Utschitelskaja Gaseta“ mit dem Beitrag „Die
Aufklärer leben“, in dem das Soldatenschicksal des Gardehauptmanns Leonid Wassiljewitsch Grischanow beschrieben
wurde, der 1942 nach einer schweren, fast tödlichen Verwundung aus dem Truppendienst ausschied und nach dem Kriege
„Verdienter Lehrer der RSFSR“ wurde, schließlich einen Brief
von Oberst a. D. und Kandidat der Militärwissenschaften Wassili Jemeljanowitsch Palashenko.
Dieser Mann, der den Krieg bei Jelnja begann und als Stellvertreter des Kommandeurs eines Gardeschützenregiments bis
Königsberg kam, sieben Orden, darunter drei Rotbannerorden,
erhielt und wirklich so mancherlei erlebt hat, gehört zweifellos
zu jenen, von denen man zutreffend sagt, der Krieg hätte sie
nicht nur geglüht, sondern gestählt.
Seine mehrmaligen Verwundungen durch Splitter erwähnt er
nur flüchtig in einer einzigen Briefzeile als leichte Schrammen.
Der Sommer 1941 aber, diese unsere gemeinsame, nicht verheilte Wunde aus dem Krieg, läßt sein gestähltes Herz auch
heute noch erbeben:
„… Die Kämpfe im Raum Jelnja waren schwer und von besonderer Art. Für unser Aufklärungsbataillon waren sie nicht
nur deshalb etwas Besonderes, weil wir die Wissenschaft der
Feindaufklärung und der Kampfführung in der Praxis kennenlernten, sondern auch Anschauungsunterricht in der Erziehung
zum Haß auf den Feind erhielten. Endlose Kolonnen von
Flüchtlingen, Zivilisten, flössen von West nach Ost in breitem
Strom an der Übersetzstelle von Solowjewo zusammen. Es
waren alte Leute, Halbwüchsige, Frauen mit über die Schulter
geworfenen Bündeln und Kindern auf den Armen. Am Flußübergang gab es keinen Schutz gegen Luftangriffe. So konnten
die faschistischen Flieger die Menschenströme im Tiefflug
unter MG-Feuer nehmen und den Flußübergang ununterbrochen bombardieren. Ein Damm aus Menschenleibern, Fuhrwerken und Pferden hatte sich dort gebildet. Die Menschen
aber zogen ohne Unterlaß hin zum Übergang, keiner wollte
zurückbleiben, alle flohen sie vor der Front. Die faschistischen
Flieger mußten doch sehen, daß es Flüchtlinge waren, friedliche Zivilisten, und doch schossen sie unentwegt auf die
Schutzlosen. Es war grausam und schmerzlich, dieses menschliche Leid ansehen zu müssen. Grausam wegen der Barbarei
der deutschen Flieger und schmerzlich, weil wir das zuließen,
weil wir nicht imstande waren, unsere Menschen zu schützen.
Ich sehe noch heute das Bild vor mir: eine blutüberströmte,
sterbende Frau, die mit letzter Kraft aus dem Wasser ans Ufer
gekrochen war, ein Säugling, auch er blutend, krabbelt weinend auf ihr herum, und neben ihr verblutet ein drei- oder vierjähriges Kind, dem es ein Bein weggerissen hat…“ An jenem
Tag, als wir in der Nähe der Übersetzstelle bei Solowjewo Grischanow und Palashenko begegnet waren, hatte der Chef der
107. Schützendivision, Regimentskommissar Poljakow, die
Bombardierung von Dorogobush nach oben gemeldet: „Fliegerkräfte des Gegners griffen im Laufe des 25. Juli im Verteidigungsabschnitt der Division aktiv in den Kampf ein. Tagsüber erfolgte ein heftiger Luftangriff…. an dem zweiundzwan-
zig faschistische Maschinen beteiligt waren… Durch die Bombardierung wurde das Stadtzentrum zerstört und niedergebrannt. Unter den Rotarmisten des 630. Schützenregiments, die
die Brücke schützten, gab es sechs Verwundete. Unter der Zivilbevölkerung gab es viele Tote.“
Im weiteren hieß es in der Meldung, daß die Flakartilleristen
der 107. Schützendivision zwei faschistische Bomber abgeschossen hätten. „Ein Feindflugzeug stürzte in die Stadt ab und
verbrannte mitsamt der Besatzung. Die Besatzung des zweiten
faschistischen Flugzeugs – drei Mann – wurde mit allen Unterlagen und Karten gefangengenommen, ein Faschist hat sich
erschossen. Die Gefangenen wurden mit allen Unterlagen unter
Bewachung dem Armeestab überstellt.“ Die Gefangennahme
zweier Militärkorrespondenten und ihres Fahrers wurde in dem
Bericht verständlicherweise nicht erwähnt. Sieht man Dokumente jener Tage durch, ist die durchaus verständliche Nervosität zu spüren, die die eben an der Front eingetroffenen Truppenteile ergriff, als sie plötzlich merkten, daß die Deutschen
die Luftherrschaft besaßen. Auch die Erregung wird verständlicher, die die Menschen erfaßte, als sie zum erstenmal mit eigenen Augen getroffene deutsche Flugzeuge abstürzen sahen.
Die dumme Geschichte, die wir bei Dorogobush erlebten und
von der ich im Tagebuch berichte, kommt mir heute vor wir ein
böser Traum. Indessen wurde das sich in diesen Tagen im Abschnitt der 107. Schützendivision abspielende Kriegsgeschehen
immer ernster, und es wurde schließlich zum Ausgangspunkt
ihres langwierigen und ruhmreichen Kampfweges. Gerade diese 107. Division, in der Folgezeit die mit dem Rotbannerorden
ausgezeichnete 5. Gorodoker Gardeschützendivision unter dem
Kommando von Oberst Pawel Wassiljewitsch Mironow, hat
sich später, im September, bei der Befreiung von Jelnja besonders hervorgetan. In der Oktoberoffensive der Deutschen auf
Moskau verteidigte sie sich bei Kaluga und schlug- sich in
Richtung Serpuchow aus einem Kessel heraus. Während unserer Gegenoffensive vor Moskau marschierte sie unter schweren
Kämpfen ihre ersten zweihundert Kilometer Richtung Westen
und beendete gut drei Jahre später den Krieg auf der Frischen
Nehrung in Ostpreußen. Ich möchte die Aufmerksamkeit jedoch nicht nur auf diese Geographie des Geschehens lenken,
die für viele Truppenteile der Westfront und in der Folgezeit
auch der 3. Belorussischen Front typisch ist, deren Kampfweg
aus der Gegend von Moskau nach Ostpreußen führte. Die Geschichte der Kampfhandlungen der 107. Schützendivision erlaubt es nebenbei auch, gewisse Kontraste des Krieges zu analysieren, zu untersuchen, was der Krieg zu Beginn für uns und
für die Deutschen war und wozu er am Ende für uns und für sie
geworden ist. In den Kämpfen um Jelnja vernichtete die Division vom 8. August bis zum 6. September 1941 28 Panzer, 65
Geschütze und Granatwerfer sowie rund 750 Soldaten und Offiziere des Gegners, damit eine für jene Zeit reichliche Beute
machend, und verlor in diesen Kämpfen selbst 4200 Mann an
Gefallenen und Verwundeten; die Einnahme von Jelnja kostete
sie also schwere Verluste. Auch später, in den Kämpfen bei
Kaluga und beim Ausbruch aus dem Kessel, hatte sie erhebliche Verluste zu verzeichnen.
In der Folgezeit wich die Division nicht mehr zurück, mußte
aber auch in ihren Angriffskämpfen weiterhin empfindliche
Verluste hinnehmen.
In der Winteroffensive vor Moskau machte die Division reiche Beute – rund 60 Panzer und 200 Geschütze und Granatwerfer der Deutschen –, verlor aber in den Kämpfen 2260 Gefallene bzw. Verwundete. Später, im Winter und Frühjahr, in den
Angriffskämpfen bei Juchnow, deren Ziel es war, die Lage
unserer eingeschlossenen 33. Armee zu erleichtern, verlor sie
weitere 2700 Mann an Toten und Verwundeten.
Auch die folgenden Angriffsoperationen des Jahres 1943, der
Angriff auf Gomel und die Einnahme von Gorodok, kamen die
Division nicht billig zu stehen.
Im Sommer 1944 trat eine jähe Wende in der Relation zwischen den Verlusten und den Ergebnissen der Kämpfe für die
Division ein. An der Zerschlagung der deutschen Heeresgruppe
Mitte beteiligt, rückte sie 525 Kilometer vor, befreite 600 Ortschaften und gehörte zu den ersten, die die Grenze Ostpreußens
überschritten. Im Verlauf dieser Operation erbeutete die Division 96 Panzer und 18 Flugzeuge und nahm insgesamt 9320
deutsche Soldaten und Offiziere gefangen, während sie selbst
in dieser Periode der Kämpfe 1500 Mann verlor. 1945 beginnt
die Vernichtung der Gruppierung der Deutschen in Ostpreußen.
Bei der Erstürmung von Königsberg besetzt die Division 55
Wohnblocks dieser Stadt, nimmt 15 100 deutsche Soldaten und
Offiziere gefangen und verliert beim Sturm selbst 186 Tote und
571 Verwundete. Anschließend kämpft die Division um den
Hafen Pillau und auf der Landzunge Frische Nehrung, macht in
diesen letzten Kämpfen sehr reiche Beute und nimmt insgesamt
8350 Soldaten und Offiziere gefangen, während sie selbst 122
Mann an Gefallenen und 726 Verwundete verliert.
Die von mir gebrachten Zahlen verlangen feinfühlige Behandlung; denn jede, auch die kleinste Zahl in der Gesamtstatistik
des Krieges bedeutet immerhin eine verwaiste Familie.
Läßt man die Geschichte des Krieges an sich vorüberziehen,
muß man alle Anstrengungen und gebrachten Opfer mit den
Ergebnissen vergleichen. Die gleiche Division, die 1941 die
Befreiung des kleinen Jelnja so teuer erkaufen mußte, opferte
1945 bei der Einnahme der deutschen Hauptzitadelle Ostpreußens – Königsberg – insgesamt 186 Menschenleben.
Im Verlauf des vierjährigen Krieges traten im Kräfteverhältnis
zwischen uns und den Deutschen Veränderungen von gewaltigem Ausmaß und enormer Bedeutung ein. Das wird nicht nur
auf den Karten augenscheinlich, wo die deutschen Pfeile anfangs auf Moskau zustrebten und sich in die Wolga und den
Kaukasushauptkamm bohrten, während später unsere roten
Pfeile die Oder und die Neiße durchschnitten. Das Ausmaß der
Veränderungen wird offenkundig auch beim Lesen der Verlustlisten aus den verschiedenen Kriegsjahren. Das Verhältnis der
Ausmaße des Vormarsches, der Menge der erbeuteten Waffen
und der Gefangenen, und der Ausmaße der Verluste zeugt sowohl vom Stand der technischen Ausstattung beider Armeen
wie auch vom Stand ihrer Kriegserfahrung und ihres militärischen Könnens.
In der Zeit der ersten Gefechte der 107. Schützendivision mit
den Deutschen bei Jelnja war ihre praktische Erfahrung in der
modernen Kriegführung gleich Null. Alle Prüfungen lagen
noch vor ihr. Und jener Stand des militärischen Könnens, der
es ihr zusammen mit dem um das Vielfache gestiegenen Stand
der Technik erlaubte, 55 Wohnblocks von Königsberg im
Sturm zu nehmen und in dieser Stadt 15 100 Gefangene zu
machen, konnte nur in der harten Schule des Krieges erreicht
werden. Einen anderen Weg dorthin gab es nicht. Allerdings
wurden im Verlauf dieser harten, aber unvermeidlichen Schule
Fehler begangen, die mit Blut bezahlt werden mußten, nur hätten es ihrer offensichtlich nicht so viele sein müssen.
Ich kehre zum Tagebuch zurück.
, . Auf dem Rückweg fuhren wir über Dorogobush. Einen
merkwürdigen und schrecklichen Anblick bot diese Stadt,
durch die wir vierundzwanzig Stunden zuvor auf dem gleichen
Weg, in der gleichen Richtung, durch die gleichen Straßen gekommen waren. Straßen gab es nicht mehr. Nur Schornsteine,
immer wieder Schornsteine. Die Deutschen hatten die Stadt mit
Brandbomben niedergebrannt. Gut möglich, daß die Deutschen
Dorogobush zerbombt hatten, weil ihnen falsche Informationen
vorlagen, denen zufolge einer unserer Stäbe dort liegen sollte.
Allerdings setzten sie oft auch kleine Dörfer mit Holzhäusern,
in denen überhaupt keine Truppen lagen, in Brand, nur um Panik auszulösen.
Von den durch den Bombenangriff halbzerstörten Steinhäusern hingen die ausgeglühten Blechplatten des Dachbelags herab, das Blech schaukelte und klapperte im Wind.
Dorogobush war recht stark befestigt. Um die Stadt zogen
sich unzählige Panzerabwehrgräben, Unterstände, Deckungen,
Riegelstellungen. An manchen Stellen sah man fünf bis sechs
Reihen Stacheldrahtverhau. Anscheinend war hier ein Schwerpunkt der zweiten Verteidigungslinie ausgebaut worden. Wenn
man mich später richtig informiert hat, kam es jedoch hier,
unmittelbar vor Dorogobush, nicht zu heftigen Kämpfen mit
den Deutschen. Wie in vielen anderen Fällen auch, hatten sie
diesen Punkt, an dem Widerstand zu erwarten war, einfach
umgangen.
Wir umfuhren Dorogobush, um auf die Straße nach Wjasma
zu gelangen, und gerieten in einen leichten Bombenangriff.
Aus einem unerfindlichen Grund belegten zwei deutsche Flugzeuge ausgerechnet diesen völlig verkehrsfreien Straßenabschnitt mit Bomben. Wir gingen im Straßengraben in Deckung,
warteten das Ende des Angriffs ab und fuhren weiter.
Die Straße von Dorogobush nach Wjasma war an vielen Stellen vermint. Der Fahrzeugverkehr war rege. Troschkin war nun
richtig krank geworden und lag auf dem Rücksitz des „Emka“.
Ich schob das Verdeck zurück, setzte mich auf die Lehne des
Vordersitzes, schob den Kopf durchs Dach und hielt nach
Flugzeugen Ausschau. Anscheinend versuchten die Deutschen,
diese Verbindungsstraße von Wjasma nach Dorogobush zu
zerstören. Im Verlaufe von drei Stunden taten wir kaum etwas
anderes, als aus dem Wagen zu springen, uns in den Straßengraben zu werfen, den üblichen Bombenangriff abzuwarten,
wieder einzusteigen, weiterzufahren, uns wieder in den Straßengraben zu werfen. In den drei Stunden wiederholte sich
dieser Vorgang an die zwölfmal. Ständig kreisten Flugzeuge
über der Straße und machten Jagd auf Autos. Viele Fahrzeuge
standen neben der Straße im Wald, um den Einbruch der Dunkelheit abzuwarten. Hier und da sah man ganze Fahrzeugkolonnen. Wir aber fuhren trotzdem weiter, einmal, weil uns das
alles langsam zum Halse heraushing, und zum anderen, weil
wir wegen unseres Daches oder richtiger wegen des nichtvorhandenen Daches hoffen konnten, die Flugzeuge rechtzeitig zu
bemerken und in den Straßengraben zu springen. Außerdem
war es bereits gegen Abend des 26. und am Morgen des 27.
mußte ich in Moskau sein.
Als noch etwa eine Fahrstunde bis Wjasma vor uns lag, flog
eine Welle deutscher Flugzeuge in Dreierketten nach der anderen über der Straße, aus Richtung Wjasma kommend, auf uns
zu. Hinter einigen jagten unsere Jäger her. Wie sich später herausstellte, hatten sich die Deutschen nach dem Niederbrennen
von Dorogobush entschlossen, Wjasma auf die gleiche Weise
in Brand zu setzen, aber ihr Angriff wurde von unseren Jägern
zurückgeschlagen; es war ihnen nicht gelungen, ihre Bomben
auf Wjasma abzuwerfen, und so luden sie diese auf dem Rückflug ab, wo es gerade kam – auf Straßen, auf Fahrzeugkolonnen und sogar auf einzelne Autos. Von neuem mußten wir immer wieder aus dem Wagen springen und in Deckung gehen.
Troschkin sah elend aus. Es regnete. Wir schlössen das Verdeck, befestigten die Plane mit den Flügelmuttern. Pankow ließ
den Motor an, und Troschkin, der einen Blick durch die Rückscheibe geworfen hatte, sagte zu mir: „Da die schwarze Wolke.
Jetzt lassen die uns bestimmt in Ruhe.“
Doch kaum hatte er das gesagt, als wir nicht einmal mehr das
Motorengedröhn, sondern bereits das Heulen eines zum Sturzangriff ansetzenden Flugzeugs hörten, die Wagentüren aufstießen und uns neben dem Wagen auf die Straße warfen. Eine
Bombe war hinter uns eingeschlagen, hatte mehrere Bäume
umgerissen, die nun die Straße blockierten. Troschkin rappelte
sich hoch und meinte mit heiserer Stimme, wir hätten noch
Glück gehabt, daß das hinter uns passiert sei und nicht vor uns,
weil wir sonst die Bäume wegräumen müßten. Fest entschlossen, den Wagen nicht mehr zu verlassen, komme, was da
wolle, stiegen wir wieder ein.
Unweit von der Einmündung in die Minsker Chaussee begegneten wir einer auf die Dorogobusher Straße einbiegenden Division. Kraftfahrzeuge waren verhältnismäßig wenig dabei;
Fuhrwerke, Pferde und endlos, so weit das Auge reichte, Infanterie. Wir, die wir erst kürzlich den Durchbruch der Deutschen
in Richtung Tschaussy erlebt hatten, sagten uns damals beim
Anblick dieser Division, eine solche „Fußlatscherinfanterie“
stelle in dem heutigen Bewegungskrieg schon eine sehr unvollkommene Waffengattung her. Im Juli konnte ich mir noch
nicht vorstellen, daß ich nur fünf Monate später, im Dezember,
genauso heftig das Gegenteil empfinden sollte. Zu der Zeit
hielt ich mich in dem eben erst zurückeroberten Odojew auf
und sah die im tiefen Schnee steckengebliebene und im Stich
gelassene deutsche Technik, sah die an all dem vorbeiziehende
Kavallerie Belows, die alles mitführte, aber auf Pferden und
Schlitten und nicht auf Autos, und sich in Schnee und
Schlamm plötzlich manövrierfähiger erwies als die deutschen
motorisierten Truppenteile.
In der Druckerei in Wjasma trafen wir Beljawski und Kriger,
die dort am Telephon saßen und schon am Abend zuvor zu-
rückgekommen waren. Inzwischen war es zehn geworden. Sie
warteten auf ein Ferngespräch mit der Redaktion der „Iswestija“. Pankow tankte auf, wir umarmten Kriger und Beljawski
zum Abschied und fuhren weiter. Ich sah die beiden erst Anfang Dezember wieder, als ich von der Karelischen Front nach
Moskau zurückkam.
Wir fuhren durch das nächtliche finstere Wjasma auf die
Minsker Chaussee. Troschkin, nun schon sehr krank und
schwer atmend, schlief hinten im Wagen. Pankow, der in den
letzten Tagen nicht aus dem Wagen gekommen war, rieb sich
ständig die Augen – auch ihm drohten sie vor Müdigkeit zuzufallen. Mir war aber nicht nach Schlafen. Sorge hatte mich erfaßt wie später noch so oft bei der Rückkehr von der Front
nach Moskau. Erst in diesen Tagen, als ich hörte, die Deutschen bombardierten Moskau, begriff ich, wie sehr mein Leben
mit Moskau verbunden war und wie ich diese Stadt liebte. Von
Sorge gequält, saß ich im Wagen. Ich wollte Moskau so schnell
wie möglich wiedersehen. Schließlich hatte ich keine Vorstellung vom Umfang der Bombenangriffe. Als in den Nächten
nach dem ersten Bombenangriff hoch über uns mit tiefem
Brummen die Wellen deutscher Flugzeuge auf Moskau zogen,
zählte ich die Tage und mußte daran denken, daß vor meiner
Rückkehr noch weitere Angriffe folgen würden und neue Zerstörungen und neue Gefahren allen in der Stadt drohten, darunter auch den Menschen, die ich liebte. Die Nacht war schwarz
wie Pech. Wie beim letztenmal, vor einer Woche, jagten uns
brummende Lkws ohne Licht entgegen. Sie hatten Munition
geladen. Fast die ganze Fahrt, bis zum Hellwerden, stand ich
bei halbgeöffnetem Türschlag auf dem Trittbrett, damit wir,
wenigstens den Straßenrand vor Augen, schneller vorankamen.
Von diesem angestrengten Starren ins Dunkle schmerzten mir
gegen Morgen die Augen.
Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Nur an zwei Stellen hatten die Deutschen kurz vorher die Chaussee bombardiert. Riesige Trichter waren zurückgeblieben und bei einem davon die
Trümmer eines Lkws und am Straßenrand Tote.
Auf der Chaussee herrschte weit mehr Ordnung als eine Woche zuvor. Streifen kontrollierten die Papiere und wiesen an
Umleitungen den Weg. An der letzten Kontrollstelle sagte man
uns, in der vergangenen Nacht seien die Bombenangriffe nur
geringfügig gewesen und hätten keine großen Brände zur Folge
gehabt. Im Morgengrauen des 27. Juli näherten wir uns Moskau. Vor uns qualmten an zwei Stellen noch die Trümmer eingestürzter Häuser. Wir fuhren durch das Dorogomilowoer
Stadttor ein und sahen uns besorgt um, suchten nach Zerstörungen. Unmittelbar beim Stadttor war ein Haus eingestürzt.
Später am Moskwaufer noch ein weiteres. Sonst war alles unversehrt. Auf der rechten Seite der Sadowaja lag die Bücherkammer der Sowjetunion in Trümmern.
Troschkin blieb im Wagen liegen, ich aber ging hinauf in die
Redaktion der „Krasnaja Swesda“. Dort schlief man noch
nicht, und ich berichtete Ortenberg in aller Eile über die Fahrt.
Er sagte, die nächsten Tage müsse ich in Moskau bleiben, aber
heute könne ich mich ausruhen.
Von der „Swesda“ fuhren wir zur „Iswestija“, wo uns, wie
schon beim letztenmal, der Redaktionsassistent Semjon Landres herzlich und freundschaftlich begrüßte. Wie wir hörten,
war die „Iswestija“ von einer Bombe getroffen worden – das
Hauptvestibül und das Arbeitszimmer des Redakteurs hatten
etwas abbekommen. Glücklicherweise hatte es keine Toten
gegeben, weil sich in diesem Augenblick niemand in der Redaktion aufhielt.
Ich versprach, zum nächsten Tag etwas für die „Iswestija“ zu
schreiben, und fuhr zu meiner Mutter. Troschkin blieb in der
Redaktion; ein Arzt wurde zu ihm gerufen. Ich aber trank bei
meiner Mutter noch eine Tasse Kaffee und schlief sofort ein.
Am folgenden Tag fuhr ich zur „Iswestija“, um meinen letzten, insgesamt nun den sechsten, „Keller“ abzuliefern. Darauf
folgte eine harte Unterredung mit Rowinski, der mich nicht zur
„Krasnaja Swesda“ lassen wollte.
Troschkin konnte ich nicht mehr sehen – ihn hatten sie ins
Krankenhaus gebracht…
Ich bin Troschkin bis zu seinem Tod im Jahr 1944 noch an
verschiedenen Frontabschnitten begegnet, aber solche gemeinsamen Fahrten, Seite an Seite in einem Wagen, an die man sich
sein Leben lang erinnert, haben wir später nicht mehr unternommen. Der Leser wird seinem Namen in meinen Tagebüchern nur noch flüchtig begegnen.
Er war ein Mann von seltener innerer Sauberkeit und ungewöhnlichem Mut, und zusätzlich zu meiner eigenen Meinung
über ihn möchte ich an dieser Stelle mehrere Auszüge aus einem Brief des Fahrers unseres Wagens auf der Fahrt nach Jelnja, Michail Pankow, bringen. Diesen Brief erhielt ich, nachdem
ich in einem meiner Beiträge Troschkin kurz erwähnt hatte:
„… Das Andenken an Pascha Troschkin ist mir sehr teuer. Mit
ihm war ich den ganzen Finnischen Krieg unterwegs, und ich
habe ihn seiner besonnenen Tapferkeit, der gesunden Einstellung zu seinen Mitmenschen und seines Könnens wegen geschätzt. Ich mußte mich beispielsweise einmal für einen Korrespondenten schämen, der mir mit schiefem Blick weismachen
wollte, eine Weiterfahrt wäre zu gefährlich, schließlich trüge er
die Verantwortung für den Wagen und für mich; kaum hatte er
in einem Divisionsstab oder auf einem Feldflugplatz ein paar
dürftige Zeilen geschrieben oder ein nichtssagendes Photo gemacht, zog es ihn sofort zurück in die Redaktion. In der Redaktion ließ er sich dann als Frontsoldat feiern, der Pulver gero-
chen hat. Solche gab es auch. Namen tun wohl nichts zur Sache.
Im Kreis der Journalisten (im Nachtquartier oder in den Redaktionen) wurde so ein Schwätzer gewöhnlich von allen umringt. Pascha hingegen machte von seiner Arbeit kein Aufhebens. Ich möchte Ihnen für die wenigen herzlichen Zeilen über
Pawel danken, zugleich aber sagen, daß das zu wenig ist. Sie
hätten Pawel Troschkin ruhig mehr Platz einräumen können.
Ein guter Soldat und Kamerad, Familienvater und Künstler
(auf seinem Gebiet), dem jede krankhafte Reporterkonkurrenz
fernlag, kam er doch oft seinen Photographenkollegen zuvor,
und das gerade dort, wo es heiß herging. Ich kann mich nicht
erinnern, ihn jemals müde, erschöpft oder gleichgültig erlebt zu
haben, und dabei hatten wir es oft nicht leicht. Es ist nie vorgekommen, daß er seinen Fahrer vergessen hätte, mit dem er aus
dem gleichen Kochgeschirr aß.
Pascha Troschkin! Sestrorezk, Terioki, Mannerheimlinie, Viipuri, Moshaisk, Wjasma, Tschernaja Retschka, Dnepr, Flußübergang bei Solowjewo. Übernachtung in einer Scheune im
Rücken der Deutschen, wohin wir nachts gefahren waren…
Noch etwas über Pascha. Schließlich ist er es gewesen, der
mich nach meiner schweren Verwundung unter den vielen
Tausenden von Verwundeten in zahllosen Sanitätsbataillonen
und Lazaretten ausfindig gemacht hat. Er hat mich mit einem
Flugzeug nach Moskau geholt. Hat mich einem Professor
übergeben, der mein Leben rettete, das nur noch an einem seidenen Faden hing, denn nach fünf Tagen ohne jede Wundversorgung war bei mir Gasbrand eingetreten. Pawel verdanke ich
mein Leben.
Das ist lange her, aber so war es, und ich werde ihm bis zu
meinem Tode ein ehrendes Andenken bewahren…“ So endet
Pankows Brief, der Troschkin gewidmet ist.
Mit dem vorangegangenen Kapitel endet mein Tagebuch vom
Juni und Juli 1941, geschrieben im Bereich der Westfront, an
die ich erst wieder im Dezember kam, wo es für uns wie für die
Deutschen völlig anders aussah.
Fast die ganze dazwischenliegende Zeit – vier Monate – verbrachte ich zunächst an der Front im äußersten Süden und später im äußersten Norden. Bevor ich nun zu den nächsten Kapiteln des Tagebuchs übergehe, kehre ich noch einmal auf das
mit der Verteidigung Mogiljows zusammenhängende Geschehen zurück und möchte noch berichten, was ich aus Dokumenten und Briefen über die letzten Tage der Verteidigung von
Mogiljow herausbekommen habe.
Ich habe bereits erwähnt, daß ich mir erst mit den Jahren der
moralischen Bedeutung völlig bewußt wurde, die die kurze
Fahrt nach Mogiljow zur 172. Schützendivision und insbesondere mein Aufenthalt bei Kutepows 388. Regiment für mich als
Schriftsteller besaßen. Am 26. Juli, an jenem Tag, da Troschkin und ich aus der Gegend von Jelnja nach Wjasma und anschließend nach Moskau zurückkehrten, gingen beim Stab der
Westfront die letzten Berichte über die Kampfhandlungen des
61. Korps und der ihm angehörenden 172. Schützendivision
ein. Dort, zweihundert Kilometer westlich von Jelnja, nun bereits im tiefen Hinterland der Deutschen, standen die Männer
immer noch im Kampf, die Troschkin dreizehn Tage zuvor in
Mogiljow photographiert hatte.
Am 26. Juli um 5.50 Uhr morgens beantwortete der Chef des
Stabes der 13. Armee Petruschewski eine Anfrage über die
Lage bei Mogiljow folgendermaßen: „Von Bakunin liegen folgende Angaben vor: Am 25. früh erbat er angesichts der
schwierigen Lage an der Front die Erlaubnis zum Rückzug.
Genosse Gerassimenko befahl ihm, Mogiljow trotz des Ein-
schließungsrings weiter zu verteidigen. Am 25. 7. gegen 20.00
Uhr traf eine Meldung über seinen Rückzug auf die Linie Bolschoje Buschkowo-Ryshi ein. Im Laufe der Nacht ging eine
weitere Meldung ein, die seinen Rückzug bestätigt… Es ist
anzunehmen, daß er in Mogiljow im Straßenkampf steht. Ein
ausgeschicktes Flugzeug konnte keine Verbindung mit Bakunin aufnehmen. Funkverbindung konnte ebenfalls nicht hergestellt werden.“
In der Schilderung der Kampfhandlungen der 13. Armee heißt
es über die letzten Kämpfe um Mogiljow: „Das 61. Schützenkorps kämpfte im Kessel weiter, hielt bis 26. 7. den Mogiljower Brückenkopf, wo die ganze Zeit über erbitterte Gefechte
stattfanden. Dem Gegner wurden schwere Verluste zugefügt,
doch nachdem keine Munition und Verpflegung mehr vorhanden waren, traten die Truppenteile des 61. Schützenkorps und
des 20. mechanisierten Korps am 26. 7. den Rückzug an. Die
172. Division blieb zurück, um Mogiljow zu verteidigen. Über
ihr Schicksal ist nichts bekannt. Versuche, Munition auf dem
Luftwege hinzuschaffen, waren erfolglos, denn der Gegner
hatte den Flugplatz bereits besetzt… und die Dneprbrücke in
seine Hand bekommen.“
Ich möchte ergänzen, daß diese Versuche auch in anderen
Dokumenten ihren Niederschlag fanden. So entdeckte ich in
einem Archiv ein Dokument, das vier Tage früher datiert ist:
„An den Kommandeur des 1. schweren Fliegerregiments,
Oberst Filippow. In der Nacht vom 22. auf den 23. Juli sind
Lasten auf Militärflugplatz Mogiljow abzuwerfen. Abwurfhöhe
vierhundert Meter… Auftauchen der Flugzeuge über dem
Flugplatz zwischen 01.00 und 02.00 Uhr. Alle Maschinen zum
Abwurf einsetzen…“
Im „Kriegstagebuch der Westfront“ wird die 172. Schützendivision in einer Eintragung vom 26. Juli 1941 zum letztenmal
erwähnt: „Die 172. Schützendivision kämpft vermutlich in
Mogiljow.“ Genau zehn Tage früher, am 16. Juli, befahl der
Oberbefehlshaber der Westfront, Marschall Timoschenko, nach
dem persönlichen Vortrag eines Vertreters des Stabes der 13.
Armee über die Lage bei Mogiljow: „Mogiljow ist um jeden
Preis zu verteidigen!“ Nach erhalten gebliebenen Dokumenten
und Veröffentlichungen in der Presse zu urteilen, hat die 172.
Schützendivision, und in ihrem Verband das 388. Schützenregiment Kutepows, im Verlauf der folgenden zehn Tage diesen
kategorischen Befehl bis zum letzten erfüllt. Bei unserem einzigen Zusammentreffen nach dem Krieg erzählte mir Hauptmann Gawrjuschin, ein Soldat seines Regiments habe gesehen,
wie Oberst Kutepow, an beiden Beinen verwundet, aus dem
Kessel Mogiljow herausgebracht worden sei, später sei er dann,
schon in einem Wald bei Mogiljow, infolge des Blutverlusts
gestorben. Für die Genauigkeit dieses Berichts aus zweiter
Hand kann ich mich nicht verbürgen, dennoch möchte ich ihn
zitieren. Ich wünschte sehr, wir könnten beim weiteren Studium der Ereignisse in und um Mogiljow noch Einzelheiten über
die letzten Lebenstage und Lebensminuten von Männern wie
Kutepow in Erfahrung bringen, die den Befehl „Mogiljow ist
um jeden Preis zu verteidigen!“ bis zu ihrer letzten Stunde erfüllten. 1966, anläßlich des 25. Jahrestages der Kämpfe um
Mogiljow, veröffentlichte eine Zeitung einige Abschnitte aus
meinem damals noch nicht abgeschlossenen Buch. Die gleichen Abschnitte wurden später in zwei Folgen des in Mogiljow
erschienenen Sammelbands mit Erinnerungen „Alle waren
Soldaten“ abgedruckt. Ich erhielt nach diesen Veröffentlichungen mehrere Briefe – Zuschriften von Teilnehmern an den
Kämpfen um Mogiljow. Meine Hoffnung, weitere Einzelheiten
über Kutepow, Masalow und andere, deren Namen in meinem
Frontnotizbuch stehen und im Buch genannt werden, zu erfah-
ren, ist zu einem gewissen Grad in Erfüllung gegangen.
Der erste Brief, in dem Kutepows Name erwähnt wird, kam
von Nikolai Maximowitsch Andrianow aus Donezk… „Ich
kann mich nicht an den genauen Tag erinnern“, schrieb Andrianow, „an dem ich mit einer Gruppe von elf Mann, von denen vier verwundet waren, in Richtung PuchowitschiOssipowitschi-Mogiljow aufbrach. Wir arbeiteten uns auf
Waldwegen und Pfaden vor, als uns ein Krankenwagen entgegenkam, den wir anhielten, weil er die Verwundeten mitnehmen sollte. Sechs höhere Kommandeursdienstgrade, darunter
auch Oberst Kutepow, stiegen aus dem Wagen. Er sagte zu
mir, er würde mich und die anderen gesunden Soldaten bei sich
behalten. Das Regiment würde sich entfalten und im Raum
Mogiljow Verteidigungsstellungen beziehen. Die Kommandeure wären gerade unterwegs, das Gelände zu erkunden.“
Nachdem Andrianow von diesem seinem ersten Zusammentreffen mit Kutepow, das zeitlich dem Beginn der Kämpfe um
Mogiljow vorausging, und von dem für Kutepow charakteristischen Entschluß berichtet hatte, schrieb er weiter:
„Ich denke, Material über die Kampfhandlungen des 388.
Schützenregiments ließen sich über einen Starschina beschaffen, der Waffenmeister war. Er hat einiges über das Kampfgeschehen notiert. Der Starschina hat mir seine Aufzeichnungen
gezeigt, als wir 1944 auf der Bahnstation Prawda in der Nähe
von Moskau im Lazarett lagen. Hier habe ich seine Spur verloren, aber er ist noch am Leben.“ Andrianow hatte den Namen
des Starschinas nicht genannt, doch bald darauf erhielt ich einen Brief von Wassili Alexandrowitsch Smirnow aus Minsk.
Der Brief begann so: „Ich war Leiter der Waffenmeisterei des
von Oberst Kutepow geführten 388. Schützenregiments und
habe mit diesem Regiment an der Verteidigung Mogiljows
teilgenommen. Ich begegnete Oberst Kutepow zum letztenmal
zwischen 19.00 und 20.00 Uhr im Regimentsgefechtsstand, als
die Verteidigungslinie bereits in die Vorstadt von Mogiljow
verlegt worden war.“ W. A. Smirnow berichtete in dem Brief
kurz von sich selbst, wie er nach der Flucht aus einem Kriegsgefangenenlager zu einer Partisanenabteilung stieß und bis zum
Zusammenschluß mit den Truppenteilen der Roten Armee ein
Bataillon führte, und kehrte dann zu dem Bericht über seinen
Regimentskommandeur zurück. „Noch heute, so viele Jahre
danach, ist mir das ganze Hin und Her jener Zeit gegenwärtig.
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich den Regimentskommandeur Kutepow vor mir. Vor dem Krieg habe ich mit ihm im
Klub Billard gespielt. Ich erinnere mich gut, daß ich im Hof
unserer Kaserne eine Pistole für ihn eingeschossen habe, und
auch, daß er mir einmal mit einem Taschenmesser die Rückenpartie meines Mantels aufschlitzte, weil mein Mantel nicht
vorschriftsmäßig genäht war. Er war ein strenger und geachteter Kommandeur, im Regiment gefürchtet und geschätzt. Er
war ein rastlos tätiger Mann. Bei unserer Fahrt an die Front
waren wir alle erfüllt vom großen Vertrauen in den Sieg, weil
wir von seinen – unseres Regimentskommandeurs – Fähigkeiten fest überzeugt waren. Im Gefecht flößte er uns Kraft und
Zuversicht ein. Obwohl ich ihm vom Beginn der Kämpfe bis
zum letzten Tag nur insgesamt drei- oder viermal begegnet bin,
ließen diese Begegnungen jedesmal meine Niedergeschlagenheit vergehen und verliehen neue Kräfte für den Sieg. Einen
Sieg im wahren Sinne dieses Wortes konnten wir damals nicht
erringen. Das aber, was die Soldaten des 388. Schützenregiments bei der Verteidigung der Stadt Mogiljow vollbrachten,
ist das Verdienst seines standhaften Kommandeurs Oberst Kutepow.“
Später kam noch ein Brief von Gawrill Iwanowitsch Suchow
aus Sagorsk:
„Ich habe in der Funkstelle beim Regimentsstab gearbeitet
und bin Kutepow und dem Stabschef Plotnikow täglich begegnet. Unser Regimentsstab hat eben in dem Gebüsch gelegen,
wo Sie damals auch gewesen sind. Später ist der Stab verlegt
worden, in die Nähe der Ziegelei, in eine Schlucht, aus der die
Ziegelei früher den Lehm holte. Der Gegner bedrängte uns.
Und da zog der Regimentsstab in die Stadt Mogiljow, in einen
Park. Ich weiß nicht genau, wieviel Tage wir dort gegen die
Faschisten kämpften, an eines aber erinnere ich mich. Von unserem Regiment sind nur wenige übriggeblieben. Wir waren
eingeschlossen, und nachdem uns die Faschisten umzingelt
hatten, zogen sie weiter in Richtung Smolensk. Da nahm der
Regimentskommandeur, Oberst Kutepow – er trug seinerzeit
Dienstgradabzeichen, die wir unter uns ,vier Balken’ nannten –
, den Rest des Regiments zusammen – das war so am 25.-26.
Juli – und sagte: Jungs, wir haben heute nacht einen schweren
Gang vor uns. Wir müssen uns an die Stellungen des Gegners
ranschleichen, in seiner Stellung über ihn herfallen und zu den
Unseren durchbrechen.’ Der Ausbruch gelang uns nicht. Der
Gegner entdeckte uns und machte aus der Nacht hellerlichten
Tag. In diesem Gefecht sind, wie ich annehme, unser Regimentskommandeur Kutepow und der Stabschef Plotnikow
gefallen. Wir sind wie durch ein Wunder am Leben geblieben
und in jener feuerspeienden Nacht in einen Wald geraten, das
heißt in den Rücken des Feindes.“
Die nächste Erinnerung an Oberst Kutepow und sein Schicksal kam aus Mogiljow selbst, von Wassili Afanassjewitsch
Pjatkow, vor dem Krieg Obersergeant im 388. Schützenregiment:
„Zwei oder drei Monate vor Kriegsbeginn wurde ich zum
Kommandeur eines Vierlings-Fla-MG ,Maxim’ ernannt. Mit
dieser Waffe war ich auch bei Mogiljow eingesetzt. Semjon
Fjodorowitsch Kutepow sah ich in der Nacht vom 25. auf den
26. gegen 2.30 Uhr vor der Sprengung der Brücke, oder besser
gesagt, er kam zu mir. Er gab mir die Anweisung, nicht ohne
Befehl zu schießen, weil um diese Zeit gerade die Kräfte gesammelt wurden und wir uns geräuschlos auf den Durchbruch
vorbereiten sollten.
Um 5.00 Uhr früh wurde ich zum zweitenmal verwundet und
konnte nicht mehr weiterkämpfen. Ich war an beiden Armen
verwundet. Ich kam ins Lazarett, als die Deutschen die Stadt
noch nicht restlos besetzt hatten. Nach drei Tagen floh ich aus
dem Lazarett: Mädchen brachten mich aus der Stadt in den
Wald. Ich begann in der Illegalität zu arbeiten. Drei Jahre war
ich bei den Partisanen. Am 28. Juli 1944 stieß ich zur regulären
Truppe. Und dann ging’s wieder an die Front…“
Und schließlich kam noch ein Brief, in dem Kutepows Name
erwähnt wurde. Absender war Leonid Iwanowitsch Serafimowitsch aus Minsk, der am Ende des Krieges bis Berlin kam und
1941, als er zu den Partisanen ging, erst ganze sechzehn Jahre
alt war:
„… Ich schreibe Ihnen, weil ich mich beim Lesen Ihres Beitrags an eine Episode erinnert habe, deren Zeuge ich war: 1941
bestand unsere Partisanenabteilung aus sechs bis sieben Mann.
An einem Abend Ende November 1941, als ich Posten stand,
sah ich durch den tiefen Schnee zwei Männer quer übers Feld
auf die Bahnstation Ratmirowitschi zukommen, die immer
wieder hinfielen und sich gegenseitig aufhalfen. Ich ließ sie
näher kommen, dann stellte ich sie. Beide waren sehr erschöpft. Der eine war größer als der andere, um den Kopf hatte
er einen schmutzigen Verband. Beide hatten keine Mützen auf,
obwohl es grimmig kalt war. Der größere trug den Mantel direkt überm Unterhemd und hatte Holzschuhe an, während der
zweite nur in Unterhemd und Hosen war, seine Füße hatte er
mit Lappen umwickelt. Ich brachte die beiden ins Haus unseres
Partisanen, Genossen Kossolapow, wo der Stab lag. Der Abteilungskommandeur, Genosse Balachonow, sprach mit ihnen,
und ich ging zurück auf meinen Posten. Nach meiner Ablösung
erfuhr ich, daß die Festgehaltenen lange nicht sagen wollten,
woher sie kämen und wohin sie unterwegs seien, aber nachdem
sie sich überzeugt hatten, daß sie bei Partisanen gelandet waren, hätten sie ihre Namen genannt. Der eine hieß Kutepow,
der andere Schaschuro. Kutepow berichtete, er sei in den
Kämpfen bei Mogiljow schwer verwundet worden und bewußtlos in Gefangenschaft geraten, wo er später den Genossen
Schaschuro kennengelernt habe. Beide waren dann in die Festung Bobruisk gebracht worden, wo sich zu der Zeit schon
über achtzehntausend sowjetische Kriegsgefangene befanden.
An die näheren Umstände ihrer Flucht kann ich mich heute
nicht mehr genau erinnern. Von ihren militärischen Dienstgraden ist in meinem Beisein nicht gesprochen worden.
Sie schreiben, Sie erinnerten sich an Kutepow als einen
,Mann, der, hätte er… überlebt, später zu Großem fähig gewesen wäre’. Ergänzend dazu möchte ich bemerken, daß Kutepow
und Schaschuro echte Kommandeure waren, die das Soldatenhandwerk verstanden. Bei einem Gespräch Kutepows und
Schaschuros mit dem Abteilungskommandeur Balachonow war
ich anwesend. Ihrer Meinung nach brauchte man nicht zu warten, bis die Abteilung zweihundert bis dreihundert Partisanen
hätte, man könnte die Deutschen auch mit schwächeren Kräften schlagen.
Kutepow und Schaschuro erholten sich bei uns länger als
vierzehn Tage, sammelten frische Kräfte. Wir hatten keinen
Arzt, aber Kutepow war verwundet. Hatte am Kopf eine
Schramme, die sich an einer Stirnseite über die Schläfe zog
und nur schwer heilte. Polina, Kossolapows Frau, die später
von den Faschisten umgebracht wurde, hat Kutepows Wunde
verbunden.
Als Kutepow und Schaschuro wieder etwas zu Kräften gekommen waren, befahl mir Balachonow, die beiden in Richtung Bobruisk zu begleiten.
1941 wurden die Eisenbahnstrecken von den Deutschen praktisch nicht bewacht, und so konnten wir in der Nähe von Bobruisk einen Transportzug mit Flugzeugbenzin ungehindert in
die Luft jagen, und später, als wir wieder bei der Abteilung
waren, nahmen wir am Angriff auf eine deutsche Polizeigarnison teil, die in der Bahnstation Brosha lag.
Ende Dezember 1941 wurde ich als Melder zu einer Abteilung geschickt, die sich im Dorf Bulkowo aufhielt und von
Genossen Liwenzew – heute Held der Sowjetunion – geführt
wurde. Als ich von dem Auftrag zurückkehrte, erfuhr ich, daß
deutsche Soldaten und Polizisten in meiner Abwesenheit unsere Abteilung überfallen hatten. In der Bahnstation Ratmirowitschi war nicht ein Partisan mehr zu sehen, das Haus Kossolapows, in dem sich der Partisanenstab befunden hatte, war niedergebrannt, und am Ortsrand sah ich Kutepows verstümmelte
Leiche. Aus Berichten von Ortsbewohnern wurde deutlich, daß
sich Kutepow, der Posten gestanden hatte, mehrere Polizisten
in Zivilkleidung genähert und ihn aus nächster Nähe erschossen hatten, worauf die Deutschen, die sich im Gebüsch in einem Wäldchen, das sich an die Bahnstation Ratmirowitschi
anschloß, versteckt gehalten hatten, unter MG- und MPi-Feuer
zum Angriff vorstürmten. Angesichts der Kräfteüberlegenheit
mußten sich Balachonow und die anderen Partisanen in das
Dorf Selenkowitschi zurückziehen. Schaschuro, der mehr über
Kutepow wußte, ist im Frühjahr 1944 gefallen. Ihm wurde postum der Titel Held der Sowjetunion verliehen. Der Abteilungskommandeur, Genosse Balachonow, kam unter tragischen
Umständen Anfang 1942 um…“
Dieser von verhaltener Dramatik erfüllte Brief bewegte mich
zutiefst. Auch wenn ich mir bei nüchterner Überlegung sage,
daß der Name Kutepow gar nicht so selten vorkommt und es
deshalb durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich ist, daß der
Brief nicht von dem Kommandeur des 388. Schützenregiments,
sondern von einem Namensvetter berichtet. Und doch, und
doch… Das Jahr 1941 ist, was Menschenschicksale angeht, mit
solchen Überraschungen, mit solchen Wendungen im Leben
der Menschen verknüpft, daß ich, Hand aufs Herz, die Möglichkeit nicht auszuschließen vermag, daß in diesem dramatischen Brief von ebenjenem Kutepow die Rede ist…
Auch über Oberst Iwan Sergejewitsch Masalow, den Kommandeur des 340. Artillerieregiments, das Kutepows Regiment
unterstützte, erhielt ich Briefe.
Über ihn schrieben mir zwei seiner Kameraden, die bei der
Verteidigung von Mogiljow dabei waren: der Stabschef der
Abteilung, der damalige Leutnant und heutige Oberstleutnant
der Reserve, A. F. Witter, und der Gehilfe des Stabschefs des
Regiments, A. G. Kurakow.
„Meiner Meinung nach“, schrieb Kurakow, „hat die Artillerie
bei der Verteidigung Mogiljows eine außerordentlich große
Rolle gespielt. Schließlich verfügten wir weder über Panzer
noch über Fliegerkräfte, hatten es aber mit PanzerStoßdivisionen zu tun. Natürlich haben wir auch Brandflaschen
und panzerbrechende Granaten eingesetzt, die Schützeneinheiten waren von gewaltigem Patriotismus beseelt und zeigten
wahres Heldentum. Trotzdem lag die Hauptlast des Kampfes
gegen die Panzer auf den Schultern der Artilleristen. Ich erinnere mich noch gut an die Zahlen in dem am 20. Juli 1941 an
den Divisionsstab übermittelten operativen Bericht. Unsere
Artilleriegruppe hatte seit Beginn der Kämpfe bis einschließ-
lich 20. Juli einhundertneunundsiebzig gepanzerte Fahrzeuge
des Gegners, darunter vierundfünfzig Panzer, vernichtet, den
Rest machten Kleinpanzer, Panzerspähwagen, Schützenpanzerwagen und Selbstfahrlafetten aus. Und Sie haben recht daran getan, neben das 388. Schützenregiment unser 340. Artillerieregiment zu stellen. Seinem Kommandeur, Oberst Masalow,
gebührt die Dankbarkeit des Sowjetvolkes in nicht geringerem
Maße als dem Kommandeur des 388. Schützenregiments,
Oberst Kutepow.“ Darüber schrieb auch A. F. Witter:
„Bei Mogiljow lag die Hauptlast des Kampfes gegen die Panzer auf den Schultern der Artillerie, und es ist ganz gut möglich, daß ein großer Teil von den neununddreißig Panzern, die
Ihr Freund Troschkin photographierte, von den Artilleristen des
340. Artillerieregiments und der 174. selbständigen Panzer
Jägerabteilung vernichtet worden ist. Als Beweis dafür mag der
Heldentod der Batteriekommandeure allein unserer 1. Abteilung, der Leutnants Wassili Lobkow, Robert Richter und Dmitri Patlach, dienen.
Nun aber zu Masalow. Wir gedenken seiner stets als eines unserer Besten. Man kann mit Fug und Recht sagen, daß bei Mogiljow im wichtigsten, am meisten durch Panzer gefährdeten
Abschnitt, im Abschnitt des 388. Schützenregiments, das die
Bobruisker und die Bychower Chaussee abschirmte, der gebildete, erfahrene, verdiente Artillerist Oberst Masalow die Seele
der Panzerabwehr war.“ Witter, auf dem Höhepunkt der Kämpfe schwer verwundet und ins Lazarett gebracht, und Kurakow,
im Moment des Durchbruchs in der Nacht vom 25. auf den 26.
Juli ebenfalls schwer verwundet, teilten mir in ihren Briefen
mit, was sie über das Schicksal ihrer Regimentskameraden
wußten, deren Namen ich in meinem Frontnotizbuch bewahrt
und in dem Beitrag veröffentlicht hatte.
Nach ihren Angaben sind Oberst Iwan Sergejewitsch Masa-
low, der Chef des Regimentsstabes, Hauptmann Fjodor Sergejewitsch Antonewitsch, und der Chef der Nachrichten, Hauptmann Boris Michailowitsch Orlow, in ein und derselben Nacht
zum 26. Juli beim Versuch, aus dem Kessel auszubrechen, gefallen.
Witter erwähnte in seinem Brief noch, daß ein paar Tage früher Unterpolitleiter Prochorow und, wie er glaube, auch der
stellvertretende Politleiter Paschun gefallen seien.
Kurakow hingegen schrieb, daß er noch nach den Kämpfen
bei Mogiljow mit Dmitri Paschun zusammengetroffen sei. In
der Nacht des Durchbruchs schwer verwundet, war Kurakow
von Soldaten verbunden worden, und sie hatten ihn, den Verwundeten, zehn Tage lang nach Osten, zur Frontlinie mitgeschleppt, bis sie, wie Kurakow schreibt, „bei Kritschew den
Deutschen in die Fänge fielen“. Kurakow hat Paschun im Todeslager „Ostrow Mazowiecki“ wiedergesehen.
„In der Nacht vom 17. zum 18. November 1941 wurden wir in
Güterwagen verfrachtet und unter verstärkter Bewachung mit
der Eisenbahn weggebracht. Paschun war im gleichen Wagen
wie ich. Es gelang uns, die obere Luke des Wagens, in den wir
gesperrt waren, zu öffnen und während der Fahrt abzuspringen.
Ich sprang als dritter. Unter den Genossen, die mir zur Luke
hinaufhalfen, war auch Paschun. Beim Absprung verletzte ich
mich. Das war dreißig Kilometer vor Warschau, in der Nähe
der Station Ostrow. Ich wurde von Polen gefunden, die mich
pflegten und wieder auf die Beine brachten. Was aus Dmitri
Paschun geworden ist, weiß ich nicht…“ Der Mut der Verteidiger von Mogiljow wurde noch 1941 gebührend gewürdigt.
Damals war man bei der Verleihung von Orden noch knausrig,
aber in einem der ersten Auszeichnungserlasse, dem vom 10.
August 1941, findet man die Namen vieler Teilnehmer an den
Kämpfen von Mogiljow.
Ich verglich diesen Erlaß mit den Namen aus nur zwei Regimentern – dem 388. Schützenregiment und dem 340. Artillerieregiment –, die in meinen Aufzeichnungen vermerkt sind.
Kommandeur des Schützenregiments Kutepow, Kommissar
Sobnin, Kommandeur des Artillerieregiments Masalow,
Hauptmann Gawrjuschin, Leutnant Wosgrin, Unterpolitleiter
Prochorow, stellvertretender Politleiter Paschun und Rotarmist
Sjomin – ihnen allen wurde ebenso wie dem Kommandeur
ihrer 172. Division Romanow und dem Kommissar der Division Tschernitschenko für die Kämpfe bei Mogiljow der Rotbannerorden verliehen.
In den drei Wochen, die zwischen dem Auszeichnungsvorschlag und der Herausgabe des Erlasses in Moskau liegen, sind
fast alle von mir Erwähnten im Kampf gefallen, ohne erfahren
zu haben, wie hoch ihre Heldentat eingeschätzt worden ist.
Heute aber, nach mehr als drei Jahrzehnten, sollte man wohl
darauf hinweisen, daß ihre Heldentat erstmals schon 1941 gewürdigt wurde. Ich will dieses wahrscheinlich kürzeste Kapitel
meines Buches mit noch zwei Auszügen aus den von mir bereits zitierten Briefen des Obersergeanten Pjatkow und des
Oberstleutnants Witter abschließen. „Ich nahm an den Kämpfen in ganz Westpreußen und an der Einnahme von Königsberg
teil; nach Königsberg wurde ich in der Berliner Richtung eingesetzt und nahm an der Erstürmung Berlins teil, wo ich das
Kriegsende erlebte. Warum schreibe ich Ihnen das alles? Damit
Sie wissen, daß die Ansicht der Faschisten, sie hätten 1941
unsere Division restlos vernichtet, falsch war! Es sind zwar nur
wenige von uns übriggeblieben, aber wir haben ihnen in ihrer
Höhle den Garaus gemacht!“
Dies schrieb mir Obersergeant Pjatkow.
Oberstleutnant Witter schrieb im wesentlichen das gleiche,
bloß faßte er sich noch knapper:
„Begonnen hat für mich der Krieg in Mogiljow, geendet, wie
es sich gehört, in Berlin.“
Die Äußerungen dieser Männer gelten natürlich nicht nur für
ihr persönliches Schicksal. Die Schicksale der Verteidiger von
Mogiljow waren sehr unterschiedlich, und nur wenige von ihnen kamen bis Königsberg und Berlin. Der Krieg aber, dessen
erste schreckliche Schläge bei Mogiljow auf sie niederprasselten, ging zu guter Letzt in Berlin zu Ende. Wie es sich gehört!
Und dazu, daß das Ende so und nicht anders aussah, haben die
Männer, die sich am Anfang des Krieges bei Mogiljow auf
Leben und Tod schlugen und die Deutschen dort einen halben
Monat aufhielten, einen großen Beitrag geleistet.
… Nachdem ich den auf der Fahrt nach Jelnja versäumten
Schlaf nachgeholt hatte, ging ich am nächsten Morgen zum
Redakteur der „Krasnaja Swesda“ und trug ihm meinen Plan
vor für eine Dienstfahrt entlang der Front, vom Schwarzen
Meer bis zur Barentssee. Ich bat darum, mir für diese Fahrt
einen zuverlässigen Wagen zur Verfügung zu stellen und mir
einen Photoreporter mitzugeben. Beginnen sollte die Fahrt am
südlichsten Punkt der Südfront und von dort immer weiter nach
Norden führen, so daß unsere Beiträge und Photos in der
„Krasnaja Swesda“ in einer ständigen Rubrik „Vom Schwarzen
Meer bis zur Barentssee“ erscheinen könnten.
Dem Redakteur gefiel diese Idee. Er sagte, er werde sie
Mechlis vortragen und sich darum kümmern, daß der Chef der
Politischen Verwaltung das Begleitpapier persönlich unterschrieb, damit wir ungehindert arbeiten könnten.
Die Generalreparatur des „Emka“, den man uns für diese
Fahrt zuwies, sollte sechs bis sieben Tage dauern. In diesen
sieben Tagen schrieb ich neben Frontballaden für die Zeitung
in einem Zuge „Wart auf mich“, „Ein Major hat seinen Jungen
transportiert“ und „Nicht bös sein: Es hat viel Gutes“.
Ich nächtigte in der Datsche bei Lew Kassil in Peredelkino
und hielt mich auch tagsüber dort auf, fuhr nirgendshin.
Den ganzen Tag saß ich allein in der Datsche und schrieb Gedichte.
Um mich herum hohe Kiefern, Erdbeeren über Erdbeeren und
grünes Gras. Es war ein heißer Sommertag. Und Stille. Es war
so still, dass mich unversehens Mattigkeit überkam. Wenigstens für ein paar Stunden wollte ich vergessen, daß Krieg war
in der Welt…
So steht es im Tagebuch, aber alle drei an diesem Tag geschriebenen Gedichte zeigen, daß ich, sosehr ich es auch wollte, den Krieg nicht mal für ein paar Stunden vergessen konnte.
Nur dachte ich wohl mehr als an anderen Tagen nicht so sehr
an den Krieg an sich als an mein eigenes Schicksal in ihm. An
das bereits Erlebte, noch mehr aber an das, was noch vor mir
lag.
Anders hätte ich wahrscheinlich keine einzige Zeile geschrieben. Nicht:
… Du kennst das Leid vom Hörensagen her, uns hat’s das
Herz zerrissen, dieses Leid. Wer diesen Jungen sah, der kann
nicht mehr nach Hause kommen bis ans End der Zeit.
Nicht:
… Warte, wenn vom fernen Ort dich kein Brief erreicht. Warte – bis auf Erden nichts deinem Warten gleicht…
Und auch nicht:
Wenn ich zurückkehr – bestimmt wird die Liebste mich gnädig richten. Und sterb ich – was gibt es Schlimmres, als meine
Briefe zu sichten…
Von den drei an diesem Tag geschriebenen Gedichten ist eigentlich eines die Fortsetzung des anderen, auch wenn sie noch
so verschieden sind, und sie waren der Versuch, jener inneren
Sorge Herr zu werden, die mich, ob ich es wollte oder nicht,
vor der neuen und, wie ich damals meinte, langen Fahrt an die
Front beschlich.
Beim Schreiben dieser Verse ahnte ich bereits, daß der Krieg
andauern würde. „… Warte, wenn der Schneesturm tobt…“ ist
an jenem heißen Julitag nicht wegen des Reimes geschrieben
worden. Gewiß hätte sich auch ein anderer Reim finden lassen.
… Als erster bekam der aus Moskau zurückkommende Kassil
„Wart auf mich“ zu hören. Er meinte, das Gedicht sei schon
ganz gut, bloß habe es so was Beschwörendes. Am Abend vorher waren Kassil und ich, bevor ich bei ihm übernachtete, zusammen bei Afinogenow gewesen. Afinogenow lebte mit Frau
und Tochter ständig auf der Datsche, von wo er sich nicht wegrührte, und es war bei ihnen alles genauso wie im Winter 1940
im Finnischen Krieg. Unwillkürlich kamen mir die Abende in
den Sinn, die wir in jenem strengen Winter bei ihm verbracht
hatten, Mah-Jongg spielend und dem britischen Rundfunk lauschend, der von dem uns damals noch fremden und fernen
Krieg in Westeuropa gegen die Deutschen berichtete.
An jenem Abend sah ich Afinogenow zum letztenmal, bevor
er bei einem Bombenangriff auf Moskau umkam.
Die Abfahrt verzögerte sich noch ein paar Tage, weil der Wagen noch nicht fertig war, doch ich hatte in dieser Zeit Arbeit
mehr als genug. Als ich an der Westfront war, hatte Sascha
Stolper das Drehbuch zu meinem Stück „Ein Bursche aus unserer Stadt“ geschrieben. Er hatte es in aller Eile runtergeschrieben und den militärischen Teil – der sich jetzt nicht mehr um
die Japaner drehte, wie früher in dem Stück, sondern um die
Deutschen – hatte er, da er mit dem Geschehen an der Front
nicht vertraut war, nur im Entwurf fertiggestellt. Bevor ich das
Drehbuch im Komitee abgeben konnte, mußte ich noch vieles
umarbeiten und umschreiben. Ich kann nicht sagen, daß mir
diese eilige Arbeit zwischen zwei Fahrten an die Front sonderliche Freude gemacht hätte.
An einem dieser Tage rief Jewgeni Petrow an und sagte, er
wolle für den amerikanischen Schriftsteller Caldwell eine Begegnung mit mir arrangieren, einem Mann, der erst vor kurzem
vom westlichen Kriegsschauplatz zurückgekehrt sei. Die Begegnung fand in der Wohnung von Nikolai Wirta statt. Der
Amerikaner war ein großer, kräftig gebauter Mann, der einen
weiten, sackähnlichen Anzug trug. Er machte in der Zeit der
Bombenangriffe auf Moskau Rundfunkreportagen für Amerika
und verhielt sich nach Meinung Petrows in Moskau sehr korrekt. Mir kam er recht pedantisch vor. Aus verständlichen
Gründen konnte ich ihm jedoch nicht viel erzählen.
Unser Gespräch hatte auch ein lustiges Detail. Er fragte, ob
ich deutsche Panzer aus der Nähe gesehen hätte. Ja, ich hätte
welche gesehen. Darauf wollte er wissen, wohl aus Interesse
am Zustand der deutschen Technik, wie die deutschen Panzer
aussähen, neu oder schon recht mitgenommen? Ich mußte über
diese Frage lachen und scherzte, wenn Panzer auf einen zurollten, sei es ziemlich schwierig, ihren Zustand festzustellen. Seien die Panzer aber zum Stehen gebracht worden, so hätten sie
schon mitgenommen ausgesehen. Jascha Chalip, der als Photoreporter mein Schicksal auf der bevorstehenden Fahrt teilen
sollte, war ein guter Kumpel. Am 9. August, dem Termin unserer Abfahrt, bekam ich eine Blinddarmentzündung. Ich war
gerade bei meiner Mutter, und dort erwischte es mich so, daß
ein Arzt gerufen werden mußte. Er erklärte mir, es sei eine Appendizitis und es könne vielleicht ohne Operation abgehen,
könne sich wieder beruhigen, ich müsse aber ein paar Tage hier
liegen, damit ich in seiner Nähe sei.
So lag ich bei meiner Mutter. In den Nächten fanden Bombenangriffe statt, und alle unsere Mitbewohner außer meiner
Mutter und mir eilten in den Luftschutzraum. In Mutters Zimmer war keine Verdunkelung angebracht, ich aber wollte, weil
ich starke Schmerzen hatte, nachts noch lesen. So schleppten
Mutter und ich eine Matratze in den fensterlosen Flur der großen Gemeinschaftswohnung, wo wir Licht anknipsen konnten,
und verbrachten dort die ganze Nacht, bis gegen Morgen nach
der Entwarnung die Mitbewohner zurückkamen.
Am 13. fühlte ich mich ein bißchen besser und sagte mir, nun
gäbe es keinen Aufschub mehr, wir müßten fahren. Mutter
packte mir für die ersten Tage irgendwelche Diätverpflegung
ein. Am Morgen des nächsten Tages, am 14. sollte es losgehen.
Am Vorabend fuhr ich zu Ortenberg. Es wurde festgelegt, daß
ich zunächst zum Stab der Südfront fahren sollte und von dort
zum äußersten Punkt im Süden, ans Schwarze Meer. Nach Informationen, die der Redaktion vorlagen, sollte der Frontstab
nicht mehr in Odessa liegen, wie ich angenommen hatte, sondern in Nikolajew. Also mußten wir zuerst nach Nikolajew
fahren und dann zusehen, nach Odessa zu kommen.
In der Redaktion traf ich Boris Lapin und Sachar Chazrewin,
die aus der Kiewer Gegend gekommen waren, und Lew Slawin, der auch zurückgekommen war, ich kann mich aber nicht
mehr erinnern, woher. Ich verabredete mit Sachar, ihn noch am
gleichen Abend im Hotel „National“ zu besuchen. Da ich meine Mutter am letzten Abend nicht allein lassen wollte, schleppte ich sie mit ins „National“. Chazrewin, der sich schon in der
Redaktion nicht wohl gefühlt hatte, lag jetzt krank in seinem
Hotelzimmer, wollte aber trotzdem in den nächsten Tagen nach
Kiew zurückkehren.
Wir unterhielten uns lange, tauschten unsere Erinnerungen an
Chalchyn gol aus, lasen Gedichte. Dann setzte ein Bombenangriff ein, und alle Hotelgäste mußten in den Luftschutzraum.
Angehörige der polnischen Mission und mehrere ausländische
Korrespondenten saßen schon dort. Ich machte im Luftschutzraum ein Nickerchen und verabschiedete mich nach der Entwarnung von Sachar und Boris. Damals habe ich sie wohl zum
letzten Male gesehen.
Mutter und ich gingen durch das nächtliche Moskau zu Fuß
nach Hause. Um sieben Uhr morgens stieg ich, nachdem ich
mich von meinen alten Herrschaften verabschiedet hatte, in den
Wagen, holte Chalip ab, und wir setzten uns auf der Chaussee
in Richtung Tula in Bewegung.
Die erste Rast war in Tula. Wir aßen in einer Gaststätte eine
Kleinigkeit und fuhren weiter. Die Schmerzen im rechten Unterbauch, wo der Appendix sitzt, waren immer noch nicht abgeklungen, und ich bat unseren Fahrer Demjanow, er solle
mich ans Lenkrad lassen und mir das Autofahren beibringen.
Ich meinte, bei dieser Beschäftigung, die Aufmerksamkeit und
Konzentration verlangt, würden sich die Schmerzen leichter
ertragen lassen. Und so war es auch. Kaum hatte ich mich ans
Steuer gesetzt, verwandelte sich Demjanow aus einem Unterstellten in einen Vorgesetzten, er sah nicht mehr den Bataillonskommissar in mir, sondern brüllte: „Wo willst du denn
hin?! Paß doch auf! Hast du keine Augen im Kopf? Du knallst
noch irgendwo ran, verdammt!“
Es fielen auch stärkere an meine Adresse gerichtete Ausdrükke, die ich ohne Widerrede schluckte, da ich als Fahrer wohl
nicht gerade glänzte.
Glühende Hitze herrschte. Nur gut, daß ich wie bei dem anderen „Emka“ das Dach hatte herausschneiden und statt dessen
ein mit Flügelmuttern befestigtes Rollverdeck hatte anbringen
lassen. Wir rollten das Verdeck zurück, und durch den Fahrtwind war es einigermaßen erträglich. Ich hatte einen dicken
Wälzer mit – „Der stille Don“ in einem Band. Und wenn ich
nicht gerade den Wagen chauffierte, las ich. Ich las, und bis
zum Ende unserer Festlandsfahrt, zwischen Simferopol und
Sewastopol, hatte ich das Buch ausgelesen. In Kursk übernachteten wir in einem Hotel. Das Zimmer war im Empirestil eingerichtet, es war verwanzt, und die Verzierungen am Bett konnte
ich, nebenbei bemerkt, nur ertasten. Es war Verdunkelung angeordnet, und vor den Hotelfenstern waren keine Vorhänge.
Wir kamen erst im Dunkeln in unser Zimmer und verließen es
noch vor Morgengrauen – wir mußten schnell weiter.
Um die Mittagsstunde langten wir in Charkow an. In der Stadt
war alles ruhig, das Leben ging seinen normalen Gang, und
nichts erinnerte daran, daß bei Kiew bereits blutige Kämpfe
tobten. Hinter Kiew schlug das Wetter um. Kaum prasselte
Regen hernieder, machte sich das Schwarzerdegebiet bemerkbar. Die Räder versanken im Schlamm und drehten durch.
Bis zum Abend erreichten wir Dnepropetrowsk nicht mehr,
wie wir vorgehabt hatten, sondern kamen nur bis Krasnograd,
einem Städtchen inmitten schattenspendender Bäume. Bei der
Einfahrt in die Stadt war ein großer Flugplatz mit Bombern zu
sehen. Die Käppis schräg auf dem Kopf, bummelten brave
Jungs mit blauen Kragenspiegeln durch die Straßen. Grüppchen schwatzender Mädchen promenierten den Boulevard entlang. An einer Ecke, dort, wo der Boulevard begann, standen
zwei ältere Militärangehörige; sie sprachen über eigene Angelegenheiten, wobei sie die an ihnen vorbeiflanierende Jugend
wohlgefällig musterten.
Wir hatten das Gefühl, in ein friedliches Garnisonsstädtchen
geraten zu sein, ganz undeutlich glaubte ich mich sogar der
literarischen Beschreibung dieses Gefühls zu erinnern.
Unser „Emka“ erregte Aufsehen. Anscheinend hatte hier, im
tiefen Hinterland, noch niemand einen Wagen mit so prächtigem Tarnanstrich gesehen. Demjanow hatte ihm das Aussehen
eines grüngefleckten Leoparden gegeben. Zudem veränderte
das Rollverdeck anstelle des Daches das Äußere des „Emka“
doch sehr und machte ihn zu einer Rarität, worunter wir, je
tiefer wir ins Hinterland kamen, immer mehr zu leiden hatten.
Wir hatten in einer kleinen Gastwirtschaft Platz gefunden, die
eher eine saubere Lehmhütte mit zwei Stockwerken war, als
wir plötzlich die Stimme des Leutnants vernahmen, der uns
hierher begleitet und sich eigentlich schon von uns verabschiedet hatte: „Sie sind doch gestern aus Moskau weggefahren?“
Wir bejahten das.
„Was meinen Sie, werden die auch hierher kommen?“
„Wieso denn hierher?“ fragten wir verwundert. In einem
Städtchen, wie wir es an diesem Abend vor Augen hatten,
wirkte der Gedanke, die Deutschen könnten hierherkommen,
noch dazu geäußert nicht von jemandem aus der Zivilbevölkerung, sondern von einem Militärangehörigen, besonders absurd. „Die haben doch eben Perwomaisk genommen. Und Kirowograd auch“, sagte der Leutnant.
„Wo haben Sie das her?“
„Ist übern Rundfunk gekommen.“
Wir hatten nicht Radio gehört, und diese Nachricht versetzte
uns einen Schock. Perwomaisk und Kirowograd – das war ja
schon Kriwoi Rog. Noch ein Stückchen, und die Deutschen
standen am Unterlauf des Dnepr! Und wir hatten zum Stab der
Front nach Nikolajew fahren wollen. Nikolajew befand sich
nun schon im Hinterland der Deutschen, in einem Sack. Wir
verstanden überhaupt nichts mehr und waren deprimiert.
Wir mußten uns später an noch bösere Überraschungen gewöhnen, aber in jener Nacht konnten wir, nachdem wir uns von
dem Leutnant verabschiedet hatten, lange nicht einschlafen.
Wir saßen da, diskutierten und konnten es nicht fassen – sollte
das wirklich wahr sein? Kurz vor unserer Abfahrt aus Moskau
hatte ich gehört, die Dinge an der Südfront stünden nicht be-
sonders gut. Beweis dafür war ja auch, daß man uns in letzter
Minute noch über die Verlegung des Stabes der Südfront von
Odessa nach Nikolajew informiert hatte. Und doch konnten wir
uns nicht im entferntesten das ganze Ausmaß dessen vorstellen,
was sich gerade in diesen Tagen an der Südfront ereignet hatte.
Zudem wußten wir jetzt nicht, wohin wir fahren sollten. Ging
es nach dem gesunden Menschenverstand, so war der Stab der
Südfront – wenn die Deutschen nun schon mal Perwomaisk
und Kirowograd genommen hatten – unmittelbar an den Dnepr
verlegt worden. Fuhren wir nun Richtung Dnepropetrowsk, so
mußten wir irgendwo in dieser Gegend auf den Stab’ stoßen.
Überraschenderweise war die erste Etappe unserer Fahrt zum
Stab der Front kürzer geworden als geplant. Und um wieviel
kürzer!
In aller Frühe verließen wir Krasnograd. Als ich später im Informationsbericht las, die Deutschen hätten Krasnograd genommen, hat mich diese Meldung besonders schmerzlich berührt, obwohl das Städtchen kein wichtiger strategischer Punkt
war. Wie friedlich und weit hinter der Front liegend war uns
dieses Krasnograd bei unserer Ankunft erschienen, und wie
besorgt waren wir gewesen, als wir die Stadt wieder verließen!
Die Straße nach Dnepropetrowsk war schlecht. Da wir nur
zwanzig bis fünfundzwanzig Stundenkilometer fahren konnten,
kamen wir kaum voran. Gegen Mittag waren wir unseren Berechnungen zufolge kurz vor Dnepropetrowsk. An die fünfzehn
Kilometer waren es noch. Nach weiteren zwei, drei Kilometern
kamen uns plötzlich Flüchtlinge entgegen. Unsere Augen trogen uns nicht: Die Menschen verließen die Stadt, die Stadt
wurde evakuiert. Ich hatte an der Westfront zu viele Flüchtlinge gesehen, um nicht sofort unterscheiden zu können, was ein
Flüchtlingsfuhrwerk war und was nicht, selbst wenn es das
einzige weit und breit gewesen wäre. Je näher wir der Stadt
kamen, desto dichter wurde der Strom der Flüchtlinge. Sie fuhren auf Autos, auf Pferdewagen, gingen zu Fuß. Traktoren und
Mähdrescher ratterten dahin, es war kein Ende abzusehen.
Vor uns tauchten die Fabriken von Dnepropetrowsk auf, riesige Kolosse mit darüberstehenden Rauchwolken. Keine zehn
Tage sollten vergehen, und wir mußten sie sprengen, weil wir
uns zurückzogen. Welch Fluch hing doch über fast allen am
Dnepr gelegenen Städtchen, von Mogiljow bis hin nach Cherson! Fast alle lagen sie ganz oder mit ihrem größeren Teil, wie
beispielsweise Dnepropetrowsk, auf dem anderen, auf dem
rechten, auf dem westlichen Ufer! Wir kamen am Bahnhof
vorbei, wo sich Tausende Menschen drängten. Nervosität war
zu spüren. Vor einem kleinen Laden mit dem Schild „Galanteriewaren und Reiseartikel“ standen die Menschen Schlange,
sicherlich nach Koffern und Rucksäcken. Obwohl die Sonne
nicht schien, war es in der Stadt doch schwül und staubig. Um
herauszubekommen, wo sich der Stab der Front befand, fuhren
wir zum Kommandanten. Möglicherweise nicht zum Kommandanten, sondern zum Garnisonschef, ich weiß es nicht
mehr genau. Ich erinnere mich nur eines kleinen grauen Flauses in einer zentral gelegenen Straße mit einem Boulevard. Wir
stellten den Wagen vor dem Eingang ab, gingen hinauf in den
ersten Stock, und dann spielte sich folgendes ab: Ein großes
Arbeitszimmer mit einem großen venezianischen Fenster und
einem großen Tisch. An ihm sitzt ein älterer, beleibter Brigadekommandeur. Er erhebt sich, um uns zu begrüßen, schüttelt
uns die Hand, bittet um unsere Papiere, ich hole die Bescheinigung heraus und reiche sie ihm. Plötzlich wirft er die Bescheinigung auf den Tisch, schreit „Mir nach!“ und rennt aus dem
Zimmer. In dem Moment, da er meine Bescheinigung auf den
Tisch warf, erscholl draußen das mir bekannte schreckliche
Pfeifen. Bevor der Brigadekommandeur aber hinter seinem
Tisch hervor war, hatte die Bombe bereits in der Nähe eingeschlagen. Wir rannten hinter dem Brigadekommandeur her in
den Hof und sprangen in einen mit einer Lage Balken überdeckten Splittergraben. Nach Luft ringend, sagte der Brigadekommandeur, als wir bei ihm anlangten: „Zum erstenmal
kommen sie bei Tage. Nachts haben sie uns schon zweimal
besucht.“
In der Stadt dröhnten noch ein paar Einschläge, nun aber
schon in einiger Entfernung. Dann war alles still. Wir gingen
zurück ins Zimmer des Brigadekommandeurs, er überlas unsere Papiere und sagte, seinen Informationen nach befinde sich
der Stab der Front in Saporoshje.
„Ist die Straße dorthin gut?“ erkundigten wir uns. Er zögerte
ein paar Sekunden, dann sagte er: „Das kommt ganz drauf an.
Fährt man auf dem linken Ufer, ist sie schlecht, aber dafür…“
Wieder zögerte er. „Fährt man aber auf dem rechten Ufer, ist
die Chaussee ausgezeichnet, aber ich kann für nichts garantieren… Das müssen Sie schon selbst entscheiden.“
Anscheinend spielte er darauf an, daß es eine riskante Sache
war, auf dem rechten Ufer zu fahren, weil die Deutschen dort
schon nahe an den Dnepr heran waren. Wir stiegen wieder in
unseren Wagen und berieten zu dritt, mit Demjanow, unsere
Lage. Fuhren wir jetzt wieder über die Brücke aufs linke Ufer,
war dort bestimmt alles von Landmaschinen, Traktoren und
Flüchtlingen dermaßen verstopft, daß wir bis in die Nacht hinein unterwegs sein würden. Auf der guten Chaussee am rechten
Ufer aber könnten wir in einer bis anderthalb Stunden Saporoshje erreicht haben. Was die Deutschen und das Risiko anging, wollte es uns trotz der Andeutung des Brigadekommandeurs nicht in den Kopf, daß die Deutschen schon hier sein
sollten, so nahe am Dnepr. An diesem Tag jedenfalls glaubte
ich das nicht, und wie sich zeigte, hatte ich recht daran getan.
Wir bogen zur Ausfahrt auf die Saporoshjer Chaussee ab.
Beim Krankenhaus wurden von Anderthalbtonnern Verwundete abgeladen, die bei dem Bombenangriff verletzt worden waren. Die auf dem Boulevard in der Nähe der Kommandantur
eingeschlagenen Bomben hatten, soviel ich wußte, niemanden
getötet oder verwundet. Eine zweite Bombenreihe aber hatte
genau den Bahnhofsplatz getroffen. Mir fiel die Menschenmenge ein, die wir eben erst dort gesehen hatten, und ich konnte mir deshalb ein Bild davon machen, in welchen Fleischwolf
die Menschen dort geraten waren.
Wir verließen Dnepropetrowsk, und nach wenig mehr als einer Stunde Fahrt auf der ausgezeichneten Chaussee hatten wir
beinahe Saporoshje erreicht. Wir brauchten bloß noch abzuzweigen, die paar Kilometer zur Dneprbrücke zurückzulegen,
und schon würden wir in Saporoshje sein. Doch für diese letzten paar Kilometer brauchten wir über fünf Stunden.
Auf der zur Brücke führenden Straße herrschte ein völliges
Chaos. Auch der Sand zu beiden Seiten der Straße war von den
Gleisketten der Traktoren zerwühlt. Es sah aus, als gäbe es
überhaupt kein Durchkommen. Von West nach Ost zogen
Flüchtlinge auf die Brücke zu, fuhren Kolonnen von Traktoren
und Mähdreschern, Lkws und Pkws, Pferdefuhrwerke mit in
aller Eile aufgeladener beweglicher Habe und allem möglichen
Plunder, mit Sachen, bei deren Anblick man sich fragte, warum
sie wohl in letzter Minute noch mitgenommen worden waren.
Rings um die Autos ein ganzes Meer von Pferdefuhrwerken.
Die Flüchtlinge kamen schon von weit her. Die Pferde waren
erschöpft, und die, die umfielen, wurden an den Straßenrand
gezerrt, wo sie krepierten. Die Fuhrwerke und die Autos hatten
sich zu einem Knäuel geballt, der nicht von der Stelle kam. Es
war ein lärmendes, schreiendes Gewimmel. Jeder wollte so
schnell wie möglich auf das andere Dneprufer kommen.
Als ich das Tagebuch zum Druck vorbereitete, gab ich es einigen Genossen zu lesen, mit denen ich Frontfahrten unternommen hatte. „Erinnerst du dich noch an den Alten damals an
der Dneprbrücke?“ fragte Jakow Nikolajewitsch Chaplin,
nachdem er das Tagebuch gelesen hatte. „Warum hast du über
den eigentlich nichts geschrieben?“
„An welchen Alten?“
„Na, den ich knipsen wollte, du hast mich doch nicht gelassen. Ich habe dann durchs Wagenfenster doch noch eine Aufnahme von ihm gemacht. Den alten Mann, der sich statt des
Pferdes vor das Fuhrwerk mit den Kindern darauf gespannt
hatte? Du hast so gut wie nichts darüber geschrieben, was sich
damals bei Dnepropetrowsk und an der Dneprbrücke abgespielt
hat. Erinnerst du dich nicht mehr? Ich wollte die Flüchtlinge
photographieren, aber du hast mich daran gehindert, hast mir
die Kamera aus der Hand gerissen und mich in den Wagen
geschubst. Und angebrüllt hast du mich: Wie ich bloß dieses
Leid auch noch photographieren könne.“
Ich hatte mich nicht mehr daran erinnert. Als aber Chalip davon sprach, fiel es mir wieder ein, es war genau so gewesen,
wie er es gesagt hatte. Ich erinnerte mich und dachte, daß wir
damals wohl beide auf unsere Weise recht gehabt hatten. Ein
Photoreporter durfte dieses Leid festhalten, er photographierte
es ja nur, und das war sein gutes Recht. Ich aber durfte nicht
zusehen, wie ein Militärangehöriger aus einem Militärfahrzeug
stieg, sich am Straßenrand aufbaute und diesen schrecklichen
Exodus der Flüchtlinge, diesen alten Mann knipste, der sich
vor den Wagen mit den Kindern darauf gespannt hatte. Mir
war, als müßte ich mich dessen schämen, ich hielt es für unmoralisch, das alles aufzunehmen, und ich hätte damals diesen an
uns vorüberziehenden Menschen nicht erklären können, wozu
wir ihr schreckliches Leid festhielten. Auf meine Weise hatte
auch ich recht. Alles in allem ist das jedoch wiederum ein Beispiel dafür, wie sich die Ansichten im Laufe der Zeit verändern.
Sieht man sich heute, viele Jahre später, alte Wochenschauen
und Ausstellungen von Kriegsphotos aus jener Zeit an, ärgert
man sich, mich eingeschlossen, über unsere Genossen Photoreporter und Frontkameramänner, weil sie damals, in diesem
Jahr, kaum Aufnahmen machten vom schrecklichen Alltag des
Krieges, vom Rückzug, von auf den Straßen liegenden, durch
Bomben getöteten Frauen und Kindern, von der Evakuierung,
von Flüchtlingen. Kurz, weil sie das alles nicht aufgenommen
haben, was ich selbst Chalip damals bei Dnepropetrowsk und
Saporoshje nicht habe aufnehmen lassen. Wäre man noch einmal zurückversetzt in jene Zeit, würde man wohl sehr viel vorsichtiger sein mit seinen Gedanken und Handlungen, was das
komplizierte Durcheinander unserer Gefühle nicht simplifizieren soll.
Als wir die Brücke endlich hinter uns gebracht hatten, befanden wir uns in Nowo-Saporoshje. Erst hier erfuhr ich, daß es
zwei Saporoshje gab – Staroje und Nowoje.
Unser Wagen kam auf dem aufgerissenen Pflaster nur mit
Müh und Not vorwärts, er ächzte und stöhnte bei jedem Meter,
schließlich blieb er ganz stehen. Demjanow machte sich mitten
auf der Straße an die Reparatur. Chalip und ich gingen währenddessen zum Stadtkomitee der Partei. Dort trafen wir einen
Sekretär an, von dem wir erfuhren, der Frontstab sei in Staroje
Saporoshje untergebracht, und bis dorthin wären es noch zwölf
Kilometer.
Hier in Nowoje Saporoshje war es verhältnismäßig ruhig. In
diesen Tagen galt der Dnepr noch wie von alters her als schwer
überwindliches, ja sogar unüberwindliches Hindernis. Zudem
hatten die Menschen noch nicht begriffen, daß die Deutschen
bereits wenige Kilometer vor der Stadt stehen konnten.
Demjanow mußte lange am Wagen herumbasteln, bis er endlich wieder fahrbereit war und sich, wenn auch immer noch
ächzend, in Bewegung setzte.
In Staroje Saporoshje hatten wir Glück und stießen fast sofort
auf die Redaktion der Frontzeitung der Südfront. Diese leidgeprüfte Redaktion hatte, glaube ich, während des Krieges nun
schon zum neuntenmal den Standort gewechselt.
Ich wußte, daß hier, an der Südfront, einige alte Bekannte von
mir wie Gorbatow, Althausen, Krymow, Dolmatowski, Awrustschenko, Krushkow und Frenkel bei der Frontzeitung oder
bei Armeezeitungen arbeiteten. In Saporoshje waren nur die
beiden Letztgenannten anwesend. Von den übrigen sagte man
uns, sie seien irgendwo bei der Truppe, seien entweder eben
aus dem Kessel herausgekommen oder schlügen sich gerade
heraus.
Kolja Krushkow begrüßte mich herzlich und freundschaftlich,
und bekümmert tauschten wir Erinnerungen aus an die Mongolei, wo sich der Krieg ganz anders abgespielt hatte. Krushkow
machte auf mich den Eindruck eines Menschen, den das ganze
Geschehen völlig aus der Fassung gebracht hatte. Es war aber
auch wirklich schwer, hier, an der Südfront, zu dieser Zeit
nicht in diesen Zustand zu geraten. Auch ich war erschüttert.
Ich fühlte, daß eine Katastrophe eingetreten war, die weitreichende Folgen haben würde. Von den vier an dieser Front stehenden Armeen waren, wenn man den Gerüchten glaubte, zwei
völlig eingekesselt, ihre Männer waren entweder gefallen, hatten sich gefangengegeben oder waren zu den Partisanen gegangen. Zwei Armeen – die 9. und die 18. – hatten sich unter
schweren Verlusten herausgeschlagen, und Teile von ihnen
waren noch dabei, der Einschließung zu entrinnen. Und das
galt in diesen Stunden als Erfolg. Die Geschichte wird eines
Tages ihr Urteil über unsere Zeitgenossen fällen und ihr Wort
über diese Tage sprechen. Damals aber war es schwer, überhaupt etwas zu begreifen. So galt die 9. Armee, die weiter im
Süden kämpfte – südlich von ihr stand nur noch die Küstengruppe –, hier, beim Stab der Front, als erfolgreichste, als lobenswerte Armee, weil sie sich, auf dem Rückzug von Odessa,
bei Nikolajew rasch durchgeschlagen hatte und jetzt ihre aus
dem Kessel herauskommenden Teile sammelte. Doch nach
nicht einmal einer Woche machte man in meiner Gegenwart in
Odessa dieselbe 9. Armee schlecht, weil sie, wie man sagte, bei
ihrem Ausbruch aus dem Odessaer Kessel nicht nur spornstreichs zweihundert Kilometer zurückgegangen sei, sondern
auch noch eine Division der Küstenarmee mitgezogen habe.
Außerdem sagte man in Odessa wutschnaubend, die 9. Armee
hätte Nikolajew innerhalb von zwei Tagen aufgegeben, während sich Odessa bis zum heutigen Tage halte und noch lange
halten werde, wo doch die Verteidigung von Nikolajew kein
bißchen schwieriger gewesen sei als die von Odessa.
Ich nehme mir nicht heraus, darüber zu urteilen, aber so wurde damals gesprochen.
Ich unterhielt mich mit Kolja Krushkow lange über alle diese
Themen. Er erkundigte sich bei mir über die Lage an der Westfront, und unter dem Eindruck der letzten Tage meiner Fahrt in
die Gegend von Dorogobush und Jelnja sagte ich, dort hätte
sich alles wesentlich gebessert, es herrsche viel mehr Ordnung
und Zuversicht als am Anfang, auch habe sich bereits eine gewisse Stabilität eingestellt.
„Und bei uns hier…“, sagte er und winkte ab. „Doch wozu
darüber reden. Wir kämpfen eben.“
An unserer Unterhaltung hatte auch Frenkel teilgenommen, er
schleppte mich hinaus in das Gärtchen und fragte mich über die
Lage an der Westfront aus. Ich wiederum erkundigte mich bei
ihm nach Bekannten. Gorbatow steckte irgendwo bei der Truppe. Von Althausen wurde erzählt, er sei den Deutschen beinahe
in die Hände gefallen, als er in einem Dorf übernachten wollte,
das bereits von ihnen besetzt war, nur durch Zufall sei er davongekommen. Dolmatowski sollte bei einer Armee sein, doch
kann ich mich jetzt nicht mehr erinnern, war es die 6. oder die
12. Am 4. August sei er zum letztenmal gesehen worden, also
vor dreizehn Tagen, und seitdem gab es kein Lebenszeichen
mehr von ihm. Über Krymow und Awrustschenko konnte ich
nichts erfahren…
Ich schreibe im Tagebuch, daß ich die damals an der Südfront
entstandene Lage nur schwer begreifen konnte. Diese Verständnislosigkeit traf auf vieles zu, doch in diesem Fall bezog
sie sich vor allem auf die Lage am linken Flügel der Südfront,
wo die 9. Armee und die Küstengruppe operierten.
Einesteils ist verständlich, daß man im Stab der Südfront darüber froh war, daß die 9. Armee und ihr rechter Nachbar – die
18. Armee – aus dem von den Deutschen vorbereiteten Sack
ausgebrochen waren, sich neu ordneten und im Verband der
zur Front gehörenden Truppen weiterkämpfen würden.
Menschlich verständlich ist aber auch, daß man in dem sich
weiterhin zäh verteidigenden Odessa wegwerfend über die 9.
Armee sprach, weil sie Nikolajew innerhalb von zwei Tagen
aufgegeben hatte. Obwohl die Meinung, die Verteidigung Nikolajews wäre nicht ein bißchen schwerer gewesen als die
Odessas, keinesfalls als zutreffend gelten kann. Man braucht
nur einen Blick auf die Karte zu werfen, um zu sehen: Nikolajew liegt fünfzig Kilometer vom Meer entfernt, am Ufer des
schmalen, sich tief ins Festland einschneidenden Bug-Limans,
und es war unvergleichlich schwieriger zu verteidigen und von
See her zu versorgen als das am Ufer einer breiten und offenen
Bucht gelegene Odessa.
Außerdem war die 11. Armee der Deutschen mit ihrer Spitze
an Odessa vorbeigestoßen und eben auf Nikolajew und Cherson vorgedrungen. Und dieser Durchbruch auf Nikolajew, wo
noch wenige Tage zuvor der Stab der Südfront gelegen hatte,
erfolgte so blitzschnell, daß unsere Truppen dort viel weniger
auf die Verteidigung eingestellt waren als in Odessa, dessen
Zugänge die sich kämpfend immer mehr auf die Stadt zurückziehende Küstengruppe verteidigte. Und obwohl schließlich
gerade die Seeleute des Nikolajewer Flottenstützpunkts die
letzten verzweifelten und sehr rasch verlaufenden Kämpfe um
Nikolajew führten, muß schließlich gesagt werden, daß, nach
den Dokumenten zu urteilen, die Verteidigung Nikolajews
durch Kräfte der Schwarzmeerflotte nicht in genügendem Maße vorausgeplant war. Der Handlungsplan der Flotte war in der
sich rasch verändernden Lage noch nicht mit dem Handlungsplan der Südfront abgestimmt, und so wie die Dinge liefen,
konnten die tollkühnen Versuche der Seeleute, Nikolajew zu
halten, nicht mehr von Erfolg gekrönt sein.
Auch über die Frage der Division, die die 9. Armee bei ihrem
Rückzug „mitzog“, läßt sich streiten. Die Küstengruppe (später
Selbständige Küstenarmee) war aus Teilen der 9. Armee aufgestellt worden und dieser ursprünglich operativ unterstellt gewesen. Ihr Name – Küstenarmee – spiegelte ihre Rolle bei der
Verteidigung Odessas besser wider als ihr Personalbestand.
Ursprünglich gehörten ihr drei Divisionen an, doch zu Beginn
der Verteidigung Odessas waren es noch weniger. Jene dieser
drei Divisionen, von der man in Odessa sagte, die 9. Armee
habe sie mitgezogen, war in Wirklichkeit im Verlauf unseres
Rückzugs abgeschnitten worden. Ein Regiment blieb in Odessa, während zwei Regimenter und der Divisionsstab abgeschnitten und bis Nikolajew zurückgeworfen wurden und im
Endergebnis wirklich mit der 9. Armee zurückwichen. Sicher-
lich war man in jenen Tagen beim Stab der 9. Armee über diesem Umstand keineswegs böse. Was den Standpunkt des
Kommandos der Küstenarmee angeht, so ist es durchaus natürlich, daß, nachdem Odessa plötzlich vom Festland her eingeschlossen war, sich seine Verteidiger nur schwer damit abfinden konnten, nur mehr zwei Divisionen von den dreien zu besitzen, die ursprünglich der Küstengruppe angehört hatten. Das
sind einige in jenen Tagen strittige militärische Fragen, mit
denen ich damals zunächst im Stab der Südfront und später in
Odessa konfrontiert wurde.
Die Redaktion der Frontzeitung der Südfront, von der ich im
Tagebuch schreibe, sie hätte ihren Standort zum neuntenmal
gewechselt, hatte in Wirklichkeit erst zum sechstenmal gewechselt. Aber sechs Verlegungen in fünfundfünfzig Kriegstagen sind für die Redaktion einer Frontzeitung auch nicht gerade wenig, und darin spiegelte sich wie in einem Wassertropfen
die an der Südfront entstandene allgemeine Lage wider. Die
Schicksale der Schriftsteller, nach denen ich mich damals im
August 1941 in der Redaktion der Frontzeitung erkundigte,
waren recht unterschiedlich.
Boris Gorbatow war in den Juli- und Augustkämpfen nicht in
einen Kessel geraten, er war den ganzen Krieg über Frontkorrespondent zunächst der Zeitung der Südfront und später der
„Prawda“, und in der Nacht des 9. Mai 1945 schrieb er in meiner Gegenwart in Karlshorst seine letzte Korrespondenz über
die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht.
Auch Dolmatowski war 1945 in Berlin, und er war dabei, als
der letzte deutsche Generalstabschef, General Krebs, bevor er
sich vergiftete, mit einer weißen Fahne ankam und mit dem
Oberbefehlshaber der 8. Gardearmee, General Tschuikow, in
Verhandlungen zu treten suchte. Damals aber, 1941, hat Dolmatowski bei der Armeezeitung der 6. Armee zusammen mit
den anderen die Tragödie dieser Armee miterlebt, ist verwundet worden, bei Uman in Gefangenschaft geraten, aus der Gefangenschaft entkommen, er hat lange gebraucht, um durch die
deutschen Linien zu kommen, und ist erst im Herbst 1941, als
er bereits als gefallen galt, wieder zu den Unseren gestoßen.
Krymow und Awrustschenko sind nicht aus dem Kessel herausgekommen und dort gefallen.
Dshek Althausen kam damals, im Sommer 1941, wohlbehalten heraus und fiel fast ein Jahr später im Charkower Kessel.
Als ich mein Tagebuch während einer Kampfpause im Frühjahr 1942 diktierte, Wußte ich von alledem so gut wie nichts…
Im Soldatenkasino aßen wir zu Abend und gingen dann zum
Übernachten ins Haus der Pioniere, wo die Redaktionsmitarbeiter wohnten. Hinterm Haus war ein Garten, und in diesem
Garten stand eine runde Laube. Dort legten wir uns zum Schlafen auf den Boden. In der Nacht tauchten deutsche Flugzeuge
über der Stadt auf. Fla-Kanonen und MGs eröffneten das Feuer. Wir wurden zwar wach, aber die anderen schienen bereits
genauso an diese Dinge gewöhnt zu sein wie ich, so daß wir,
kaum hatte der Beschuß aufgehört, gleich wieder einschliefen.
Am nächsten Morgen fuhren wir los, um Liljin ausfindig zu
machen -den Leiter der Korrespondentengruppe der „Krasnaja
Swesda“ an der Südfront, mit ihm zusammen suchten wir den
Kommissar des Frontstabs Maslow auf, bei dem er wohnte.
Von Maslow wurde uns bestätigt, daß sich Odessa noch in unserer Hand befand, und da wir unseren ursprünglichen Plan,
vom Schwarzen Meer bis zur Barentssee zu fahren, nicht aufgeben wollten, war ich entschlossen, koste es, was ei wolle,
nach Odessa zu kommen.
Liljin riet mir, zunächst zu den nächst gelegenen Truppenteilen zu fahren und das erste Material dort zu sammeln, doch ich
lehnte ab. Aus Erfahrung wußte ich schon, was zurückwei-
chende oder eben erst zurückgewichene Truppen sind, und ich
brachte es aus inneren, aus psychologischen Gründen einfach
nicht fertig, hinzufahren und die Männer unmittelbar nach einem Rückzug über zweihundert Kilometer mit Fragen zu belästigen. Was Odessa anging, sagte mir mein Gefühl, es werde
sich halten.
Ich dachte an Mogiljow und Kutepow und daß es wohl besser
war, in die eingeschlossene Stadt zu den Truppenteilen zu fahren, die sich bis zum letzten schlagen wollten, als Material in
einer eben erst zurückgewichenen Armee zu sammeln. Nichts
setzt einem innerlich mehr zu, nichts ist schwerer und unerträglicher, als in solchen Tagen, in einer solchen Atmosphäre für
eine Zeitung schreiben zu müssen. Ich hatte das schon einmal
durchgemacht und wollte unter allen Umständen nach Odessa.
Chalip war einen Moment unschlüssig. Ich konnte ihn verstehen. Für einen Mann, der zum erstenmal an die Front kam und
gleich in den ersten Tagen all das mit ansehen mußte, war es
keine Kleinigkeit, ins absolut Ungewisse hineinzufahren. Als
ich ihm aber energisch klarmachte, daß ich nach Odessa fahren
würde, und ihm vorschlug, wir könnten uns ja trennen – ich
fuhr nach Odessa, und er blieb so lange hier, wir würden uns
dann wieder treffen –, zögerte er keine Sekunde und sagte:
„Wir sind zusammen losgefahren, also bleiben wir auch zusammen.“
Maslow versprach zu klären, wie man nach Odessa kam, und
ging, nicht ohne uns geraten zu haben, wir sollten uns einstweilen ausruhen. Ich streckte mich unter den Apfelbäumen aus und
vertiefte mich in den „Stillen Don“. Maslow, zurückgekommen, sagte, Schiffe der Asowflottille,’ deren Stab sich zur Zeit
in Mariupol befinde, liefen nach Odessa aus. Sie brächten von
Odessa Verwundete nach Mariupol und von dort Munition
nach Odessa, und wir müßten, um nach Odessa zu kommen,
zuerst einmal nach Mariupol. Das bedeutete einen Umweg von
einhundertfünfzig Kilometern nach Südosten, aber es blieb uns
ja nichts anderes übrig. Einen anderen Weg kannten wir nicht,
also beschlossen wir, nach Mariupol zu fahren.
Demjanow wechselte in der Werkstattkompanie die defekte
Kupplung aus, weshalb wir bei Maslow im Flur übernachten
mußten und erst am nächsten Morgen losfahren konnten.
Nachdem ich mir im Stab der Front den Marschbefehl nach
Odessa beschafft hatte, machten wir uns auf den Weg zum
Flottillenstab. Auf dem Wege nach Mariupol wurden wir Zeugen einer recht unangenehmen Geschichte. Zunächst waren uns
mehrere Fuhrwerke mit Rotarmisten entgegengekommen, und
dann hatten wir in einiger Entfernung auf einem Feld Leute
stehen sehen, die uns Zeichen gaben, sobald sie unseren Wagen
bemerkten. Zwei Männer, beide nicht mehr jung, kamen angelaufen, fuchtelten mit irgendwelchen Papieren herum und benahmen sich so aufgeregt, daß wir einfach nicht mitbekamen,
was sie wollten. Wie sich schließlich herausstellte, war der eine
der Vorsitzende und der andere der Buchhalter des hiesigen
Kolchos. Direkt vom Melonenfeld hatten sie den Rotarmisten,
die auf den Fuhrwerken vorbeigekommen waren, reichlich
Wassermelonen gegeben, dann aber war das letzte Fuhrwerk
zurückgeblieben, ein Rotarmist war abgesprungen und hatte
noch mehr Melonen verlangt. Wild geflucht hätte er und sie
sogar mit einer Handgranate bedroht. Die Alten hatten jedoch
keine Melonen mehr herausgerückt und uns angehalten, damit
wir den Übeltäter bestraften. Wir nahmen die beiden Alten in
unseren Wagen, machten kehrt und holten die Fuhrwerke ein.
Auf dem letzten saß jener Rotarmist, der die alten Männer mit
der Handgranate bedroht hatte.
Das war ein abscheulicher Zwischenfall, und man mußte die
Alten beruhigen. Ich knöpfte mir den Schuldigen vor und auch
den Vorgesetzten, einen Sergeanten, der auf dem ersten Fuhrwerk fuhr, und befahl ihm, dem Kommandeur des Truppenteils
von dem Vorfall Meldung zu machen. Dann fuhren die Fuhrwerke weiter, und die beiden Alten waren etwas beruhigt.
„Uns geht es doch wirklich nicht um die Melonen. Sehen Sie
doch, was für einen Berg sie schon auf ihren Fuhrwerken haben. Aber der wollte unbedingt welche, die noch gar nicht abgenommen waren. Wir haben nichts dagegen, daß wir Melonen
hergeben sollen, wir geben schon welche. Droht der uns doch
mit der Handgranate!… Dabei hab ich selber drei Söhne bei
der Armee“, schimpfte der eine wieder los.
Ich sprach ihm noch einmal gut zu, und wir setzten unsere
Fahrt fort. Nach Mariupol war es weiter, als wir angenommen
hatten – mehr als zweihundert Kilometer. Einen Teil des Weges saß ich selbst hinterm Lenkrad – hatte immer noch Leibschmerzen. Auf halber Strecke machten wir in einer Kolchoskantine halt. Es war in einem großen ukrainischen Dorf. In der
im Obergeschoß liegenden Kantine, die wir über eine hölzerne
Außentreppe erreichten, gab es Wein, Milch, riesige Fladen
und fetten Borstsch. Etwas Frohes und Gutes war an diesen
gehobelten Holztischen, dem reichlichen Essen, den freundlichen, drallen, hübschen Mädchen am Büfett. Mich beschlich
das bittere Gefühl, daß wir in der Vergangenheit, früher, als es
wirklich der Fall gewesen war, geschrieben hatten, die Menschen lebten nun auskömmlich, menschenwürdig, und nun, da
sie wie beispielsweise hier wirklich menschenwürdig zu leben
anfingen, ging das alles wieder zum Teufel. Leid, Tod, Verzweiflung – das alles war nur mehr wenige Autofahrstunden
auf einer guten Straße von hier entfernt. Unser „Emka“ mit der
graugrüngefleckten Tarnung und dem Rollverdeck erregte hier,
wo sich die Menschen noch nicht von der Vorstellung getrennt
hatten, sie lebten im tiefen Hinterland, Mißtrauen. In der Kan-
tine erschien ein Milizionär und erkundigte sich, woher wir
kämen und wohin wir wollten. Ich zeigte meine Bescheinigung, weigerte mich aber, weitere Fragen zu beantworten, denn
ich hielt diese Fragen für übertriebene Neugier der örtlichen
Gewalt. Im nächsten Dorf versuchte uns der nächste Milizionär
bereits festzunehmen. Ich hielt auch ihm die Dokumente unter
die Nase, was ich für völlig ausreichend hielt, und wir fuhren
weiter. Ihm aber gefiel das ganz und gar nicht. Er schrie etwas
hinter uns her und versuchte sogar dem Wagen nachzulaufen.
Auf der Straße vor dem nächsten Dorf empfing uns eine ganze
Ansammlung von Leuten, die Jagdgewehre in den Händen
hielten. Auch sie wollten unsere Dokumente prüfen. Ich geriet
in Harnisch, doch der Kommandeur dieser Abteilung, ein sympathischer, rotwangiger Bursche, nahm mich beiseite und flüsterte mir vertraulich zu, sie hätten von der Miliz Meldung erhalten, Verdächtige kämen durch, „eine Art Banditen“. So hätten sie auf den Feldern alles stehen- und liegenlassen und wären mit ihren Jagdgewehren herbeigeeilt, denn sie wären eine
Gruppe des örtlichen Selbstschutzes.
„Ich zweifle natürlich nicht daran, Genosse Kommandeur, daß
Sie wirklich Sie sind, aber die Leute regen sich auf.“ Damit die
Leute sich nicht aufzuregen brauchten, zeigte ich ihm alle Papiere, die ich bei mir hatte, er war endgültig beruhigt und legte
salutierend die Finger an die Mütze, als wir weiterfuhren. Ich
meinte, damit wäre nun alles geklärt. Im nächsten Dorf aber
versuchte uns wieder ein Milizionär armefuchtelnd anzuhalten.
Ich sagte Demjanow, er solle diesmal mit Vollgas an dem Milizionär vorbeirauschen, mochte der doch schreien und herumfuchteln. Wir rasten an dem Milizionär vorbei, passierten das
Dorf und näherten uns ein paar Kilometer weiter der Rayonstadt. Hier wurden wir an der Einfahrt bereits von einer ganzen
Gruppe Milizionäre erwartet. Wir sagten uns, dem müsse nun
aber ein Ende gemacht werden, und hielten an.
Sie verlangten, wir sollten zur örtlichen NKWD-Abteilung
fahren. Ich ließ zwei Milizionäre aufs Trittbrett steigen, und
wir fuhren auf direktem Weg dorthin.
Der örtliche Bevollmächtigte saß in einem kleinen Zimmer
am Tisch mit dem Gesicht zur Tür und war, als ich eintrat, zunächst recht streng und erklärte, er müsse uns festnehmen. Lustig war, daß genau über dem Kopf dieses gestrengen Mannes
ein Bild hing von niemand anderem als eben jenem Lew Sacharowitsch Mechlis, dessen Unterschrift auf dem Papier stand,
in dem gebeten wurde, mich bei der Erfüllung des Auftrags der
„Krasnaja Swesda“ zu unterstützen, und das in der Tasche
meiner Feldbluse steckte.
Dieses Papier beschleunigte unsere Verhandlungen mit dem
Bevollmächtigten, und wir fuhren weiter in Richtung Mariupol.
Als wir uns der Stadt näherten, dämmerte es schon. Vor dem
Hintergrund des immer dunkler werdenden Himmels stand der
glutrote Schein über den Hochöfen des Mariupoler Hüttenwerkes.
Ein Seemann, dem wir zufällig begegneten, zeigte uns, wo der
Stab der Asowflottille lag. Er war in einem großen Gebäude
ein paar Kilometer außerhalb der Stadt untergebracht. Der Flottillenchef war nicht anwesend, und man verwies uns an den
Stabschef. Gleich darauf hatten wir Gelegenheit, uns ein Bild
über die Genauigkeit der Informationen zu machen, die wir
vom Kommissar des Frontstabs bekommen hatten. Wie sich
herausstellte, liefen weder Schiffe der Asowflottille noch andere von hier nach Odessa aus, einfach deshalb nicht, weil das
völlig sinnlos gewesen wäre; alles, was nach Odessa mußte,
fuhr von Sewastopol dorthin, schlimmstenfalls von Noworossisk. Bis zum heutigen Tag ist mir unklar, wieso die Genossen
im Stab der Südfront, die uns nach Mariupol in Marsch gesetzt
hatten, und auch wir selbst nicht auf den simplen Gedanken
gekommen sind, daß der kürzeste Seeweg nach Odessa immer
noch der von Sewastopol aus war, Sewastopol aber war zu dieser Zeit noch auf dem Landweg erreichbar…
Die im Tagebuch geäußerte Verständnislosigkeit, daß uns der
Kommissar des Stabes der Südfront in Unkenntnis der Dinge
nach Mariupol zum Stab der Asowflottille schicken konnte,
von wo wir nach Odessa weiterkommen sollten, ist nicht ganz
berechtigt. Den Stab der Front trennten dreihundertfünfzig Kilometer von Odessa; von Cherson, über das sich die letzten an
der linken Flanke stehenden Truppenteile der Südfront zurückzogen, nach Odessa waren es gleichfalls knapp zweihundert
Kilometer. Die zur Verteidigung Odessas zurückgebliebene
Küstenarmee war am 18. August, als wir den Stab der Südfront
verließen, für diesen im Grunde genommen bereits ein abgeschnittener Verband. Der Stab der Südfront konnte nun die in
Odessa verbliebenen Truppen weder führen noch versorgen,
und man hatte beim Stab anscheinend keine genauen Vorstellungen von der Lage dort, noch wie man praktisch dorthin
kommen könnte. Am folgenden Tag aber, am 19. August, als
wir von Mariupol nach Genitschesk unterwegs waren, war die
Küstenarmee offiziell nicht mehr der Südfront unterstellt.
An diesem Tag war durch Befehl Stalins der Odessaer Verteidigungsraum gebildet worden, dem die Truppenteile der Küstenarmee angehörten. Befehlshaber des Verteidigungsraums
wurde Konteradmiral G. W. Shukow, der seinerseits dem
Kommando der Schwarzmeerflotte direkt unterstellt war.
Die bis dahin der Südfront angehörenden Truppenteile der
Küstenarmee spielten bei der Verteidigung Odessas weiterhin
eine sehr große Rolle, doch von nun an wurde Odessa mit allen
diese Stadt verteidigenden Truppen, wenn man so sagen darf,
zu einer Bastion der Schwarzmeerflotte auf dem Festland. Her-
vorgehoben wurde dies dadurch, daß ein Flottenkommandeur
an die Spitze des Verteidigungsraums gestellt wurde, und es
lohnt, sich rückblickend daran zu erinnern, daß gerade diese
genau zum richtigen Zeitpunkt getroffene Entscheidung, nämlich die Verantwortung für die Verteidigung Odessas der
Schwarzmeerflotte zu übertragen, eine große Rolle spielte sowohl für die Dauer seiner Verteidigung als auch bei der erfolgreichen oder, genauer gesagt, mustergültigsten Evakuierung der
Truppen auf dem Seewege in der ganzen Kriegsgeschichte.
… Zurück nach Mariupol nahmen wir einen anderen Weg,
über einen Berg, von dem aus die Stadt zu übersehen war. Von
hier oben bot sie einen eigenartigen Anblick. Alle Häuser der
Stadt waren total verdunkelt, und die Feuer der Hochöfen standen, riesigen Protuberanzen gleich, am Himmel über der Stadt.
Wir übernachteten im „Haus des Bauern“. Dieses Haus war
viereckig angelegt; im Innern des Vierecks, im Hof, standen
Fuhrwerke. Wir stiegen ein Treppchen hinauf in eine Bodenkammer. Das freundliche Mädchen am Empfang hatte bedauert, daß nicht ein Bett mehr frei war, weshalb sie uns in dieser
Dachkammer unterbrachte und uns Kissen, Decken und Laken
gab.
Am anderen Morgen entschlossen wir uns, an der Küste entlang über Berdjansk, Genitschesk und die Halbinsel Tschongar
auf direktem Wege nach Sewastopol zu fahren. Die Küstenstraße war in ausgezeichnetem Zustand, manche Abschnitte
waren asphaltiert, andere unbefestigt. An der Straße wogte gutstehendes Getreide im Wind. Die Ernte war in vollem Gange.
Das Getreide wurde eingefahren. Unzählige Traktoren und
Mähdrescher waren bei der Arbeit. Überall auf den Feldern
sahen wir Menschen. Und wieder, wie nun schon so oft, schien
es, als gäbe es den Krieg nicht.
Eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit trafen wir in Genit-
schesk ein. Unter uns lag das Meer, und so unglaublich uns das
auch erschien, wir verspürten das heftige Verlangen, auf der
Stelle zu baden. Ohne uns erst beim Kommandanten zu melden, fuhren wir direkt zu den Anlegesteilen, kamen vorbei an
Fischerbooten und Barkassen. Flieger und Mädchen in Badeanzügen und Badekappen tummelten sich im Wasser. Es war
irgendwie seltsam, schien so lange her und völlig aus dem Gedächtnis geschwunden, daß man einfach nach dem Süden fahren, im Meer baden und die Mädchen mit den Badekappen
sehen konnte.
Das Asowsche Meer war so flach, daß wir gut fünfhundert
Meter durch seichtes Wasser und Sand waten mußten, bis wir
schließlich eine Tiefe erreichten, wo man einigermaßen
schwimmen konnte. In Genitschesk schienen neue Truppenteile eingetroffen zu sein. Die Stadt war voll von Militärangehörigen. Der Kommandant, ein blutjunger Leutnant, bot uns an,
hier bei ihm zu übernachten, und bewirtete uns mit Tee und
Fruchtbonbons in allen Farben des Regenbogens. Unser Wagen
stand gleich hinterm Haus im Hof. Vom Meer wehte ein warmer Wind. Es war schwül.
Ich hätte mir nie träumen lassen, daß die Deutschen einen
Monat später von diesem stillen Küstenstädtchen aus, wo wir
bei den Fischerbarkassen gebadet hatten, mich unter MG- und
Granatwerferfeuer nehmen würden; daß auch unsere weittragende Schiffsartillerie dieses Städtchen unter Beschuß nehmen
und ich bei der Besprechung eines Plans darüber zugegen sein
würde, wie man die hier in Genitschesk verbliebenen Fischerbarkassen versenken könnte, die man nicht mehr rechtzeitig auf
die Krim hatte in Sicherheit bringen können…
… Am nächsten Morgen, nachdem wir die Tschongarbrücke
passiert hatten, auf der ein Posten unsere Papiere kontrollierte,
waren wir auf der Krim und hatten gegen zehn bereits Dshankoi erreicht. Überall klebten Anordnungen des Befehlshabers
der auf der Krim stehenden Truppen, Generalleutnant Batows.
Bei der Tschongarbrücke, auf der Landenge und längs der
Straße nach Dshankoi tat sich was, es wurde gebaut und befestigt, Truppenbewegungen waren im Gange. Es war zu merken,
daß sich die Krim auf die Verteidigung vorbereitete. Und obwohl man sich einerseits nun endlich daran gewöhnte, viele
Dinge beizeiten vorzubereiten, und man sich darüber hätte
freuen müssen, daß dies hier und noch dazu rechtzeitig geschah, überkam einen andererseits doch ein bedrückendes Gefühl: Bestand etwa keine Hoffnung mehr, daß wir uns am
Dnepr hielten? Der Dnepr war mir als jene äußerste Grenze
erschienen, wo die Deutschen in der Ukraine zum Stehen
kommen mußten, über die wir sie nicht hinauslassen durften…
Das im Tagebuch Gesagte bedarf einer Präzisierung. Die 51.
selbständige Armee war durch Befehl des Hauptquartiers am
14. August, sechs Tage vor unserem Eintreffen auf der Krim,
gebildet worden. Anscheinend waren die Befehle, die die Unterschrift Generalleutnant Batows als Befehlshaber der auf der
Krim stehenden Truppen trugen und die überall auf der Krim
angeschlagen waren, bereits eine Woche alt. Am 19. August
übernahm den Befehl über die 51. selbständige Armee, der die
Verteidigung der Krim übertragen war, Generaloberst Kusnezow, der in den ersten Kriegstagen die Nordwestfront befehligt
hatte, und Batow wurde sein Stellvertreter.
Ich kehre zum Tagebuch zurück.
Vor Dshankoi brach unser rechter Kotflügel endgültig ab. Ich
hatte, wenn ich hinterm Lenkrad saß, wohl tatkräftig zu dieser
Havarie beigetragen. Am Stadtrand hielten wir bei einer kleinen Fabrik und fragten nach dem Direktor. Ein junger Mann
hinkte uns entgegen, der ehemalige Hauptmechaniker, jetzt
aber Hauptmechaniker, Chefingenieur und Betriebsdirektor in
einer Person. Er machte die Arbeit von denen, die zur Armee
geholt worden waren. Viele Betriebsangehörige waren zur Armee gegangen, doch die noch hier waren, arbeiteten für sie mit.
Irgendwie herrschte hier Ordnung. Schlosser nieteten unseren
abgebrochenen Kotflügel wieder an. Der Schweißer war bei
der Armee. In der Kantine setzte man uns Milch vor. Wir kamen mit dem Direktor ins Gespräch. Er litt an Knochentuberkulose. Der Krankheitsprozeß ließ sich nicht aufhalten, das
Laufen fiel ihm immer schwerer. Er hatte wohl erkannt, daß
sich die Krankheit nicht mehr zum Stillstand bringen ließ, aber
er sprach ohne Bitterkeit darüber, sagte sich, wenn nun mal
nichts mehr zu machen ist, hat Jammern auch keinen Sinn, man
muß eben arbeiten, solange man kann. Überhaupt lag in der
ganzen Atmosphäre dieser kleinen Fabrik, darin, wie die Menschen arbeiteten, wie sie mit uns sprachen, und auch in ihrer
Stimmung etwas Gutes, Herzliches, eben uns Eigenes. In den
jetzt von den Deutschen besetzten Gebieten gibt es Orte, in
denen ich kurz vorher noch gewesen bin und an die ich jetzt
mit besonderer Sorge zurückdenke: Was ist mit den Menschen
dort? Wo sind sie jetzt? Wo ist der hinkende Hauptmechaniker,
wo die alten Schlosser, die unseren Wagen reparierten, wo die
Mädchen, die uns die Milch brachten?
Von Dshankoi fuhren wir nach Simferopol. Die Straße war
gut. Demjanow räumte mir den Platz am Steuer ein und entzog
ihn mir erst dann wieder, als ich hinter einer scharfen Kurve
die Zäune zu beiden Straßenseiten kaputt fuhr. Giftig meinte
er, das sei eine seltene Leistung, fast reif für den Zirkus.
Durch Simferopol fuhren wir, ohne anzuhalten, wir wollten so
früh wie möglich nach Sewastopol kommen.
Dann wieder eine bekannte Gegend. Bald wird die Bucht vor
uns liegen und Sewastopol ins Blickfeld kommen. Alles
scheint zu sein wie früher. Bloß sieht man die großen Touristenbusse und die „Lincolns“ nicht mehr, von Zeit zu Zeit huschen grüne Militärfahrzeuge durch die Straßen.
In Sewastopol fuhren wir geradewegs zum Flottenstab, zum
Chef der Politverwaltung. Empfangen wurden wir von seinem
Stellvertreter, Brigadekommissar Tkatschenko. Bei ihm saß
noch ein anderer Brigadekommissar, Asarow mit Namen, der
uns erzählte, er sei erst gestern hier eingetroffen. Er gefiel mir,
weil ei: ein gutmütiges Lächeln und so etwas Versonnenes an
sich hatte. Er schien mir große Ähnlichkeit mit dem nun schon
toten Stschukin zu haben, der vor dem Krieg den Lenin gespielt hatte.
Die Brigadekommissare sagten, im Augenblick sei nicht abzusehen, wann Kriegsschiffe nach Odessa ausliefen, aber auf
alle Fälle ginge am nächsten Morgen ein Minenräumboot ab,
und sie schickten uns zum Kommissar des Stabes, Steinberg,
der alles zu regeln versprach. Vom Stab gingen wir zum Haus
der Flotte, wo sich auch das Theater der Schwarzmeerflotte
befand. Mit den Schauspielern dieses Theaters verband mich
eine alte Freundschaft. Sie hatten vor dem Krieg meine „Gewöhnliche Geschichte“ geprobt, erkannten mich und begrüßten
mich freudig. Der Leiter des Hauses der Flotte, Bataillonskommissar Schpilewoi, wollte sich um ein Nachtquartier für
uns bemühen. Danach gingen wir zur Grafen-Anlegestelle, um
uns die Bucht von Sewastopol anzusehen und zu baden. Wir
badeten unweit des berühmten Sewastopoler Adlers. Ganz in
seiner Nähe, am Ende der Uferstraße, war eine Bombe eingeschlagen, und der Sockel der Säule war von Splittern beschädigt. Im großen und ganzen aber waren die Gerüchte über die
Bombenangriffe auf Sewastopol, richtiger über ihre Folgen,
stark übertrieben. In der Stadt war alles unversehrt. Die Deutschen hatten keinen großen Schaden anrichten können, nur ein
paar Häuser am Stadtrand waren durch einen Torpedo zerstört
worden. Die Schiffe im Hafen fuhren allerdings sehr vorsichtig, weil die Deutschen Magnetminen abgeworfen hatten, die
nun nach einem neuen englischen Verfahren herausgefischt
wurden. Nach dem Baden gingen wir in die Redaktion des
„Krasny Tschernomorez“. Dort traf ich viele Bekannte an. Pawel Pantschenko, Gaidowski, Ljowa Dligatsch – dick, fröhlich;
das gestreifte Matrosenhemd, das in überweiten Seemannshosen steckte, und der an seiner Hüfte baumelnde Nagant hatten
ihn in einen waschechten Bootsmann verwandelt. Auch Jan
Saschin war hier. Wie sehr der Krieg doch die Menschen verändert. Er war immer schon ein netter Junge gewesen, aber als
wir zusammen am Literaturinstitut gewesen waren, hatte ich
ihn irgendwie nicht sehr gemocht. Vielleicht wegen seinem
Hang zu geistreichen Bemerkungen, zu einem theatralischen
Auftreten, zu einer betont infantilen Lebensfremdheit. Man
vermochte sich ihn wirklich nur schwer im Krieg vorzustellen!
Und da sah ich auf einmal hier in Sewastopol einen sympathischen strammen Seemann vor mir, der nach der einhelligen
Meinung aller stets großartige Arbeit für die Zeitung leistete,
immer guter Dinge war und eben erst aus einer Gegend gekommen war, wo es heiß herging, ich glaube aus Otschakow.
Chalip war verstimmt, weil wir nicht so eine Gasmaske hatten
wie die hier in Sewastopol. Unsere Gasmaskentaschen waren
dünn und kümmerlich, während die Jungs von der Flottenredaktion solide, prallgefüllte Segeltuchbeutel umgehängt hatten.
Nachdem er die Beutel neiderfüllt gemustert hatte, bat er Ljowa Dligatsch schließlich, ihm doch mal die hiesigen, Sewastopoler Gasmasken zu zeigen. Dligatsch öffnete den Beutel, und
da stellte sich heraus, daß das System ganz simpel war. Da das
Mitführen von Gasmasken in Sewastopol obligatorisch war,
hatten die findigen Seeleute von der Redaktion einfach einen
Behälter für die notwendigsten Utensilien daraus gemacht. Die
Gasmaskenbeutel enthielten neben ihrem Hauptinhalt, eben der
Gasmaske, auch noch ein oder zwei Bücher zur Lektüre, Seife,
Handtuch und noch ein paar notwendige Gegenstände – Rasiermesser, Rasierpinsel und bei einigen auch noch Brillenfutterale. Wir flachsten darüber, saßen mit den Jungs noch lange
zusammen und tranken starken, aromatischen Tee.
Am nächsten Morgen brachte uns der Kommissar des Stabes
wie versprochen auf dem Räumboot unter, das an einem der
Sewastopoler Anlegeplätze lag. Dort verabschiedeten wir uns
für einige Zeit von Demjanow, den wir in der Garage des Hauses der Seekriegsflotte untergebracht hatten. Demjanow war
wütend, er wollte nicht dableiben, verlangte, wir sollten ihn mit
nach Odessa nehmen. Lange noch stand er mit dem Wagen auf
dem Kai, bevor er wegfuhr. Über Odessa gingen Gerüchte um.
Es hieß, die Lage dort sei ernst, Näheres jedoch war nicht zu
erfahren. Das Räumboot war erst kürzlich zu einem Schiff der
Seekriegsflotte umgerüstet worden, es hatte noch seine komplette zivile Besatzung, darunter auch den zum Unterleutnant
der Flotte beförderten Kapitän, einen sympathischen Burschen,
der seinerzeit auf unseren Handelsschiffen nach Spanien gefahren war und jetzt, nach Erlangung des militärischen Dienstgrads, recht forsch auftrat. Auf dem Schiff herrschte immer
noch die zivile Ordnung, obwohl es nun als Kriegsschiff galt.
Als Demjanow weg war, sagte man uns, das Räumboot würde
in einer halben Stunde auslaufen, später in einer Stunde, später
in zwei Stunden. Das zog sich hin bis zum Abend.
Als wir von der alarmierenden Lage in Odessa hörten, waren
wir beunruhigt. Vielleicht hält man uns zurück und läßt kein
Schiff nach Odessa auslaufen, bevor sich das Schicksal der
Stadt entschieden hat. Ich weiß nicht, ob es sich wirklich so
verhielt, jedenfalls lagen wir bis zum Morgen des folgenden
Tages erst an einem Kai, dann an einem anderen, wo wir
Frischwasser bunkerten. Der Kapitän sagte, der Wasservorrat
sei zwar für die Reise nach Odessa ausreichend gewesen, aber
wir hätten noch welches für den Rückweg bunkern müssen.
Irgendwer meinte, das für den Rückweg hätten wir ja auch dort
bunkern können. Der Kapitän äußerte sich dazu nicht. Erst später verstand ich dieses Gespräch richtig, erst in Odessa. Beljajewka, von wo die Wasserleitung nach Odessa führte, war in
der Hand der Rumänen und der Deutschen, so daß es in der
Stadt kaum Wasser gab. Es wurde auf Karten ausgegeben, und
lange Schlangen standen nach Wasser an…
Im Tagebuch heißt es, Gerüchte über die alarmierende Lage
in Odessa hätten uns beunruhigt.
Diese Sorge war, wie ich heute aus Dokumenten ersehe, berechtigt. Im „Rechenschaftsbericht der Schwarzmeerflotte über
die Verteidigung von Odessa“ heißt es, in den vorangegangenen Tagen „ist in der Verfassung und im Handeln der Armeeführung die Tendenz zur Räumung Odessas deutlich geworden… Entgegen dem Befehl von Budjonny, Odessa unter keinen Umständen aufzugeben, hatte die Führung mit der teilweisen Evakuierung von Truppen und Ausrüstung begonnen.“
In den Memoiren von Vizeadmiral I. Asarow „Das belagerte
Odessa“ heißt es, daß der Kriegsrat der Küstenarmee bereits
am 17. August „die Evakuierung von 2563 Militärangehörigen
geplant hatte. Als Antwort auf eine Mitteilung hierüber untersagte das Oberkommando der Schwarzmeerflotte den Abtransport von Militärangehörigen und waffenfähigen Zivilpersonen
aus Odessa.“
Ein Streit darüber, wer in jenen Tagen in Odessa mehr Mut
bekundet hat und wer weniger, wäre müßig. Wie die folgenden
Ereignisse gezeigt haben, offenbarten bei der Verteidigung von
Odessa alle – die Küstenarmee wie die Seeleute – außerge-
wöhnliche Standhaftigkeit. Und die Ursache der von Asarow
erwähnten Konflikte ist meiner Meinung nach nicht so sehr in
fehlendem Mut zu suchen als vielmehr darin, daß die Führung
der Küstenarmee, die zu der Zeit bereits völlig von der Südfront abgeschnitten und noch nicht der Schwarzmeerflotte unterstellt war, hinreichend gewichtige Gründe hatte, sich um das
Schicksal der ihr anvertrauten Truppen Sorge zu machen. Wäre
die Küstenarmee in operativer Hinsicht noch einige Tage früher der Flotte unterstellt worden und hätte sie deren ganze
Kraft hinter sich gefühlt, wäre eine „Tendenz zur Räumung“
gewiß gar nicht erst aufgekommen.
Einigen Tagen der Ungewißheit wurde am 19. August durch
den Befehl des Hauptquartiers über die Bildung des Verteidigungsraums Odessa und seine Unterstellung unter die Flotte
ein Ende bereitet. Der Befehl traf ein auf dem Höhepunkt einer
neuerlichen erbitterten Offensive der Deutschen und der Rumänen auf Odessa. Als wir uns an Bord des Räumboots befanden, war diese Offensive noch im Gange, und es war noch immer nicht gelungen, sie zum Stehen zu bringen. Das Kräfteverhältnis vor Odessa betrug etwa vier zu eins zugunsten der Rumänen und Deutschen. Buchstäblich alle Dokumente aus jenen
Tagen bezeugen, wie gespannt die Lage war. Im Gefechtsbericht des Stabes des Verteidigungsraums Odessa vom 20. August (dem Tag unseres Eintreffens in Sewastopol) heißt es:
„Die Truppen des Verteidigungsraums Odessa standen am 18.
und 19. 8. 41 in besonders heftigen Gefechten gegen den kräftemäßig stark überlegenen Gegner… Der Gegner hat etwa
sechs Infanteriedivisionen, eine Kavalleriedivision und eine
Panzerbrigade in den Kampf geworfen, durchbrach gegen
Abend des 19. 8. 41 die Front… und entwickelt die Offensive
weiter… Unsere Truppen… haben in den Kämpfen erhebliche
Verluste erlitten… (über zweitausend Verwundete), konnten
sich vorübergehend in Zwischenabschnitten halten und ziehen
sich nun zurück.“
Am gleichen Tag erhielten die Kommandeure der Odessa verteidigenden Divisionen den Befehl, bis zum Morgen des 21.
August „alle rückwärtigen Dienste der Divisionen aufzulösen
und mit den freigesetzten Soldaten die kämpfende Truppe aufzufüllen“. Ebenfalls am gleichen Tag, am 20. August, wurde
Generalmajor Iwan Jefimowitsch Petrow als Kommandeur der
25. Schützendivision „Tschapajew“ eingesetzt, die in der
Hauptstoßrichtung des Gegners lag. Der bisherige Kommandeur und der Kommissar der Division waren abgesetzt worden,
und Petrow hatte den Befehl erhalten, die Lage wiederherzustellen und die 25. Schützendivision und die 1. Kavalleriedivision, die er bisher geführt hatte, unter seinem Kommando zu
vereinen. In sämtlichen Meldungen von diesem Tag ist von
schweren Verlusten die Rede. Das 287. Regiment der 25.
Schützendivision verkrallte sich am 20. August eben in jene
Verteidigungslinie bei dem Gehöft Krasny Peresselenez, wo
wir sie später noch antrafen, was ihr jedoch teuer zu stehen
kam – gegen Abend waren in den Kompanien nur noch jeweils
fünfzehn bis zwanzig Mann übriggeblieben. Die Deutschen
zielten schon lange darauf ab, Odessa zu nehmen. In Halders
Tagebuch heißt es unter dem 18. Juli, also über einen Monat
vor den Ereignissen, von denen in meinem Tagebuch die Rede
ist: „Odessa soll nunmehr nach Führerweisung genommen
werden. Dafür ist nur Korps Hansen mit zwei deutschen und
vielen rumänischen Divn. verfügbar.“
In einem vom „Kommandeur des Militärabschnitts der Stadt
Odessa“, Korpsgeneral A. Son, unterzeichneten und schon am
13. August, vor Beginn der Offensive auf Odessa, abgeworfenen Flugblatt der Rumänen hieß es: „An alle Soldaten. Die
starke rumänische Armee hat die Stadt Odessa eingeschlossen.
Wollt ihr von den Juden und Kommunisten befreit werden,
gebe ich euch den Rat, euch noch vor Beginn des Sturmangriffs gefangenzugeben.“ Der im Flugblatt erwähnte Sturmangriff fand seinen Höhepunkt am 20. und 21. August. Am 22.
als wir mit dem Räumboot nach Odessa ablegten, und an den
folgenden Tagen, da wir noch an Bord waren, ging der Sturmangriff weiter, aber trotz erbitterter Kämpfe begann sich die
Lage zu stabilisieren. Der kritischste Punkt in der Entwicklung
der Ereignisse war bereits überschritten.
In der Nacht huschten Scheinwerferkegel über den Himmel.
Wir hatten uns auf dem flachen Dach der Funkstation zum
Schlafen hingelegt. Wenn die Scheinwerfer erloschen und der
Himmel dunkel war, fühlte man den Süden, und wieder – zum
wievielten Mal nun schon? -schien es, als wäre gar kein Krieg.
Am Morgen kam eine große Barkasse mit Angehörigen der
Odessaer Miliz längsseits. Soviel ich mitbekam, waren das
solche Leute, die sich nach der Einschließung Odessas auf eigene Faust aus dem Staube gemacht hatten und nun zurückkehrten. Es waren ungefähr dreißig Mann, und nie zuvor hatte
ich Leute gesehen, die so von Waffen starrten. Gewisse Photoreporter ausgenommen. Sie hatten MPis, Schnellfeuergewehre,
Karabiner, einen oder gar zwei Revolver pro Mann, Nebelhandgranaten, Eierhandgranaten. Zu alledem führten sie auch
noch einige leichte MGs mit sich. Wie alle übermäßig bewaffneten Menschen wirkten sie lächerlich. Sie hatten zwei Mädchen auf dem Räumboot mitgebracht, die auch nach Odessa
zurückkehren wollten. Der Kapitän ging ein Weilchen um sie
herum und musterte sie mißmutig, dann hatte er eine längere
Unterredung mit dem Kommissar des Räumboots und rief
schließlich den Funker zu sich, einen gesprächigen Lockenkopf, der uns tags vorher gastfreundlich auf dem Dach seiner
Funkstation aufgenommen hatte, und erteilte ihm eine Anwei-
sung.
Nach einer Stunde kam ein Boot der Hafenkommandantur,
und die beiden armen Mädchen verschwanden unter den Mißfallensbekundungen von dreißig bis an die Zähne bewaffneten
Männern genauso schnell vom Räumboot, wie sie an Bord gekommen waren. Einer der Männer versuchte dem Kapitän klarzumachen, die Frauen seien in Ordnung, seien Kameraden im
wahrsten Sinne des Wortes, und es liege absolut kein Grund
vor, sie nicht mitzunehmen. Der Kapitän aber blieb unerbittlich.
Endlich verließ unser Räumboot die Bucht von Sewastopol.
Vor uns wurde eine Balken-Netz-Sperre geöffnet und hinter
uns wieder geschlossen, dann eine zweite Sperre, und wir waren in offenem Gewässer. In unserem Kielwasser folgte noch
ein Transporter, drei U-Jäger gaben uns das Geleit. Nach zwei
Fahrtstunden blieben zwei der U-Jäger zurück, nur einer blieb
bei uns, der uns bald überholte, bald zu dem Transporter zurückkehrte, bald voll voraus fuhr. Wir erreichten die Tendrownehrung und nahmen hier Kurs aufs offene Meer nach Odessa.
Jetzt befanden wir uns nicht mehr im Wirkungsbereich unserer
auf den Flugplätzen der Krim stationierten Jäger, und auf dem
Räumboot löste ein Gefechtsalarm den anderen ab. Zuerst ließ
sich ein deutscher Aufklärer sehen. Lange und hoch kreiste er
über uns. Er machte nicht den Versuch, tiefer zu gehen, und es
war völlig sinnlos, aus den auf dem Räumboot installierten
Kanonen auf ein Flugzeug in dieser Höhe das Feuer zu eröffnen. Dann näherte sich eine Dreierkette. Die Flugzeuge kreisten lange über uns, ohne Bomben abzuwerfen. Sie wurden von
den Kanonen unseres Räumboots und des hinter uns fahrenden
Transporters beschossen, aber auch von dem U-Jäger, der,
wenn sie zum Sturzflug ansetzten, ihnen zuvorzukommen
suchte und sie mit seinem 45-mm-Bugkanönchen beharkte.
Nachdem die Flugzeuge eine geschlagene Stunde über uns ihre Kreise gezogen hatten, kamen sie herunter und warfen Bomben ab. Die erste Reihe fiel in einiger Entfernung von uns ins
Wasser. Zunächst erschien mir die Bombardierung gar nicht so
schrecklich, mehr noch fürchtete ich die Folgen des erbitterten
Gewehr- und MG-Feuers, das die mit uns fahrenden Odessaer
Milizionäre von allen Seiten her eröffneten. Den Burschen
mußte man ordentlich den Kopf gewaschen haben, weil sie
Odessa vorzeitig verlassen hatten, und nun kehrten sie nach
dieser Kopfwäsche in kriegerischer Stimmung zurück und ballerten mit den Gewehren und MGs, daß jeder Schritt auf dem
Schiff geradezu gefährlich war. Die Bomber unternahmen einen zweiten Anflug, und diesmal lagen die Bomben zwischen
uns und dem hinter uns fahrenden Transporter, näher bei ihm
als bei uns, dann drehten sie ab und verschwanden.
Uns fiel ein Stein vom Herzen. Außer uns armen Sündern
transportierte das Räumboot Munition, und ein Teil dieser
Fracht, der im Laderaum keinen Platz gefunden hatte, war, mit
einer Plane bedeckt, oben an Deck gestapelt.
Der hinter uns laufende Transporter drehte ab und lief mit
voller Kraft, heftig qualmend, von uns weg aufs Ufer zu. Die
Bomben waren verhältnismäßig weit von ihm entfernt ins Wasser gefallen, und ich glaube nicht, daß er etwas abbekommen
hatte. Eher hatte er wohl einen anderen Auftrag als wir und war
nicht nach Odessa unterwegs.
Der U-Jäger war zurückgeblieben, später holte er uns wieder
ein. Wir hielten weiter Kurs auf Odessa. Bald darauf tauchten
am Himmel noch zwei Flugzeuge eines mir unbekannten Typs
auf, es müssen wohl italienische gewesen sein. Sie kreisten
über uns, warfen aber keine Bomben. Nach einer weiteren
Stunde kam eine Dreierkette Bomber und warf aus großer Höhe Bomben ab. Weit von uns entfernt fielen die Bomben ins
Wasser. Wir und auch der U-Jäger nahmen die Flugzeuge mit
den Kanonen unter Beschuß. Dann kam einer der Bomber im
Sturzflug tiefer herab als die anderen, der U-Jäger raste auf
dieses Flugzeug zu und erwischte es anscheinend mit seiner
Kanone. Das Flugzeug verlor rasch an Höhe und verschwand,
eine Rauchfahne hinter sich herziehend, hinterm Horizont.
Auf unserem Räumboot herrschte der in solchen Fällen übliche Jubel. Unerklärlich woher, wurden Einzelheiten laut wie:
„Der hat ihm einen genau in die Tragfläche reingeballert – in
die linke, nein, in die rechte.“ Nachdem die anderen beiden
Flugzeuge noch ein paar Bomben geworfen hatten, verzogen
sie sich.
Ich hatte nicht auf die Uhr gesehen, aber die ganze Geschichte
hat wohl alles in allem länger als fünf Stunden gedauert. Als es
dämmerte, zeigten sich auf dem Meer mit Kurs von West nach
Ost fünf flache weiße Bugwellen. Das sollten angeblich Torpedoboote sein. Aber was für welche? Aller Wahrscheinlichkeit
nach unsere, aber für alle Fälle wurde auf dem Räumboot Gefechtsalarm gegeben. Die Boote rauschten an uns vorbei. Es
waren Boote von uns, die zu ihrem Stützpunkt zurückkehrten.
Eine dunkle Nacht brach an. Der Seegang wurde stärker. Der
Kapitän ging auf Deck auf und ab. Ich sagte zu ihm, wir hätten
Glück – die Nacht sei sehr dunkel.
„Dunkel?“ fragte er zurück. „Dann gehen Sie mal ans Heck
und gucken Sie zurück!“
Ich ging ans Heck, und dort sah ich hinter der Schraube in
dem tiefschwarzen Wasser einen aus der Luft gut wahrnehmbaren langen, weißen, phosphoreszierenden Streifen. Am Himmel
brummte etwas, dann wurde es wieder still. Neuerliches
Brummen. Wenig später flog hoch über uns ein Flugzeug mit
nur einem brennenden Positionslicht.
Ich hatte mich in der Kajüte des zweiten Offiziers auf die Ko-
je gelegt, Jascha aber hatte sich müde auf dem kleinen Diwan
niedergelassen. Wir waren beide in Sorge, wie diese Überfahrt
nach Odessa enden würde, aber wir sorgten uns jeder auf seine
Weise. Er konnte sich nicht vorstellen, wie einer jetzt schlafen
könnte, und ich wieder wollte um jeden Preis einschlafen. Wie
auch in anderen Fällen, wenn ich vor etwas Angst hatte, wollte
ich die Gefahr möglichst verschlafen.
Ich schlief ein, doch plötzlich rüttelte mich jemand an der
Schulter. „Was ist?“
„Eben ist ein Torpedo an der Bordwand vorbeigezogen.“
„Er ist schon vorbei?“
„Ja.“
Ein Torpedo, der schon vorbei war, schreckte mich nicht.
Wohl deshalb nicht, weil ich den Moment verschlief, als man
auf dem Schiff schrie: „Torpedo!“ Jascha aber hatte diesen
Schrei gehört, er war immer noch ganz aufgeregt und wollte
mich mit an Deck schleppen. Ich aber war zu faul, hinaufzugehen, und schlief wieder ein. Einige Zeit darauf wurde ich wieder geweckt: „Kostja, du sollst zum Kapitän kommen.“ Ich
sprang auf. „Was ist los?“
Flüsternd berichtete er mir, eben sei oben an Deck der Funker
zu ihm gekommen, der zuvor von einem zum anderen gegangen war und jeden gefragt hatte: „Wer sind Sie?“ Im Dunkeln
war er schließlich auf Jascha gestoßen. „Und wer sind Sie?“ –
„Der Photoreporter.“ – „Sie suche ich gerade. Wo ist Ihr Kollege? Gehen Sie los und bringen Sie ihn schnell zum Kapitän.“
Das folgende läßt sich nur verstehen, wenn man bedenkt, daß
das Räumboot an sich ein rein ziviles Schiff war und seinen
ersten Kriegseinsatz absolvierte und ich mit meinen zwei Balken an den Kragenspiegeln für den Kapitän wohl die ranghöchste Militärperson auf dem Schiff war.
Ich zog mich an, nahm den Revolver und tastete mich in der
undurchdringlichen Finsternis zur Brücke. Dort stand schon der
Kapitän in einer von Spritzern benetzten Lederjacke. Es war
ordentlicher Seegang.
„Simonow?“ fragte der Kapitän. „Ja.“
„Haben Sie eine Waffe bei sich?“
„Ja.“
„Ziehen Sie sie.“
Ich zog den Revolver „Folgen Sie mir.“
Wir verließen die Brücke, gingen unten noch ein Stück, dann
blieben wir vor einer kleinen Tür stehen.
„Hier drin!!!“ flüsterte der Kapitän und wies auf die Tür.
„Von hier aus gibt jemand den Flugzeugen Signale. Entweder
ein Mensch oder ein speziell dazu eingeschmuggeltes Gerät.“
„Ein Mensch?“ fragte ich erstaunt. „Aber der ginge doch mit
uns unter, wenn was passierte.“ Der Kapitän zuckte die Achseln.
„Jedenfalls gibt irgendwer Signale“, sagte er. „Kommen Sie.“
Er stieß die Tür auf und zog mich und den Kommissar in einen
engen Raum hinein. In meiner absoluten Unkenntnis der Anatomie eines Schiffes nahm ich an, daß wir jetzt in die Unterwelt, in den Laderaum hinabsteigen würden. In meiner Jugend
hatte ich in verschiedenen Romanen gelesen, daß sich Verbrecher immer in den Laderäumen verstecken und man sie dort
mit der Taschenlampe in der einen, mit dem Revolver in der
anderen Hand aufspürt.
Hinter dem Kapitän zwängte ich mich durch die schmale Tür,
mit dem Fuß vorsichtig vorfühlend, um nicht in eine Luke zu
stürzen. „Hast du wieder zugeschlossen?“ fragte der Kapitän
den Kommissar.
„Hab ich.“
Der Kapitän tastete an der Wand, und gleich darauf knackte
ein Schalter. Ich war platt. Das war nicht der Laderaum und
auch nicht die Unterwelt, sondern die kleine Steuermannskajüte mit zwei Stühlen, einem Tisch und einer großen Liege. Der
einzige Ort, wo sich der Signalgeber in dieser Kajüte hätte verstecken können, war die Liege. Und als der Kapitän energisch
zupackte, um die Liege wegzuschieben, durchzuckte mich der
dumme Gedanke, darunter wäre eine Luke, die nach unten
führte. Aber es war wirklich nur die Liege da und sonst nichts.
Und als wir die Liege hochklappten, fanden sich auch im Innern nur ein paar Kleinigkeiten.
Verlegen steckte ich meinen Revolver weg. Der Kapitän aber
blieb todernst. Er schob den im Bettkasten liegenden Plunder
beiseite und entdeckte doch tatsächlich zwei in die Schottwand
eingeschraubte Glühlampen. Eine halbe Minute lang standen
wir stumm da. Die Lampen flammten auf und erloschen wieder. Dann flammten sie wieder auf und erloschen. In gleichmäßigen Zeitabständen flammten sie auf und erloschen.
Der Kapitän ließ den Schiffselektriker in die Kajüte holen.
Während man ihn suchte, besprachen der Kapitän und der
Kommissar, wie man den Elektriker wohl am besten überführen könne. Sie beschlossen, ihn mit der direkten Frage zu überrumpeln: wozu er diese Lampen eingeschraubt hätte. Die Lampen aber flammten weiter auf und verloschen wieder.
Nach ein paar Minuten kam der Schiffselektriker, ein ruhiger
älterer Mann. Als man ihn wie bei einem Verhör in scharfem
Ton befragte, lachte er schallend.
„Ihr wollt wohl gar einen Diversanten aus mir machen? Das
ist nämlich so – wenn die Fahrtmeßanlage ein Zehntel Kabellänge gemessen hat, schließen sich Kontakte, und die Lampen
flammen auf und zeigen an, daß ein Zehntel Kabellänge zurückgelegt ist. Gleich flammen sie wieder auf.“
Wie sich herausstellte, war im Kartenraum, in dem wir nun
standen, ein Teil des Daches mit Glas gedeckt, und hinter der
Liege, da, wo die Sofarolle lag, war ein breiter Spalt. Und da in
der Kajüte kein Licht brannte und ein Teil des Dachs bis Mitternacht nicht mit einer Plane abgedeckt wurde, konnte man
den Lichtstrahl dieser Lampen von der Brücke aus bemerken.
Die Sache war allen peinlich. Mir ein bißchen weniger, dem
Kapitän und dem Kommissar ein bißchen mehr. Schuld an der
ganzen Geschichte waren natürlich die Nerven. Der erste
Kriegseinsatz, die Bombenangriffe, das fast ununterbrochene
Flugzeuggebrumm, der an der Bordwand vorbeiziehende Torpedo… Sich dem Elektriker gegenüber irgendwie rechtfertigend, sagte der Kapitän, der Torpedo sei verdammt nahe vorbeigezogen, und überhaupt wäre das eine turbulente Nacht!
Ich ging zurück in die Kajüte und erwachte erst im Morgengrauen. Am Horizont tauchte Odessa auf. Es war ein kalter
Morgen. Die Stadt, die ich von früher kannte, erschien mir
grauer und strenger als sonst. Beim Näherkommen konnten wir
stark zerstörte Gebäude in den zum Hafen hin abfallenden
Straßen erkennen…
Ein paar Worte zur Ergänzung dessen, was ich im Tagebuch
über unsere Seefahrt sage.
Das Räumboot, auf dem wir nach Odessa fuhren, trug den
Namen „Delegat“. Es war ein Motorfrachter mit einer Wasserverdrängung von 2000 Tonnen und einer Geschwindigkeit von
9,1 Knoten, alt und klapprig. Die Kommission der Mobilmachungsabteilung beim Flottenstab war im Juli 1941 schon drauf
und dran gewesen, die „Delegat“ nicht vom Asowschen Schifffahrtsbetrieb zu übernehmen, hatte sich jedoch anscheinend
durch die Umstände gezwungen gesehen, die Entscheidung
umzustoßen, und die „Delegat“ blieb, als Räumboot geführt,
bis 27. Oktober 1941 im Verband der Seekriegsflotte. An diesem Tag sank sie in Kertsch „bei einem Luftangriff auf den
Hafen durch nahe liegende Einschläge und einen Bombenvoll-
treffer“. Anderthalb Monate vor ihrem Untergang, am 15. September 1941, gelang es der „Delegat“, wie Dokumente beweisen, „einen Angriff von sechs im Sturzflug angreifenden Flugzeugen abzuwehren, die zweiundzwanzig Bomben auf das
Schiff warfen. Die Bomben fielen rings um das Schiff ins Wasser, durch Splitter wurden vier Mann verwundet. Die Besatzung des Räumbootes hat den Angriff der feindlichen Flugzeuge tapfer abgewehrt.“ Mehr konnte ich über das Schicksal dieses kleinen, zur Flotte geholten zivilen Schiffs nicht in Erfahrung bringen, das drei Monate lang, bis zu seinem Ende, ordentlich seinen Flottendienst getan hat.
Über den Kapitän der „Delegat“ läßt sich an Hand der Dokumente mehr sagen.
Von unserer Reise nach Odessa bis zum Untergang der „Delegat“ war Valeri Nikolajewitsch Uschakow Kapitän des
Räumbootes. Uschakow, aus der Reserve im Rang eines Unterleutnants einberufen, war wie schon sein Vater Seemann aus
Familientradition und fuhr vor dem Krieg als dritter, zweiter
und erster Offizier auf Handelsschiffen. In seinem eigenhändig
geschriebenen Lebenslauf heißt es, er sei „in allen Ländern der
Welt gewesen, mit Ausnahme von Australien“. „37-38 saß ich
in Spanien auf der Insel Mallorca mit der Besatzung des Dampfers ,Syrjanin’ im Gefängnis.“
„Im Kriege trug ich am 27. Oktober 41 eine Kontusion davon.
Am 19. April 42 wurde ich am linken Knie und am 24. September 42 am Kopf verwundet.“
Nach dem Untergang der „Delegat“, wobei Uschakow die
Kontusion erlitt, wurde er als Kommandant des schwimmenden
Stützpunkts „Lwow“ eingesetzt. Auf diesem Lazarettschiff
absolvierte Uschakow 121 Reisen, wobei er insgesamt 34000
Personen transportierte, darunter 23 000 von der Krim evakuierte. In seinem Lebenslauf schrieb Uschakow nach Erwähnen
der Verwundungen und der Kontusion: „Ich besitze das Diplom eines Kapitäns für große Fahrt.“ Nach dem Krieg konnte
er jedoch nicht mehr auf große Fahrt gehen. Wie Uschakows
Personalakte ausweist, starb er, nachdem er 1945 Kommandant
einer Abteilung von Schulschiffen geworden war, am 3. November 1946 im Alter von vierunddreißig Jahren als Kapitän 3.
Ranges. Ein medizinisches Gutachten fand sich nicht in der
Kaderakte, und vor kurzem erst erfuhr ich von dem Kapitän für
große Fahrt Sergej Mironowitsch Schaposchnikow, einem
Freund Uschakows, daß die Ursache des frühen Todes dieses
hervorragenden Seemanns, dessen Vorgesetzte ihm die allerbesten Attestationen ausstellten und mit Lobesworten nicht kargten, ein tragischer Unfall war – ein unversehens gelöster Schuß
bei der Jagd.
Im Odessaer Hafen gingen wir von Bord, warfen uns die
Rucksäcke über und machten uns auf den Weg hinauf in die
Stadt. Die Straßen waren wie leergefegt, namentlich in der Hafengegend. Die Häuser waren alle gleichermaßen stumm – die
unversehrten wie die zerstörten. Zuerst hatte man den Eindruck, die Stadt sei ausgestorben, aber je höher wir kamen und
je mehr wir uns dem Stadtzentrum näherten, desto häufiger
begegneten wir Menschen. Wir sahen einige nicht sehr lange
Menschenschlangen vor Geschäften. Dann fuhr eine Straßenbahn vorbei, eine zweite, eine dritte. In sämtlichen Straßen
waren Barrikaden zu sehen. Manche davon fachmännisch errichtet aus Steinen und mehreren Lagen Sandsäcken, sie hatten
hölzerne Schießscharten für Gewehre und MGs und aus Doppel-T-Trägern geschweißte Panzerhindernisse. An einigen Barrikaden ragten in die Erde eingelassene hochgestellte dicke
Wasserleitungs- und Kanalisationsrohre in die Höhe. Sie erinnerten an Geschützrohre und sahen furchterregend aus. Gegen
neun Uhr vormittags langten wir beim Stab der Küstengruppe
an. Er lag am anderen Ende der Stadt. Nach langen Scherereien
mit Passierscheinen und Telefonaten ließ man uns endlich ein.
In der Politabteilung sagte man uns, das Mitglied des Kriegsrates Kusnezow werde bald zurück sein. Wir ließen unsere Sachen dort und gingen frühstücken.
Im Keller des gleichen Gebäudes gab es ein paar kleine Räume mit eingedeckten Tischchen, und auf den Tischen standen
sogar Blumen. Junge Kellnerinnen bedienten flink. Sie setzten
uns ein ausgezeichnetes Essen vor und kassierten pro Menü nur
einen Rubel. Brigadekommissar Kusnezow machte auf mich
den Eindruck, als sei er vor kurzem noch Zivilist gewesen. So
war es auch wirklich. Er war vor dem Krieg Sekretär des Gebietskomitees der Partei in Ismail gewesen und mit der Armee
von der Donau bis hierher zurückgegangen. Im Gespräch mit
uns ließ er kein gutes Haar an der 9. Armee, die bei ihrem
Rückzug in Richtung Nikolajew eine der drei Divisionen der
ohnehin schon zahlenmäßig schwachen Küstengruppe mitgezogen hatte.
Odessa wurde von erheblich weniger Truppen verteidigt, als
diejenigen, die nicht dort waren, gedacht haben und bis heute
denken. Am Tag unserer Ankunft hatten die durch sechstägige
ununterbrochen anhaltende Kämpfe stark mitgenommenen 25.
und 95. Schützendivisionen, ein eben erst aufgestelltes Marineinfanterieregiment, ein Regiment des NKWD und mehrere in
aller Eile gebildete selbständige Truppenteile, darunter auch
die sogenannte 1. Kavalleriedivision, die aus ehemaligen Kotowski- und Budjonnyleuten bestand, die Verteidigungsstellungen vor der Stadt bezogen. Die 1. Kavalleriedivision hatte Generalmajor Petrow aufgestellt, der bereits vor unserem Eintreffen Kommandeur der 25. Division geworden war.
Die beiden der Küstengruppe angehörenden Kaderdivisionen
haben sich in den Kämpfen vor Odessa zum Teil auch deshalb
so gut gehalten, weil sie beide im Krieg nicht ein einziges Mal
unter feindlichem Druck zurückgewichen waren, sondern sich
nur auf Befehl zurückgezogen hatten, um sich der Einschließung zu entziehen, nachdem die Deutschen die Front weiter
nördlich durchbrochen hatten. Sie waren Zurückgegangen,
nachdem sie sich jedesmal kämpfend vom Gegner gelöst und
alle Waffen und das gesamte Gerät mitgenommen hatten. Kusnezow riet uns, zu Petrow zu fahren. Die 25. Division hatte die
Aufgabe, die linke Flanke bei Dalnik zu verteidigen. Kusnezow
erzählte uns noch, daß die nach der Evakuierung in der Stadt
verbliebenen Hilfswerkstätten von Odessaer Fabriken und andere Werkstätten in diesen Tagen den Bau von Granatwerfern
in Gang gebracht hatten und außerdem Panzer reparierten.
Man stellte uns einen Anderthalbtonner zur Verfügung, und
so fuhren wir den Rest des Tages in der Stadt herum, am nächsten Morgen machten wir uns auf zu Petrow. Von den Limanen
her lag die Stadt unter dem Beschuß schwerer Artillerie. Die
Granaten kamen nicht allzu oft. Die Menschen in der Stadt
hatten sich mittlerweile auch an sie gewöhnt.
Jascha machte Aufnahmen von den Odessaer Barrikaden. Das
war nicht so einfach. Die beim Bau der Barrikaden mitarbeitenden Odessaer, insbesondere die Mädchen, drehten sich,
kaum daß sie den Mann mit der Kamera erblickt hatten, um
und starrten wie gebannt in die Linse.
Gegen Abend suchten wir mit einem Mitarbeiter der 7. Abteilung Baracken auf, wo kriegsgefangene Deutsche und Rumänen untergebracht waren. Vor Odessa gab es nur wenige Deutsche, es wurden nur einzelne geschnappt, dafür aber waren es
schon an die zweihundert Rumänen, die in den letzten zwei
Tagen gefangengenommen und noch nicht per Schiff auf die
Krim transportiert worden waren. Ein rumänischer Major –
Kommandeur eines Panzerbataillons – wurde zur Kommandantur gebracht. Er wurde unverzüglich zum Verhör geführt. Später kam ein rumänischer Hauptmann, der sich mir gegenüber
als überzeugter Englandfreund und Deutschenhasser bezeichnete und seine Meinung über die Verderblichkeit des Krieges
für Rumänien kundtat. Schwer zu sagen, wo seine wahre Überzeugung endete und wo die Angst ums nackte Leben anfing.
Mir schien, in seinen Worten war das eine wie das andere enthalten. Chalip wollte im Hof alle im Lager befindlichen Gefangenen photographieren. Der rumänische Hauptmann half ihm
tatkräftig dabei. Er ließ die Gefangenen erst in Zweierreihe,
dann in Viererreihe antreten. Als die Gefangenen wieder hineingeführt wurden, ließ man zwei Mann für ein Gespräch mit
mir zurück, und diese erzählten mir ihre Geschichte: Diese
beiden Bauern, Munitionsträger in der Bedienung einer rumänischen Feldhaubitze, hatten, als der Geschützführer und alle
anderen abgehauen waren, beim Geschütz die Unseren erwartet, die Hände hochgenommen und bei der Gefangennahme um
die Erlaubnis gebeten, mit ihrer Haubitze auf die Stellung einer
deutschen Batterie feuern zu dürfen, die anderthalb Kilometer
entfernt war und deren Position sie kannten. Das wurde ihnen
erlaubt, und sie verschossen den ganzen Kampfsatz auf die
deutsche Batterie ab. Ich unterhielt mich mit ihnen. Sie waren
beide nicht mehr die Jüngsten, so um die Vierzig, hatten gute,
einfache Bauerngesichter, denen man deutlich ablesen konnte,
daß ihnen das Kriegführen keinen Spaß machte. Von der psychologischen Seite her betrachtet, meinte ich, daß sie wohl
nicht so sehr aus Haß auf die Deutschen geschossen hatten als
vielmehr einfach aus dem Verlangen, sich auf irgendeine Weise bei unseren Soldaten zu bedanken, die sie gefangengenommen, nicht umgebracht und ein für allemal von diesem Krieg
erlöst hatten.
In die Stadt zurückgekehrt, suchten wir das uns zugewiesene
Zimmer im Obergeschoß auf. Es war ein kleiner Klassenraum
mit vier Schlafstellen, einem Lehrertisch und einem Haufen
Waffen in einer Ecke. Vor dem Krieg hatte sich in diesem
Haus eine Lehranstalt befunden. Chalip und ich setzten uns an
den Tisch, breiteten nach Studentenart eine Zeitung aus, holten
hervor, was wir an Eßbarem hatten, auch eine angebrochene
Kognakflasche fand sich noch.
Die Nacht war ruhig. Nur hin und wieder schlug bald hier,
bald dort in Intervallen von zehn bis fünfzehn Minuten eine
weittragende Granate krachend ein. Wir tranken auf Odessa
und Moskau und gingen erst spät schlafen, brachen aber in
aller Frühe mit unserem Anderthalbtonner in Richtung Dalnik
zur 25. Division auf…
In einem meiner 1941 geschriebenen Gedichte findet sich
gleichsam das Echo dieser ersten in Odessa verbrachten Nacht:
Nachts donnern des Feindes Geschütze… Vorbei. Also habt
auch in dieser Nacht ihr in der Heimat, in Rußland, schützend
unser gedacht…
Geschrieben habe ich die Verse erst später, und auch nicht in
Odessa. Als wir zwei Tage später von der 25. Division zurückkehrten, entstanden ganz andere Verse, in denen weder Odessa
noch das dortige Geschehen erwähnt wurden.
Weil Chalip und ich einige Angst ausgestanden hatten, kamen
wir sicherlich auf das Thema Leben und Tod zu sprechen. Ich
liebe ernste Gespräche darüber nicht sehr und sagte, ich würde
mich hinsetzen und auf der Stelle ein lustiges Gedicht über
meinen eigenen Tod schreiben. Und falls Chalip beim Vorlesen
lachen müsse, hätte er nach unserer Rückkehr aus Odessa die
erste Flasche Kognak oder Wein’, die sich auftreiben lasse,
auszugeben. Die Verse wurden ohne jede Korrektur innerhalb
von dreißig Minuten oder einer Stunde in einem Zug niederge-
schrieben. Und begannen gleich mit dem Tod:
Wenn uns Gott mit seiner Allmächtigkeit ins Paradies expediert ohne Groll, was mach ich mit irdischer Habseligkeit, sagt
er: Wähle, was mitgehen soll!…
Chalip hörte es und mußte lachen, er gab zu, daß er nach der
Rückkehr aus Odessa wohl eine Flasche ausgeben müsse. Als
ich das Tagebuch diktierte, war dieses Gedicht noch nicht gedruckt, und überhaupt war das alles noch viel zu nahe und zu
frisch, als daß ich mich erinnert hätte, wann, wie und warum es
geschrieben wurde.
Über solche Dinge macht man sich, wenn überhaupt, meistens
erst Jahre später Gedanken.
… Die Entfernungen zur Hauptverteidigungslinie waren in
Odessa nur kurz, und wir, diesen Umstand nicht berücksichtigend, waren auf der Straße weit nach vorn gefahren, nicht ahnend, daß das links der Straße hinter uns zurückbleibende große Dorf schon Dalnik war, wo der Stab der 25. Division lag.
Wir fuhren so lange weiter, bis wir auf die Feuerstellung der
Regimentsartillerie stießen. Der Leutnant, der dort das Kommando hatte, zuckte als Antwort auf unsere zwischen zwei Salven gestellte Frage nach dem Divisionsstab nur die Achseln
und wies nach hinten. Für ihn hier in den vorderen Linien
schienen Dalnik und der Divisionsstab irgendwo tief im Hinterland zu liegen. Wir wendeten, fuhren zurück in Richtung Odessa, bogen auf einen Feldweg ab und waren in Dalnik.
Dalnik erwies sich als ein großes südliches Dorf. Ein Teil der
Häuser war völlig unversehrt, sie standen sauber und weißgetüncht da, als sei nichts gewesen, während andere unmittelbar
daneben in Schutt und Trümmern lagen.
Der Stab hatte sich am Dorfrand einquartiert. Wir trafen weder den Kommandeur noch den Kommissar der Division an.
Man sagte uns, sie seien zu den Regimentern gefahren, und gab
uns den Rat, falls wir auch dorthin wollten, zum Regiment
Kommissar Balaschows zu fahren, der Name des Kommandeurs, es war ein tatarischer, ist mir entfallen. Diesen Kommandeur hatten sie schwer verwundet ins Lazarett gebracht,
aber man sagte immer noch, es sei sein Regiment. Vor unserer
Abfahrt bot man uns an, die Politberichte durchzusehen. Ich tat
so etwas nicht gern, und in den seltenen Fällen, da ich doch den
Versuch gemacht hatte, an Hand von Politmeldungen und anderen Dokumenten etwas zu schreiben, war nichts Rechtes
daraus geworden. Anscheinend muß ich, um etwas richtig verstehen zu können, es entweder selbst sehen oder zumindest den
Bericht eines Augenzeugen hören, den ich zunächst wortwörtlich aufschreibe und über den ich mir erst hinterher Gedanken
mache, wie man das für die Zeitung formulieren könne.
Ich sagte, die Politmeldungen würden wir uns auf dem Rückweg ansehen, jetzt wollten wir erst einmal los. Chalip war das
nicht recht. Er kam hier in Odessa zum erstenmal mit dem
Krieg in Berührung und wollte wohl in ihn hineinsteigen wie in
ein heißes Bad, ganz allmählich; erst mit dem einen Fuß, dann
mit dem anderen. Ich will ihm damit keinen Vorwurf machen,
für eine erste Fahrt an die Front war das natürlich. Ich aber
hatte etwas anderes vor – zuerst das Schwierige hinter mich
bringen und dann erst, auf dem Rückweg, das Leichtere erledigen.
Jascha knipste in der Nähe des Stabes mehrere soeben von der
Hauptverteidigungslinie zurückgebrachte Gefangene, dann
stiegen wir in den Anderthalbtonner und fuhren zum Regimentsstab. Er lag in der Siedlung Krasny Peresselenez links
von der meiner Meinung nach Beljajewka führenden Chaussee.
Wir hatten den Divisionsstab kaum einen Kilometer hinter
uns gelassen, als es dort, wo wir eben noch gewesen waren,
heftig krachte und die uns schon gut bekannten, schwarzen
Wäldern ähnelnden Fontänen der Einschläge aufspritzten. Die
Deutschen bombardierten Dalnik erneut. Scherzend meinte ich
zu Jascha, wenn wir uns noch dort aufhielten, wie er es gewollt
hätte, wären wir genau in den Bombenangriff geraten. So aber
machten wir unsere Fahrt, und alles war in Ordnung.
Wir fuhren weitere zwei Kilometer. Mehrere Ketten deutscher
Bomber flogen über die Straße hinweg. Vorn war eine Pflanzung zu erkennen. Und irgendwo hinter dieser Pflanzung lag
Krasny Peresselenez. Solange die Bomber über der Straße waren, rührten wir uns, mit dem Wagen im Schatten einiger Straßenbäume versteckt, nicht von der Stelle. Jascha hätte am liebsten noch länger unter den Bäumen gewartet und wäre zu Fuß
weitergegangen, weil der Weg bis zur Pflanzung unter Artilleriestörfeuer lag. Ich hingegen meinte, mit dem Wagen kämen
wir schneller durch und die Gefahr, etwas abzubekommen, sei
geringer.
Und so war es denn auch. Unbehelligt erreichten wir die
Pflanzung, und auf dem Weg dorthin explodierte nicht eine
Granate. Wir stellten den Wagen in der Pflanzung ab, und bei
einem Blick zurück sahen wir genau an der Stelle, wo wir eben
noch gestanden hatten, bei der Baumgruppe, Bomben detonieren. Die Deutschen mußten wohl Verdacht geschöpft haben,
daß sich unter dieser Baumgruppe etwas verbarg. Unserem
guten Stern nun vertrauend, diskutierte Chalip nicht mehr.
Von der Pflanzung fiel der Hang in eine flache Senke ab. Siebenhundert Meter weiter, am gegenüberliegenden Hang, standen etwa dreißig Häuser. Das war Krasny Peresselenez. In der
Pflanzung, wo wir angehalten hatten, lag der Regimentsverbandplatz. Weiter vorn, über Krasny Peresselenez, waren der
Qualm von Wurfgranateneinschlägen zu sehen und MGFeuerstöße zu vernehmen. Wir ließen den Fahrer mit dem Anderthalbtonner in der Pflanzung zurück, nahmen die Gewehre
und setzten uns in Richtung Krasny Peresselenez in Marsch.
Nach dreihundert Metern holte uns ein Pferdewagen ein. Ein
schöner Fuchs kam flott herangetrabt, der das Pferd schnalzend
antreibende Kutscher war ein Mädchen in stramm sitzender
Feldbluse, sie trug Stiefel und ein keck aufs Ohr gerücktes
Käppi, hatte eine Stupsnase und tiefblaue Augen – kurz gesagt,
an ihr war alles dran. Aus dem Stroh auf dem Wagenboden
lugten MG-Läufe hervor. Das Mädchen war Feldscher, sie
wollte zum 2. Bataillon „dort drüben!“ – Bei diesen Worten
wies sie nach vorn – und brachte bei der Gelegenheit aus Odessa MGs mit, die dort repariert worden waren. Jascha zückte die
„Leica“ und machte eine Aufnahme von dem Mädchen und
mir. Da ich die puritanischen Ansichten unseres Redakteurs
kannte, stellte ich mich vorsorglich mit dem Rücken zur Kamera und hatte später das Vergnügen, in der „Krasnaja Swesda“
meinen Rücken zu sehen.
Das Mädchen kutschierte geradeaus weiter, während wir nach
links abbogen in die Senke, zum Gehöft hin. Nach einem kurzen Stück pfiffen plötzlich Kugeln an uns vorbei. Ich warf
mich sofort hin und blickte mich um. Es war einfach nicht auszumachen, woher die Schüsse kamen. Wahrscheinlich verirrte
Kugeln. Wir standen auf und gingen weiter. Wieder pfiffen ein
paar Kugeln vorbei, wohl genau solche verirrten wie die ersten.
Diesmal liefen wir aufrecht weiter und erreichten innerhalb
weniger Minuten das Gehöft, wo wir den Regimentsstab fanden.
Im Gehöft hielten sich nur wenig Menschen auf. Unter ihnen
war ein Hauptmann, der gerade von der Division gekommen
war, um den Platz des verwundeten Regimentskommandeurs
einzunehmen; er sagte, sie seien hier alles in allem wohl nur zu
fünft, alle anderen, mit ihnen auch der Kommissar, seien losgegangen, um einen Gegenangriff zurückzuschlagen. Wir spra-
chen nur ganz kurz mit dem Hauptmann und entschlossen uns,
auf den Kommissar zu warten. Der kam nach einer halben
Stunde. Er hatte keine Mütze auf und trug eine ausgeblichene
Feldbluse und staubige, zerrissene Stiefel. In den ersten drei
Minuten gab er wilde Flüche von sich. Wen er verfluchte, bekamen wir nicht mit. Irgend jemand hatte wohl etwas falsch
gemacht, und so zog er nun, zwischen den Flüchen auflachend,
gegen denjenigen vom Leder.
Er war ein fröhlicher, zu Spaßen aufgelegter Mann, aber
schließlich kam er gerade aus einem mehrstündigen Gefecht.
Nachdem er sich beruhigt hatte und mitbekam, daß wir Korrespondenten waren, seufzte er bekümmert. Diesem Seufzer entnahm ich, daß schon mal einer unserer Kollegen bei ihm gewesen sein mußte. Und das hatte ihm wohl nicht gefallen. Was
uns folglich noch eine weitere Aufgabe aufbürdete – seine
Voreingenommenheit auszuräumen. Wir stellten uns vor, ich
sagte ihm, mein Genosse sei Photoreporter und wolle im Regiment ein paar Aufnahmen machen und ich hätte vor, für die
„Krasnaja Swesda“ einen Beitrag über die Gefechtseinsätze der
Regimentsangehörigen in den sechzig Kriegstagen zu schreiben.
„In Ordnung“, sagte der Kommissar. „Ich werde Ihnen gleich
was erzählen.“
Er stellte sich vor als Oberpolitleiter Balaschow, setzte sich an
den Tisch und begann herunterzurasseln: An dem und dem Tag
war das und das, an dem und dem Tag das und das, an dem und
dem Tag das und das. Nachdem ich mir das fünf Minuten lang
angehört hatte, fiel ich ihm ins Wort und sagte, so interessiere
mich das nicht, und bat ihn, mir zu erzählen, wie sich das abgespielt habe, welche Gedanken ihn im Gefecht bewegt und was
er gefühlt habe, und zwar in allen Einzelheiten.
„Das würde aber lange dauern“, sagte er. Ich sagte, das mache
gar nichts. „Ich habe aber noch was anderes zu tun.“ Ich sagte,
dann würden wir eben warten. „Gut möglich, daß ich den ganzen Tag zu tun haben werde.“ Dann würden wir eben hier
übernachten, erwiderte ich, und er werde es uns morgen erzählen. Sein Gesicht hellte sich auf, und er meinte:
„Da sind mal zwei Korrespondenten hier gewesen, haben gesagt: ,Los, los, erzähl uns schnell was.’ Ich hab ihnen schnell
alles erzählt, und fünfzehn Minuten später waren sie wieder
weg. Die haben es sehr eilig gehabt.“
Seine Worte klangen bitter, und ich begriff ein übriges Mal
jene einfache Wahrheit, daß wir falsch handeln, wenn wir,
nicht aus Feigheit, sondern mitunter wegen unseres journalistischen Eifers, ankommen, nehmen, was wir brauchen, wieder in
den Wagen springen und abfahren, und das alles in zehn Minuten. Die Männer, die monatelang nicht aus der vordersten Linie
herausgekommen sind, machen uns zwar keine lauten Vorwürfe, sind aber zutiefst gekränkt. Nachdem sich Balaschow davon
überzeugt hatte, daß ich nicht gleich wieder forteilen würde,
hatte er auf einmal doch Zeit, und gute anderthalb Stunden
erzählte er uns alles, was dem Regiment in den zwei Monaten
Krieg widerfahren war.
Nach fast zwei Stunden tauchten auf dem Tisch eine Flasche
Weinbrand und Tomaten auf. Wir tranken jeder ein Gläschen,
unterhielten uns weiter und wollten gerade ein zweites leeren,
als das Krachen der Einschläge, das bisher in einiger Entfernung zu hören war, näher rückte und in nächster Nähe Wurfgranaten detonierten. Balaschow ging ans Fenster, warf einen
Blick hinaus, setzte sich wieder hin und schenkte uns ein. Wir
tranken unsere Gläser aus. Er erzählte weiter. Die Einschläge
lagen nun ganz nahe. Ein Kommandant kam herein und meldete, die Deutschen deckten den Gefechtsstand ein. Welche Befehle es gebe?
„Gar keine“, sagte Balaschow und erzählte weiter. Der Kommandeur stand in der Tür. „Ist noch was?“ wandte sich Balaschow ihm zu.
„Wäre es nicht besser, in den Unterstand zu gehen?“ meinte
der Kommandeur.
„Gehen Sie, gehen Sie“, sagte Balaschow zu ihm und fügte,
an mich gewandt, hinzu: „Wir essen erst mal auf, und dann
werden wir sehen. Vielleicht haben die bis dahin wieder aufgehört.“ Nach einer Viertelstunde kam er zum Ende, und der Beschuß hatte wirklich aufgehört.
„Alles vorbei“, sagte Balaschow. „Ich hab’s ja vorausgesagt.“
Er hatte während des Beschusses seelenruhig dagesessen, ohne
seine Ruhe zu betonen. Was da vor sich ging, schien ihm etwas
Gewohntes zu sein und bedeutete ihm keine sonderliche Gefahr. Jeder Mensch hat an der Front bestimmte Vorstellungen
von einer drohenden Gefahr. Für mich bedeuteten diese nahe
liegenden Einschläge eine besondere Gefahr, für Balaschow
hingegen nicht. Für ihn war der heutige Angriff eine besondere
Gefahr gewesen. Er verhehlte das nicht, sprach davon eben als
von einer Gefahr, die er überstanden hatte. Was mich angeht,
so hatte ich zwar Angst vor diesem Beschuß, aber auch ich
hatte keine Lust, das Gespräch abzubrechen und ins Freie zu
rennen. Nicht etwa, weil ich vor Balaschow meine Angst nicht
hätte zeigen wollen, sondern weil sich in mir zu dieser Zeit
bereits der Sinn dafür herausgebildet hatte, daß man sich im
Krieg lieber ein bißchen Zeit läßt und nicht hin und her hastet.
Außerdem aber steckte in mir noch ein Rest des absolut zivilistischen Gefühls der relativen Sicherheit, die einem ein Dach
über dem Kopf bietet.
Nach dem Beschuß meldeten sich Unterstellte bei Balaschow,
dann fand eine längere Unterredung statt zwischen ihm und
dem neuen Regimentskommandeur und bisherigen Leiter der
Aufklärung der Division, Hauptmann Kowtun, einem nicht
mehr jungen, massigen, ein wenig plump wirkenden, in Wirklichkeit aber sehr klugen und kultivierten Mann.
Chalip machte es sich auf dem Fußboden bequem. Mir richtete man ein wackliges Bett zum Schlafen her. Ich schlief ein.
Wachte wieder auf, Balaschow setzte sich zu mir. Plötzlich
sprach der im Krieg hart gewordene Mann zu meiner größten
Überraschung von Literatur. Von Abenden an der Leninakademie her kannte er viele Schriftsteller, war mit ihnen zusammengetroffen, hatte sich Gedichte von ihnen eingeprägt, und
nun erkundigte er sich, was aus ihnen geworden sei. Von der
finnischen Front her kannte er Dolmatowski noch gut. Ich war
schon Kommandeuren und auch Politarbeitern begegnet, die im
Verlauf des Gesprächs hervorkehrten, daß sie sich für Literatur
interessierten und auf diesem Gebiet bewandert wären. Zuweilen wollten sie damit im Gespräch mit einem Schriftsteller genauso glänzen wie mit ihren in den Lehrgängen an der Frunseakademie und der Leninakademie erworbenen Kenntnissen in
einem Gespräch mit Militärs. Das ist ganz natürlich. Bei Balaschow aber keine Spur davon. Er interessierte sich einfach mit
dem gleichen Eifer, mit dem er offenbar alles im Leben tat,
brennend für die Literatur und alles, was mit ihr zusammenhing. Für ihn war es eben unbedingt notwendig, hier und heute,
auf diesem Gehöft bei Odessa, zu erfahren, was aus Dolmatowski, Wischnewski, Utkin, Waschenzew geworden war. Wir
unterhielten uns bis spät in die Nacht, und dann übermannte
mich doch der Schlaf, nicht ohne daß wir vorher noch vereinbart hätten, am Morgen gemeinsam zur Granatwerferkompanie
zu gehen. Sehr früh wurden wir wach. Es war ein grauer,
feuchter, regnerischer Morgen. Balaschow sagte, man werde
gleich seinen Panzer fertigmachen und wir würden in die
Hauptverteidigungslinie zu der Granatwerferkompanie nicht zu
Fuß gehen, sondern fahren. Das Wort „Panzer“ erfreute uns,
aber der Umstand, daß der Morgen so grau war, verdarb Chalip
die Stimmung. Er nörgelte herum, an so einem Morgen bekäme
er bestimmt nichts Vernünftiges auf den Film, und selbst wenn
er diese Granatwerfer in ihrer Feuerstellung knipste, würde es
eine alltägliche, langweilige Aufnahme, und kein Mensch auf
Gottes weiter Welt könne erkennen, ob das in der Hauptverteidigungslinie oder irgendwo in Stalingrad beim Übungsschießen
im Ersatzregiment aufgenommen sei.
Wie sich später erwies, hatte er recht damit. Die Aufnahme
war grau und langweilig, und meiner Meinung nach erschien
sie nur deshalb in der „Krasnaja Swesda“, weil sie unter Lebensgefahr in der Hauptverteidigungslinie gemacht worden
war.
Wir gingen mit Balaschow hinaus und erblickten vor dem
Nachbarhaus das, was er stolz seinen Panzer genannt hatte. Es
war ein kleiner Schlepper Marke „Komsomolez“ mit zwei
leicht gepanzerten Sitzen für den Fahrer und den Schützen und
ungeschützten Sitzbänken hinten für alle anderen. Balaschow
aber nannte dieses Ding ohne jedes Augenzwinkern Panzer,
und so stiegen wir in den „Panzer“ und fuhren los.
Bei der vorderen Linie, an der rechten Flanke des Bataillons
angekommen, ließ Balaschow mich und Chalip auf der vom
Gegner abgewandten rechten Sitzbank Platz nehmen und seine
beiden mitfahrenden Kommandeure auf der linken. Als wir
später zurückfuhren, mußten wir die Plätze tauschen. Selbstverständlich – wußte er, daß Wurfgranaten mit dem gleichen
Ergebnis sowohl links als auch rechts von unserem „Komsomolez“ detonieren konnten, aber mit dieser Plazierung wollte
er uns halbe Zivilisten wohl beruhigen, die wir uns im Grunde
unseres Herzens doch wünschten, wenigstens einen halben
Meter weiter vom Gegner weg zu sein. Was Balaschow selbst
angeht, fuhr er auf dem Platz des Schützen, aber nicht sitzend,
sondern stehend, den ganzen Oberkörper über die gepanzerte
Deckung hinausschiebend.
Wir überquerten ein langgestrecktes Feld und bogen zu einer
Pflanzung ab. Dort waren Deckungsgräben ausgehoben, hier
und da auch kleine Unterstände mit einer symbolischen Überdeckung aus einer Lage Bretter und einer Schicht Erde darüber.
Hier lernten wir den Bataillonskommandeur kennen, ließen
unseren „Panzer“ stehen und gingen zu Fuß nach vorn.
Die Pflanzung zog sich bis zu den Stellungen hin. Zunächst
gingen wir an der Pflanzung entlang, später aber kamen wir in
völlig offenes Gelände. Vorn lag die Gefechtssicherung, und
dahinter waren in Löchern vier leichte Granatwerfer aufgebaut.
Das also war die Granatwerferkompanie.
Als wir näher kamen, feuerten die Rumänen mehrere Granatwerfersalven ab. Offensichtlich galt das nicht uns – eine lag ein
ganzes Stück links, die andere rechts von uns –, aber die Einschläge erfolgten doch ziemlich nahe.
Chalip blickte prüfend zum völlig regnerischen grauen Himmel und sagte recht gelassen, aus den Aufnahmen würde zwar
sowieso nichts Vernünftiges, aber wenn so was unbedingt für
meinen Beitrag gebraucht werde, werde er es eben versuchen,
damit wir den Weg wenigstens nicht ganz umsonst gemacht
hätten. Im Regen holte er seine Kamera heraus und richtete sie
auf die Granatwerferschützen. Die beantworteten währenddessen das Feuer der Rumänen. Bald blaffte der eine, bald der andere Granatwerfer ein paar Schritte von uns entfernt mit genau
dem gleichen trockenen Knall wie vor drei Monaten, Anfang
Juni, bei Moskau auf dem Truppenübungsplatz in Kubinka, wo
ich einen Lehrgang für Militärkorrespondenten mitgemacht
hatte. Die Rumänen eröffneten das Granatwerferfeuer von neuem. Unsere Lage war dumm. Die Granatwerferschützen hock-
ten in den Gräben und mußten von oben, im offenen Feld stehend, aufgenommen werden. Anders ging es nun mal nicht,
und Jascha knipste sie, wenn auch knurrend, von allen möglichen Positionen aus.
Ich hätte mich am liebsten entweder platt auf die Erde gelegt
oder mich zu den Granatwerferschützen in den Graben verzogen. Ich glaube, in diesen Minuten hatte auch Balaschow trotz
all seiner Kampferfahrung den gleichen Wunsch. Aber weder
Balaschow noch ich brachten es fertig, den seiner Arbeit nachgehenden Chalip allein stehen zu lassen. Als Jascha murrte, er
habe keinen blassen Schimmer, wie er bei so einem Wetter
belichten solle, rief ich ihm ziemlich nervös zu, dann solle er
eben „auf Zeit“ belichten.
„Auf Zeit kann ich nicht, meine Hände zittern“, sagte Chalip.
Aber auch nach diesem ehrlichen Eingeständnis knipste er die
Granatwerferschützen noch unausstehlich lange und sorgfältig
und trotz seiner zitternden Hände.
„Der ist in Ordnung“, sagte Balaschow zu mir, der den Wortwechsel mit angehört hatte.
Ich glaubte zuerst, er mache sich über Jascha lustig, aber es
zeigte sich, daß es nicht an dem war.
„Der ist in Ordnung“, wiederholte er. „Hat Angst und knipst
doch. Uns geht’s schließlich nicht anders. Darauf kommt es im
Krieg an. So ist eigentlich nichts Besonderes am Krieg.“ Endlich hatte Chalip seine Aufnahmen im Kasten, und wir kehrten
zur Pflanzung zurück. Kaum angelangt, beharkten die Rumänen alles ringsum mit Granatwerfern. Hier ging ich gleich beim
ersten nahen Einschlag unverzüglich zu Boden. Chalip folgte
meinem Beispiel. Balaschow ging nicht in Deckung. Erst als
eine Granate in unmittelbarer Nähe pfiff, hockte er sich hin,
bereit, sich notfalls hinzuwerfen. Ausgehend von meinen späteren Erfahrungen, denke ich, daß ich, hätte ich diese Erfahrung
damals schon besessen, auch nicht in Deckung gegangen wäre.
Die Granaten schienen in nächster Nähe zu detonieren, während dies in Wirklichkeit ein ganzes Stück weiter geschah und
man eigentlich nicht in Deckung zu gehen brauchte. Balaschow
hatte sich nicht hingelegt, weil er diese Erfahrung bereits besaß.
Der Kommandeur der Granatwerferkompanie kehrte mit uns
zum Bataillonsgefechtsstand Zurück. Im Schützengraben notierte ich ein paar seiner Gedanken über den Einsatz von Granatwerfern. Er sprach von der Notwendigkeit, die Granatwerfer
zu koppeln, sie auf einem jedem Granatwerferzug zugewiesenen Lkw rasch von einem Ort zum anderen zu verlegen, und
behauptete, das eben täten die Deutschen, weshalb der Eindruck ihrer Überlegenheit bei den Granatwerfern selbst dann
entstünde, wenn sie diese Überlegenheit in Wirklichkeit nicht
besäßen. Später, nach Odessa zurückgekehrt, legte ich diese
Gedanken in einem kurzen Artikel dar, den die „Krasnaja
Swesda“ ohne meine Unterschrift brachte.
Während unseres Gesprächs mit dem Kompanieführer setzten
die Rumänen den Granatwerferbeschuß fort. Sie legten die
Wurfgranaten sehr sorgfältig, schachbrettartig angeordnet,
doch sie flogen über unsere Köpfe hinweg und schlugen hinter
der Pflanzung im freien Feld ein.
Wir warteten das Ende des Beschusses ab, stiegen wieder auf
Balaschows „Panzer“ und fuhren zum Regimentsgefechtsstand
zurück. Dort verabschiedeten wir uns von Kowtun und Balaschow und gingen von Krasny Peresselenez zu Fuß zurück zu
unserem Wagen. Der Fahrer war wohlauf, und auch der Wagen
war in bestem Zustand, obwohl an diesem Tag und am Abend
zuvor das Artilleriefeuer der Deutschen im Umkreis der Pflanzung viele Menschen und Pferde getötet und verwundet und
mehrere Fahrzeuge demoliert hatte. In der Hoffnung, General
Petrow wenigstens auf dem Rückweg anzutreffen, fuhren wir
nach Dalnik.
Dort in Dalnik saßen wir lange vor einer weißgetünchten
Lehmhütte, vertilgten eine kleine, noch nicht ausgereifte Wassermelone nach der anderen und warteten auf Petrow. Der aber
kam nicht, er war irgendwo in den vorderen Linien.
Ich ging für ein Weilchen zur Sonderabteilung der Division,
und als ich zurückkam, sagte mir Chalip ganz aufgeregt, eben
sei über den Rundfunk gekommen, unsere und britische Truppen hätten die iranische Grenze überschritten und seien in Iran
einmarschiert. Kaum hatte er das heraus, setzte ein Bombenangriff ein. Mit einigen Stabsmitarbeitern stiegen wir eine steile
Steintreppe hinab in einen kühlen, tiefen Keller, offenbar ein
ehemaliger Weinkeller. Im Freien war es um diese Jahreszeit
schon sehr heiß, und in dem Keller war es so angenehm kühl,
daß man am liebsten nicht wieder hinausgegangen wäre. Jascha
machte den Vorschlag, unverzüglich nach Sewastopol zurückzukehren, von dort auf dem Seeweg nach Batumi zu fahren;
auf diese Weise könnten wir die ersten Kriegsberichterstatter in
Iran sein.
Ich fand die Idee nicht schlecht, bloß stand noch nicht fest, ob
es in Iran zu Kampfhandlungen gekommen war oder das Ganze
bloß eine friedliche Truppenbewegung darstellte. War letzteres
der Fall, konnte die Abfahrt von der Front nach dort, gelinde
ausgedrückt, ein Fehler sein. Ich schlug vor, nach Sewastopol
zurückzukehren, von dort bei der Redaktion anzufragen und
deren Entscheidung abzuwarten. Wir verließen den Keller und
mußten noch eine halbe Stunde auf Petrow warten. Endlich
kam er. Eine Hand, die er nach einer Verwundung nur schlecht
gebrauchen konnte, steckte in einem Handschuh. In der anderen Hand hielt er eine Reitpeitsche. Er trug eine Soldatensommerfeldbluse aus Baumwolle mit grünen Generalssternen, die
nicht sehr sorgfältig auf den Kragen genäht waren, und eine
schmutzige grüne Mütze. Er war ein hochgewachsener rothaariger Mann mit klugem, erschöpftem Gesicht und heftigen,
schnellen Bewegungen.
Er hörte uns an und klopfte sich mit der Reitpeitsche gegen
den Stiefelschaft.
„Ich kann nicht mit Ihnen sprechen.“
„Warum nicht, Genosse General?“
„Ich kann nicht. Zum Nutzen der Sache muß ich schlafen.“
„Und wann könnten Sie mit uns sprechen?“
„In vierzig Minuten.“
Das war nicht gerade ein verheißungsvoller Anfang, und wir
machten uns auf langes Warten gefaßt.
Petrow ging in seine Lehmhütte, und wir warteten. Nach genau vierzig Minuten rief uns Petrows Adjutant. Petrow saß
bereits angekleidet am Tisch, anscheinend auf dem Sprung
wegzufahren. Bei ihm am Tisch saß ein Brigadekommissar,
den uns Petrow als den Kommissar der Division vorstellte.
Gleich zu Beginn des Gesprächs sagte Petrow, er könne uns
zwanzig Minuten widmen, da er dann zu einem Regiment fahren müsse. Ich erklärte ihm, daß ich mich für die Geschichte
der Aufstellung der I. Odessaer Kavalleriedivision der Veteranen interessierte und für die Kämpfe, an denen er mit ihr teilgenommen habe.
Petrow erzählte uns rasch, präzise, sich selbst kaum erwähnend, seine Unterstellten aber kurz charakterisierend, in der
vorgegebenen Zeit über diese von ihm aufgestellte Division
alles, was er für notwendig hielt, dann erhob er sich und fragte:
„Sind noch Fragen?“ Wir verneinten. Er gab uns die Hand und
sagte zum Kommissar, den er mit Vor- und Vatersnamen anredete: „Ich hoffe, mit den Genossen wird alles in Ordnung gehen“, und fuhr los.
Er war präzise, wortkarg, korrekt, klug. Damals, nach dem ersten Eindruck, hielt ich ihn für einen guten General, was sich
auch bestätigte. Sowohl als er die 25. Division führte, als auch
später, da Petrow die Verteidigung Odessas leitete, und
schließlich jetzt, bei der Verteidigung Sewastopols.
Was Petrows Worte „In Ordnung gehen“ zum Abschied betraf, so war damit das Mittagessen gemeint, bei dem sich der
Brigadekommissar um uns kümmerte. Aus kaum erkennbaren
Anzeichen während eines kurzen Wortwechsels zwischen ihm
und dem General hatte ich herausgefühlt, daß Petrow nicht viel
von ihm hielt, ja vielleicht sogar eine Aversion gegen ihn hatte.
Jedenfalls bestand ein kühles Verhältnis zwischen ihnen.
Aus dem weiteren Gespräch wurde mir klar, woher das kam.
Beim Essen erzählte unser Gesprächspartner lang und breit von
sich selbst, obwohl wir ihn keineswegs danach gefragt hatten.
Er erzählte selbstzufrieden und erwähnte dabei viel Belangloses. Wie ich aus seinen Worten schloß, hatte er bis zu seiner
vor kurzem erfolgten Berufung zum Kommissar der Division
in der Etappe gesessen. Vielleicht irre ich mich auch, jedenfalls
drehten sich alle seine Berichte über Kampftaten aus einem
unerfindlichen Grund immer um die Übernahme des Ersatzes.
Nach seinen Worten war es so, daß der von ihm übernommene Ersatz sofort ins Gefecht gehen und alle ihm gestellten Aufgaben gut erfüllen konnte. Ganz gleich, wie es um die vorangegangene Ausbildung stand.
Vielleicht übertreibe ich ein wenig, wenn ich mich heute daran erinnere, aber im wesentlichen ist das Gespräch so verlaufen. Ich habe nichts hinzugefügt. Ich habe diesen Mann später
nie wieder gesehen, und ich erinnere mich auch nicht an seinen
Namen; ich habe ihn nicht notiert, obwohl er es offensichtlich
sehr gern gesehen hätte, daß ich für die „Krasnaja Swesda“
einen Artikel über seine hervorragende Übernahme des Ersat-
zes schriebe.
Am Abend kehrten wir nach Odessa zurück. Ich ging in die
Nachrichtenzentrale, um eine Möglichkeit zu erkunden, mein
Material nach Moskau zu übermitteln. Ich hatte das untrügliche
Gefühl – und später stellte sich heraus, daß ich mich nicht getäuscht hatte –, daß die meisten Leser der Zeitung nach der
Nachricht von der Aufgabe von Kirowograd und Perwomaisk
glaubten, auch Odessa sei aufgegeben; in den Frontberichten
tauchte der Name dieser Stadt nicht auf, in keiner einzigen
Korrespondenz wurde sie erwähnt. Und das eben veranlaßte
mich, das Material über Odessa unverzüglich mit allen nur
möglichen Mitteln nach Moskau zu schicken. Zumindest dieses
erste Material, das wir eben erst bei der Division gesammelt
hatten…
Drei von den Männern, mit denen ich in der 25. Division
„Tschapajew“ erstmals zusammentraf, begegnete ich später
wieder, im Krieg und auch danach. Und nun möchte ich mich
für einige Zeit vom Tagebuch lösen und einige Seiten ihrem
Lebenslauf und ihrem Schicksal widmen.
Der kurz vor unserem Eintreffen bei dem Regiment zu seinem
Kommandeur ernannte, wie ich ihn schilderte, nicht mehr junge Hauptmann Andrej Ignatjewitsch Kowtun-Stankewitsch
stand damals im 42. Lebensjahr. Seiner Abstammung nach
Kosak, war er 1918 in die Rote Armee eingetreten und hatte ihr
bis 1927 angehört. Nach seiner Entlassung war er Direktor eines Sowchos, Direktor einer MTS, Sekretär eines Rayonkomitees der Partei und war erst kurz vor dem Krieg, 1940, wieder
zur Armee geholt worden. In Odessa hatte er ein Regiment
geführt, in Sewastopol war er Chef der operativen Abteilung
der Küstenarmee. Später führte er vor Budapest die 297. Division und beendete den Krieg am 11. Mai 1945 in der Nähe der
Stadt Ceske Budejovice im Kampf gegen Truppenteile der 2.
Wlassow-Division, die versuchten, über die Demarkationslinie
zu den Amerikanern durchzubrechen. Danach wurde Kowtun
in den Fernen Osten versetzt und, nun schon im Generalsrang,
zum ersten Stadtkommandanten von Mukden ernannt. So sehr
hat das Schicksal in genau vier Jahren, bis August 1945, diesen
Hauptmann umhergetrieben, der im August 1941 das Kommando über das 287. Schützenregiment in Odessa übernommen
hatte.
Der Kommissar dieses Regiments, Nikita Alexejewitsch Balaschow, wird noch einmal auf den Seiten meiner Tagebücher
erscheinen. Unser zweites und letztes Wiedersehen aber war so
flüchtig, daß ich nicht dort, sondern eben hier im Zusammenhang mit unserer Begegnung in Odessa all das erzählen möchte, was ich über diesen Mann weiß. Ich beginne mit mehreren
Auszügen aus den operativen Unterlagen jener Augusttage, die
eine Vorstellung davon vermitteln, wie und in welcher Lage
dieses 287. Schützenregiment vor Odessa kämpfte, dessen
Kommissar Balaschow war.
23. August 1941.
„Im Abschnitt des 287. Regiments… hat der Gegner etwa ein
Bataillon ins Gefecht geworfen, führte aber, nachdem er einen
Mißerfolg erlitt… Reserven in Stärke eines Regiments ein. Der
Angriff wurde unter großen Verlusten für den Gegner zurückgeschlagen… Im Laufe des Tages griff der Gegner das 287.
Schützenregiment weiterhin mit Teilen der 21. Infanteriedivision und der I. Gardedivision (rumänische Divisionen – K. S.)
an, als diese jedoch auf den hartnäckigen Widerstand des 287.
Schützenregiments stießen, verlegte er seine Attacken auf die
Flanken. Gegen Tagesende beherrschte der Gegner nach Einführung frischer Kräfte das nördliche Randgebiet Peterstal…
Im Kampf wurde der Kommandeur des 287. Schützenregiments, Oberstleutnant Sultan-Galijew, schwer verwundet.
Hauptmann Kowtun-Stankewitsch nahm seinen Platz ein. Um
21.00 Uhr vernichtete das 287. Schützenregiment in einem
Gegenangriff durch die Hauptverteidigungslinie in Richtung
auf das Gehöft Krasny Peresselenez durchgebrochene Infanterie in Bataillonsstärke, stellte die Hauptkampflinie wieder her
und hält die bisherige Verteidigungsstellung.“
24. August 1941.
„Von 8.00 Uhr an trug der Gegner, der die entblößte linke
Flanke des 287. Schützenregiments vor sich hatte, einen Angriff vor… doch unter der Einwirkung der Gegenangriffe des
Regiments ergriff er die Flucht… Teile der 21. Infanteriedivision und der 1. Gardedivision greifen unter großen Verlusten
weiterhin die Hauptverteidigungslinie an, weichen aber, nachdem sie auf zähen Widerstand gestoßen sind, zurück.“
„Das 287. Schützenregiment hat nach Zurückschlagung von
vier Sturmangriffen des Gegners… die Hauptverteidigungslinie
teilweise… wiederhergestellt. Nicht wiederhergestellt wurden
bisher etwa 500 Meter.“
25. August 1941.
„Nachdem das 287. Schützenregiment um 10.00 Uhr eine Attacke des Gegners zurückschlug und ihm eine Niederlage bereitete, ging es um 14.30 Uhr selbst erneut zum Gegenangriff
auf die Höhe 63/3 über und besetzte sie…“
„Das 287. Schützenregiment schlägt tapfer und mutig zahlreiche Sturmangriffe des Feindes zurück… Alle Reserven – der
Aufklärungszug, die Pionierkompanie und der chemische Zug wurden in den Kampf geworfen.“ 26. August 1941.
„Seit früh… hat der Gegner erneut ununterbrochene Sturmangriffe auf die Hauptverteidigungslinie insbesondere an der linken Flanke des 287. Schützenregiments unternommen… Das
287. Schützenregiment schlug im Laufe des ganzen Tages einen Angriff nach dem anderen ab und trug selbst Gegenangrif-
fe vor… Im Laufe des Tages wurden insgesamt vier Attacken
abgeschlagen, jede mit den Kräften von etwa anderthalb Regimentern vorgetragen.“
So verliefen diese Tage vor Odessa, als die 25. Division
„Tschapajew“ und in ihrem Verband das 287. Schützenregiment bei den Gehöften Wakarshany und Krasny Peresselenez
kämpfte, genau an der Stelle, wo der Gegner, der an der ganzen
Front angriff, seinen Hauptschlag führte.
Und nun zu Balaschow selbst. Nach den erhalten gebliebenen
Dokumenten zu urteilen, in denen sein Name auftaucht, war er
ein Mann mit beachtlichen persönlichen Eigenschaften. Trotz
der Kürze unserer Begegnung schätzte ich später, im Laufe des
Krieges, jene Männer besonders, die meiner Meinung nach
Balaschow ähnlich waren.
Balaschow wurde 1907 im Rayon Jegorjewsk, Gebiet Moskau, geboren. Sein Vater war Zimmermann, seine Mutter
Bäuerin. Balaschow ging, dem Parteiauftrag folgend, 1932 zur
Armee, war zunächst Politleiter einer Schwadron und besuchte
später einen Weiterbildungslehrgang für Kommandeure und
Politarbeiter in Moskau. Daher stammten offenbar auch seine
Literaturkenntnisse, die er mir gegenüber in jener Nacht vor
Odessa erwähnte.
1940 nahm Balaschow an den Kampfhandlungen gegen Finnland teil und gehörte der Politabteilung der 51. Schützendivision an. In einer über Balaschow verfaßten Parteibeurteilung
heißt es: „Wiederholt sah ich ihn persönlich im Gefecht, wobei
er seine Einheit für die Heimat, für Stalin mit nach vorn riß, wo
er Tapferkeit, Kühnheit und Mut offenbarte und dafür den Orden Roter Stern erhielt.“ Bald nach unserer Begegnung in
Odessa am 28. August 1941 hieß es in einer von der Division
an die Armee übermittelten Politmeldung: „In den letzten Tagen hat sich das 287. Schützenregiment unter seinem Kom-
mandeur, Hauptmann Kowtun, und dem Kriegskommissar,
Oberpolitleiter Balaschow, besonders hervorgetan. Das Regiment schlug zahlreiche erbitterte Sturmangriffe des zahlenmäßig um das Mehrfache überlegenen Gegners zurück. Der
mutige und tapfere Kriegskommissar des 287. Schützenregiments, Oberpolitleiter Balaschow, tauchte in den kritischsten
Augenblicken in den gefährdesten Abschnitten auf und spornte
die Soldaten und Kommandeure durch sein persönliches Beispiel an.“ Eine Woche danach wird in einem am 6. September
an den Armeestab übermittelten Politbericht Balaschow erneut
erwähnt: „Heute wurde der Kriegskommissar des 287. Schützenregiments, Oberpolitleiter Balaschow, zum zweitenmal
verwundet. Ich bitte, aus der Reserve der Politarbeiter zwei
Mann nach vorn zu schicken, die bis zur Rückkehr des Genossen Balaschow aus dem Lazarett bei den Truppenteilen als
Kriegskommissare arbeiten können.“ Balaschow kehrte aus
dem Lazarett zu seinem Regiment zurück, kämpfte in seinen
Reihen vor Odessa bis zum Ende und später noch in Sewastopol. Erst die nächste Verwundung und der sich daran anschließende Lazarettaufenthalt verschlugen ihn von der Südfront in
den Bereich der Westfront vor Moskau, wo ich ihm im Dezember 1941 als Kommissar des Stabes der 323. Schützendivision wiederbegegnete.
Balaschow, der die schweren Winter- und Frühjahrskämpfe
vor Moskau unversehrt überstand, wurde im April 1942, nachdem er schließlich den Dienstgrad eines Bataillonskommissars
erhalten hatte, Kommissar der 324. Schützendivision und später Politstellvertreter der n. Gardedivision.
Die 11. Gardedivision, die letzte, bei der Balaschow diente,
beendete den Krieg in Ostpreußen, doch Gardeoberst Nikita
Alexejewitsch Balaschow erlebte das nicht mehr, da er am 13.
Mai 1943 um 16.55 Uhr einer Verletzung erlag.
Der Krieg – und das geschieht weit öfter, als es jenen scheinen mag, die mit seiner blutigen Buchhaltung nicht in allen
Einzelheiten vertraut sind – springt mit den Menschen mitunter
so unsinnig um, daß man nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen kann. Balaschow, mehrere Male verwundet
und mit noch nicht ausgeheilten Wunden an die Hauptverteidigungslinie zurückgekehrt, Balaschow, der viele Male vor
Odessa, vor Sewastopol und auch vor Moskau zu Angriffen
und Gegenangriffen vorging, starb nicht auf dem Schlachtfeld,
sondern bei taktischen Übungen der zweiten Staffel. Man kann
nicht ohne tiefe Betrübnis lesen, wie es dazu kam: „Am 13.
Mai um 10.00 Uhr fuhren Gardeoberst Balaschow und ich zum
33. Regiment zur Aushändigung der Parteidokumente. Nach
Beendigung der Ausgabe der Parteidokumente begaben wir uns
zu einer taktischen Übung zum 2. Schützenbataillon. Im Rahmen der Übung fand ein Gefechtsschießen statt… Gardeoberst
Balaschow und die ihn begleitenden Kommandeure befanden
sich kurz hinter den Schützeneinheiten und, gingen hinter ihnen nach vorn. Da detonierte acht bis zehn Meter von ihnen
entfernt eine Wurfgranate, wobei Gardeoberst Balaschow
schwer und der Regimentskommandeur, Oberstleutnant Kurenkow, leicht verletzt wurden. Das Feuer wurde eingestellt.
Gardeoberst Balaschow wurde sofort verbunden und um
14.30 Uhr im Wagen zu dem im Wald liegenden Sanitätsbataillon gebracht. Hier erhielt er eine Bluttransfusion und wurde
operiert. Gardeoberst Balaschow starb während der Operation
um 16.55 Uhr in meiner Gegenwart.“
Dem Bericht schließt sich eine Schilderung der Umstände an,
die zu diesem Kurzschuß der Wurfgranate führten: Darin heißt
es, daß der Kommandeur der Granatwerferbedienung mit einem seiner Unterstellten sprach, wodurch er abgelenkt wurde,
während gleichzeitig ein anderer Unterstellter, jede Sorgfalt
außer acht lassend, in der Eile eine Wurfgranate ohne Zusatzladung in das Rohr fallen ließ. Infolge des Fehlens dieser Ladung gab es einen Kurzschuß, und durch den Einschlag wurde
Balaschow tödlich verletzt.
Der Bericht enthält weiterhin Angaben über die Personen, die
ohne jede Absicht Balaschows Tod verschuldet haben, alles
gute Soldaten, die schon ein- oder zweimal verwundet gewesen
und wieder an die Front zurückgekehrt waren… Wäre dieser
Abschuß einige Sekunden früher oder später erfolgt, wäre
nichts passiert. Hätte sich Balaschow in dem Moment ein paar
Schritte weiter links aufgehalten und nicht just an jener Stelle,
wäre auch nichts passiert.
Dennoch wurde der Richtschütze, der in seinem Übereifer und
im Bestreben, die Feuergeschwindigkeit nicht geringer werden
zu lassen, eigenmächtig, ohne Befehl des Gruppenführers, den
schicksalhaften Abschuß vornahm, vor das Kriegsgericht gestellt. Beim Lesen dieser Zeilen der Meldung dachte ich, daß
sich Balaschow, wäre er nur leicht und nicht tödlich verwundet
worden, dem wahrscheinlich widersetzt hätte. Aber er war nun
mal tödlich verwundet, und am folgenden Tag, am 14. Mai,
fand im Gefechtsstand der Division an der Försterei eine dem
Gedenken an Gardeoberst Balaschow gewidmete Trauerfeier
statt.
„Generalleutnant Bagramjan, der Divisionskommandeur,
Gardegeneralmajor Fedjunkin und Vertreter der Truppenteile
und Spezialeinheiten brachten auf der Feier zum Ausdruck, daß
die Division einen flammenden Bolschewiken, einen Mann
verloren hat, der die Heimat unendlich liebte und den Feind
grenzenlos haßte. Der Trauerveranstaltung wohnten rund zweitausend Soldaten und Kommandeure bei. Der Sarg mit der Leiche wurde auf einem Auto in die Stadt Suchinitschi gebracht.
Vor dem Wagen schritten Soldaten und Kommandeure mit
Kränzen und den Orden von Gardeoberst Balaschow.“ Am
nächsten Morgen fand auf dem Leninplatz in Suchinitschi die
Beisetzung statt. Im Namen des Kriegsrates hielt der Befehlshaber der 16. Armee, Generalleutnant Bagramjan, die Trauerrede. Wie aus dem Kriegstagebuch hervorgeht, wurden an dem
Morgen, an dem Balaschow beigesetzt wurde, bei den Truppenteilen der Division „die Bataillonsübungen… mit Gefechtsschießen, mit Panzern und Artillerie fortgesetzt“. Die Division
bereitete sich auf die bevorstehenden Kämpfe um Orjol vor.
Der Krieg ging weiter…
Mit Iwan Jefimowitsch Petrow, dem ich zum erstenmal bei
Odessa als Kommandeur der 25. Division „Tschapajew“ begegnete, war ich später viele Jahre lang bekannt, und ich möchte meinen, daß ich ihn gut kannte, wenn auch vielleicht nicht
von allen Seiten. Petrow war ein in vieler Hinsicht außergewöhnlicher Mensch. Enorme militärische Erfahrungen und
berufliches Wissen, waren bei ihm gepaart mit einer hohen
Allgemeinkultur, ungewöhnlicher Belesenheit und einer großen
Liebe zur Kunst, vor allem zur Malerei. So hervorragende Maler wie Pawel Korin und Ural Tansykbajew gehörten zu seinen
besten Freunden. Seine eigenen dilettantischen Versuche als
Maler betrachtete er mit einer gehörigen Portion Ironie. Petrow
bewies dabei eine Neigung zu Originalität und Akribie. Hinzugefügt werden muß wohl auch, daß Petrow, der gegen Ende des
Krieges Stabschef der 1. Ukrainischen Front geworden war, bei
den Bemühungen um die Auffindung und Erhaltung der Gemälde der Dresdner Galerie eine sehr wesentliche Rolle spielte.
Er selbst hat nie viel darüber erzählt, was ein Grund mehr für
mich ist, es zu erwähnen.
Vom Charakter her war Petrow energisch, und in kritischen
Situationen konnte er hart sein. Selbst militärische Haltung und
Subordination gewohnt, kannte er kein Nachsehen mit jenen,
die ebendiese Subordination beim Militärdienst in Rage brachte. Er liebte kluge und disziplinierte Menschen und konnte beflissene Dummköpfe nicht ausstehen, was er die einen wie die
anderen fühlen ließ. In seinem Auftreten und an seinem Äußeren war manches eigenartig oder, besser gesagt, ungewöhnlich.
Er hatte die Gewohnheit, Befehle mit vollem Namen, mit
„Iwan Petrow“ oder „Iw. Petrow“ zu unterzeichnen, fuhr gern
im offenen Kombi oder Anderthalbtonner die Hauptverteidigungslinie entlang, der besseren Sicht wegen des öfteren auf
dem Trittbrett stehend.
Verursacht durch eine Kopfverletzung, nickte er, wenn er
aufgeregt war und insbesondere wenn er sich ärgerte, unvermittelt schnell und häufig, als bestätige er das von seinem Gesprächspartner Gesagte, obwohl in solchen Augenblicken gewöhnlich genau das Gegenteil der Fall war.
Petrow war aufbrausend, und kam es erst einmal dazu, konnte
er toben. Zu seiner Ehre jedoch sei gesagt, daß diese Ausbrüche kein Vorgesetztenmerkmal waren, sondern eine Charaktereigenschaft. Nicht nur im Gespräch mit Unterstellten, sondern
auch mit Vorgesetzten konnte er in die Luft gehen.
Viel öfter aber blieb er angesichts besonderer Umstände völlig ruhig. Alle, die mit ihm zusammen waren, vor allem in
Odessa, in Sewastopol und im Kaukasus, wurden nicht müde,
seine persönliche Tapferkeit zu rühmen. Hatten sie doch jene
Kämpfe mitgemacht, in denen es reichlich Anlaß gab, diese
Tapferkeit zu zeigen. Seine Tapferkeit wirkte irgendwie
schwerfällig, bedächtig, war von der Art, wie sie Tolstoi besonders schätzte.
Eine solche Art Tapferkeit entwickelt sich gewöhnlich durch
eine lang andauernde und ständige Gewöhnung an Gefahren,
und gerade das traf bei Petrow zu. Nachdem er 1916 ein Lehrerseminar besucht hatte und unmittelbar danach die Kriegs-
schule, führte er in der zaristischen Armee eine Halbkompanie,
ging im Frühjahr 1918 freiwillig zur Roten Armee, kämpfte
von Anfang bis Ende im Bürgerkrieg und befaßte sich nach
Beendigung der Kämpfe an der polnischen Front noch zwei
Jahre im westlichen Grenzgebiet mit der Liquidierung diverser
Banden.
Doch auch damit war seine Teilnahme an Kampfhandlungen
noch nicht beendet. 1922 wurde er nach Turkestan geschickt,
wo er bis Herbst 1925 mit der 11. Kavalleriedivision an verschiedenen Feldzügen gegen die Basmatschen teilnahm. Im
Herbst 1927 stand er wieder im Kampf gegen Basmatschenbanden. Desgleichen im Frühjahr und Sommer 1928.
In den Intervallen zwischen diesen Kämpfen ist in Petrows
Personalakte noch eine mehrere Monate währende operative
Dienstreise eingetragen. Ich habe nicht die Absicht, diese Eintragung zu dechiffrieren, aber nach meinen lange zurückliegenden Gesprächen mit Petrow selbst zu urteilen, schien auch
diese Dienstreise mit Kampfhandlungen zusammenzuhängen.
Im Frühjahr und Sommer 1931 nahm Petrow an der Zerschlagung Ibrahim-Beks in Tadshikistan teil. Im Herbst des gleichen
Jahres kämpfte er in Turkmenien gegen die Basmatschen. Und
schließlich war er im Winter des gleichen Jahres und im Frühjahr 1932 wiederum dort, in Turkmenien, bei der Liquidierung
der letzten großen Basmatschenbanden dabei.
Er erlitt eine Kontusion, wurde dreimal verwundet und mit
drei Rotbannerorden ausgezeichnet – mit dem der RSFSR, dem
der Usbekischen SSR und dem der Turkmenischen SSR.
In den sich über fünfzehn Jahre hinziehenden Kämpfen hatte
sich wohl das Antlitz des auf alles gefaßten und jedes Risiko
ablehnenden Militärs geprägt, das Petrow so auszeichnete.
Am 5. Oktober 1941, elf Tage vor der Evakuierung Odessas,
wurde Petrow zum Oberbefehlshaber der Landstreitkräfte in
Odessa ernannt.
Vor mir liegt ein Dokument, das die Kommandeure und
Kommissare der Divisionen davon in Kenntnis setzt. „Mit dem
heutigen Tag übernimmt Generalmajor Petrow den Befehl über
die Truppen der Küstengruppe. Generalleutnant Sofronow
wurde aus gesundheitlichen Gründen beurlaubt und zur Kur
geschickt. Shukow. Asarow.“ Nach den noch in meinen Unterlagen befindlichen stenographischen Aufzeichnungen aus dem
Jahr 1950 über Gespräche mit Petrow äußerte er sich mit hoher
Achtung über den Befehlshaber des Verteidigungsraumes
Odessa, Konteradmiral Shukow, den Unterzeichner dieses Dokuments. Als Petrow noch Divisionskommandeur war, hatte
ihn Shukow in den schwersten Tagen wiederholt in den vorderen Linien aufgesucht.
Petrow übernahm den Befehl über die Küstengruppe, als über
die Evakuierung Odessas bereits grundsätzlich entschieden war
und eine der in Odessa stehenden Divisionen ihre Evakuierung
bereits abgeschlossen hatte. Es ging jetzt darum, wann und wie
die in der Stadt verbliebenen Truppen evakuiert werden sollten.
Im „Rechenschaftsbericht der Schwarzmeerflotte über die
Verteidigung Odessas“ heißt es, daß der Plan für den Rückzug
der Truppen aus Odessa in zwei Varianten vorlag. In dem am
4. Oktober, am Tag vor der Ernennung Petrows, dem Stab der
Schwarzmeerflotte übersandten Dokument war der Abtransport
der rückwärtigen Dienste und des Materials für den 12. und 13.
Oktober, der Abtransport der restlichen Teile der Verteidigungstruppen für den 17. und 18. Oktober und der Rückzug der
Sicherungstruppen für den 19. und 20. Oktober vorgesehen.
Die Idee zur Evakuierung Odessas nach der zweiten Variante
bestand, wie es im „Bericht über die Verteidigung Odessas“
heißt, darin, die Truppen „heimlich und für den Gegner überraschend aus den von ihnen besetzten Verteidigungslinien abzu-
ziehen und alle auf einmal in der Nacht vom 15. zum 16. Oktober“ zu evakuieren. Dieser Plan war später entstanden, und
zwar erst nachdem Petrow die Führung der Truppen der Küstengruppe übernommen hatte. Darüber, wer auf diese Idee
gekommen ist – das Kommando des Verteidigungsraums
Odessa oder das Kommando der Küstengruppe –, gibt es unterschiedliche Meinungen, die so auch in der Presse veröffentlicht
wurden. Meiner Meinung nach, die sich auf das Studium einer
Reihe von Dokumenten gründet, wurde dieser richtige und von
glänzendem Erfolg gekrönte Entschluß gefaßt, weil sich letzten
Endes alle auf ihn geeinigt hatten. Aber Tatsache bleibt Tatsache: Bevor Petrow die Küstengruppe als Befehlshaber übernahm, war noch die erste, später verworfene Variante im Gespräch, und erst nach seinem Dienstantritt wurde die zweite,
endgültige Variante bestätigt. Ich möchte die Rolle aller anderen an der Ausarbeitung dieses Entschlusses beteiligten Personen durchaus nicht herabsetzen, dennoch meine ich, daß Petrow als neuernannter Oberbefehlshaber der zu evakuierenden
Truppen beim Fassen dieses tollkühnen Entschlusses zur Evakuierung bestimmt eine große Rolle gespielt hat. Dies um so
mehr, als gerade ein solcher Entschluß dem Geist dieses Mannes entsprach.
Ich möchte eine Stelle aus meinen Aufzeichnungen der Gespräche zitieren, die ich mit Petrow nach dem Krieg, 1950,
geführt habe, als er Oberbefehlshaber des Mittelasiatischen
Militärbezirks war. Es ist dies kein von Petrow durchgesehenes
und korrigiertes Stenogramm und kann daher Ungenauigkeiten
enthalten, vermittelt aber meiner Meinung nach eine Vorstellung von jener Zeit und der Atmosphäre, in der die überraschend heimliche Evakuierung Odessas stattfand.
„Es war dunkel geworden. Alle waren bereit. Die Sonne war
eben untergegangen, auf ein Zeichen erhoben sich alle Re-
gimenter zur gleichen Zeit und gingen los. In den Abschnitten
jedes Bataillons blieb von jeder Kompanie ein Zug zurück. Sie
hatten Befehl, drei Stunden auszuharren und sich nach diesen
drei Stunden zum Hafen zurückzuziehen. Die Truppen marschierten in größter Ordnung und in aller Ruhe zum Hafen.
Jede Einheit erreichte ihr Schiff, ihre Anlegestelle. Den maritimen Teil der Evakuierung kommandierte Admiral Kuleschow. Der Stab des Verteidigungsraumes Odessa kam auf den
Kreuzer ,Tscherwona Ukraina’, der Armeestab auf das gleiche
Schiff. Krylow, Kuleschow und ich blieben zurück. Im letzten
Augenblick kamen zwölf deutsche Flugzeuge angeflogen und
bombardierten den Hafen. Lagerhäuser brannten, der Hafen
war in Halbdunkel getaucht. Die Verschiffung ging im flakkernden Schein der Brände vonstatten. Die Flugzeuge warfen
ihre Bomben auf die bereits brennenden Stellen im Hafen, auf
die Hafenanlagen, aber nicht auf die Schiffe. Wir fuhren zum
Gefechtsstand der Seeleute, der direkt im Hafen lag. Admiral
Kuleschow trat zu uns und sagte: ,Genosse Oberbefehlshaber,
gestatten Sie, daß ich Sie und Ihre Begleitung zum Abendessen
einlade.’ Wir gingen in Kuleschows Gefechtsstand. Dort war
ein Tisch für fünfundzwanzig Personen gedeckt, Wein und
Imbiß standen bereit. Wir tranken etwas und aßen gemeinsam
mit allen Offizieren und auch mit unseren Fahrern. Um halb
vier fuhren Krylow, Kuleschow und ich an den Anlegestellen
entlang. Nur ein paar Sprengkommandos waren auf den Kais
zurückgeblieben. Die Schiffe hatten bereits Befehl erhalten, auf
Reede zu laufen. Wir bestiegen die Boote. Das Kommando
zum Sprengen der Mole wurde erteilt. Ein Ruck ging durch die
Woronzowsker Mole. Sechs Tonnen Trinitrotoluol waren hineingepackt worden. Die Anlegestellen flogen in die Luft. Es
wurde taghell. Mit dem Boot fuhren wir an der gesprengten
Woronzowsker Mole entlang. Das Geschwader lag auf Reede
und machte bereits Fahrt auf. Man konnte die Schiffe sehen,
bis sie am Horizont verschwanden. In diesem Augenblick begann ein Bombenangriff auf das Geschwader, dessen erste
Einheiten bereits an die siebzig Kilometer von Odessa entfernt
waren. Bomben fielen, trafen aber nicht. Es gelang den Deutschen lediglich, ein kleines Schiff zu versenken, alle anderen
aber liefen wohlbehalten in Sewastopol ein…“
Ein Dokument soll diesen Aspekt der Erinnerungen Petrows
abschließen:
„An den Oberbefehlshaber des Verteidigungsraumes Odessa,
Genossen Konteradmiral Shukow. Ich melde: In der Nacht
vom 15. zum 16. Oktober erfolgte die Evakuierung der Truppen der Küstenarmee. Der Abzug der Truppen von der Front
und das Verschiffen wurden in der Reihenfolge und zu dem
Zeitpunkt vorgenommen, wie sie im Plan für den Abzug und
die Evakuierung der Truppen vorgesehen waren. Die im Odessaer Hafen verschifften Truppenteile wurden mit ihrem gesamten Mannschaftsbestand evakuiert, ausgenommen die durch
einen Zufall zurückgebliebenen Männer. Material und Technik
der Artillerie wurden in einer Menge evakuiert, welche die im
Plan vorgesehene Menge übertrifft. 17. 10. 41. Petrow. Kusnezow.“ Vor den Männern lagen die Krim und zehn Monate währende Kämpfe um Sewastopol.
Dort, auf der Krim, angesichts der kritischen Lage, in der sich
die Truppenteile der Küstenarmee befanden, denen es nicht
gelang, unseren sich auf der Landenge von Perekop verteidigenden Truppen zu Hilfe zu kommen, und die inmitten der
kahlen Krimsteppen von durchgebrochenen Deutschen angegriffen wurden, faßte Petrow auf eigene Faust einen Entschluß,
der bei der nachfolgenden Verteidigung Sewastopols eine große Rolle spielen sollte. Da er zu diesem Zeitpunkt weder Befehle von oben erhielt noch über eine Nachrichtenverbindung
verfügte, mußte er selbst entscheiden: Sollten sich die Truppenteile der Küstenarmee in Richtung Kertsch zurückziehen
und von dort in den Kaukasus gehen, oder sollten sie auf Sewastopol marschieren? Und nach einer kurzen Sitzung des Kriegsrates, auf der sich die Mehrheit für Sewastopol entschied, zog
er mit der Armee nach Sewastopol, wo er dann auch alle Landtruppen bis in die letzten Tage der Sewastopoler Epopöe kommandierte.
Nach dieser längeren Abschweifung wende ich mich wieder
dem Tagebuch zu.
In der Nachrichtenzentrale wurde mir bedauerlicherweise
noch einmal bestätigt, was uns Brigadekommissar Kusnezow
bereits gesagt hatte: Aus Odessa konnte Material nur per Funk
gesendet werden, nur chiffriert und nicht mehr als dreißig
Wortgruppen umfassend, das heißt nicht mehr als eine kurze
Notiz.
Damit konnte ich nichts anfangen. Eine andere Möglichkeit
war, das Material mit einem auslaufenden Schiff nach Sewastopol zu schicken, von dort mußte es jemand nach Simferopol
bringen, und von Simferopol konnte es einem nach Moskau
gehenden Flugzeug mitgegeben werden. Theoretisch war das
möglich. Aus meiner praktischen Erfahrung aber wußte ich,
daß kein einziger Beitrag auf einem so komplizierten Weg
rechtzeitig eintrifft. Um so mehr, als es weder in Sewastopol
noch in Simferopol einen Korrespondenten der „Krasnaja
Swesda“ gab. Uns blieb also nur ein Weg: Wollten wir das
Material schnellstens nach Moskau übermitteln, mußten wir es
in Simferopol selbst auf den Weg bringen.
Das war neben der Iranidee die zweite Überlegung, die mich,
nachdem wir das erste Material beisammen hatten, endgültig
veranlaßte, von Odessa auf die Krim zu fahren.
Mit diesem Entschluß gingen wir zu Kusnezow, da er aber
nicht da war, wandten wir uns an den Chef der Politabteilung
der Armee, Botscharow.
Als ich ihm klarmachte, daß wir auf die Krim müßten, um von
dort das Material abzuschicken und außerdem mit der Redaktion wegen Iran zu telefonieren, musterte er uns sofort merklich
mißmutig. Und ich begriff, daß er uns für Leute hielt, die vor
der schwierigen Lage in Odessa zurückschreckten und „das
sinkende Schiff“ verlassen wollten.
Diskutieren wäre sinnlos gewesen, um so mehr, als Botscharow das nicht geradeheraus sagte, sondern hinsichtlich Iran
lediglich meinte, dort würde es für uns wohl kaum etwas Interessantes zu sehen geben, und ganz entfernt darauf anspielte,
daß unsere Abfahrt aus Odessa dorthin keinen guten Eindruck
machen würde.
Ich sagte, wir würden uns das noch überlegen, aber unabhängig davon, wie über die Iranangelegenheit entschieden werde,
müßten wir mit dem Material doch dringend nach Sewastopol,
hinterher aber würden wir bestimmt nach Odessa zurückkommen. Er meinte, wir könnten unser Material doch ohne weiteres
mit einem Schiff dorthin schicken. Der Meinung war er wohl
wirklich. Ich war vom Gegenteil überzeugt.
Schließlich einigten wir uns so, daß wir in Odessa noch einiges erledigen und ihm am nächsten Tag unsere Entscheidung
mitteilen wollten. Als ich ihn verließ, war ich wütend. Er
schien ein vernünftiger Mann zu sein und sonst auch in Ordnung, aber daß er uns für Feiglinge hielt, brachte mich auf.
Eine halbe Stunde später gab uns ein Seemann den Rat, wegen des Materials nach Sewastopol sollten wir uns an das Mitglied des Kriegsrates für die Verteidigung Odessas, Brigadekommissar Asarow, wenden. Ich fragte ihn, ob dieser Asarow
schon lange hier sei. Er sei erst ganze drei Tage hier. Da wurde
mir klar, daß das sicherlich der Asarow war, dem wir unlängst
im Stab der Schwarzmeerflotte begegnet waren.
Bevor wir uns zu Asarow auf den Weg machten, aßen wir in
der in einem Keller untergebrachten Stabskantine rasch etwas
zu Abend. Mit uns saßen ein paar junge Burschen an dem großen Tisch. Einige von ihnen trugen Feldblusen ohne Rangabzeichen, andere NKWD-Uniformen. Sie holten eine Flasche
trockenen Wein unter dem Tisch hervor und bewirteten uns
gastfreundlich.
Die Burschen schienen in Ordnung zu sein, sie hatten an tollkühnen Einsätzen teilgenommen, aber kaum waren wir näher
miteinander bekannt geworden, als sie mir und Jascha unaufgefordert alle möglichen Geheimnisse ausplauderten: Sie kämen
von dort und dort, seien im Geheimauftrag unterwegs und hätten das und das zu erledigen, wir sollten doch einmal bei ihnen
vorbeikommen, sie würden uns Dinge erzählen, von denen sich
niemand auch nur träumen lasse. Nach einer halben Stunde
verabschiedeten wir uns, vollgepumpt mit ihren Staatsgeheimnissen, und gingen zu Asarow.
Asarow war wirklich jener Brigadekommissar, mit dem ich
schon in Sewastopol zusammengetroffen war. Er hörte unsere
Pläne bezüglich Sewastopols und Irans an, sagte, übermorgen
werde voraussichtlich ein Schiff auslaufen, und schrieb uns
eine Bescheinigung für den Chef des Odessaer Flottenstützpunkts, einen Konteradmiral. Dann erzählte er uns von Odessa,
wie die Einwohner auf die Versorgung des Militärs umgestellt
wurden und wie jetzt alle, die in den nichtevakuierten Werkhallen zurückgeblieben waren, für die Verteidigung arbeiteten. Er
riet uns, bei den Januar-Werkstätten vorbeizufahren, und erwähnte abschließend noch, am nächsten Morgen werde er einen Dampfer mit zwei Bataillonen Seeleute empfangen.
Wir nächtigten, wieder in dem gleichen Klassenzimmer. Nach
wie vor feuerte ab und an von jenseits der Limane die weittra-
gende Artillerie der Deutschen, und irgendwo in der Ferne
wummerten die Einschläge.
Als wir am nächsten Morgen zu den Anlegeplätzen fuhren,
gingen die Seeleute gerade an Land. Das Deck des Dampfers
war schwarz von Matrosenjacken. Handgranaten am Koppel,
Schnellfeuergewehre über die Schulter geworfen, mit MGs,
Trommelmagazinen und manchmal auch MG-Gurten bepackt,
in Jacken und Stahlhelmen kamen die Matrosen schweigend
die Fallreeps herab. Hier und dort sah man inmitten der Waffen
auch eine unter den Arm geklemmte Gitarre oder eine über die
Schulter gehängte Ziehharmonika.
Chalip schrie auf und winkte einem Mann mit Käppi. Unter
den Matrosen an Deck waren die Kameramänner Kogan und
Trojanowski. Die Seeleute traten auf dem Kai an und marschierten in die Stadt. Der Anblick der durch die Stadt marschierenden Matrosen erinnerte mich an den Bürgerkrieg, so
wie ich ihn mir vorstellte. Aus den Gesprächen auf dem Kai
entnahm ich, daß die Lage so ernst war, daß die Seeleute innerhalb von zwei oder drei Stunden an die Front geworfen
werden sollten. Die größte Sorge war jetzt, sie möglichst rasch
neu einzukleiden. Obwohl ihre schwarzen Jacken den Gegner
moralisch durchaus beeindruckten, waren sie, die Tarnung betreffend, natürlich Unsinn.
Wir gingen hinauf in die Stadt. Eine Kompanie Seeleute
drängte bereits in ein Haus hinein. Sie sollten hier neu eingekleidet werden. Andere Matrosen standen abwartend auf der
Straße. Frauen kamen aus den Häusern gerannt, es gab Küsse
und Tränen. Ein junger Matrose bat seinen Kommandeur um
die Erlaubnis, einen Sprung nach Hause machen zu dürfen,
sagte, er wohne gleich in der Nebenstraße. Die „Odessaer Post“
aber war schon in Funktion getreten, und während er noch um
die Erlaubnis bat, kam seine Mutter schon angelaufen und küß-
te ihn mitten auf der Straße ab. Es war bewegend. Wie Männer
es immer tun, wenn sie auf einem Haufen zusammen sind und
ein Weilchen Zeit haben, spielten die Seeleute mit den Kindern, streichelten sie, nahmen sie auf den Arm. Eine Harmonika spielte, jemand tanzte das „Äpfelchen“, und alle anderen
stellten sich im Kreis auf und sangen mit. Und über allem lag
das Gefühl, daß diese Seeleute in zwei Stunden ins Gefecht
gehen mußten.
Sie waren gekommen, Odessa zu retten – es stand auf ihren
Gesichtern. Sie wollten Helden sein, und die Frauen glaubten
daran, und aus all dem resultierte eine nervöse, flüchtige, herzbeklemmende Fröhlichkeit über der Straße.
Wir nahmen Trojanowski und Kogan in unserem Wagen mit
zum Stab, brachten sie in unserem Zimmer unter und fuhren
dann in die Werkstätten des Januar-Aufstands, wo Panzer instand gesetzt wurden.
Wie auch in den anderen Odessaer Betrieben, war die wichtigste Ausrüstung evakuiert worden, aber es waren doch noch
zahlreiche Arbeiter geblieben. In der Mehrzahl ältere Männer,
alteingesessene Odessaer, die sich von ihrem Odessa nicht
trennen wollten. Einiges an Ausrüstung war in den Werkhallen
zurückgeblieben. Altertümliche Schmiedeherde, kleine
Dampfhämmer und in den mechanischen Werkstätten alte
Werkzeugmaschinen.
Wir gingen mit dem Produktionsleiter durch die Werkstätten.
Die Arbeitskräfte reichten nicht aus, und so wurden die Panzer
gemeinsam von den Arbeitern und den Panzerbesatzungen repariert, die zwei oder drei Tage zuvor aus dem Kampf gekommen waren. Im wesentlichen handelte es sich bei den Panzern
um BT-5 und BT-7. Wie sich in diesem Krieg herausgestellt
hatte, war ihre Panzerung nicht allzu stabil, und in der Werkstatt sagte man sich, wenn schon reparieren, dann richtig, und
nietete an den Panzertürmen zusätzliche Panzerplatten an. Dadurch wurden die Panzer etwas schwerer, was zwar nicht den
technischen Berechnungen entsprach, aber, wie man sagte, sich
im Kampf bewährte.
Die Werkstätten waren alt, verrußt und erinnerten mich an die
Hallen der Werke „Universal“ und „Dwigatel Rewoljuzii“ in
Saratow, wo ich als Junge einmal ein Praktikum absolviert hatte. Die Leute in den Werkhallen arbeiteten tagelang, ohne den
Fuß auch nur einmal vor die Tür zu setzen. Nicht die Stundenzahl und auch nicht die Anzahl der schlaflosen Nächte bestimmte die Arbeitszeit, sondern einzig und allein die Fertigstellung eines Panzers: „Schlafen gehen wir erst, wenn wir ihn
fertig haben.“
Hier lernten wir die drei Brüder Saizew kennen, schon ältere
Männer. Sie arbeiteten seit 1899 in diesen Werkstätten. Alle
drei hatten sie die Sechzig schon überschritten. Es waren gedrungene, finster blickende Männer mit kräftigen, rissigen
Händen. Chalip photographierte sie zu dritt.
Doch bekamen wir hier auch Ärger. Der Militärbevollmächtigte wich uns nicht von der Seite; er beharrte darauf, einen
BT-7 könne man aufnehmen, einen T-26 hingegen nicht. Dieser alte Panzer war für ihn fast so etwas wie eine Geheimmaschine modernster Konstruktion. Vergeblich versuchte ich ihm
klarzumachen, daß dieses Modell schon jahrelang bekannt sei,
daß eine ganze Menge zerschossene T-26-Panzer auf dem von
den Deutschen besetzten Territorium zurückgeblieben seien. Er
aber ließ nicht mit sich reden und hinderte Chalip, den Panzer
zu knipsen. Da wurde ich ärgerlich, und nachdem ich einen
energischen Ton angeschlagen hatte, merkte ich, daß ich das
von Anfang an hätte tun sollen. Sofort wurde er umgänglich,
geleitete mich ins Fabrikkontor und redete mir die Ohren voll
mit allem möglichen dummen Zeug über den Werkstattleiter
und noch jemanden, daß irgend jemand irgendwo falsch am
Platze sei, daß es mit dem und dem nicht richtig hinhaue und
so weiter und so fort. Es war deutlich zu merken, daß dieser
unerträgliche Kerl sogar hier, in der Fabrik, wo die Menschen
nächtelang nicht schliefen und nur schufteten, darauf aus war,
irgendwelche alten Zwistigkeiten und Klatschereien aus der
Friedenszeit hervorzukramen. Ich wimmelte ihn ab, und wir
fuhren wieder weg.
Von der Fabrik fuhren wir zum Lazarett, wo der Kommandeur von Balaschows Regiment liegen sollte, ein tatarischer
Oberstleutnant. Wir ließen den Wagen vor dem Lazaretthof
stehen und gingen hinein. Im ersten Tor an der Hofeinfahrt war
ein Fensterchen, durch das Passierscheine ausgegeben wurden.
Vor dem Tor war ein dichtes Gedränge. In Odessa waren viele
Truppenteile aus Ortsansässigen aufgestellt und andere mit
ihnen aufgefüllt worden, und gewöhnlich erfuhren die Verwandten noch am gleichen Tag, daß der Mann oder Bruder
verwundet worden war, spätestens tags darauf. Die Front war
so nahe, daß die Verwundeten innerhalb von zwei Stunden
nach der Verwundung in Odessa ankamen. Kurzum, alles war
anschaulich wie nirgends sonst.
Erbitterte Kämpfe tobten. Ein Lkw nach dem anderen kam in
den Hof gefahren; Verwundete wurden ausgeladen, während
andere, die auf dem Seeweg evakuiert werden sollten, aufgeladen wurden. Auf dem Lazaretthof, in einer kleinen Grünanlage,
standen Tragen mit Verwundeten, die auf den Abtransport warteten. Lange suchten wir in verschiedenen Krankenzimmern
nach dem Oberstleutnant. Alles war überfüllt. Krankenschwestern und Sanitäter hatten alle Hände voll zu tun. Sämtliche
Betten waren belegt, und zwischen ihnen lagen Strohsäcke auf
dem Fußboden oder standen Tragen. Jeder Quadratmeter im
Lazarett war mit etwas Weißem bedeckt, auf dem Verwundete
lagen und stöhnten, manchmal auch schrien.
Den Oberstleutnant fanden wir nicht. Er war schon evakuiert
worden.
Vom Lazarett fuhren wir in unser Quartier. Hier hörten wir,
daß am späten Abend ein Torpedoboot nach Sewastopol auslaufen sollte. So ging ich mit Asarows Bescheinigung zum
Flottenstützpunkt, während Chalip unterdessen mit unserem
Anderthalbtonner zur Bahnstation Rasdelnaja fuhr, um einen
von Odessaer Arbeitern gebauten Panzerzug zu photographieren.
Auf dem Stützpunkt empfing mich ein Konteradmiral – hochgewachsen, mit Bart, die Seemannshosen in die Stiefel gesteckt. Er zeichnete Asarows Bescheinigung ab. In dem Moment fing es von allen Seiten an zu läuten und zu heulen. Der
übliche Fliegeralarm, mit dem Odessaer Humor bereits scherzhaft „BBG“ – „Bomben bereits gefallen“ genannt.
Vom Admiral ging ich zu Fuß zum Stab zurück. Es waren
vier Kilometer. Wegen des Fliegeralarms fuhren keine Straßenbahnen. Ich ging durch die von der Hitze des Tages glühende Südstadt. In den Straßen, durch die ich kam, hatten die
Bombenangriffe nur wenige Spuren hinterlassen, aber sie waren menschenleer, da das Bellen der Flak noch nicht verstummt
war.
Ich kam erst so spät an, daß wir unverzüglich zu dem Torpedoboot aufbrechen mußten. Botscharow war nicht da, und so
hinterließ ich in der Politabteilung für ihn die Nachricht, daß
wir nach Sewastopol unterwegs seien, um von dort das erste
Material abzusenden, und daß wir in ein paar Tagen sicherlich
wieder nach Odessa zurückkehrten. Auf die allerletzte Minute
kam Chalip von Rasdelnaja zurück, und wir fuhren zum Hafen.
Die letzte Erinnerung an Odessa. Zwei Männer mit über den
Kopf gezogenen Säcken wurden über das Fallreep auf das Tor-
pedoboot geführt. Wie wir hinterher feststellten, waren das alte
Bekannte von uns – der rumänische Major und der rumänische
Hauptmann, die wir schon im Kriegsgefangenenlager gesehen
hatten und die nun ins Große Land gebracht wurden…
Ehe ich dieses Kapitel beende, eine selbstkritische Bemerkung:
Mit einem merkwürdigen Gefühl las ich jetzt die Zeilen in
meinem Tagebuch über meine urplötzliche Absicht, zu unseren
in Iran einmarschierten Truppen zu kommen. Ja, ich geriet sogar in Versuchung, diese ganze Geschichte, die von einer gewissen Leichtfertigkeit im Denken zeugte, aus dem Tagebuch
zu streichen.
Die dort geäußerten Überlegungen, daß wir unser OdessaMaterial nicht über mehrere Stationen nach Moskau senden
könnten, waren richtig und haben sich später bewahrheitet. Um
aber ganz ehrlich zu sein, muß ich auch etwas anderes sagen:
Ohne diese plötzlich aufgekommene Idee mit der Iranfahrt wären wir wohl noch ein paar Tage länger in Odessa geblieben,
hätten mehr Material sammeln können, und ich hätte, aus
Odessa zurückgekehrt, etwas Solideres nach Moskau schicken
können als meine in aller Eile geschriebenen Odessaer Skizzen,
die dann in der „Krasnaja Swesda“ erschienen. Offenbar hatte
mich damals das ehrgeizige kindliche Verlangen gepackt, irgendwo einmal der erste zu sein, vielleicht aber auch ganz einfach Neugier.
Kurz gesagt, so wie ich es heute sehe, hatte Regimentskommissar Botscharow damals recht, als er mit uns in vorwurfsvollem Ton über dieses Thema sprach, und wir waren im Unrecht
mit unserer iranischen Idee, die niemandem etwas einbrachte
und uns ein paar Tage früher aus Odessa abfahren ließ. Mehr
noch, Botscharow hatte allen Grund, mit uns unzufrieden zu
sein. Der in meinen Aufzeichnungen anklingende ungerechtfer-
tigte Ärger über ihn war wohl die Folge davon, daß ich schon
damals in der Tiefe meines Herzens fühlte, daß ich im Unrecht
war. Bekanntlich ärgern sich die Menschen in solchen Fällen
nicht über sich selbst, sondern über andere. Und ich stellte da
keine Ausnahme dar.
Unser Torpedoboot machte im Dunkeln los, und nach wenigen Minuten war Odessa den Blicken entschwunden.
Nachts saßen wir in der Messe. Die Matrosen bestürmten
mich mit Fragen über die Westfront. Ich berichtete, da übermannte mich die Müdigkeit. Ich war wohl beim Erzählen eingeschlafen, denn meine Erinnerungen rissen jäh ab. Als ich
erwachte, saß ich allein am Tisch. Durchs Bullauge fiel schon
Tageslicht.
Um elf erreichten wir ohne Zwischenfälle Sewastopol. Ich
wollte mich mit Moskau in Verbindung setzen, und da Simferopol einen Flugplatz für Transportflugzeuge hatte, hielt ich es
für sinnvoll, hinzufahren und von dort die Hauptstadt anzurufen. Rasch war Demjanow aufgestöbert. Wir stiegen ins Auto
und jagten, ohne beim Stab vorzusprechen, nach Simferopol,
das wir am Nachmittag erreichten. Wir folgten einer Tradition
der Zeitungsleute und verbrachten zunächst ein paar Minuten
in der Redaktion der „Krasny Krim“. Der Leiter der Militärabteilung Muzit, ein liebenswerter, flinker Junge, versprach mir,
sich meiner Sache persönlich anzunehmen, falls es keinem der
höheren Offiziere gelingen sollte, mich mit der „Krasnaja
Swesda“ zu verbinden.
Von der Redaktion gingen wir zum Stab der 51. selbständigen
Armee, die auf der Krim kürzlich zur Schaffung einer Front
aufgestellt worden war. In den Gängen überraschte mich die
große Zahl der anwesenden Generale. Ein langer Generaloberst, den wir für Apanassenko hielten, schritt im Korridor an
uns vorüber. Später erfuhren wir, daß es der Armeebefehlshaber F. I. Kusnezow war.
Im Kriegsrat der Armee lernten wir seinen Sekretär Wassili
Wassiljewitsch Rostschin kennen, ein kluger Kopf, wovon ich
mich später wiederholt überzeugen konnte, ein ruhiger, sachkundiger, genauer und ironischer Mensch, dem die Gewißheit,
daß zu vieles falsch gemacht wurde, einen leidenden Zug verlieh.
Rostschin stellte uns dem Brigadekommissar Malyschew vor.
Wenn ich mich recht erinnere, gehörte er zu jenen ZKMitgliedern, die frisch in die Armee geschickt worden waren.
Wir fragten Malyschew, wie sich die Lage rund um die Krim
gestalte. Daß die Deutschen in diesen Tagen nahe Kachpaka
hartnäckig versuchten, den Dnepr zu überschreiten, hatten wir
schon gehört. Malyschew bestätigte es und wollte uns behilflich sein, die Redaktion zu erreichen. Nach einer Stunde stellte
sich jedoch heraus, daß über die Armeeleitung keine Verbindung hergestellt werden konnte.
Wir versuchten es beim Gebietskomitee der Partei, bekamen
auch dort keinen Anschluß. Es hieß, die Leitung sei beschädigt.
Da wandte ich mich an Muzit, und wir gingen geradewegs zum
Fernsprechamt. Glücklicherweise war in Simferopol die Premiere des „Burschen aus unserer Stadt“ soeben angelaufen,
und als Muzit die Chefin kommen ließ, mich mit ihr bekannt
machte und mich als Autor des „Burschen“ vorstellte, versprach sie Hilfe – Gott vergelt’s ihr –, ehe sie sich wieder ins
Innere des Gebäudes zurückzog.
Für die Nacht kamen wir in einer Quarantänestelle unter. Muzit wies uns das Arbeitszimmer des Direktors zu, wo ein Apparat stand. Um drei Uhr morgens gelang es dem Mädchen vom
Fernamt – wahrscheinlich nach unglaublichen Anstrengungen,
denn die direkte Leitung über Charkow war unterbrochen –,
mich über Kertsch-Krasnodar-Woronesh mit Moskau zu verbinden. Ich hörte die ferne Stimme
sagte ich, und daß wir erst am Nachmittag aus Odessa angekommen seien.
„Haben Sie Material?“
„Genug für vier oder fünf Nummern.“
„Und Photos?“
„Auch Photos.“
Ich erklärte, ich wolle am übernächsten Tag beides mit dem
ersten Flugzeug schicken. Dann fragte ich, ob ich Iran ins Auge
fassen könne. Zu spät, antwortete er. Hätte ich vorher die Gelegenheit wahrgenommen, von Odessa aus einen Abstecher zu
unternehmen, wäre es möglich gewesen. Jetzt waren dort alle
Kampfhandlungen eingestellt, und er stand im Begriff, auch
diejenigen zurückzurufen, die er hingeschickt hatte.
Zum Schluß unseres Gesprächs bat er mich, einen alten Bekannten von ihm aufzusuchen, Korpskommissar Nikolajew,
Mitglied des Kriegsrats der 51. Armee.
Im Morgengrauen ging Chalip daran, die Filme zu entwikkeln. Es hatten sich insgesamt sechzehn angesammelt. Ich
suchte die Redaktion auf, wo ich von zehn Uhr morgens bis
zwei Uhr nachts in die Maschine diktierte und dabei drei Stenotypistinnen schaffte. Ohne Pause wurden fünf kleine Sachen
zu Papier gebracht, mit einer Ausnahme die schlechtesten, die
ich je gemacht habe. Aber was sollte ich tun? Das Flugzeug
nach Moskau startete am nächsten Tag, und die ersten Materialien über Odessa mußten unter allen Umständen mit. Ein Artikel wurde in der „Krasnaja Swesda“ abgedruckt, drei erschienen verstümmelt und einer überhaupt nicht.
Unter anderem legte ich meinem Manuskript das aufschlußreiche Tagebuch eines rumänischen Offiziers bei, eines kulturvollen und offenbar ganz gescheiten, noch sehr jungen Men-
schen, den die Schrecken des Krieges tief erschüttert hatten.
Die „Douglas“, deren Besatzung wir unsere Materialien nach
Moskau mitzugeben beabsichtigten, sollte am folgenden
Nachmittag um eins fliegen. Wir schliefen spät in der Nacht
ein, und am Morgen, als ich meine Sachen durchlas und redigierte und Chalip die noch feuchten Filmstreifen vornahm und
schnitt und Bildtexte entwarf, wurde von den Luftstreitkräften
angerufen, die „Douglas“ starte nicht um eins, sondern in einer
Minute.
Ich setzte mich mit dem Flugplatz in Verbindung, wo ich erfuhr, daß der Abflug tatsächlich vorverlegt war. Es seien Gäste
da, und die Maschine könne nicht warten. Was heißt Gäste?
dachte ich. War das ein vereinbartes Deckwort für einen deutschen Luftangriff? Jedenfalls bat ich darum, den Start um zehn
Minuten aufzuschieben.
Was sollten wir machen? Die Filme waren nicht fertig, aber
ich überredete Chalip, alles, wie es war, in Zeitungspapier zu
packen. Dann schob ich ihn ins Auto, steckte ihm das Kuvert
mit meiner Korrespondenz unter die Feldbluse, und ab ging’s
zum Flugplatz. Meinen Plan erläuterte ich ihm unterwegs. Es
half nichts, er hatte keine Zeit mehr, die Texte zusammenzustellen, er mußte in die „Douglas“ steigen und nach Moskau
fliegen.
Diese Entscheidung überraschte ihn so, daß er aus dem Häuschen geriet, zuerst streiten wollte und mir dann den Schwur
abverlangte, mich nicht von der Stelle zu rühren. In zwei Tagen
sei er zurück. Auf dem Flugplatz bekamen wir einen Anpfiff,
weil wir den Abflug verzögert hatten. Mit den Gästen, die der
Diensthabende am Telefon erwähnt hatte, waren nicht deutsche
Flugzeuge gemeint, sondern wirkliche Gäste, etwa achtzehn
englische Offiziere, die mit dieser „Douglas“ Sewastopol verließen, um nach Moskau zurückzukehren, irgendwelche Spe-
zialisten zur Entschärfung deutscher Magnetminen. Zu allem
Überfluß wurde mir vorgehalten, daß ich für Chalip keine
Fluggenehmigung hatte. Ich lag dem Diensthabenden in den
Ohren und gelobte hoch und heilig, die Genehmigung nachträglich zu besorgen. Die wartenden Engländer und unsere
Leute sahen neugierig zu, wie Chalip und ich aus dem Wagen
kletterten: Derentwegen so eine Verzögerung! Ich erfreute
mich ja noch eines halbwegs angenehmen Äußeren und konnte
für einen Sonderbeauftragten gehalten werden, aber Chalip
machte einen recht merkwürdigen Eindruck. Er hatte die Angewohnheit, das Koppel wie eine schwangere Frau unterm
Bauch zu tragen, und die Pistole baumelte ausgerechnet zwischen den Schenkeln. Seine Feldmütze war mehrmals in den
Entwickler und ins Fixierbad gefallen und sah aus wie ein Tigerfell; außerdem hatte er sie in der Eile mit dem Stern nach
hinten aufgesetzt. Er preßte das große, in alte Zeitungen gewickelte Bündel gegen die Brust, während er zum Flugzeug
schritt. Vor den Augen der erstaunten Besatzung und der Passagiere schob ich ihn hinein. Leicht zerknirscht blickte er mich
durchs Fenster an, winkte schwach, und das Flugzeug stieg auf.
Als ich nach Simferopol zurückkehrte, hörte ich, daß sich die
Korrespondenten der „Iswestija“ Wilenski und Selma nach
Sewastopol begeben hatten, sie wollten nach Odessa Weiterreisen und dort eine Kolumne schreiben. Ich fuhr zu Rostschin
und telegraphierte über den militärischen Draht mit der „Krasnaja Swesda“: „Per Flugzeug fünf Artikel abgeschickt. Ebenfalls Chalip und Aufnahmen. Druck nicht verzögern. Iswestija
Odessa gefahren, Kolumne machen.“ Am Abend kam mit einer
Maschine die vortägige Ausgabe der „Krasnaja Swesda“ an.
Ich nahm sie zur Hand und las verwundert die Überschrift der
ersten Spalte, die sechzig Zeilen umfaßte: „In Odessa“, darunter „Von unserem Sonderberichterstatter K. Simonow“. Zu-
nächst verstand ich gar nichts. Ich hatte keine Zeile übermittelt,
und Chalip war erst vor wenigen Stunden abgeflogen. Erst später reimte ich mir alles zusammen. Ortenberg hatte in der vorletzten Nacht erfahren, daß ich Odessa verlassen wolle, und
buchstäblich im letzten Augenblick meinen Namen unter einen
nach den Angaben der Frontberichte verfaßten Artikel gesetzt.
Dabei konnte nichts schiefgehen. Ich war in Odessa gewesen,
hatte alles gesehen, wovon da geschrieben stand, und am nächsten Tag mußten meine eigenen Materialien in der Redaktion
eintreffen.
Im Tagebuch findet sich kein Wort über eine Episode, an die
ich mich erinnere. Es geschah, als Chalip nach Moskau abgeflogen war. Vom Stab der 51. Armee erfuhr ich, daß unsere
Bomber, die nachts Ploesti angriffen, auf der Krim stationiert
waren. Die Flugzeuge unterstanden Oberst W. A. Sudez, später
Marschall der Fliegerkräfte. Ich suchte ihn auf und bat ihn,
mich als Berichterstatter der „Krasnaja Swesda“ in einem seiner Nachtbomber mitzunehmen, damit ich über die Einsätze
schreiben könne.
Sudez lehnte entschieden ab. Ich drängte ihn. Da entgegnete
er schroff, bei diesen Flügen zähle jedes Kilogramm und er
denke nicht daran, statt Bomben und Treibstoff überflüssige
Passagiere mitzunehmen. Wenn ich aber unbedingt fliegen
wolle, würde er mir Gelegenheit geben, einen sechswöchigen
Lehrgang zu absolvieren und danach als Bordschütze zu fungieren.
Ich begriff, daß dieser Vorschlag eine ironische Ablehnung
war, wollte jedoch nicht so schnell klein beigeben und zückte
eine von Mechlis unterschriebene Sondervollmacht, die mir
jeden erforderlichen Beistand zusicherte.
Zu meiner Verwunderung verfehlte dieses Papier bei dem
störrischen Oberst nicht nur die erwartete Wirkung, sondern
erboste ihn obendrein noch. ( Zornig reichte er es mir zurück,
indem er durchaus unzeitgemäß und für mich völlig überraschend bemerkte, ich solle mich mit dem Papier zum Teufel
scheren, hier befehle er, ich könne ja zu Mechlis fahren und
mich beschweren. Er beendete das Gespräch höchst offiziell,
indem er sagte: „Sie können gehen.“ Das war eine Empfehlung
abzutreten, was ich auch tat.
Erst als ich W. A. Sudez viele Jahre später wieder traf, erklärte er mir, warum er meine Bitte abgeschlagen hatte. Bei unseren Flügen nach Ploesti erlitten wir ungewöhnlich hohe Verluste, worüber damals natürlich nicht gesprochen wurde. Obwohl
Oberst Sudez wütend das Papier schwenkte, tat ich ihm doch
leid, und er wollte nicht, daß ich auch noch mein Leben aufs
Spiel setzte.
Im Frühjahr 1942 diktierte ich meine Tagebücher vom Notizblock, doch diese Begebenheit fand keinen Niederschlag.
Wahrscheinlich verschwieg ich sie aus verletzter Eitelkeit, um
nicht daran erinnert zu werden, daß mein Plan, nach Ploesti zu
fliegen, gescheitert war.
In Simferopol wartete ich weitere zwei Tage auf Chalip. Für
die Zeitung schrieb ich das Gedicht „Das Wort des Matrosen“
und gab es telegraphisch durch. Dann verfaßte ich in einem
Zuge mehrere lyrische Verse. Nach vier Tagen hinterlegte ich
in der Redaktion der „Krasny Krim“ eine Notiz, daß ich abreise, und machte einen letzten Versuch, Chalip abzuholen, wobei
ich mir vornahm, vom Flugplatz aus direkt nach Sewastopol
und von dort nach Odessa zu fahren, sollte er wieder nicht dabei sein. Dann mußte er nachkommen. Die Krim bot absolut
kein Betätigungsfeld mehr, und es erschien mir schändlich,
müßig herumsitzen. Chalip traf jedoch mit diesem Flugzeug
ein, und wir reisten gemeinsam nach Sewastopol.
Unterwegs erzählte mir Chalip, daß in Moskau zwei meiner
Artikel bereits gedruckt und seine Aufnahmen gut angekommen seien. Ortenberg meinte, wir hätten recht gehandelt, einen
Abstecher zu machen und zurückzukehren. Jetzt müßten wir
wieder nach Odessa fahren, aber vorher sei noch eine Aufgabe
zu lösen. Bei der Stippvisite in Sewastopol sollten wir über
eines unserer hervorragenden U-Boote schreiben und Aufnahmen machen.
Ich wollte mich nicht auf die Berichte anderer verlassen und
beschloß, alles selbst kennenzulernen. Als ich mit Chalip am
Abend in Sewastopol angekommen war, gingen wir zu Konteradmiral J. D. Jelissejew, dem Chef des Stabes der Schwarzmeerflotte.
Er hörte mich an und erwiderte, die Angelegenheit nicht allein
entscheiden zu können. Sie müsse Vizeadmiral Oktjabrski,
dem Befehlshaber der Flotte, vorgetragen werden. Er ging hinaus, und nach fünf Minuten erklärte er, der Vizeadmiral sei
einverstanden. Am nächsten Morgen solle ich mich zwecks
Festlegung der Einzelheiten noch einmal bei ihm einfinden.
Allerdings daure eine U-Boot-Fahrt fünfundzwanzig Tage.
Chalip stieß mich unter dem Tisch an, aber das nutzte nichts.
Ich hatte zwar nur mit einer zwei-, im Höchstfalle dreitägigen
Fahrt gerechnet, doch wer A sagt, muß auch B sagen, und
leicht stockend entgegnete ich: „Ja, also wenn fünfundzwanzig,
dann eben fünfundzwanzig.“
Wir verabschiedeten uns von Jelissejew und saßen bis tief in
die Nacht hinein mit unseren Schriftstellerkollegen vom
„Krasny Tschernomorez“ – Saschin, Dligatsch, Iwitsch, Gaidowski – im runden Gärtchen des Sewastopoler Hauses der
Flotte beim Tee. Später gesellte sich noch ein Kollege dazu,
saß neben uns unter dem herrlichen südlichen Sternenhimmel
auf der Bank und erzählte endlos Kriegserlebnisse. Wie er im
Einsatz war, beschossen wurde, selbst schoß und so weiter. Ich
fand es abscheulich, ich haßte ihn. Diese zauberhafte Nacht, so
warm, so schön, und er mit seinen Kriegserlebnissen – er
schwatzte uns die Ohren voll, bis uns die Galle überlief. Als
wir ihn endlich abgeschüttelt hatten und allein waren, machte
mir Chalip eine Szene. Was in mich gefahren sei, für fünfundzwanzig Tage in See zu stechen, welche Schlamperei das sei,
wo man uns doch zusammen geschickt habe, daß ich überhaupt
kein Recht hätte, mich von ihm abzusetzen. Wenn es fünf Tage
wären – na schön, aber gleich fünfundzwanzig! Die Zeitung
volle fünfundzwanzig Tage ohne Material von dieser Front
sitzenzulassen!
Der Vorwurf war nicht unbegründet, und ich erklärte mich
schließlich bereit, Jelissejew um eine kürzere Reise zu bitten.
Am Morgen faßte ich mir ein Herz und sagte dem Admiral, in
diesem Frontbereich hätten wir keinen anderen Korrespondenten, zwar ginge ich notfalls auch für fünfundzwanzig Tage auf
ein U-Boot, aber vielleicht stand eine kürzere Fahrt in Aussicht.
„Eine kürzere?“ wiederholte Jelissejew. „Es gibt eine kürzere,
nur…“ Einer langen Pause entnahm ich, daß zwar eine kürzere
Fahrt stattfinden werde, die Sache aber einen Haken habe. Der
Admiral bat mich Zu warten, verließ den Raum, und als er zurückkehrte, sagte er, ja, eine sechs- bis siebentägige sei vorgesehen, trotzdem würde er mir dringend raten, mich nach Möglichkeit für die Fünfundzwanzig-Tage-Fahrt zu entscheiden.
Von mir aus gern, erwiderte ich, aber die Zeitung… „Gut“,
sagte er, „dann nehmen Sie die kurze.“
Er schickte mich zu einem seiner Stellvertreter, damit er mir
Ort und Stunde des Auslaufens mitteile.
„Ich empfehle Ihnen, selbst in unseren Kreisen nicht von der
U-Boot-Fahrt zu sprechen“, sagte Jelissejew zum Abschied,
„und schon gar nicht vom Termin.“
Ich suchte den Kommissar des Stabes auf, und wir vereinbarten, Jascha solle am nächsten Tag das erste Schiff nach Odessa
nehmen. Mit ihm verabredete ich, er solle sechs Tage dort bleiben und etwa zum gleichen Zeitpunkt wie ich zurückkehren.
Nach Angabe der Materialien wollten wir wieder zusammen
weiterfahren, entsprechend der Lage entweder nochmals nach
Odessa oder an die Südfront in die Gegend von Kachowka.
Ich bat ihn, in Odessa einiges zu notieren, damit ich mich später seiner Aufzeichnungen bedienen und wir gemeinsam eine
oder zwei kleinere Arbeiten anfertigen konnten, um auf diese
Weise alle Möglichkeiten auszuschöpfen und der Zeitung sowohl das Material aus Odessa wie auch das vom U-Boot zugehen zu lassen. Außerdem kamen wir überein, zu keinem über
die U-Boot-Fahrt zu sprechen und so zu tun, als ob wir beide
nach Odessa wollten.
Wir mußten den nächsten Tag abwarten. Mit den Jungs vom
Theater der Flotte gingen wir baden. Das Wasser war warm,
das Meer nur mäßig bewegt. Der Intendant Lifschiz, ein großer, hübscher, noch junger Bursche, saß am Ufer und erläuterte
mir seine Vorstellungen vom synthetischen Theater, die ihn
schon seit vielen Jahren beschäftigten und die er irgendwo in
der Provinz verwirklichte. Er war wohl ein Schüler Ochlopkows, und seine Idee bestand darin, daß das Publikum aktiv an
der Vorstellung teilnehmen, mit den Schauspielern Hand in
Hand in einem feinen, klug inszenierten Volkstück agieren
müsse. Das Theater in den herkömmlichen drei Dimensionen
war nach Lifschiz zum Untergang verurteilt. So oder so werde
das Kino das Schauspiel ablösen, und die einzige geeignete
Form, die Bühne zu retten, sei jenes Spektakel, das synthetische Theater. Mich ärgerte das Gespräch an diesem Abend.
Einerseits liebte ich das ehrenwerte dreidimensionale Schauspiel, vor allem aber erschien mir das ganze Geschwätz vom
synthetischen Theater, vom Untergang oder Überleben des
Herkömmlichen wie der ganze Streit über die Kunst überhaupt
als sehr unerquicklich. Lifschiz sprach aufrichtig, leidenschaftlich, fast wie ein Besessener, aber ich glaubte zu spüren, daß
alle seine Interessen, Pläne, Vorstellungen fernab, jenseits der
Grenze des Krieges lagen. Der Krieg schien ihm im wesentlichen gleichgültig zu sein. Ihn beherrschte nur der eine Gedanke, daß der Krieg so bald wie möglich beendet werde, damit er
sich wieder seinem synthetischen Theater widmen könne. Er
empfand den Krieg nicht als Unglück, er störte ihn einfach. Mit
ihm zu streiten kam mir sinnlos vor. Ich wollte nicht einmal
etwas erwidern. Darum schwieg ich, und er ließ sich noch lange über dieses Thema aus.
Als ich im Tagebuch meine zornigen Zeilen über den Intendanten Lifschiz und seine unzeitgemäßen Ansichten hinsichtlich eines synthetischen Theaters der Zukunft gelesen hatte,
verfolgte ich im Moskauer Archiv der Seekriegsflotte die Spuren dieses Mannes weiter, und was ich dort erfuhr, stand in
krassem Gegensatz zu meinen Notizen. Alexander Solomonowitsch Lifschiz leitete das Theater der Schwarzmeerflotte bis
Dezember 1945. Wer weiß, vielleicht begeisterte ihn auch damals noch der Gedanke an das synthetische Theater der Zukunft? Wenn ja, dann hinderte es ihn im Gegensatz zu meinen
ungerechtfertigten Tagebuchaufzeichnungen allerdings nicht,
an den Krieg zu denken. Der Politbericht der Asowflottille vom
Dezember 1943 erwähnt eine Operation, in deren Verlauf einige kleinere Fahrzeuge untergingen: ein Mutterschiff, ein Ponton, ein Motorboot und zwei Kutter.
„Vom 7. bis zum 10. Dezember 1943 erfüllte das Wachschiff
MO-04 einen Kampfauftrag beim Transport der Landungstruppen aus der Stadt Kertsch, Kreis Mitridat…
Am 10. Dezember dieses Jahres befand sich der Kutter zur Er-
füllung der vom Kommando gestellten Aufgabe in der Kertscher Bucht. Dabei lief der Kutter auf eine Mine.
Die Besatzung befand sich zur Zeit der Katastrophe an Deck,
mit Ausnahme des Funkers und des Regisseurs von der politischen Verwaltung der Schwarzmeerflotte, Hauptmann Lifschiz, die beide den Tod fanden, während die übrigen Personen
von unseren Booten aufgenommen wurden.
Zum Zeitpunkt der Explosion und danach gab es an Deck keine Panik. Der Kommandant des Kutters, Kapitänleutnant Stepan Michailowitsch Aximentjew, und der Stabschef der Operation, Kapitänleutnant Michail Wladimirowitsch Dementjew,
bewiesen außerordentlichen Mut und Tapferkeit…“
Als ich das gelesen hatte, schrieb ich an S. M. Aximentjew.
Hier ein Auszug aus seinem Antwortbrief:
„… kam am 9. Dezember vor der Lösung der neuen Aufgabe
Genosse Denissenko zu mir, Leiter der Politabteilung der Brigade (er ist bei Kertsch gefallen), und stellte mir Genossen A.
S. Lifschiz vor, der mich über das Anlanden von Landungstruppen zu erzählen bat. Offen gestanden, ich hatte mehr als
zwei Tage kein Auge zugetan, zudem stand die dritte schlaflose
Nacht bevor, da sagte ich: ,Genosse Lifschiz, wir sind in Eile,
und ich bin kein großer Erzähler. Kommen Sie mit zu der Operation und sehen Sie es sich an.’ Er willigte erfreut ein…“
Die ganze Geschichte hängt sicherlich direkt mit einem Problem zusammen, das damals wie heute existiert: der Künstler
und die Zeit, die er gestaltet.
Es war Krieg, und Kapitänleutnant Aximentjew hatte recht,
wenn er den Regisseur des Theaters der Flotte aufforderte, sich
das Anlanden der Truppen mit eigenen Augen anzusehen, und
der Regisseur entschied sich richtig, als er zustimmte. Alles
andere war das Werk des Zufalls – einer unglückseligen Verkettung von Umständen.
Nach meiner zweiten Begegnung mit Konteradmiral Jelissejew überquerten wir morgens um neun Uhr die Sewastopoler
Bucht zur U-Boot-Basis. Am Pier lag neben anderen Booten
auch das, das mich mitnehmen sollte, von der Größe eines
Kreuzers. Der Chef der U-Boot-Abteilung stellte mich dem
Kommandanten des Bootes, Kapitänleutnant Poljakow, und
seinem Stellvertreter, Oberleutnant Strschelnizki, vor.
Um neun kamen wir auf dem Stützpunkt an, aber erst gegen
Mittag sollten wir auslaufen. In der Zwischenzeit wurden die
letzten Vorbereitungen für den Einsatz sehr sorgfältig getroffen, denn die bevorstehende Fahrt war schwierig und weit.
„Wir fahren zu den Rumänen“, erklärte mir Strschelnizki, ohne sich in Einzelheiten zu verlieren.
Jascha brauchte zwei Stunden, um alle zu photographieren,
vom Kommandeur bis zum Schützen des Fla-MG. Ich saß inzwischen still auf der Brücke, genoß das Tageslicht und betrachtete die ungewöhnlich belebte Sewastopoler Bucht, durch
die pausenlos Kutter und größere Schiffe zogen. An diesem
Tag, daran erinnere ich mich, erschien mir Sewastopol so
schön wie nie zuvor, vielleicht darum, weil mich die bevorstehende Fahrt aufregte und mir bei dem Gedanken an das unbekannte Abenteuer nicht ganz geheuer war.
Nach drei Stunden wurden wir schließlich beide unter Deck
gebeten, eine Glocke ertönte, das Zeichen für ein baldiges Tauchen des Bootes, allerdings nur für kurze Zeit, probeweise, wie
man uns erklärte. Nach einer halben Stunde waren wir wieder
über Wasser. Bis zum endgültigen Auslaufen verblieben noch
zwanzig Minuten. Ein Kutter mit dem Chef der U-BootBrigade wurde an Bord festgemacht. Poljakow meldete die
Einsatzbereitschaft des Bootes. Der Kommandeur drückte ihm
die Hand, wünschte gute Fahrt und kletterte am Fallreep in den
Kutter zurück. Jascha folgte ihm, nachdem er mich umarmt
hatte; noch lange winkte er mir zu. In der letzten Minute hatte
er gefragt, ob er uns nicht begleiten dürfe, aber der Brigadekommandeur hatte schnell und kategorisch verneint und erklärt, schon ein Gast sei ein Mann zuviel an Bord, von zweien
könne überhaupt keine Rede sein.
Kaum war der Kutter verschwunden, da fuhren wir los. Wie
beim erstenmal, als wir an Bord des Trawlers nach Odessa
ausgelaufen waren, öffnete vor uns ein Schlepper das erste
Stahldrahtnetz, das feindlichen U-Booten die Einfahrt in die
Bucht versperrte, dann schloß er es, und erst danach öffnete er
die zweite Balken-Netz-Sperre. Bald war Sewastopol den Blikken entschwunden. In den ersten zwei Stunden meiner Fahrt
wurde mir klar, daß die U-Boot-Matrosen ihre besondere Methode hatten, einen Neuling mit der Konstruktion des Schiffs
vertraut zu machen. Obwohl wir uns auf einem großen Boot
des Typs „L“ befanden, kam es mir mit seinen unzähligen Geräten, Rohren, Kupferschläuchen, Ventilen, Hebeln sehr eng
vor. Dann die winzigen Luken, die von einem Abschnitt in den
anderen führten! Das alles machte es dem Uneingeweihten
nahezu unmöglich, sich durch das Boot zu bewegen.
Sie gebrauchten ein einfaches Verfahren, um mir meine neue
Umgebung nahezubringen. Wenn ich mit dem Kopf, der Schulter, der Nase, dem Bein oder einem anderen Körperteil irgendwo anstieß, sagte der erste beste Matrose ungerührt: „Und das,
Genosse Simonow, ist die Vorrichtung für die Bedienung des
vertikalen Tiefenruders.“ – „Und das ist der Ventilator.“ Und
als ich eine offene Luke übersah und im Gehen bis zum Gürtel
einsank, erklärte mir Strschelnizki unumwunden: „Die Akkumulatorenabteilung.“ Dann erst streckte er eine Hand aus und
half mir heraus.
Ich war in kompletter marinemäßiger Ausrüstung an Bord gegangen, in Matrosenbluse und Tuchhosen. Die Hosen behielt
ich bis zum Mittagessen an. Das Boot machte volle Fahrt, es
war unerträglich heiß, auf strengste Disziplin wurde geachtet;
aber sie betraf das Wesentliche, eine formale Disziplin gab es
während der Bewegung nicht. Fast alle versahen ihren Dienst
mit nacktem Oberkörper, in Trikothemd oder leinener Kombination. Sich mit aufgeknöpfter Jacke oder ohne Jacke oder in
Kombination in die Messe zu setzen gehörte keineswegs zum
schlechten Ton, und tatsächlich, alle Knöpfe zu schließen und
steif zu tun, hielt hier niemand aus.
Zuerst zog ich die Schuhe aus, dann die Hosen, schließlich
legte ich die Jacke ab und verbrachte den größten Teil der Zeit
in der Sporthose. Strschelnizki erteilte mir lachend den Rat,
meine Dienstgradabzeichen aufzunähen.
Auch der Tagesablauf stand Kopf. Die Nachtstunden waren
die arbeitsreichsten, das Boot ging an die Oberfläche. In diesen
Stunden wurden die Akkumulatoren aufgeladen. Auch die
Mahlzeiten wurden in anderer Reihenfolge gereicht. Die erste
gab es um sechs Uhr abends, die zweite um Mitternacht, die
letzte um sechs Uhr morgens.
Ich wollte an Bord das Leben während einer Tauchfahrt kennenlernen. Doch kaum sah ich mich am Ziel meiner Wünsche,
als ich das Ende herbeisehnte. Ich war bereit, alles mitzumachen, was von einem Menschen unter solchen Umständen verlangt wird, ich wollte alles erleben, was die anderen auf einer
Fahrt erlebten, wenn es nur nicht den Tod bedeutete und die
Zeit recht schnell verging. Einige Bücher flößen bestimmte
Furcht vor dem Los eines U-Boot-Matrosen ein. Ich habe solche Ängste nie ausgestanden. Ich glaube nicht, daß der Seemannstod im getauchten Boot, das langsame Ersticken, besonders qualvoll – der schrecklichste Tod überhaupt ist. Am
schlimmsten erscheint mir persönlich immer der einsame Tod
des Infanteristen auf dem Schlachtfeld. Hier, im Boot, spürte
ich nichts, was diesem einsamen Heldentod nahegekommen
wäre. Im Gegenteil, überall umgaben mich Menschen, die das
Gefühl der Gemeinsamkeit miteinander verband – schon deswegen, weil sie entweder gemeinsam überlebten oder gemeinsam zugrunde gingen und weil es kein anderes Oder gab. Jetzt
erst erfuhr ich von Strschelnizki, daß wir uns nicht einfach auf
Wachdienst befanden, sondern zu einer bedeutend gefahrvolleren Operation ausgelaufen waren. Wir sollten einen rumänischen Kriegshafen verminen. Wie man mir allgemeinverständlich erklärte, war das Unternehmen darum so gefährlich, weil
wir tief in die Bucht eindringen und die Minen fast vor den
Augen der Deutschen legen mußten.
Wenn ich recht verstand, war das eine jener unscheinbaren,
aber riskanten und wichtigen Aktionen, die sich mit der Tätigkeit der Pioniere vergleichen läßt, die vor den Panzern einhergehen. Als Strschelnizki die Kampfaufgabe schilderte, fand
ich, es sei im Grunde interessanter als einer der Torpedoschläge, von denen man so häufig liest, obwohl äußerlich weniger
effektiv als das Versenken irgendeines Schiffs. Außerdem
wurde mir klar, daß dieses Unternehmen vorerst als streng geheim zu betrachten war und daß ich darüber nicht in der „Krasnaja Swesda“ schreiben konnte, auch wenn die Bootsbesatzung
ihre Aufgabe hervorragend lösen sollte. Vom Standpunkt der
Redaktion aus mußte meine Fahrt nahezu sinnlos sein, falls wir
nicht unverhofftes Glück hatten und irgendein Schiff aufbrachten oder versenkten.
Ich hatte einige Bücher mitgenommen, aber ich las wenig.
Das Boot schlingerte und wiegte mich ein. Da ich in den ersten
Kriegsmonaten nie ausreichend geschlafen hatte, war ich immer müde. Mir fielen ständig die Augen zu. Ging ein Tag zur
Neige und wir tauchten auf, um die Akkumulatoren aufzuladen, so wurde die Luft dick und stickig. Es war nicht einfach
schwül, ich spürte eine Schwere in den Bewegungen, beim
Sprechen und – zumindest bildete ich mir das ein – sogar im
Denken. Alles war ungewohnt für mich. Am zweiten Tag bat
mich die Besatzung, von der Westfront zu erzählen. Zur ruhigsten Stunde während der Unterwasserfahrt versammelten sich
alle, die keinen Dienst hatten, in einem Raum. Die Matrosen
lagen oder saßen auf den hängenden Segeltuchkojen. Mir
schoben sie einen zusammenklappbaren Segeltuchhocker hin.
Aus zwei benachbarten Räumen steckten einige den Kopf herein, herüberkommen durften sie nicht, denn für den Fall eines
Gefechtsalarms war die Zahl der Personen in einem Raum vorgeschrieben.
Beim Erzählen bin ich gewöhnlich ruhig. Hier aber sprach ich
nicht wie sonst, sondern abgehackt und keuchend. Dieses
Schnaufen regte mich auf, aber je mehr ich mich aufregte, desto heftiger schnaufte ich. Überhaupt fiel mir das Reden
schwer, was ich mir anfangs nicht erklären konnte. Erst später
wurde mir bewußt, daß es mich einfach physisch anstrengte,
die Zunge zu bewegen. Die Luft wurde knapp, wir fuhren
schon zwanzig Stunden unter Wasser. Ich erzählte über die
Lage an der Westfront. Vieles überging ich natürlich, ich führte
vor allem solche Beispiele von Heldenmut an, die ich selbst
erlebt hatte und auf die wir uns in unserer journalistischen Arbeit stützten. Eine psychologisch interessante Beobachtung
machte ich dabei. Die Matrosen waren kampferfahrene Männer, die nicht nur einmal das Leben gewagt hatten, aber als ich
von anderen erzählte und andere Umstände schilderte, wollte
es meinen Zuhörern scheinen, die entscheidenden Taten wurden nicht hier und nicht von ihnen vollbracht, sondern dort, wo
jene kämpften, über die ich sprach. Sie hatten das Gefühl, abseits des wichtigsten, gefährlichsten, heldenhaftesten Kampfes
zu stehen.
Auch später, im Herbst und Winter, als mich das Schicksal
hin und her warf und ich den Soldaten der verschiedensten
Fronten erzählen mußte, was an den anderen passierte, hatten
meine Gesprächspartner nie den Eindruck, daß sich das bedeutendste und härteste Geschehen bei ihnen abspielte. Wahrscheinlich ist diese Denkweise dem russischen Menschen
überhaupt eigen.
Wenn Strschelnizki keinen Wachdienst hatte, führten wir lange Gespräche. Vor dem Krieg hatte er als Angehöriger unserer
Militärvertretung in den Vereinigten Staaten gearbeitet, und er
erzählte mir viel über dieses Land. Mit dem Kommandanten
des Bootes, Poljakow, sprach ich seltener. Während der ersten
Hälfte der Fahrt – ehe wir unsere Aufgabe erfüllt hatten und
umkehren konnten – erschien er mir schweigsam, ja sogar verschlossen. Die Rolle eines U-Boot-Kommandanten erinnert an
die Rolle eines Piloten, nur ist seine Macht größer. Der Kommandant ist auf seinem Boot allmächtig. Er allein blickt in den
entscheidenden Sekunden durchs Periskop, folglich faßt auch
er in solchen Sekunden die Entschlüsse, und häufig kann ihn
niemand beraten, selbst wenn er es wünschte. Auch in einem
Augenblick höchster nervlicher Belastung, sagen wir, wenn ein
feindliches Schiff torpediert werden soll, erblickt nur er, der
Kommandant, das Ziel, doch nicht einmal er beobachtet das
Ergebnis, das Sinken des Schiffs. Diesen Vorgang kann man
vom getauchten U-Boot aus nicht sehen, man kann ihn nur
hören, denn unmittelbar nach dem Abschießen des Torpedos
geht das Boot auf eine Tiefe, in der das Periskop nutzlos ist –
ein Manöver, das der mögliche Einsatz von Flugzeugen und
Wasserbomben in der modernen Kriegführung erforderlich
macht.
Am Ende des dritten Tages durfte ich einen Blick durchs Periskop werfen. In nächster Nähe sah ich das Ufer, felsige Berge,
ähnlich den Krimbergen, und auf den Hängen Häuschen. Das
war alles sehr klar erkennbar, aber als ich das Periskop nach
links und nach rechts drehte, sah ich immer noch das Ufer. Um
fast einhundertachtzig Grad mußte ich es drehen, dann erst
erblickte ich einen Streifen Wasser. Man erklärte mir, wir befänden uns in einem rumänischen Kriegshafen. Offenbar war
die Zeit der Lösung unserer Hauptaufgabe gekommen. Das
verriet mir die allgemeine Stimmung an Bord, die gespannte
Aufmerksamkeit der Männer.
Ich wollte keine überflüssigen Fragen stellen und niemandem
im Wege stehen, so zog ich mich auf meinen Diwan in der
Messe zurück; die Fahrt wurde beschleunigt, und das Boot
führte irgendwelche taktischen Bewegungen aus. Bald wankte
der erschöpfte Poljakow in die Kajüte, setzte sich, packte die
Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Arme. Nach einer
Weile leerte er zwei Gläser Kompott, trank ein Glas Tee, dann
knöpfte er die Jacke auf und sagte erleichtert: „Fertig, Minenlegen beendet“, und um nicht am Tisch einzuschlummern, legte
er sich schlafen.
Bykow, der Steuermann, ein junger Bursche mit rundem, rotwangigem Gesicht, saß in seiner Kabine und berechnete den
Kurs für die Rückfahrt. Ich atmete schon auf, aber Strschelnizki trat ein und sagte mir, ein unerwartet aufgefangener Funkspruch verpflichte uns, noch einen Tag vor dieser Küste zu
kreuzen. Ich muß gestehen, ich war nicht übermäßig erfreut.
Ich erinnere mich an fast jeden Tag meines Frontlebens, doch
wenn ich mir diese U-Boot-Fahrt vorstelle, sind Tage und
Nächte so miteinander verstrickt, daß sie ein untrennbares
Ganzes bilden. Ich habe gegessen, geschlafen, Informationen
über den weiteren Verlauf unserer Fahrt erhalten, und eines
Tages verfaßte ich für die „Bojewoi Listok“ einige Verse über
unser U-Boot L-4.
Als Strschelnizki keinen Wachdienst hatte, schrieb er zur Entgegnung ein Spottgedicht über mich. Ich hatte nämlich in der
Kombüse eine große Kasserolle Kaffee gebraut, dem ich nach
eigenem Rezept außer einer Menge Zucker fast eine ganze Flasche mitgebrachten Kognak zusetzte. Aus Erfahrung wußte ich,
daß schwarzer Kaffee mit Kognak munter macht. In einer der
folgenden Nächte gestattete mir Poljakow, auf die Kommandobrücke zu kommen, wo er mir die runde Scheibe des Fernschreibers zeigte, über die sich der Wachhabende zu beugen
pflegte. Das Glas war gesprungen – bei der letzten Fahrt hatte
es ein Granatsplitter getroffen. Poljakow erklärte mir jedoch
mit absolut ernster Miene, die Sprünge habe er verursacht, als
er nach dem Genuß meines Kaffees während der Wache fortgesetzt eingenickt sei. Auch darüber machte sich Strschelnizki
in seinen Versen lustig. Ein weiterer Tag verging. Ich weiß
nicht genau, wo wir uns zu dieser Zeit befanden – anscheinend
änderten wir laufend den Kurs –, aber jedenfalls auf dem offenen Meer. Es war ein klarer Morgen, eine ausgezeichnete
Sicht, das Boot zur Überwasserfahrt aufgetaucht. Plötzlich
drehte sich der Matrose, der beim Fla-MG stand, zu Poljakow
um und sagte: „Ein Schiff!“
Poljakow hob das Fernglas und sah lange hindurch. Dann befahl er schneidend: „Tauchen!“ Der Hebel des Fernschreibers
klapperte. Ich glitt an den Stangen abwärts ins Luk, und die
anderen folgten mir. Nach fünfzig Sekunden fuhr das Boot
schon unter Wasser. Ich durfte in der Kommandozentrale bleiben und stand neben dem Periskop, mit dem Poljakow förmlich
zu verschmelzen schien. Er warf die Hand an den Griff des
Geräts, in einer Bewegung wie beim Kraulen, drückte die
Schulter dagegen und drehte es bald nach links, bald nach
rechts. „Fahrt beschleunigen!“ lautete sein Kommando.
„Schneller! Schneller!“ Das Schiff blieb in Sicht, aber wie sich
bald herausstellte, kam es uns weder entgegen, noch schnitt es
unsere Bahn. Entweder hatten uns die Leute von dort bemerkt,
oder der Unbekannte steuerte rein zufällig den gleichen Kurs
wie wir. Jedenfalls strebte er schnell von uns weg und war im
Periskop immer schlechter zu sehen, denn natürlich kam er
über Wasser besser voran als wir unter Wasser. „Genosse
Kommandant“, sagte Strschelnizki hitzig zu Poljakow. „Ich bin
immerhin ehemaliger Artillerist eines Brigadeflaggschiffs. Lassen Sie auftauchen. Wir arbeiten uns näher heran und eröffnen
das Feuer.“
Poljakow nickte und gab Befehl zum Auftauchen. Als das
Boot wieder die Oberfläche gewonnen hatte und wir auf der
Kommandobrücke standen, sahen wir ringsum nur Wasser. Das
gegnerische Schiff war verschwunden. Unsere Führung kannte
lediglich den Kurs, und wir entfalteten äußerste Geschwindigkeit. Schließlich zeigte sich im Glas wieder eine Rauchfahne
am Horizont. Ich fragte Strschelnizki nach dem Abstand zwischen uns. Etwa sieben Meilen, sagte er.
Wir fuhren weiter hinter dem anderen her, kamen ihm aber
nur sehr allmählich näher. Die Verfolgungsjagd dauerte schon
rund zwei Stunden, als wir gerade anderthalb Meilen aufgeholt
hatten. „So schaffen wir ihn bis nach Rumänien nicht“, sagte
Strschelnizki. „Genosse Kommandeur, gestatten Sie zu schießen?“
„Auf die Entfernung!“ sagte Poljakow. „Wie wollen Sie da
treffen? Aber gut, versuchen wir es. Einholen ist sowieso ausgeschlossen.“
„An das Geschütz!“ befahl Strschelnizki der Bedienungsmannschaft mit klangvoller Stimme. Die Leute bezogen ihre
Plätze.
Am Horizont sahen wir jetzt nicht nur die Rauchsäule, sondern auch einen schwarzen Punkt, der sich nach oben verjüngte
– den Schiffsrumpf über dem Wasser.
Strschelnizki rechnete. Dann befahl er in besonderem, feierlichem, knabenhaft begeistertem Tonfall: „Visier vier. Auf das
feindliche Schiff – Feuer!“
Der Schuß krachte, und die Kommandobrücke war in Rauch
gehüllt. Als sich die Schwaden verzogen hatten, erblickten wir
am Horizont immer noch den qualmenden schwarzen Punkt.
Dann, etwa eine halbe Minute später, erhob sich links davon
eine Wassersäule. „Zwei rechts!“ befahl Strschelnizki. „Feuer!“
Wieder ein Schuß, wieder Pulverdampf vor der Brücke. Fünf
Sekunden, zehn, fünfzehn, dreißig, vierzig, aber am Horizont
überhaupt nichts außer dem qualmenden schwarzen Punkt. War
das Geschoß nicht detoniert?
Strschelnizki blickte verwirrt durchs Glas und befahl wütend:
„Dasselbe Visier. Feuer!“
Der dritte Schuß. Während sich der Rauch verzog, stellten wir
alle erstaunt fest, daß am Horizont nichts mehr zu sehen war,
einfach nichts, weder Qualm noch der schwarze Punkt. Es
grenzte an Hexerei. Das dritte Geschoß konnte noch nicht so
weit geflogen, konnte noch nicht detoniert sein, aber das Schiff
war verschwunden. Es verstrichen weitere Sekunden, dann
schoß im Gebiet der ersten Fontäne die der dritten Granate auf.
Jäh durchzuckte Strschelnizki ein Gedankenblitz. „Verschwinden kann so ein Schiff wirklich nicht. Also war unser
zweiter Schuß ein Volltreffer und hat eine Explosion ausgelöst,
die mit dem dritten Schuß zusammenfiel.“
Obwohl das eine gewagte Vermutung war, konnten wir doch
keine andere Erklärung finden. Freilich, nach so knappem Einschießen, auf diese Entfernung ein bewegliches Ziel mit der
zweiten Granate zu treffen, das war ein artilleristisches Phänomen, nahezu phantastisch. Aber das Verschwinden eines
Schiffs ohne Treffer wäre ein noch größeres Wunder. Wir alle
auf der Kommandobrücke waren überzeugt, daß Strschelnizki
recht hatte.
Der gewissenhafte Poljakow meinte jedoch, wir sollten es
überprüfen, und erteilte den Befehl, mit voller Kraft voraus das
Gebiet anzusteuern, wo nach unserer Auffassung einige
Schiffstrümmer auf dem Wasser treiben mußten und wo wir
vielleicht auch Überlebende fanden. Drei Viertelstunden
brauchten wir dorthin und entdeckten dort nichts, weder Menschen noch Trümmer, nichts außer einem großen Schwarm
Möwen, die über dem Wasser kreisten. Wenn unsere Granate
getroffen hatte, war eine Explosion erfolgt, die die Schiffsteile
buchstäblich in alle Winde verstreut hatte. Eine andere Deutung wollte uns nicht gelingen.
Später, als wir schon zum Stützpunkt zurückgekehrt waren,
erfuhren wir, unsere Aufklärung habe festgestellt, an diesem
Tag sei in dem betreffenden Seegebiet ein Hilfsfrachter versenkt worden, der Munition geladen hatte.
Eine Weile suchten wir das Wasser ab in der Hoffnung, einen
Anhaltspunkt dafür zu finden, daß das Schiff gesunken war,
dann befahl Poljakow, Heimatkurs zu nehmen, und wir traten
die Rückreise an. Aber die Verfolgung und die Suche nach
Überbleibseln waren ein Wagnis gewesen. Wir mußten damit
rechnen, daß die Schiffsbesatzung Zeit für einen Funkspruch
gefunden hatte.
Wir waren bereits zwanzig Minuten unterwegs, als sich der
Matrose am Fla-MG zum Kapitän umdrehte und leise sagte:
„Flugzeuge.“ Poljakow setzte schnell das Glas an die Augen
und gab Anweisung zum sofortigen Tauchen. Einer nach dem
andern glitten wir ins Luk. Das Boot flutete. Diesmal drohten
uns Wasserbomben, und wir setzten das Tauchen fort. Immer
weiter rückte der Zeiger des Tiefenmeßgeräts – fünf, zehn,
fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig Meter. Bei dreißig setzten
wir die Fahrt in geradem Kurs fort. Prinzipiell gilt es auch in
klarem Wasser als schwierig, ein U-Boot in über dreißig Metern Tiefe zu orten. Trotzdem lauschten wir angespannt, offenbar kreisten sie über uns und warteten darauf, daß wir höher
kamen, damit sie dann aufs Geratewohl ihre Wasserbomben
abladen konnten.
Alle hielten den Atem an. Selbst wenn so eine Bombe in einiger Entfernung detoniert, vermag das komprimierte Wasser der
Druckwelle ein Boot manövrierunfähig zu machen. Nach etwa
einer Viertelstunde hörten wir dumpfe Schläge. „Das sind sie“,
sagte Strschelnizki, „sie werfen Wasserbomben, aber es ist weit
weg. Wir sind ihnen wohl doch entwischt.“ Wir fuhren noch
zwei Stunden unter Wasser, dann meinte Poljakow, den Flugzeugen müßte der Treibstoff allmählich ausgehen, und er ließ
lenzen. Wir tauchten auf, es war schon Abend, bald senkte sich
die schwarze Nacht herab.
Das Ausstiegsluk, das nach außen ging, führte durch einen
kleinen am oberen Teil gelegenen Turm, aber der Schacht verlief nicht gradlinig durch zwei Abteilungen, sondern exzentrisch, nach Art einer Kurbelwelle. In der Turmkabine lagen für
die Raucher Stahlhelme bereit. Die Leute hockten darauf und
rauchten, den Himmel über sich. Man rauchte zu zweit und
jeweils höchstens drei Minuten. Die Zeit reichte gerade für ein
paar Züge, dann mußte man gehen, denn unten warteten schon
die nächsten begierig, an die Reihe zu kommen, und mehr als
zwei Leute fanden in dem Kämmerlein keinen Platz. Auch ich
kauerte dort wie die anderen. Durch das Luk betrachtete ich
den südlichen schwarzen Sternenhimmel. Dann folgte ich einer
Einladung Poljakows auf die Kommandobrücke.
Die glatte See leuchtete hier und da. Der bestirnte Himmel
war dunkler als das Meer. Strschelnizki und ich ließen die
Blicke über das Firmament schweifen. Wir fanden einen einzelnen, grünlich funkelnden Stern, die Venus. Halb im Scherz,
halb im Ernst begann ich hier auf der Brücke zu dichten. „Und
über unserm schwarzen U-Boot-Bug erstrahlte hell die Venus –
wunderlicher Stern…“ Am nächsten Morgen, als wir uns schon
unseren Ufern näherten, vollendete ich das Gedicht und brachte
es zu Papier.
Ich blieb die ganze Nacht auf der Brücke, so wohltuend war
es dort. Eine einwöchige Fahrt lag hinter mir, ich lechzte nach
frischer Luft, ich verschlang sie gierig, wie ein Mensch mit
ausgedorrter Kehle Wasser trinkt.
Die Rückfahrt dauerte lange, da wir den Kurs häufiger änderten, um Minenfeldern und anderen Gefahrenquellen auszuweichen. Sewastopol liefen wir aus Richtung Jalta an.
Es war ein eigenartiges Gefühl, die bekannte Stadt, in der ich
einen großen Teil meiner letzten drei Vorkriegs jähre verbracht
hatte, zum ersten Male vom Meer, von Bord eines U-Boots, her
zu sehen. Vor Sewastopol tuckerten uns Kutter entgegen, dann
fuhr ein anderes U-Boot an uns vorüber. Es lief aus, um eine
ähnliche Aufgabe zu erfüllen, wie wir sie gerade bewältigt hatten. Auf den Kommandobrücken standen die Signalgasten und
tauschten Grüße. „Gratulieren zur glücklichen Rückkehr“,
wurde uns signalisiert. „Wünschen gute Fahrt“, antworteten
wir.
Gegen Abend waren wir in Sewastopol. Wir legten an der
Kaimauer an, nahmen unser letztes Bordessen ein, leerten jeder
zwei Gläschen Wodka – während der Fahrt war Schnaps auf
Anordnung Poljakows durch Wein ersetzt worden –, dann ging
ich in die Stadt. Chalip war noch nicht aus Odessa zurück.
Demjanow hatte nicht wieder in Sewastopol bleiben wollen
und war auf eigenen Wunsch ebenfalls nach Odessa gefahren.
Ich ging langsam den Hafenboulevard entlang, schlief im Haus
der Flotte, auf einem harten Sofa im Dienstzimmer des Chefs.
Die Nachrichten aus Odessa waren neuerdings wieder alarmierend, und ich bangte um meine Gefährten. Allerdings kam
ich nicht viel zum Grübeln. Zwei Tage schrieb ich an dem Bericht über die U-Boot-Fahrt. Er fiel lang aus und erschien gekürzt in der „Krasnaja Swesda“ unter der Überschrift „Vor der
rumänischen Küste“. Als ich die Arbeit abgeschlossen hatte,
legte ich das Manuskript zur Begutachtung dem Flottenstab
vor. Mit dem zweiten Exemplar ging ich zum Stützpunkt. Dann
nahm ich mit Steuermann Bykow ein Bad; direkt von Bord des
U-Bootes stürzten wir uns ins tiefe schwarze Wasser. Es war
schon Abend, und die grauen Felsen, die nahe dem Ufer aus
dem Meer ragten, bildeten zusammen mit den ebenso grauen
U-Boot-Türmen ein faszinierendes Durcheinander.
Nach dem Bad las ich Poljakow und Strschelnizki meinen Bericht vor. Er schien ihnen zu gefallen. Zwei technische Fehler
waren mir unterlaufen. Ich stand schon im Begriff zu gehen, als
etwas Spaßiges geschah. Poljakow war auf Korrespondenten
nicht sonderlich gut zu sprechen. Erst nach der halben Fahrt
hatte er sich mit meiner Anwesenheit abgefunden.
Ich hatte mich also von ihm und von Strschelnizki bereits verabschiedet, da traten ein Korrespondent von der „Krasny Flot“
und einer von der „Krasny Tschernomorez“ heran und bestürmten Poljakow, ihnen ausführlich den letzten Einsatz zu
schildern. „Das läßt sich schwer erzählen, man muß es gesehen
haben“, sagte Poljakow und blinzelte mir unmerklich zu.
Nicht unbedingt, meinten die Jungs, er solle nur losschießen,
sie könnten sich schon ein Bild machen.
Poljakow ließ sich jedoch nicht erweichen. „Dann fragen Sie
lieber Simonow hier. Er hat die Fahrt mitgemacht und kann
bestimmt sehr interessant erzählen, vielleicht interessanter, als
es wirklich war. Dafür ist er Schriftsteller.“
Am folgenden Tag bekam ich vom Flottenstab meinen Bericht zurück.
Er war mit wenigen Bemerkungen versehen, und ich schickte
ihn nach Moskau.
Meine Tagebuchaufzeichnungen über die Fahrt mit der L-4
enthalten einige Ungenauigkeiten, die mir als Landratte unterlaufen waren. Irgendwo habe ich Matrosenjacke durch Matrosenbluse ersetzt, „Brüllaffe“ durch Glocke, und statt heranfahren habe ich festmachen geschrieben.
Dann gab es da noch einen Irrtum. Ich hatte die L-4 für einen
Kreuzer gehalten. Tatsächlich aber gehörte sie zwar zu einem
unserer beiden größten U-Boot-Typen, war jedoch kein UBoot-Kreuzer, sondern ein Minenleger des Typs „Leninez“;
daher auch die Bezeichnung L-4. Übrigens operierte die L-4
nicht ausschließlich als Minenleger, sie führte auch andere
Aufgaben aus.
Am 2. Oktober 1942 wurde dem Boot der Rotbannerorden
verliehen. Die vom Stab der Schwarzmeerflotte erarbeitete
Begründung des Vorschlags zur Auszeichnung vermittelt eine
Vorstellung davon, was die L-4 in der ersten Hälfte des Krieges leistete. Siebenmal verminte sie gegnerische Küsten und
Stützpunkte, wodurch fünf Transporter mit einer Wasserverdrängung von insgesamt 23 000 Bruttoregistertonnen sowie ein
Torpedoboot versenkt wurden. Zur Zeit der Kämpfe um Sewastopol unternahm das Boot sieben Fahrten, brachte 156 Tonnen
Munition, 290 Tonnen Lebensmittel, 27 Tonnen Benzin in die
belagerte Stadt und evakuierte 250 Verwundete.
Ein wenig besorgt suchte ich im Archiv der Seekriegsflotte
nach Dokumenten über unsere Fahrt. Die Operation hatte begreiflicherweise strenger Geheimhaltung unterlegen, und ich
fürchtete, Fehler gemacht zu haben, was bei meiner Unkenntnis
der näheren Umstände des Unternehmens sehr leicht möglich
gewesen wäre. Zu meinem nicht geringen Stolz gab es jedoch
kaum nennenswerte Abweichungen zwischen meinen laienhaften Aufzeichnungen und den Eintragungen des Logbuchs, das
im Archiv aufbewahrt wurde. Nur daß der Wortlaut des
Schiffstagebuchs kürzer, treffender, trockener und sicherlich
auch ein wenig bedeutsamer war. Zum Vergleich einige Auszüge aus diesem Dokument. Sie stammen vom 7. und 8. September, also dem dritten und vierten Tag unserer Fahrt.
Sonntag, 7. September 5.35 Aufladen der Akkumulatorenbatterie beendet. Sind auf 20 Meter Tiefe getaucht. 8.10 Halbtauchfahrt in Sehrohrlage, Horizont frei.
15.33 Ankunft im Einsatzgebiet zur Erfüllung der Kampf auf
gäbe. Gefechtsalarm.
16.33 Steuern Kurs zum Verlegen der Minen.
16.52 Minensperre im benannten Seegebiet errichtet. Insgesamt 20 Minen verlegt.
16.57 Haben gewendet. Verbleiben weiterhin in Position nahe
der feindlichen Küste.
20.27 Sonnenuntergang. Sind in Kreuzerlage gegangen. Torpedorohre klar zum Gefecht, Boot tauchbereit. Aufladen der
Akkumulatoren hat begonnen.
Sonntag, 8. September 2.00 Achteraus erscheinen am Ufer periodisch weiße Lichter. Kurs gewechselt, manövrieren im Positionsgebiet. 24.00 Im Tagesverlauf keine Berührung mit Seefahrzeugen oder Flugzeugen.
Wie mir der ehemalige Steuermann der L-4, Kapitän zur See
Boris Christofowitsch Bykow, erklärte, war unsere Lage deshalb so kompliziert, weil das Boot in Ufernähe manövrieren
mußte, in so geringer Tiefe, daß es buchstäblich „auf dem
Bauch“ über den Grund kroch und eine lange Schleppe
schmutzigen Kielwassers hinter sich herzog, da die Schrauben
den Schlamm aufwühlten.
Und das alles geschah vor den Augen der feindlichen Beobachtungsposten.
Dagegen ist die Frage, warum das kleine Schiff, das wir in
Überwasserlage jagten und beschossen, nach dem zweiten
Schuß spurlos verschwunden war, für mich bis heute nicht restlos geklärt. Auch die Schiffsbucheintragungen vom 9. September 1941 geben hierüber keine definitive Auskunft. Trotzdem
interessieren sie vielleicht diejenigen, die in meinem Tagebuch
die entsprechende Stelle gelesen haben.
Dienstag, 9. September
6.00 Haben das Operationsgebiet verlassen. Nehmen Kurs auf
die Basis. Fahren in Überwasserlage.
13.05 Schiffssilhouette gesichtet, Peilwinkel 35°. Gefechtsalarm! Sofortiges Tauchen!
13.07 Sind in Sehrohrlage getaucht. Haben Manöver für Torpedoangriff eingeleitet. Volle Kraft voraus.
13.36 Das gesichtete Fahrzeug ist ein zweimastiges Segelschiff.
14.19. Distanz zum Ziel vergrößert sich. Angesichts der Unmöglichkeit, Position für einen Torpedofächer zu beziehen,
wurde der Entschluß gefaßt, das Segelschiff mit Artillerie anzugreifen.
14.23 Sind in Kreuzerlage aufgetaucht. Volle Kraft mit zwei
Dieselmotoren. Artilleriealarm! Buggeschütz gefechtsbereit.
14.55. Artilleriefeuer aus extremer Entfernung.
15.10 Ziel verschwunden. Artilleriebeschuß eingestellt.
15.47 Haben Zielgebiet aufgesucht. Ohne Erfolg. Aufhebung
des Artilleriealarms.
17.23 Flugzeug, Peilwinkel 350. Sofortiges Tauchen! Gehen
auf 30 Meter Tiefe. Beginnen Manöver zum Ausweichen eines
Luftangriffs.
18.43 In Sehrohrlage aufgetaucht, Horizont und Luft frei.
Im Archiv fand ich keinen dokumentarischen Beleg für die
Angaben unserer Aufklärung, daß dieses .feindliche Schiff
versenkt wurde. Trotzdem muß die Nachricht in Sewastopol
vorgelegen haben, sonst wäre die Notiz nicht in mein Tagebuch
geraten, aber ihre Authentizität bleibt fraglich.
Einige Worte über die Menschen, mit denen mich das Schicksal damals zusammenführte.
Der Kommandant des U-Boots L-4, Kapitänleutnant Jewgeni
Petrowitsch Poljakow, fuhr bis zum Ende der Kampfhandlungen im Schwarzen Meer und wurde mit dem Leninorden, dem
Rotbannerorden, dem Orden des Vaterländischen Krieges 1.
Klasse ausgezeichnet, und im Mai 1945, als er eine U-BootAbteilung befehligte und den Dienstgrad eines Kapitäns 2.
Ranges innehatte, wurde ihm der Uschakow-Orden 2. Klasse
verliehen. 1941, zum Zeitpunkt unserer Begegnung, war Poljakow erst einunddreißigjährig.
Oberleutnant Juri Alexandrowitsch Strschelnizki, dessen Obhut ich anvertraut war, machte diese Fahrt als erster Stellvertreter mit; für ihn war es eine Bewährungsprobe, denn danach
sollte er das Kommando über ein anderes Boot übernehmen.
Die zermürbende Betreuung eines Korrespondenten war also
eine zusätzlich Verpflichtung, die er in dieser Stellung übernommen hatte.
1941 war Strschelnizki 28 Jahre alt. Fünf Jahre vor dem Krieg
hatte er die Seeoffiziershochschule beendet. Er beherrschte
zwei Fremdsprachen, Englisch und Deutsch, und das Jahr 1937
verbrachte er als Sekretär unseres Attaches der Seestreitkräfte
in den USA. Wie aus seiner Personalakte hervorgeht, war er
nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten – 1938 und
1939 – „nicht bei der Flotte“. Krankheitshalber entlassen, arbeitete er in einer Zivilbehörde als Funker. Zu seinem Glück
konnte er 1939, also kurz vor Ausbruch des Krieges, den Mili-
tärdienst wiederaufnehmen und trat im Mai 1941 in die Partei
ein.
Nachdem er vom Typ L-4 zum U-Boot des Typs „Dekabrist“
D-6 übergewechselt war, unternahm er als Kommandeur dieses
Bootes mehrere Fahrten. Übrigens war er es, der 1942 bei Koktebel Seelandungstruppen absetzte.
Im April 1942 wurde Strschelnizki im Rang eines Kapitänleutnants zum Stabschef der 1. U-Boot-Abteilung ernannt.
Die Attestationen, die sich in seiner Kaderakte befinden, charakterisieren ihn als wertvollen Menschen:
„… ein ausdauernder Matrose ohne Neigung zur Seekrankheit. Bewährt sich gut in schwieriger Lage. Besitzt Pflichtgefühl. Dienstliche. Interessen stellt er über persönliche Vorteile
und Vergnügen. Er setzt sich hohe moralische Normen, ist beharrlich und arbeitsam. Absolut gesund. Eignet sich schnell
neue Wissensgebiete an. Er hat Phantasie, ist erfinderisch, gelassen. Ausgezeichnet findet er sich in einfacher und in komplizierter Lage zurecht. Besitzt Willenskraft. Ist energisch, entschlossen, kühn…“
Die letzte Attestation stammt vom Februar 1942. Zum Schluß
– unerwartet wie eine verirrte Kugel – ein einzelner Satz in der
Personalakte: „Am 12. Mai 1943 nach einer Operation verstorben und von den Listen der Flotte gestrichen.“
Meine Versuche, seine Krankheitsgeschichte aufzuspüren,
führten zu keinem Erfolg. Was hätte es auch geändert? Ich
wollte es deshalb herausbekommen, weil sein Tod überraschend kam und für Kriegszeiten unsinnig war. Es ist so
schwer vorstellbar, daß neben den vielen Menschen, die im
Krieg eines gewaltsamen Todes starben, dann und wann auch
jemand von einem Schicksal ereilt wurde, das völlig abwegig
zu sein schien – Tod infolge Krankheit, infolge einer mißlungenen Operation, kurz, woran in Friedenszeiten die meisten
Menschen sterben.
Ich saß schon den dritten Tag in Sewastopol, als Chalip und
Demjanow endlich aus Odessa zurückkehrten. Jascha übertraf
sich selbst, er brachte außer den Photos einen vollen Notizblock mit – Material für einen oder zwei Berichte, so daß ich
die Zeitung trotz meiner U-Boot-Fahrt über die jüngsten Ereignisse in Odessa auf dem laufenden halten konnte.
Auch eine für mich unangenehme Neuigkeit hatte er aus
Odessa mitgebracht. Bald nach dem Erscheinen meiner Arbeit
„Alles für den Schutz Odessas“ in der „Krasnaja Swesda“
bombardierten die Deutschen verstärkt mehrere Betriebe der
Stadt. Nun hatte ich zwar geschildert, wie die Bewohner eigenhändig Panzer reparierten, und die „Iswestija“ hatte berichtet,
daß im Ort Granatwerfer und Granaten hergestellt wurden, aber
es war ein zufälliges Zusammentreffen. Zu diesem Ergebnis
gelangte ich nach gründlichem Überlegen. Weder in meinem
noch in dem anderen Artikel gab es eine genaue Ortsbestimmung. Natürlich suchten sich die Deutschen als erste Ziele für
ihre schweren Bombenangriffe mit Vorliebe Industriebetriebe
aus, das sagte einem der gesunde Menschenverstand, und für
den Artikel trug ich schon darum keine moralische Verantwortung, weil mich ein Mitglied, des Kriegsrats ja eigens deshalb
in die Panzerreparaturwerkstatt geschickt hatte. Doch in der
gespannten, gereizten Atmosphäre der Belagerung sah sich das
wohl anders an. Wie Jascha erzählte, zürnte mir auch die politische Abteilung der Armee, mir und Wilenski, dem Korrespondenten der „Iswestija“. Dort könne man, so sagte er, unsere
Namen schon nicht mehr hören. Ich fand es bedrückend, daß
gewisse Leute – wenngleich zu Unrecht und erstmalig seit Beginn des Krieges – meine Arbeit verwünschten.
Am Morgen fuhren wir nach Simferopol. Ich brauchte den
ganzen Tag, um Chalips Aufzeichnungen zu sichten und daraus
zwei kleine Berichte aus Odessa zusammenzustellen. Der eine
wurde nie gedruckt, der zweite – „Eine Batterie bei Odessa“ –
erschien in der „Krasnaja Swesda“, unterzeichnet von Chalip
und von mir. Er befaßte sich unter anderem mit Major Dennenburg, Kommandeur einer Küstenbatterie, der seit dem ersten Kriegstag nichts über seine Familie gehört hatte. Sie war
in Nikolajew geblieben, und ich ließ einige Worte des Majors
einfließen, die er an seine Frau Taissia Fjodorowna und an den
Sohn Alexander richtete. Das war als Nachricht gedacht. Falls
die Familie rechtzeitig evakuiert worden war, sollte sie in der
Zeitung lesen, daß der Major am Leben und wohlauf war. Damals wandte ich dieses Verfahren zum erstenmal an, später
gebrauchte ich es öfter, um den Helden meiner Berichte auf
diesem Weg zu helfen, den bei Kriegsbeginn verlorenen Kontakt mit ihren Familien wiederherzustellen. Major A. I, Dennenburg, über den wir geschrieben hatten, erlebte den Frieden,
ebenso seine Frau und sein Sohn, deren Schicksal er damals
nicht kannte.
An der Stelle, wo einst eine Batterie seiner Division gestanden hatte, befindet sich heute eine Gedenkstätte, das Museum
der Verteidigung Odessas, in dem der Ereignisse des Jahres
1941 überzeugend gedacht wird.
„Während des Rückzugs deckte die 42. Abteilung der Küstenartillerie, deren Kommandeur ich war, die zurückgehenden
Truppen. Die Batterien feuerten am 16. Oktober bis 3.30 Uhr,
das heißt bis der letzte Soldat Odessa verlassen hatte und die
Schiffe mit den Truppen ausgelaufen waren. Dann sprengten
wir batterieweise die materiellen Mittel und setzten uns im
Morgengrauen mittels verschiedener Fahrzeuge – Seiner,
Schleppdampfer, Kampfschiffe – nach Sewastopol ab. Sie
können sich vorstellen, wie schwer es war, die Geschütze zu
vernichten, die so zuverlässig und beständig der gesamten Verteidigung gedient hatten. Aber so lautete der Befehl…“
Das schrieb mir jetzt Dennenburg, Oberst der Küstenartillerie
im Ruhestand, über jene – sicher die schwerste – Stunde seines
Soldatenlebens.
Am nächsten Morgen begab ich mich zu Korpskommissar
Andrej Semjonowitsch Nikolajew, Mitglied des Kriegsrats der
51. Armee. Nikolajew war klein, stämmig, ich würde sogar
sagen vierschrötig, dem Aussehen nach vierzig bis fünfundvierzig. Als er hörte, Ortenberg schicke mich, nahm er mich
erfreut auf und erzählte mir, er kenne Ortenberg gut, sie hätten
zusammen an den Kämpfen in Finnland teilgenommen. Ich
sagte ihm, ich müsse mit Ortenberg sprechen, könne ihn jedoch
nicht erreichen. Er versprach, sich mit der „Krasnaja Swesda“
verbinden zu lassen und mir Bescheid zu geben.
Kaum war ich gegangen, als ich zurückgerufen wurde. Nikolajew telephonierte bereits mit Ortenberg. Ihre Unterhaltung
bestand aus freudigen Ausrufen und schien im übrigen darauf
hinauszulaufen, daß ich bis auf weiteres bei Nikolajew in der
Armee bleiben solle. Ortenberg schien einverstanden zu sein.
Dann nahm ich den Hörer entgegen. Ortenberg schrie aus großer Ferne. Ich täte gut daran, mich Nikolajew eng anzuschließen und mich abwechselnd auf der Krim und in Odessa aufzuhalten. „Aber sei vorsichtig, wenn du mit Nikolajew unterwegs
bist!“ riet er mir brüllend. „Sonst bringt er dich ins Grab, vergiß das nicht.“
Nach diesem Telephongespräch betrachtete mich Nikolajew
vorbehaltlos als seinen Mann und verhieß mir, daß wir zusammen die ganze Gegend abfahren würden. „Wir richten Sie
häuslich ein, stellen Ihnen einen Apparat zur Verfügung, damit
wir in Verbindung bleiben, und Sie begleiten mich.“
Er schien den Eindruck zu haben, ich sei für immer zu ihm
abkommandiert. Nun, er war zwar mit Ortenberg zusammen an
der Front gewesen, seinen unruhigen Charakter jedoch hatte er
kaum richtig kennengelernt.
Ich erkundigte mich bei Nikolajew nach der Lage auf der
Krim. Einstweilen sei es ruhig, sagte er, aber die Deutschen
ständen beinah überall, von Genitschesk bis Perekop, sie seien
massiert an unsere befestigten Stellungen herangerückt, man
könne täglich mit Zusammenstößen rechnen. Das war eine Hiobsbotschaft für mich. Daß unsere Front am Dnepr seit dem 4.
des Monats bei Kachowka durchbrochen worden war, wußte
ich schon, doch hatte ich nicht erwartet, daß die Deutschen so
schnell und direkt auf Perekop vorstoßen würden. Uns Kriegsberichterstattern erwuchsen aus dieser Situation zusätzliche
Schwierigkeiten. Nach den Berichten des Seeinformbüros hatten die Deutschen Cherson noch nicht genommen, auch von
einem Überschreiten des Dnepr war nicht die Rede, aber wir
mußten über kurz oder lang von den Kämpfen um die Zufahrtswege zur Krim schreiben. Wie. das blieb mir ein Rätsel.
Nikolajew sagte im Brustton der Überzeugung, er habe Befehl, die Krim unter allen Umständen zu halten, ein Rückzug
wäre nur über seine Leiche möglich. Dessenungeachtet wurde
die Krim aufgegeben, und Nikolajew blieb am Leben. Daraus
kann man ihm schwerlich einen Vorwurf machen. Daß dieser
Mann nicht gefallen ist, ist nach meiner Auffassung ein wahres
Wunder.
Zum Schluß der Unterhaltung erklärte mir Nikolajew, er werde am nächsten Tag die Stellungen besichtigen und mich mitnehmen. Gegen Abend wurde uns eine Leerwohnung zugewiesen. Sie war groß, und wir wußten nicht, wie wir uns dort einrichten sollten, aber nachdem wir die irgendwo beschafften
Bettgestelle mit Laken bedeckt und statt Stühle zwei Koffer an
den Tisch gerückt hatten, fühlten wir uns trotzdem wie zu Hau-
se; ich kam mit Chalip überein, daß ich am nächsten Tag bei
Nikolajew blieb, während er nach Sewastopol reiste, um militärische Objekte aufzunehmen. Am Morgen begleitete ich Nikolajew über Dshankoi zur Halbinsel Tschongar. Wir waren zu
viert: Nikolajew, sein Adjutant Melechow – er war erst zweiundzwanzig und sah aus wie ein Junge –, der Fahrer und ich.
Gegen Mittag langten wir beim Divisionsstab an. Der Stab
war auf einer völlig ungedeckten Fläche untergebracht, alles
tief eingegraben, als Luftschutzmaßnahme gut gemacht, aber
bei dem Gedanken, an dieser Stelle müßten eventuell auch Angriffe der feindlichen Landstreitkräfte abgeschlagen werden,
überkam mich beim Anblick der Verteidigungsanlagen rund
um den Divisionsstab gelindes Grausen. Offenbar rechnete
niemand mit einem Durchbruch der Deutschen bis zur Halbinsel Tschongar. Doch das war nur mein persönlicher Eindruck.
Im Divisionsstab begrüßte uns Generalmajor Sawinow, ein
Mann, dessen Gesicht sich schwer einprägt, obwohl man es
vielleicht als hübsch bezeichnen könnte. Mir scharwenzelte er
unnötig viel um Nikolajew herum. Auf die Frage, wie es in der
Division aussehe, antwortete er, die Deutschen seien zur Station Salkowo vorgedrungen und hätten sie besetzt; von dem Regiment, das in dem Gebiet gelegen habe, sei ein Bataillon jenseits der Station geblieben. Es habe sich nicht rechtzeitig absetzen können, aber für den Abend sei eine Operation vorgesehen;
wir würden von hier, von der Landenge her, angreifen, um den
Abgeschnittenen drüben Gelegenheit zu geben, nach dieser
Seite durchzubrechen.
Nikolajew fragte nach dem Divisionskommissar. Er sei nach
vorn zum Regiment gefahren, antwortete der General. Nikolajew verabschiedete sich von Sawinow, und wir fuhren gleichfalls zum Regiment. Unterwegs machten wir bei einem riesigen
Heuhaufen eine Rauchpause. Über der Steppe brummten deut-
sche Aufklärer, und von allen Seiten wurden sie aus Gewehren
und Maschinengewehren beschossen.
Melechow öffnete ein Köfferchen mit Proviant. Der Fahrer,
etwa vierzig Jahre alt, war verheiratet und erst kürzlich eingezogen; er war ein erstklassiger Chauffeur, dem Adjutanten
schien er nicht gewogen zu sein. Melechow, der im Grunde
seines Wesens ein herzensguter Kerl war, stichelte fortgesetzt,
statt auf seine Autorität zu pochen. Nikolajew hatte sich abseits
niedergelassen und hörte stirnrunzelnd zu. Plötzlich warf Melechow dem Fahrer eine faustdicke Beleidigung an den Kopf.
Der Fahrer fletschte die Zähne und empörte sich so, daß seine
Lippen bebten. Ich blickte Nikolajew an, neugierig auf seine
Reaktion.
„Ja also, stärken wir uns“, sagte Nikolajew. Der Fahrer trat
zur Seite.
„Und Sie?“ fragte Nikolajew. „Kommen Sie, essen.“
„Nein, danke“, entgegnete der Fahrer, der mühsam die Tränen
der Entrüstung zurückhielt. „Ich möchte nicht – ich kann
nicht.“
„Warum können Sie mit mir nicht essen?“
„Mit Ihnen schon – mit ihm will ich nicht.“ Der Fahrer zeigte
auf den Adjutanten.
„Hier bin ich der Hausherr“, sagte Nikolajew. „Und wenn ich
Sie einlade, müssen Sie schon zulangen.“
Das war einfach und herzlich gesagt. Kein Befehl, er sprach
nicht als Vorgesetzter zum Unterstellten, sondern von Mann zu
Mann, um zu verstehen zu geben, daß für ihn alle Menschen
gleich und Brüder waren. Es konnte ihm nicht egal sein, ob der
Fahrer aß oder nicht. Hätte der andere trotzdem abgelehnt, so
wäre es beleidigend gewesen, nicht für den Vorgesetzten – für
den Menschen.
Nach dem Imbiß fuhren wir weiter. Ohne im Regimentsstab
vorzusprechen, suchten wir die vordere Linie auf.
Die Lehmhütten eines Dörfchens waren von seinen Bewohnern verlassen. Davor zogen sich doppelreihige Höckersperren
hin, Stacheldrahtverhaue und Panzergräben. Dann folgten Minenfelder. Links und rechts reichte der Siwasch – das Faule
Meer – an die Landzunge heran. Ein Eisenbahndamm verlief
sich in der Ferne. Zwischen ihm und dem Wasser erstreckte
sich nach beiden Seiten eine etwa einen Kilometer breite Fläche, die von Gräben und anderen Sperren blockiert war. Der
einzige unverminte Streifen, das Gebiet, das für den bevorstehenden Angriff zur Verfügung stand, war der Bahndamm und
das unmittelbar angrenzende Gelände, dreißig bis vierzig Meter. Etwa zweieinhalb Kilometer vor uns erblickten wir die
Station Salkowo und einen hohen weißen Getreidespeicher.
Gut zu sehen war ein Zug, der auf der Station stand – Tiefladewagen mit Lkws. Um achtzehn Uhr sollte der Angriff gegen
Salkowo vorgetragen werden. Doch zu dieser Zeit gab es keinerlei Anzeichen für den Beginn der Operation. Auch um achtzehn Uhr dreißig und um neunzehn Uhr blieb alles ruhig. Wir
legten uns beim letzten Häuschen am Dorfrand ins Gras. Ich
probierte den Photoapparat aus, den ich mitgebracht hatte, und
machte einige Aufnahmen, pirschte mich zu den Höckersperren
und zum Drahtverhau vor und knipste aus verschiedenen Perspektiven.
Viertel nach sieben begann hinter uns die Artilleriekanonade,
und gleich darauf wurden vorn – über Salkowo – Erdbatzen
emporgeschleudert. Im Feuerschein der Explosionen sah man
durchs Glas eine Fahrzeugkolonne auf der Straße, die von Salkowo ins rückwärtige Gebiet der Deutschen führte. Die Wagen
hielten, Menschen sprangen ab. Unsere Artillerie schoß weiter.
Der beste Orientierungspunkt war der Turm des Speichers, in
seiner Nähe gingen besonders viel Granaten nieder. Schließlich
traf eine genau das Ziel, der Turm fing Feuer, dann erhielt er
einen zweiten Volltreffer und stürzte zusammen. Nachdem
links von uns der Artilleriebeschuß eingesetzt hatte, huschten
wie Schattenbilder Gestalten den Bahndamm entlang. Eine größere Zahl von Menschen lief in Schützenketten, sicherlich war
es das Bataillon, das Salkowo angreifen sollte.
Es wurde schnell dunkel. Nikolajew schimpfte, weil sich der
Beginn des Angriffs verzögert hatte, weil man gänzlich unerfahrene Soldaten in ein Nachtgefecht schickte. Ich glaubte, er
würde alles abblasen, denn dazu war er ermächtigt. Doch er
schulterte den Karabiner, nickte mir und Melechow zu und
sagte: „Sehen wir uns also an, wie sich das Bataillon dort
schlägt. Es ist die Feuertaufe, aber gleich kommt die Nacht,
was soll da werden.“
Wir bewegten uns auf den Damm zu. Als wir ihn erreichten,
war es fast dunkel. Ein Teil des Bataillons zog vor uns her, der
Rest folgte. Aus Richtung Salkowo belferten deutsche Maschinenengewehre los. Leuchtspurgeschosse durchfurchten das
Dunkel. Noch nie hatte ich ihren Flug und überhaupt das ganze
abendliche Feuerwerk so nah vor mir gesehen. Die Hauptschwierigkeit bereitete uns der schmale freie Geländestreifen,
der kaum gestattete, sich zum Angriff auf Salkowo zu entfalten. Zu beiden Seiten Minenfelder und andere Hindernisse.
Gewiß, beiderseits des Bahndamms klafften tiefe Gräben, die
zuverlässigen Schutz boten, aber leider war auch hier vorsorglich ein Sperrsystem angelegt worden, das ein Vordringen des
Gegners verhindern sollte. Drahtverhaue, spanische Reiter,
Höckersperren zogen sich bald von links, bald von rechts durch
den Graben und riegelten ihn bis zum Damm hin ab. An diesen
Stellen – in meinem Grabenabschnitt gab es deren vier – mußte
man den Graben verlassen, den Wall erklimmen, in den gegenüberliegenden Graben springen und ihm bis zur nächsten
Sperre folgen, wo sich das gleiche Manöver nach der anderen
Seite hin wiederholte.
Nach etwa einem halben Kilometer machten wir halt und
nahmen im Graben Deckung. Die Kompanie, die hinter uns
vorging, holte uns ein. Jetzt war es fast völlig dunkel, die
Leuchtspurgeschosse flogen dicht über die Köpfe hinweg, unsere Artillerie donnerte, vor uns heulte und krachte es pausenlos. Die Leute rückten weiter vor, tiefer gebückt als nötig, aber
gut und zügig, ohne sich unnütz hinzuwerfen. Sanitätsinstrukteurinnen begleiteten die Männer. Eine sehe ich noch heute
deutlich vor Augen, ein großes Mädchen, das Koppel straff um
die schmale Taille gegürtet, die Tasche über die Schulter gehängt. Aufrecht schreitet sie vor den gebeugten Sanitäterinnen
her, und mir scheint, daß sie die anderen anführt – vielleicht
auch die ganze Kompanie.
Wir begegneten dem Divisionskommissar. Nikolajew fragte
ihn, ob er zum Divisionskommandeur und dem Stab Verbindung habe und wie er die Lage beurteile. Der Kommissar erwiderte, eine Verbindungsstelle befinde sich dreihundert Meter
weiter hinten. Nikolajew befahl ihm, sich an den Divisionsstab
zu wenden und dem Divisionskommandeur oder dem Stabschef zu übermitteln, daß er es für unangebracht halte, wegen
des verzögerten Angriffsbeginns Menschen ohne Kampferfahrung jetzt in ein Nachtgefecht zu schicken. Der Kommissar
entfernte sich, um den Befehl auszuführen. Sein Gang war
merkwürdig unsicher, er lief wie betrunken und torkelte. „Was
hat er?“ fragte Nikolajew und blickte dem schwankenden
Kommissar nach.
Ein Stabsoffizier, der uns begleitete, antwortete, der Kommissar sei krank, er leide an Nachtblindheit und könne im Dunkeln
nichts sehen, wolle das aber nicht zugeben und werde zornig,
wenn jemand das Gespräch darauf bringe.
„Ich folge ihm unauffällig, damit er nicht abkommt“, sagte
der Offizier.
Einige Minuten lang lagen wir dort und beobachteten, wie die
Leute die Böschung hochkletterten und den Damm überquerten. „Na dann weiter“, sagte Nikolajew.
Wir krochen ebenfalls auf die andere Seite. Die Leute in unserer Nähe waren nervös und aufgeregt. Nikolajew hatte aber
eine besondere Art, von ihm ging etwas ungemein Beruhigendes aus. Erst später wurde mir bewußt, daß wir uns an jenem
Abend in einer gefährlichen Lage befunden hatten. Zunächst
fühlte ich mich völlig sicher, denn Nikolajew verhielt sich so,
als ob alles selbstverständlich sei, und das flößte mir Zuversicht ein.
Wir wechselten also zur anderen Seite des Bahndamms über.
Es schrie jemand auf, der getroffen war. Und wieder liefen wir
durch den Graben, vorüber an Tragen mit Verwundeten. Dann
stießen wir auf die ersten Toten. Erneut mußten wir den Graben wechseln. Die Deutschen hatten die dahinhuschenden Gestalten gesehen. Kaum waren wir im Sprung drüben angelangt,
als die rote Schnur eines Feuerstoßes über den Damm fegte.
Wir setzten unseren Weg im rechten Graben fort, stießen auf
stählerne Sperren und mußten nach links kriechen, um weiter
voranzukommen.
Bald standen wir dem Chef der vordersten Kompanie und
dem Bataillonskommandeur gegenüber. Jetzt war es stockfinster. Wir wußten nicht so recht, wie weit wir es noch nach Salkowo hatten, aber ich verfolgte die Spuren der deutschen Maschinengewehrgarben und fand, daß es bis zu den ersten Häusern der Station kaum mehr als dreihundert Meter sein konnten.
Aus diesen Häusern und der ganzen Umgebung empfing uns
vernichtendes MG- und MPi-Feuer. Bald schossen auch Granatwerfer, allerdings nicht auf uns, sondern auf weiter zurück-
liegende Ziele. Die Deutschen schienen wahrhaftig einen Angriff auf die Station durch verborgene Lücken im Sperrsystem
zu befürchten.
Ich merkte, die Leute um uns waren kampfunerprobt, völlig
unerfahren. Sie wußten nicht, was sie tun, wie sie sich verhalten sollten, obwohl sie grundsätzlich bereit waren, jeden, aber
auch jeden Befehl auszuführen.
Wären wir weiter vorgerückt, hätten wir die Existenz des ganzen Bataillons aufs Spiel gesetzt, ohne in dieser finsteren Nacht
eine reale Aussicht zu haben, jenes andere Bataillon herauszuhauen. Es war irgendwo hinter den deutschen Stellungen geblieben, und da es keinerlei Nachrichtenverbindungen gab,
wußten wir nichts darüber. Salkowo lag jenseits unseres Verteidigungssystems auf der Landenge Tschongar.
Ich spürte, daß Nikolajew die Situation sehr wohl einzuschätzen wußte, eine Entscheidung jedoch scheute. Wie mir dann
sein weiteres Verhalten zeigte, wollte er nur nach Möglichkeit
nicht in die Entscheidungen des Kommandostabes eingreifen.
So entsprach es seinen Prinzipien und ethischen Auffassungen
als Kommissar. Dabei war er aus hartem Holz geschnitzt.
Wenn es heiß herging und er meinte, daß es schlecht um die
Soldaten stand, daß sie etwas nicht begriffen oder Angst hatten,
folgte er dem einfachen Grundsatz, dort zu sein, wo die dickste
Luft herrschte, bei den Soldaten zu liegen oder mit ihnen vorzugehen. Diese Regel war ihm vor allem Richtschnur für das
eigene Handeln, aber sie galt ihm auch für die Kommandeure,
die ihre Kämpfer in Schwierigkeiten brachten, denn er stand
auf dem Standpunkt, wenn ein Kommandeur Unsinniges verlangte oder ungerechtfertigte Befehle erteilte, sei er am besten
zu kurieren, indem man ihn den gleichen Bedingungen aussetzte, die er seinen Leuten zumutete. Wir kauerten mit dem Bataillonskommandeur und dem Kompaniechef bei einigen Stahl-
höckern. Der Bataillonskommandeur schilderte Nikolajew die
Lage, obwohl er nach meiner Meinung völlig im dunkeln tappte und weder wußte, was vorging, noch, wer sich wo befand. Er
sprach jedoch gewichtig und mit feierlicher Betonung, als er
erklärte, die Kompanie soundso entfalte sich da und dort, dieser oder jener Zug umgehe den Gegner von links und der und
der umgehe ihn von rechts und so weiter und so fort. Klar war
höchstens eins. In dieser Finsternis konnten alle vorher festgelegten Umgehungsmanöver damit enden, daß sich unsere Leute
gegenseitig beschossen, während der Feind ungeschoren blieb.
Nikolajew saß neben dem Bataillonskommandeur. Er wollte
offensichtlich Zeit gewinnen. Jeden Augenblick konnte der
Divisionskommandeur befehlen, den verspätet begonnenen
Angriff einzustellen. Mir schien, wenn dieser Befehl nicht bald
eintraf, würde er das Unternehmen von sich aus abbrechen lassen.
Nach einigen Minuten kam tatsächlich ein Stabsoffizier und
überbrachte den erwarteten Befehl zum Rückzug. Dieser Mann
war so lange unter Beschuß gelaufen, daß er auch jetzt, im
Graben bei den Stahlhöckern, wo alle ruhig saßen oder standen, gebeugt verharrte. Nikolajew drehte sich um und ging
zurück. Für ihn gab es hier nichts mehr zu tun.
Der Gefechtslärm flaute ab. Die Deutschen schossen seltener.
Nur hier und da hämmerte ein Maschinengewehr. Um Zeit zu
sparen und den Graben nicht wechseln zu müssen, wählte Nikolajew den Rückweg über die Schwellen. Wohl oder übel
folgte ich ihm. Nach einem halben Kilometer holten wir eine
Gruppe ein. Vier Soldaten trugen in einem Mantel einen gefallenen Leutnant. Diese vier schwarzen Gestalten, die ihren toten
Kommandeur über den Bahndamm schleppten, erinnerten mich
an Dowshenkos „Stschors“.
Wir erreichten das Dörfchen, bestiegen den Wagen und fuh-
ren zum Regimentsstab, dem wir bei der Herfahrt keinen Besuch abgestattet hatten. Nikolajew tat, als sei er soeben eingetroffen und noch nicht vorn gewesen. Der Regimentskommandeur meldete ihm, der Angriff auf Salkowo sei in vollem Gange. Anscheinend hatte der Divisionskommandeur den Rückzugsbefehl direkt an das Bataillon erteilt und das Regiment
übergangen, und der Regimentskommandeur war nicht dazu
gekommen, sich mit dem Bataillon zu verbinden. Da er sich
auch nicht persönlich vom Verlauf des Kampfes überzeugt
hatte, war er nicht auf dem laufenden und meldete dem Vorgesetzten einen Stand, der laut Operationsplan eigentlich hätte
erreicht sein müssen.
Nikolajew sah ihn aufmerksam an und sagte ruhig, in seinem
– ich glaube, endlich habe ich den passenden Ausdruck gefunden – wehmütig spöttischen Tonfall, er sei gerade bei Salkowo
gewesen, die Darstellung des Regimentskommandeurs entspreche durchaus nicht den Tatsachen; wenn sich ein Regimentskommandeur ein Bild von den Vorgängen machen wolle, müsse er sich gefälligst an Ort und Stelle bemühen, statt hinten
herumzusitzen.
Den Divisionsstab erreichten wir erst nach Mitternacht. Hier
empfing uns General Sawinow. Er gab zu, daß der Angriff
nicht rechtzeitig begonnen hatte, daß er auf Grund der Verspätung im feindlichen Feuer liegengeblieben war, daß sie sich
jetzt zurückzogen – aber aus seinem Munde klang das alles so
selbstverständlich, als hätte es seine Ordnung und könne gar
nicht anders sein. Dafür bewies er ein großartiges Organisationstalent, als er Nikolajew zu seinem Nachtquartier ins Dorf
brachte.
Nikolajew speiste ohne Appetit, stirnrunzelnd. Ich glaube, er
hatte nur den einen Wunsch, so schnell wie möglich ins Bett zu
kommen, um keine Minute länger als nötig mit dem ihm un-
sympathischen Menschen reden zu müssen. Nachdem er hastig
gegessen hatte, fragte er Sawinow, wie es auf der Arabatsker
Landzunge stände. Die Antwort lautete, unlängst kursierten
Gerüchte, dort seien Deutsche aufgetaucht, doch nach den vorliegenden Informationen entbehrten solche Behauptungen jeder
Grundlage, obwohl das letzte Wort darüber nicht gesprochen
sei.
Wir schliefen einige Stunden in einer Hütte, und am Morgen
wiederholte Sawinow seine Beteuerung, daß auf der Arabatsker
Landzunge alles in Ordnung sei. Die Gerüchte vom Auftauchen der Deutschen hätten sich erneut als falsch erwiesen. Eine
Gruppe von Mitarbeitern der Politabteilung der Armee sei dort
gewesen, und er habe einen Oberst hingeschickt, den Kommandeur des an der rechten Flanke liegenden Regiments. Ein
Bataillon dieses Regiments stehe direkt auf der Landzunge,
und es gebe überhaupt keinen Grund zur Beunruhigung.
Nikolajew erteilte dem Divisionskommandeur den Rat, in
Richtung Salkowo zum Regiment zu fahren, um sich persönlich von der Lage zu überzeugen.
„Und Sie?“ fragte Sawinow.
„Und ich? Da bei Ihnen alles in Ordnung ist, nehme ich mir
die Arabatsker Landzunge vor, um mir Ihre Ordnung einmal
anzusehen.“ Er sagte das mit einem Anflug von Ironie, der mir
am vorangegangenen Tag schon aufgefallen war und mit dem
er zum Ausdruck brachte, daß er keinen Heller dafür gab, was
man ihm berichtete.
Eine Viertelstunde später starteten wir, und nachdem wir wie
der Teufel gefahren waren und den Wagen zweimal dem Salzschlick entrissen hatten, erreichten wir die Übersetzstelle. Von
hier verkehrten Segel- und Motorboote nach der Landzunge,
bis dorthin waren es sieben Kilometer. Bei unserer Ankunft
wurde gerade eine Kompanie übergesetzt. Das Wasser war
schon recht kalt, und Fischer aus Genitschesk, die kürzlich
evakuiert worden waren, standen bis zum Gürtel im Wasser
und vertäuten die Boote am Ufer. Ein bejahrter Oberst – mit
Namen Kiladse – leitete das Verladen der Kompanie. Als Nikolajew auftauchte, zog Kiladse den Bauch ein, reckte sich und
meldete keuchend und aufgeregt – warum er so außer Atem
war, erfuhr ich erst später –, was Sawinow schon berichtet hatte. Auf der Arabatsker Landzunge sei alles in Ordnung. Zwei
Kompanien würden gerade übergesetzt; er selber fahre ebenfalls hin. „Und stimmt es, daß gestern Deutsche übergesetzt
sind?“ fragte Nikolajew.
Aber nein, sagte der Oberst, dort sei alles befestigt, diese Behauptung sei einfach nicht wahr.
„Und warum werfen Sie dann noch zwei Kompanien hinüber
und fahren selber hin?“
„Ich fahre, um alles abzusichern“, antwortete der Oberst.
„Aber dort ist doch alles sicher“, wandte Nikolajew ein. „Ja,
ich möchte mich nur vergewissern.“
Nikolajew lachte zornig und ungläubig auf und verlangte,
übergesetzt zu werden. Wir ließen den Wagen stehen und bestiegen ein Motorboot. Der Oberst begleitete uns. Vierzig Minuten später betraten wir das andere Ufer, das so kahl wie unseres war.
An der Anlegestelle sonnten sich die Soldaten einer Granatwerferabteilung. Ein wenig abseits stand ein Zug. Ein zutiefst
friedliches Bild, dem die Fischer, die uns übergesetzt hatten,
einen noch friedlicheren Anstrich verliehen. Es waren kernige
junge Leute mit nassen Hosenbeinen, die sie bis zu den Knien
aufgekrempelt hatten. Beobachtete man sie und hörte ihren
Gesprächen zu, so hätte man meinen können, sich auf einem
Fischfang zu befinden, und es erschien einem unfaßbar, daß
diese Männer drei Tage zuvor mit ihren Booten aus der Hei-
matstadt geflüchtet waren, Frau und Kind verlassen hatten, als
die Deutschen nach Genitschesk unerwartet durchgebrochen
waren. An dieser Stelle ist die Arabatsker Landzunge sehr
schmal, nicht mehr als anderthalb, stellenweise zwei Kilometer
breit, mit einem großen Vorsprung, der sich sieben bis acht
Kilometer nach Westen erstreckt, in Richtung der Halbinsel
Tschongar. Zu dem Vorsprung waren wir übergesetzt. Wenn
wir jetzt ans Ende der Landzunge gelangen wollten, dorthin,
von wo nach Genitschesk übergesetzt wurde, mußten wir zwölf
bis dreizehn Kilometer zurücklegen. Zunächst gingen wir zu
Fuß, aber nach zwei Kilometern kam ein Lastwagen, und wir
stiegen auf. Der Lkw, der uns um ein Haar überrollt hätte und
hart von uns bremste, wurde von einem Mädchen in ausgebleichtem blauem Kleid und weißem Dreiecktuch gefahren.
Es war noch früh am Tage, doch schon recht heiß und trokken. Unbarmherzig sengte die Sonne. Vollendete Stille lag über
der Arabatsker Landzunge. Kein Schuß, kein Laut, absolute
Ruhe weit und breit. Am Weg ein Anwesen, das aus drei
Lehmhäuschen bestand. Rechts sollten noch einige Dörfer folgen, aber zu sehen war nichts. Nach fünf Kilometern ging der
Vorsprung in die eigentliche Nehrung über, wo wir den Bataillonsgefechtsstand entdeckten. Dort bot sich uns ein unerwarteter, haarsträubender Anblick, den ich wahrscheinlich mein
Lebtag nicht vergessen werde.
Erstens erfuhren wir zu Nikolajews – und auch zu meinem –
ungemeinen Erstaunen, daß sich der gut eingegrabene Stab des
Bataillons, das die Arabatsker Landzunge verteidigen sollte,
neun Kilometer von den Stellungen seiner vordersten Kompanie entfernt und vier Kilometer hinter den Positionen der
schweren Küstenartillerie befand. Zweitens war im Stab ein
unerhörter Schlendrian eingerissen. Als Nikolajew den Bataillonskommandeur zu sprechen wünschte, war dieser nicht da.
Wo er denn sei, wollte Nikolajew wissen. Vorn, erhielt er zur
Antwort.
„Was heißt vorn? Wo vorn? Geben Sie ihn mir am Telefon!“
Verbindung zum Bataillonskommandeur sei nicht vorhanden,
wurde ihm eröffnet.
„Und wann ist er nach vorn gegangen?“
„Gestern abend.“
„Seitdem sind Sie ohne Verbindung?“
„Nein. Das heißt ja.“
Zu guter Letzt stellte sich heraus, daß der Bataillonkommandeur spurlos verschwunden war und daß man sich gescheut
hatte, es zu melden.
„Aber wohin ist er verschwunden?“
Nun war es wie im Lied „Alles ist gut, entzückende Marquise“. Wenn man den Beteuerungen glaubte, war der Bataillonskommandeur deshalb verschwunden, weil er sich nach vorn zur
Kompanie begeben hatte, und zur Kompanie hatte er sich begeben, weil man dort in der Nacht geschossen hatte, und geschossen hatten die Deutschen, die auf der Nehrung gelandet
waren. Danach, so hieß es, mußte mit der ganzen ersten Kompanie irgend etwas Schlimmes passiert sein. „Und wie steht es
jetzt?“
„Wie es jetzt steht, ist unbekannt.“
Der Oberleutnant, der die Funktion eines Chefs des Bataillonsstabs ausübte, zuckte nur die Achseln. Er sollte hier warten, und er wartete. Das alles berichtete er mit der Miene eines
Dieners, der bis zur Rückkehr der Herrschaft das Haus zu hüten hatte.
Plötzlich fragte Nikolajew erblassend: „Und warum ist der
Bataillonsgefechtsstand hier untergebracht? Haben Sie die Stelle ausgesucht?“
Nicht allein, erwiderte der Oberleutnant, zusammen mit dem
Regimentskommandeur habe er die Stelle ausgesucht. „Und
warum hier?“ fragte Nikolajew den Oberst.
Wegen der guten Sicht, erklärte Kiladse stockend, von hier sei
alles gut zu überblicken, im übrigen sei es das nächste Hügelchen. „Jetzt fahre ich nach vorn“, sagte Nikolajew, „und wenn
ich zurückkomme und Ihren Bataillonsstab auf diesem nächsten Hügelchen wiederfinde, werde ich Sie erschießen. Verstehen Sie?“ fragte er den Oberleutnant. Dann wandte er sich an
Kiladse. „Und Sie berichten mir, was bei Ihnen gestern abend,
in der Nacht und heute morgen los gewesen ist und warum Sie
mir von den Vorfällen bisher nichts gemeldet haben. Sind Sie
selbst dort gewesen?“
Kiladse antwortete, noch nicht, aber er stehe im Begriff, und
von einer Meldung habe er abgesehen, weil er die Sache mit
eigenen Kräften zu bereinigen gedachte.
„Was bereinigen?“ Nikolajew schrie jetzt. „Sie waren nicht
mal dort! Sie wissen nicht einmal, was Sie bereinigen wollen!
Ob die Deutschen dort sind oder nicht, und wenn ja, wieviel,
ob Ihre Leute noch leben oder nicht – nichts wissen Sie!“
Kiladse versuchte, einen letzten Rest von Würde zu bewahren. Er sagte, da der Befehl bestehe, den Feind auf der Krim
keinen Fuß fassen zu lassen, werde er diesen Befehl ausführen
und die Deutschen, egal in welcher Stärke, angreifen und vertreiben. Nikolajew maß ihn prüfend, dann sagte er: „Gut, wir
kommen noch darauf zurück. Sie fahren mit mir.“
Dieses Gespräch ist mir genau in Erinnerung geblieben. Es
zeigt, daß es Kommandeure gab, die keinen Funken Zivilcourage hatten und einen Vorgesetzten mehr als den Gegner fürchteten. Wie sich später herausstellte, wußte Sawinow, daß auf
der Arabatsker Landzunge nicht alles in Ordnung war. Er hatte
noch in der Nacht gefordert, Kiladse solle dort am Morgen die
Lage erkunden. Die Vorstellung, Nikolajew könne kommen
und alles erfahren, war ihm an die Nieren gegangen.
Kiladse schien noch immer zu jedem Geflunker bereit. Nur
die nackte Wahrheit wollte er nicht eingestehen, doch die kannte er in ihrem ganzen schonungslosen Ausmaß selber nicht. So
entsteht eine Kette von Fehlinformationen, die zuweilen zur
Folge hat, daß ein Vorgesetzter beim Besuch einer Einheit
falsch unterrichtet wird und sich in Illusionen wiegt, während
das Unglück hereinbricht und nicht mehr aufzuhalten ist, eine
Stunde zuvor jedoch hätte es noch verhindert werden können.
Im gegebenen Fall war Kiladse – wie wir noch sehen werden
– ein gemeiner Feigling, aber es kam vor, daß Leute, denen
Zivilcourage fehlte und denen unter den Blicken eines Vorgesetzten das Herz in die Hosen rutschte, andererseits bestechende Tapferkeit bewiesen und ohne Wimpernzucken mit ihrem
Leben dafür zahlten, daß sie sich gescheut hatten, dem Vorgesetzten reinen Wein einzuschenken. Bald begegneten wir der
Gruppe von Mitarbeitern der Politabteilung der Armee, die
gerade angekommen waren.
Nikolajew setzte sich zu dem Mädchen Pascha Anostschenko
ins Führerhaus des Lkw, wir anderen stiegen hinten auf. Nach
etwa einem Kilometer merkten wir, daß Kiladse fehlte. Der
Adjutant stoppte den Wagen und unterrichtete Nikolajew.
„Hol ihn der Teufel!“ fluchte Nikolajew. „Weiter!“ Dabei
erbleichte er so, daß ich keinen Pfifferling mehr für den Oberst
gab. Nach weiteren drei Kilometern hatten wir das Dorf Genitscheskaja Gorka passiert und waren auf der eigentlichen Landzunge. Zum Verständnis der weiteren Ereignisse muß man sich
das Panorama vorstellen. Genau in Blickrichtung auf einem
Hügel das terrassenförmig zum Meer hin abfallende Genitschesk, davor eine zweihundert Meter breite Wasserfläche,
über die mal eine – nach unserer Meinung jetzt gesprengte –
Brücke führte. Tatsächlich war sie jedoch nur leicht beschädigt
und unter die Oberfläche gesunken. Davor sechs Kilometer
Sandbank, durchweg viel tiefer gelegen als Genitschesk, und
die drei Kilometer vor Genitschesk überschauten wir von hier
oben völlig, beinah wie aus der Vogelperspektive. Etwa drei
Kilometer von der Meerenge entfernt lagen zehn Häuser, ein
ehemaliges Pionierlager, von dort verlief eine Schmalspurbahn
zu uns und ins Hinterland. Direkt neben dem Damm standen
vier weittragende Geschütze der Küstenartillerie auf Bodenplatten. Kurz und gut, in der Ferne das höher gelegene Genitschesk, vor uns – hinter dem Pionierlager – wie auf dem Handteller eine drei Meter lange, anderthalb Kilometer breite offene
Ebene.
Als wir das Dorf Genitscheskaja Gorka durchfahren hatten
und uns etwas mehr als ein Kilometer von der Küstenbatterie
trennte, bot sich uns ein seltsames Bild. Hinter der weittragenden Artillerie erblickten wir Drahtsperren, Höckersperren, Panzergräben, und den Damm entlang griff eine Infanteriekompanie an. Die Leute operierten nach allen Regeln der Kunst, arbeiteten sich in kurzen Sprüngen vor, warfen sich hin, hielten
den vorgeschriebenen Abstand zueinander und zogen beim
Laufen die Maschinengewehre hinter sich her. Das alles sah so
aus, als bewegte sich die Kompanie unter dem Feuer eines nur
wenige hundert Meter entfernten Gegners. Dabei war kein
Schuß zu hören. Vor der Einheit standen die Geschütze, und zu
den Deutschen waren es fünf bis sechs Kilometer.
Nikolajew rief den Kompaniechef zu sich und fragte ihn:
„Was machen Sie da?“
„Angreifen“, erwiderte der Kompaniechef.
„Wen?“
„Die Deutschen. Die sind dort vorn.“
„Wo sind die Deutschen?“
Der Kommandeur zeigte aufs Geratewohl mit dem Finger in
Richtung unserer Artillerie.
„Da sind keine Deutschen“, sagte Nikolajew, „da steht unsere
Küstenbatterie. Die Deutschen sind dort.“ Er zeigte auf Genitschesk. „Dort oder etwas davor. Sie wollen diese Übung über
fünf Kilometer fortsetzen, wie?“
Der Kompaniechef erklärte, er habe Befehl erhalten, sich in
Gefechtsordnung zu entfalten und anzugreifen, aber wie weit
es zu den Deutschen sei, ob fünf Kilometer oder einer, das habe man ihm nicht gesagt. Man habe lediglich hinzugefügt, daß
von unseren Leuten niemand mehr vor ihm sei.
Nikolajew gebot der Kompanie Einhalt, befahl, sämtliche verfügbaren Lastwagen heranzuziehen, die Rotarmisten aufsitzen
und so lange fahren zu lassen, bis die Deutschen in Genitschesk das Feuer eröffneten. Danach sollten sie ausschwärmen
und den Angriff beginnen. Er befahl auch den anwesenden
Politarbeitern, mit der Kompanie vorzugehen. Er selbst stieg in
unseren Anderthalbtonner, auf dem außer mir, Melechow, einem Leutnant vom Regimentsstab auch der Regimentskommissar fuhr. Wer weiß, wo der plötzlich hergekommen war, aber
als er auftauchte, drehte sich Nikolajew mit grimmiger Miene
zu ihm um, dann winkte er wortlos ab. Sicherlich wollte er sich
ihn und den Regimentskommandeur gemeinsam vorknöpfen.
Nie habe ich einen unerquicklicheren Anblick ertragen müssen
als diese Kompanie, die im rückwärtigen Gebiet, hinter der
eigenen Artillerie, in Gefechtsordnung angriff. Ich mußte unwillkürlich an das Lager für Frontkorrespondenten in Kubinka
denken, wo wir vor dem Krieg bei der Geländeausbildung sicherlich ein ähnliches Bild abgegeben hatten. Nur: Jetzt war
Krieg, und da hörte aller Spaß auf. Den Kämpfern war natürlich kein Vorwurf zu machen. Eine Stunde später wurde ich
Zeuge, wie sie unter Beschuß vorgingen und sich allgemein gut
hielten. Auch den Kompaniechef traf keine Schuld. Man hatte
ihm gesagt, vor ihm sei niemand mehr. Sogar unsere Artillerie
hatte man ihm verschwiegen. Kurze Zeit darauf führte er unter
wirklichem Beschuß seine Kompanie mutig an. Schuld an dem
Dilemma war, daß es mit der Aufklärung haperte und der Regimentskommandeur keinen Wunsch verspürte, sich mit eigenen Augen von den Vorgängen in seinem Abschnitt zu überzeugen. Wir warteten nicht ab, bis die Rotarmisten verladen
waren und aufrückten, sondern fuhren schon los. Nikolajew
hatte befohlen, diejenigen, die auf den Lastwagen nicht unterkamen, antreten zu lassen. Sie sollten in Marschkolonne so
schnell wie möglich folgen, abwechselnd im Laufschritt und
im Schritt.
Bei den Küstenartilleristen verweilten wir einige Minuten.
Der Politleiter der Batterie meldete – übrigens war er an diesem Morgen der erste Mensch, der die Lage klar und treffend
einschätzte –, gegen Abend, als es schon dunkelte, seien unregelmäßige Schüsse zu hören gewesen, Gewehr-, MG- und
MPi-Feuer, zuerst von der einen, dann von der anderen Stelle,
nach zwei Stunden habe das Geknatter aufgehört, so daß er
nicht gewußt habe, wohin er die Geschütze richten solle. Nach
zwei weiteren Stunden, im ersten Morgengrauen, habe er gesehen, wie die Deutschen zum Pionierlager zogen, es besetzten
und sich seiner Batterie näherten. Da vor ihm keinerlei Infanterieschutz zu entdecken gewesen sei, habe er Befehl gegeben,
die Geschütze zur Sprengung vorzubereiten. Er selbst habe die
Rohre direkt gerichtet und das Feuer eröffnet. In der Dämmerung seien die Ergebnisse zwar schlecht zu erkennen gewesen,
aber er habe den Beschuß fortgesetzt, während die Bedienungsmannschaft mit angeschlagenen Gewehren vor den Geschützen lag. Beim Hellwerden seien keine Deutschen im Gesichtsfeld zu bemerken gewesen. Offenbar hatten sie sich zurückgezogen.
Diese Darstellung des Politleiters ließ den Schluß zu, daß über
die Kompanie in der vorgeschobenen Stellung während der
Nacht eine Katastrophe hereingebrochen war. Ob jetzt, am
Morgen, noch Deutsche auf der Landzunge waren, blieb ungeklärt. In der Nacht jedenfalls waren sie hier gewesen, und die
Soldaten der Kompanie, die vorn gelegen hatten, gaben kein
Lebenszeichen von sich. Der Politleiter meinte, die Deutschen
hätten vermutlich auch Artillerie auf dieses Ufer geworfen;
seine Batterie sei mit Granatwerfern und kleinkalibrigen Geschützen beschossen worden. „Artillerie herangeschafft?“ Nikolajew lachte ungläubig auf. „Hast du dort irgendwelche Geschütze gehabt?“ fragte er den Regimentskommissar. „Zwei
Panzerabwehrkanonen“, antwortete der Kommissar bereitwillig
„Dann haben die Deutschen damit geschossen“, sagte Nikolajew zornentbrannt. „Wozu die eigenen Geschütze auf diese
Seite bringen, wenn sie unsere nehmen konnten!“
Aus diesen Worten sprach die bissige, bittere Ironie eines
leidgeprüften Menschen, und das war beklemmend.
Im Tagebuch schreibe ich von einer Küstenbatterie, die in der
Nacht zum 17. September die Deutschen auf der Arabatsker
Landzunge zurückschlug und die Lage rettete.
Jetzt bin ich der Sache nachgegangen. Diese 127. Küstenbatterie befehligte damals Leutnant Wassili Nasarowitsch Kowschow, ursprünglich Bergmann, dann Angehöriger der Seekriegsflotte, Kommandeur, zu Beginn des Krieges Artillerieoffizier, seit November 1942 vermißt, wie ich den Dokumenten
entnehmen konnte.
Aus den Berichten der Batterie über die am 16. September
durchgeführten Kampfhandlungen geht hervor, daß der Granatwerferbeschuß der Deutschen elf Angehörige der Seekriegsflotte verwundete. Ein Rapport „in Ausführung eines persönlichen Befehls des Mitglieds des Kriegsrates der 51. Armee,
Korpskommissar Nikolajew, über die Auszeichnung der bei
diesem Kampf besonders verdienstvollen Artilleristen nennt
auch den Namen N. I. Weizmann, den Kommissar der Batterie,
eben den Politleiter, der Nikolajew an jenem Tag als erster die
Lage klar und treffend beschrieb.
N. I. Weizmann, der zweimal verwundet und für seinen Einsatz bei den Kämpfen in Sewastopol mit dem Rotbannerorden
ausgezeichnet wurde, war bis zum Kriegsende an der Front und
arbeitet jetzt als Werkdirektor in Priwolshje. Ich freute mich,
ihn vierunddreißig Jahre nach den Ereignissen auf der Arabatsker Landzunge gesund und wohlbehalten wiederzusehen.
Zurück zum Tagebuch.
Wir fuhren zum Pionierlager. Dort hielten wir an. Es war weiterhin ruhig, kein Schuß fiel, vor uns lag völlig offenes Gelände. Lediglich einen Kilometer weiter standen zwei Hütten und
einige Bäume. Das Feuer unserer Küstenbatterie hatte das Pionierlager stark verwüstet. Als wir von dem Anderthalbtonner
geklettert waren, sahen wir uns die Stätte näher an. Der Darstellung des politischen Leiters entsprechend sollten also in der
Nacht die Deutschen hier gewesen sein. Nach wenigen Minuten stießen wir tatsächlich auf ein Motorrad, dann auf ein zweites, außerdem fanden wir noch einige zerstörte Maschinen mit
Beiwagen. Daneben lagen Tote, die durch die großen Splitter
der schweren Granaten stark verstümmelt waren, und ringsum
verstreut Kleidungsstücke und alle möglichen Gegenstände, die
diese Deutschen zum Andenken an Rußland hatten mit nach
Hause nehmen wollen. Genauso durcheinandergewirbelt wie
die Beutesachen war auch der deutsche Krimskrams, darunter
einige Exemplare des „Völkischen Beobachters“.
Wir besichtigten die Häuser des Lagers. Ein Flur hatte einen
Volltreffer erhalten. Ein Kübel mit eingepökeltem Schweinefleisch, der in der Ecke gestanden hatte, war zersprungen, die
herausgeschleuderten großen rosa Fleischklumpen lagen auf
dem Fußboden, und inmitten der Trümmer – halb sitzend – ein
toter deutscher Oberleutnant. Er hatte aschblondes Haar, sein
bleiches, schönes Gesicht war unversehrt, der Bauch und die
Brust aber wie mit einem Seziermesser weit geöffnet.
Wir verließen das Lager und legten unbehelligt noch einen
Kilometer zurück, der uns von der letzten Baumgruppe mit
zwei Häuschen trennte. Dann sagten wir dem Anderthalbtonner
Lebewohl. Anostschenko wollte uns zwar weiterfahren, aber
Nikolajew befahl ihr lächelnd – es war unmöglich, im Gespräch mit ihr eine ernste Miene zu machen –, sie solle zum
Pionierlager zurückkehren und uns dort erwarten.
Der Anderthalbtonner wendete ohne uns.
Zweihundert Meter vor den Häuschen verliefen die Stellungen, die nach den Worten des Regimentskommissars ein Zug
der vorderen Kompanie bezogen hatte. Wir näherten uns den
Gräben. Die karge, sandige Erde mit dem spärlich wachsenden
Gras bröckelte unter den Füßen. Zu beiden Seiten schimmerte
– rechts hundert Meter, links anderthalb Kilometer entfernt –
das Meer. Obwohl die Sonne nicht schien, war es schwül, und
die See erschien grau und rauschte leicht.
Nach einigen Minuten waren wir bei den Gräben angelangt.
Für alle Fälle hielten wir die Gewehre schußbereit, obwohl ich
persönlich keine Deutschen mehr auf der Landzunge vermutete
und eher durch eine Wüste zu laufen schien.
Wenn ich an die Stellungen zurückdenke und mir das grausige
Bild, das sie boten, vergegenwärtige, dann empfinde ich wie
damals wieder so etwas wie Beklemmung, ein Gefühl des Entsetzens, das denjenigen befällt, der eine Stätte des Todes
betritt, wo niemand mehr berichten kann. Keiner lebt, alle sind
stumm, und nur die Phantasie vermag das Geschehene nachzuvollziehen.
Die Menge der herumliegenden Gasmasken, Handgranaten
und Gewehre ließ auf etwa fünfzig Leute schließen. Die Zahl
der Toten war weit niedriger, etwa zehn. In den Gräben selbst
fanden wir nicht einen Toten. Sie lagen daneben.
Nikolajew sah sich alles genau an, die Lage der Gewehre, der
Gefallenen, der weggeworfenen Gasmasken und Leinensäckchen mit den Handgranaten. So schien er sich ein Bild vom
Verlauf des Gefechts machen zu wollen. Dann schritt er am
Rand der Gräben entlang und blickte zurück. Die Lastwagen
mit den Rotarmisten waren noch nicht eingetroffen.
Er drehte sich zu mir um, deutete auf die Toten und sagte leise: „Ich kann nicht erkennen, daß sie gekämpft haben. Wenn
sie gekämpft hätten, würden sie in den Gräben liegen. Weggelaufen sind sie! Die einen wurden wie die Hühner abgeschlachtet, die anderen sind in Gefangenschaft gegangen. Sie landeten,
schlachteten und nahmen gefangen.“ Er ballte die Fäuste, bis
die Knöchel weiß wurden. Er bemitleidete die Gefallenen
nicht, aber ihr unsinniger Tod empörte ihn und machte ihn so
betroffen, daß ich fürchtete, er könnte jeden Augenblick in
Tränen ausbrechen. „Es waren nicht viele“, sagte er, „wahrscheinlich weniger als unsere. Sie landeten, schossen, und unsere rannten. Die einen umgebracht, die anderen in Gefangenschaft, dann hat ja alles seine Ordnung“, sagte Nikolajew in
jenem gereizten Ton der Selbstkasteiung, der dem russischen
Menschen so wesenseigen ist.
Bei einem Graben fanden wir einen Oberleutnant. Er lag auf
dem Rücken. Die Taschen seiner Uniform waren nach außen
gestülpt, der Kopf zurückgeworfen, die Augen starrten direkt in
den Himmel. „Wer ist es?“ fragte Nikolajew. „Der Kompaniechef?“ Niemand antwortete.
Und wieder einmal wurde mir eine unserer großen Schwächen
bewußt. Oftmals kannten wir nicht einmal die Namen der Ge-
fallenen. „Melechow“, sagt Nikolajew, „sehen Sie sich seine
Wunde genauer an. Rührt sie von einer Kugel her oder von
einem Seitengewehr?“ Melechow bückte sich, untersuchte die
Wunde und hob den Kopf. „Von einem Seitengewehr.“
„Der da hat gekämpft“, sagte Nikolajew und musterte den Gefallenen noch einmal. Er schien sich nichts sehnlicher zu wünschen, als daß wenigstens einer in der schrecklichen vorangegangenen Nacht Widerstand geleistet, sich gewehrt hatte. Er
ließ die Gräben und die Umgebung nach toten Deutschen absuchen. Sie fanden keinen.
„Entweder haben sie die Toten mitgenommen“, sagte er,
„oder es hat keine gegeben. Auch das ist möglich. Panik – Panik! Was Panik vermag! Die Menschen sind sich selbst nicht
mehr ähnlich.“ Wir gingen hundert Schritte weiter die Sandbank entlang. Dann bemerkten wir noch drei Tote. Zwei lagen
aufeinander, und der Regimentskommissar erkannte in ihnen
den Sanitätsinstrukteur und den Politstellvertreter der Kompanie. Der Politarbeiter war wohl in MPi-Feuer geraten, beide
Beine durchschossen; der Sanitätsinstrukteur mußte versucht
haben, ihn kriechend wegzuschleppen, und so, wie sie krochen
– einer auf dem andern –, waren sie hinweggerafft worden.
Neben ihnen lag ein dritter Toter. Er trug noch seine Rotarmistenstiefel, im übrigen war er nackt, schwarz, angekohlt, die
Haut an einigen Stellen geplatzt, an anderen straff gespannt.
Zuerst glaubte ich, die Deutschen hätten ihn entkleidet und so
zugerichtet, dann sah ich, daß seine Sachen auf dem Leib verbrannt waren. Inzwischen hatten alle Lastwagen das Pionierlager erreicht, und die übrigen Kämpfer waren zu Fuß eingetroffen, in Grüppchen traten sie zu uns. Als Nikolajew die anrükkende Kompanie erblickte, schickte er einen Politarbeiter und
einen Leutnant zur einen Hälfte nach links, er selbst setzte mit
uns anderen den Marsch auf der rechten Seite der Landzunge
fort.
Achthundert Meter legten wir in ungetrübter Ruhe zurück,
dann entdeckten wir zwei 45-mm-Geschütze, deren Mündung
auf uns gerichtet, deren Schlösser jedoch zerstört waren.
„Ihre Kanonen?“ fragte Nikolajew den Regimentskommissar
und fügte, ohne die Antwort abzuwarten, hinzu: „Damit haben
die Deutschen also geschossen, und dann, vor ihrem Rückzug,
haben sie die Dinger gesprengt.“
Neben den Geschützen waren kleine Mulden ausgehoben.
„Sie haben behauptet, sich auf die Verteidigung vorzubereiten“, sagte Nikolajew. „Dabei waren sie zu bequem, sich
Schützenlöcher zu graben.“ Er sah zurück. „Nun, wie kommen
sie voran?“ Die Kompanie rückte näher. Links war sie schon
auf einer Höhe mit uns, rechts nicht mehr weit entfernt.
Als die ersten Soldaten neben uns gingen, sagte Nikolajew:
„Also, weiter.“
Wir gingen vor den Soldaten her. Bis zum Ende der Arabatsker Landzunge, bis zu unseren vordersten Stellungen, war
es noch etwas über einen Kilometer.
Kaum hatten wir uns in Bewegung gesetzt, als die Deutschen
die Landzunge mit Granatwerferfeuer belegten. So plötzlich
wurde die schon vertraute morgendliche Stille zerrissen, daß
wir uns zu Boden warfen, nicht aus Selbsterhaltungstrieb, sondern vor Überraschung. Die erste Salve war die schrecklichste.
Die Einschläge lagen in breitem Streifen haarscharf vor uns, so
daß ein Schauer hochgeschleuderter Erdklümpchen auf uns
niederprasselte. Die Deutschen mußten uns längst bemerkt und
die Rohre gerichtet haben, was ihnen sicherlich ein leichtes
war, da die beiden Geschütze hinter uns einen ausgezeichneten
Orientierungspunkt boten.
Nikolajew stand schnell auf, schüttelte sich und lief ohne sich
umzusehen weiter. Auch links und rechts von uns kam die Ket-
te zügig voran.
Die letzten achthundert Meter legten wir unter Granatwerferbeschuß zurück.
Es fällt mir heute schwer, die Gefühle zu beschreiben, die
mich damals bewegten. Vor allem verspürte ich Entsetzen.
Dann dachte ich, daß ich am Abend zurückkehren würde und
nicht mehr hier sei, inmitten der Granaten, sondern in Simferopol. Über diesen Abend hinaus dachte ich nicht, er erschien mir
als das erstrebenswerte Nahziel meines Lebens. Aber ich hatte
auch den dringenden Wunsch, recht schnell an die vor uns liegenden Gräben zu kommen. Zwar wußte ich nicht, ob Deutsche dort waren oder nicht, aber ich wollte hingelangen, die
freie Fläche hinter mich bringen. Der Gedanke, dort könnten
Deutsche sein und wir müßten ihnen von Angesicht zu Angesicht entgegentreten, jagte mir nicht die geringste Angst ein.
Ich fürchtete nichts so wie die unaufhörlich detonierenden
Granaten. Für die Kompanie war es die Feuertaufe; immer
mehr Soldaten warfen sich hin und bewegten sich kriechend
weiter oder blieben einfach liegen, das Gesicht eng an die Erde
geschmiegt. Ich hatte solche Angst, daß ich es ihnen vielleicht
gleichgetan hätte, wenn Nikolajew nicht gewesen wäre. Bei der
ersten Salve hatte er sich wie wir alle hingelegt, aber jetzt lief
er. Er bewegte sich so energisch, so beherrscht, daß man den
Eindruck hatte, sich wie er zu bewegen wäre das einzige, was
man jetzt tun konnte. Im Zickzack lief er die Kette entlang
nach links, nach rechts, an den Toten vorbei, zu denen, die hingefallen waren und nicht die Kraft hatten, wieder aufzustehen.
Er bückte sich zu einem Soldaten, stieß ihn in die Schulter und
sagte: „Landsmann, he, Landsmann! Landsmann!“ Und er
knuffte stärker. Der andere hob den Kopf. „Was liegst du da?“
„Die machen einen nieder.“
„Was soll’s? Dafür ist Krieg. Steh auf, steh auf!“
„Die machen einen nieder.“
„Ich stehe, tu’s auch, sie treffen dich nicht. Im Liegen erwischt es dich viel eher. Wenn wir laufen, treffen sie uns nicht
so leicht.“ Ähnlich sprach er bald zu diesem, bald zu jenem.
Das Wichtigste waren natürlich nicht die Worte, sondern die
Tatsache, daß neben dem Liegenden jemand stand – ruhig,
aufgerichtet, in voller Größe. Wer da ein Fünkchen Selbstachtung und Schamgefühl hatte, mußte sich neben Nikolajew erheben; und wer stand, zürnte denen, die noch lagen, und schrie,
sie sollten endlich aufstehen, was ihnen eigentlich einfalle liegenzubleiben.
So war es auch mit mir. Wäre Nikolajew nicht gewesen, hätte
ich vielleicht ebenfalls dort gelegen, mich furchtsam an die
Erde geschmiegt.
Aber Nikolajew lief aufrecht, ermunterte die Leute mit ruhiger Stimme, sich zu erheben, und ich erhob mich und lief weiter und grollte den Liegenden und brüllte sie wie die anderen
Laufenden an, sie sollten gefälligst aufstehen und laufen. Und
so bewegte sich die ganze Kette vorwärts, und die im Kampf
unerfahrenen Männer erhielten ihre Feuertaufe.
Vor uns erstreckte sich eine Bodenwelle, die links und rechts
zum Meer hin abfiel. Nikolajew führte uns zu den Gräben auf
der rechten Seite, die wir erreichen mußten und von denen uns
noch hundertfünfzig bis zweihundert Meter trennten. Urplötzlich schwiegen die Granatwerfer, und die ersten Maschinengewehre feuerten. Die Geschosse flogen nahe vorüber und verursachten ein Pfeifen, das ich vom Fluß Chalchyn gol her kannte.
Wenn ich sie im Gras rascheln hörte, warf ich mich hin. Auch
Nikolajew duckte sich für eine Sekunde, aber er nahm mehr
eine sitzende als eine liegende Stellung ein. Ich erinnere mich
deutlich an diese Pose. Er lauschte angestrengt, dann erhob er
sich und rannte schnell weiter, und wir anderen folgten ihm zu
den Gräben.
Mehrmals noch schossen die Maschinengewehre. Anfangs
glaubte ich, die Deutschen feuerten direkt aus den Gräben vor
uns, aber als wir die Gräben erreichten, waren sie leer. Der
Gegner bepflasterte uns von links, hinter der Bodenwelle hervor, und vom höher gelegenen Genitschesk herab.
„Hier ist niemand“, sagte Nikolajew. Wir waren in einen Graben gesprungen. Er nahm die Mütze ab und wischte sich mit
einem Taschentuch die Stirn. „Setzen wir uns ein Weilchen
und warten wir, was links passiert.“
Ein großer Teil der Gräben lag links hinter der Bodenwelle,
doch wir befanden uns rechts außen. Links knallte es noch,
dann wurde es schlagartig still, und auch aus der Stadt
schossen weder Granatwerfer noch Maschinengewehre.
Über die Welle kam geduckt der Kompaniechef gelaufen und
sprang zu uns in den Graben. Sämtliche Gräben seien eingenommen; dort sei niemand mehr, sagte er, womit er die Deutschen meinte. „Und unsere Toten von der Nacht liegen noch
dort?“ fragte Nikolajew.
„Höchstwahrscheinlich“, erwiderte der Kompanieführer. „Wir
werden es gleich feststellen. Was befehlen Sie zu tun?“
„Beziehen Sie Verteidigungsstellung“, sagte Nikolajew. „Lassen Sie die Gräben herrichten, alles gut befestigen und warten
Sie ab. Sie bleiben hier, bis die Kompanie hinter Ihnen aufrückt. Vorläufig wird auf keinen Fall geschossen. Sie warten
ab, das ist alles.“
Ich erfuhr weder damals noch später, wieviel Deutsche die
Gräben links verteidigt hatten, wie hoch ihre Verluste waren
und was sich sonst zugetragen hatte. Nur verspürte ich so etwas
wie Kränkung, weil unser Graben leer war. Nach dem schrecklichen Lauf hatte ich in der letzten Sekunde förmlich gehofft,
auf einen Gegner zu stoßen. Meine Kehle war wie ausgedorrt.
Wir tranken jeder einen Schluck Wasser aus Melechows Feldflasche. Noch immer war es still, die Deutschen schossen nicht.
Nikolajew blickte vom Grabenrand angestrengt nach Genitschesk hinüber.
„Ja.“ Er schnaufte unzufrieden. „Von hier können wir ihnen
nichts anhaben. Aber von dort machen sie mit uns, was sie
wollen. Wir gehen gleich zurück. Auf der ganzen Landzunge
muß Ordnung herrschen. Bei Anbruch der Dunkelheit muß
alles erledigt sein, sonst lösen sie wieder eine Panik aus, und es
ergeht uns wie denen gestern.“
Plötzlich rollte von hinten ein Lkw mit dem Granatwerfer des
Regiments über das Feld und schwenkte links ein. „Das ist gut,
der kommt wie gerufen.“
Als der Wagen zurückfuhr, war der Werfer schon abgehängt.
Die Deutschen schickten einige Granaten hinterher, aber sie
verfehlten ihr Ziel. Wie ich später hörte, hatte Pascha
Anostschenko den Granatwerfer herangeschafft, das Mädchen,
das uns zum Pionierlager gebracht hatte.
„Also dann“, sagte Nikolajew, nachdem noch fünf Minuten
verstrichen waren, „auf, auf, für Ordnung sorgen. Sie begleiten
mich“, teilte er dem Regimentskommissar mit, „und Sie“ – er
wandte sich an den ranghöchsten Chef von der Politabteilung
der Armee – „bleiben hier. Warten Sie, bis es Nacht wird, dann
sollen sich alle Offiziere hier versammeln. Na, gib mir noch
einen Schluck Wasser“, wandte er sich an Melechow und stand
auf.
Ich war froh, daß wir wieder abzogen. Jetzt wurde mir erst
richtig bewußt, welche Ängste ich ausgestanden hatte, und ich
wollte so schnell wie möglich zurück.
Zu meinem Erstaunen entgegnete der Regimentskommissar
jedoch: „Genosse Korpskommissar, bleiben wir lieber, bis es
dunkel wird.“
„Warum das?“ fragte Nikolajew.
„Bei der ersten Bewegung beharken sie uns“, antwortete der
Regimentskommissar.
„Da kann man nichts machen“, sagte Nikolajew. „Dann beharken sie uns eben. Sollen wir deswegen hier hängenbleiben?
Wir haben im Regiment für Ordnung zu sorgen. Also müssen
wir gehen.“ Er erteilte dem ranghöchsten Chef der Politabteilung der Armee und dem Kompaniechef seine letzten Anweisungen, dann kroch er aus dem Graben, und wir entfernten uns
mit schnellen Schritten. Nach etwa dreißig Metern pfiffen MGKugeln. In nächster Nähe raschelte das Gras, die Geschosse
sichelten die Halme ab, und das Feuer dauerte an, eine ganze
Minute, wenigstens kam es mir so vor. Endlich wurde es still.
Nikolajew sprang auf und rief: „Weiter.“ Wir sprangen gleichfalls auf und folgten ihm rasch. Nur der Regimentskommandeur schien zu zaudern. Als wir rannten, lag er noch immer
dort hinten. Wieder schossen die Maschinengewehre, wieder
warfen wir uns hin, wieder warteten wir, sprangen auf, liefen,
bis die Kugeln pfiffen. Dann suchten wir Deckung. Der Regimentskommissar war zurückgeblieben, um einen Turnus,
wenn ich es so ausdrücken kann. Als uns die Maschinengewehre auf die Erde zwangen, drehten wir uns um und sahen, daß
zwei Soldaten, die aus dem Graben gekrochen waren, den Regimentskommissar kriechend wegzogen. Wahrscheinlich hatte
er einige Sekunden zu lange gezögert und war an der Stelle
getroffen worden, die wir anderen rechtzeitig verlassen hatten.
Später erfuhr ich, daß es tatsächlich so war. Er hatte eine
schwere Verwundung davongetragen. Die Kugel war in den
Schenkel eingedrungen, hatte den Körper der Länge nach
durchschlagen und steckte in der Schulter.
Wir mußten noch einige Male rennen und schnell in Deckung
gehen. Wie mit der Sense geschnitten kippte ringsum das Gras,
und ich schleppte eine zusätzliche Last, einen herrenlosen Karabiner, den ich im Graben gefunden hatte. Demjanow wünschte sich schon lange einen, und da ich den Karabiner einmal an
mich genommen hatte, mochte ich ihn nicht mitten auf dem
Feld liegenlassen. Das widerstrebte mir, da ich so viele weggeworfene Gewehre gesehen und die Leute dafür verurteilt
hatte. In der linken Hand hielt ich meine halbautomatische
Waffe, in der rechten den Karabiner, und obwohl ich beim InDeckung-Gehen schwer wie ein Sandsack hinschlug, ließ ich
ihn nicht liegen.
Nach einem besonders harten Sturz wandte mir Nikolajew,
der neben mir lag, das Gesicht zu und sagte grinsend: „Meisterhaft, wie Sie das machen. Meisterhaft“, wiederholte er. „Na
und?“
„Ach nichts. Nichts weiter, ist schon richtig. Wenn man fällt,
dann gründlich.“
Die Deutschen schossen, was ihre Maschinengewehre hergaben. Später, mit kühlem Kopf, sagte ich mir, daß die gefährlichste Strecke des Rückwegs die erste war, als wir zu viert
loszogen und die Deutschen ausschließlich und speziell uns
aufs Korn nahmen.
Schon das Gehen war eine Qual, das Rennen fiel um so
schwerer, und nicht genug damit, daß ich zwei Waffen zu tragen hatte, ich fand auch noch vier weggeworfene Magazine für
Selbstladegewehre und stopfte in jede Hosentasche zwei.
Noch einmal mußten wir uns hinwerfen. Diesmal waren die
Feuerstöße besonders lang.
Danach trat eine Pause ein. Wir liefen hundertfünfzig Meter,
ohne daß auf uns geschossen wurde. Ganz plötzlich hämmerten
mehrere Maschinengewehre gleichzeitig los. Wir legten uns
nicht, wir stürzten hin. Neben uns schossen Sandfontänen empor. Wahrscheinlich hatten die deutschen MG-Schützen eine
vorher vereinbarte Linie anvisiert, und als wir diese Grenze
erreichten, eröffneten sie das Feuer. Dann schossen sie abwechselnd, bald das eine, bald das andere MG, in endlos scheinenden Feuerstößen. Einmal spritzte unmittelbar vor Melechow der Dreck auf. Er suchte tastend im Sand und legte eine
Kugel frei. „Mir direkt vor die Nase“, sagte er und versuchte zu
lachen. „Hat sie dich versengt?“ fragte Nikolajew halb im
Scherz, halb im Ernst.
„Nein.“
„Dann heb sie dir zum Andenken auf.“
Noch ein Feuerstoß. Ich spürte einen Schlag gegen die Hüfte,
befühlte die Hose, fand ein Loch. Ich zog die beiden Magazine
aus der Tasche. Das eine war aufgerissen, das andere zerschrammt. Ohne den Kopf zu heben, zeigte ich dem neben mir
liegenden Nikolajew die Bescherung.
„Verletzt bist du nicht?“ fragte er.
Ich berührte das Bein. Es schmerzte nicht. Ich suchte ein
zweites Loch in der Hose. Wenn das Geschoß eingedrungen
war, mußte es auch wieder ausgetreten sein, aber da war kein
zweites Loch. Schließlich hörte das Feuer auf. Wir erhoben uns
und liefen weiter. Bald drückte etwas in meinem Stiefel. „Ich
kann nicht auftreten“, sagte ich. „Da wird wohl die Kugel reingerutscht sein.“
„Durchaus möglich“, meinte Nikolajew. „Wenn wir im Lager
sind, siehst du nach.“
Er hatte kaum ausgesprochen, da lagen wir schon wieder. Wir
hatten es weder heulen noch pfeifen gehört. Es war weniger ein
Geräusch, das wir wahrgenommen hatten, als die Wucht des
Schlages. Noch heute kann ich es nicht fassen, daß niemand
getroffen wurde. Wir hatten einfach Glück. Die Granate detonierte auf einer kahlen Fläche, keine zehn Meter entfernt.
Sie barst, wir fielen um, und Nikolajew schrie. „Vorwärts, ehe
sich der Rauch verzogen hat!“
Wir rannten vierzig Meter und legten uns hin. Schon krachte
die nächste Granate, diesmal etwas weiter entfernt.
„Weiter nach links“, sagte Nikolajew, „nach links, zum Wasser!“ Wir liefen ans Wasser und das Ufer entlang.
„Was links runterkommt, ist nicht so gefährlich“, erklärte Nikolajew. „Granaten, die ins Wasser fallen, erwischen einen
nicht.“ Wie zur Bestätigung seiner Worte schoß gleich darauf
hart am Ufer zweimal das Wasser empor. Wir anderen hockten
uns hin, aber Nikolajew bückte sich nicht einmal.
„Das ging doch ins Wasser“, sagte er. „Warum tanzt ihr da
herum?“
Noch fünfhundert Meter begleitete uns das Granatwerferfeuer
der Deutschen. Ein weiteres Dutzend Detonationen, aber längst
nicht so nahe wie die ersten beiden.
Endlich erreichten wir das Pionierlager. Unbeschreiblich das
Gefühl, das mich ergriff, als ich um das Häuschen bog. Nun
war Genitschesk nicht mehr zu sehen. Also konnte auch ich
von dort nicht gesehen werden. Eigentlich bot das Häuschen
keinen Schutz. Es war so zerbrechlich, daß die Granaten davor
oder dahinter mit dem gleichen Effekt eingeschlagen wären,
aber die Gewißheit, nicht mehr auf der nackten Erde zu sein,
nicht mehr gesehen zu werden, das war nach den Erlebnissen
fast gleichbedeutend mit Entspannung, das flößte mir Zuversicht ein. Ich glaube, ich fühlte mich noch nie so geborgen wie
in diesen Augenblicken hinter der erbärmlichen Hütte. „Nanu,
wo ist denn der Wagen?“ fragte Nikolajew. Ein Soldat neben
der Hütte sagte: „Die Genossin Fahrerin hat befohlen, Ihnen
auszurichten, daß sie gleich zurück ist. Sie will nur eine Kiste
mit Granaten dorthin nach links hinter den Hügel bringen.“
„Ach so, dann müssen wir also herumsitzen und auf sie warten“, entgegnete Nikolajew mit zorniger Stimme, aber seinen
Augen sah ich an, daß es ihm sehr gefiel, wenn die „Genossin
Fahrerin“ Granaten hinter den Hügel brachte, und daß er
durchaus zu warten gewillt war. Wir warteten fünfzehn Minuten. Am Brunnen tranken wir einen kräftigen Schluck Wasser.
Dann zog ich den weiten Stiefel aus und fand tatsächlich die
Kugel, die das Magazin getroffen hatte und abgeprallt war.
„Heb sie auf“, sagte Nikolajew. „Die bringt Glück. Diese Kugel mußt du deiner Frau oder dem Mamachen oder sonstwem
schenken.“
Nach einer Viertelstunde fuhr der Anderthalbtonner vor, und
gleichzeitig kam von dort, wo auch wir hergekommen waren,
ein Bevollmächtigter der Sonderabteilung des Regiments, ein
großer, hübscher junger Mann mit grauen Augen. Wie er mir
später, bei meinem zweiten Abstecher hierher, erzählte, hatte er
den Finnischen Krieg als Fahrer mitgemacht und war danach
zu den Sonderkräften übergewechselt. Er meldete Nikolajew,
der Regimentskommissar sei schwer verwundet und er wolle
ihn wegbringen. „Wann gedenkst du ihn wegzubringen?“ fragte Nikolajew. „Jetzt gleich“, antwortete der Bevollmächtigte.
„Ich nehme noch jemand mit, zu zweit schaffen wir es. Wenn
wir ihn nicht abtransportieren, erlebt er den Abend nicht. Dort
vorn ist kein Arzt.“
„Gut, hole ihn.“ Nikolajew sah den großen jungen Mann
wohlgefällig an. Er hatte den gleichen Weg hinter sich wie wir,
wollte umkehren und ihn dann ein drittes Mal mit dem Verwundeten zurücklegen. „Hole ihn“, wiederholte Nikolajew.
„Richtig.“
Der Bevollmächtigte drehte sich um und entfernte sich. Wie
mir später berichtet wurde, haben sie den Regimentskommissar
herausgeholt. Wir stiegen in den Anderthalbtonner. Als wir an
der Küstenbatterie vorbeifuhren, war die Schützenkompanie
schon da, und überhaupt schien die Ordnung auf der Landzun-
ge Einzug zu halten. Wir trafen auch den Chef des Bataillonsstabs, den Oberleutnant; er war unterwegs zu seinem neuen
Gefechtsstand, der sich wesentlich weiter vorn als der alte befand. Beim ehemaligen Gefechtsstand hielt sich Oberst Uljanow auf, der Stellvertreter des Divisonskommandeurs. Auch
Kiladse war dort. Als er Nikolajew erblickte, wurde er sehr
geschäftig und erklärte eilig, er habe uns vorhin nicht begleitet,
weil er ans Telefon gegangen sei, und dann, nach dem Telefonat, sei unser Wagen schon unterwegs gewesen. Er habe gerufen und gewinkt, aber wir seien weitergefahren.
Nikolajew hörte ihn zu Ende an, die Hände auf den Rücken
gelegt, um nicht die Beherrschung zu verlieren und zuzuschlagen, wie mir schien, und sagte in normaler Stimmlage: „Sie
sind kein Regimentskommandeur mehr. Ich erklärte Sie für
abgesetzt.“ Er wandte sich an Uljanow. „Provisorisch nehmen
Sie die Funktion des Regimentskommandeurs wahr. Sorgen Sie
dafür, daß der da“ – er nickte zu dem ehemaligen Regimentskommandeur hin – „nach Simferopol gebracht wird.“
Kiladse verfärbte sich und zitterte im wahrsten Sinne des
Wortes. Stotternd brachte er einige klägliche Erklärungen über
die Lippen. Er sei zwar schuldig, aber kein Feigling, er sei bereit, er wolle, er werde…
Nikolajew hörte ihn schweigend an. Ich stand hinter ihm und
sah, wie krampfhaft er die auf dem Rücken gefalteten Hände
knetete.
„Sie sind ein Feigling und ein Schädling“, sagte er deutlich,
„ich bring Sie vor das Gericht.“
Den letzten Satz wiederholte er sehr langsam, und auch das
war ein Zeichen dafür, welche Mühe er aufwandte, um sich in
der Gewalt zu behalten.
Nikolajew setzte sich mit Uljanow neben einen Heuschober
und erteilte ihm Anweisungen, und ich legte mich abseits ins
Gras. Es wurde langsam Abend. Ich dachte an verschiedene
Kriegstage. Mit Ausnahme der ersten war das gewiß der traurigste. Die Fülle der Eindrücke – die Todeskompanie, die weggeworfenen Waffen, die im Kampf unerfahrenen Männer, die
allgemeine Unordnung bei unserem Eintreffen hier auf der
Landzunge und Nikolajew, dessen menschliches Verhalten mir
sehr gefiel und der nach meinem verschwommenen Empfinden
doch nicht ganz so auftrat, wie es ein Mitglied des Kriegsrats
hätte tun müssen – das alles zusammen erschütterte mich, und
zum erstenmal bedrückte mich eine bittere Frage: Wie, wenn
die Deutschen trotz allem die Krim besetzen sollten? Ich fand
damals nicht die klare Antwort: Nein, das wird ihnen nicht
gelingen!
Wir nahmen wieder das Auto. Der Abendnebel lag schon über
dem Wasser, als wir beim Boot anlangten. Hier verabschiedeten wir uns von Pascha Anostschenko. In ihrer hastigen Redeweise sagte sie einige freundliche Worte, bedauerte den verwundeten Regimentskommissar und bat uns, sollten wir wiederkommen, unbedingt mit ihr zu fahren. Dann kletterten wir
ins Boot und wurden vom Kutter abgeschleppt. Die beiden
Fischer aus Genitschesk, die uns gebracht hatten, saßen im
Kutter, und wir hatten zu dritt im Boot Platz genommen: Nikolajew, Melechow und ich. Nikolajew trug weder Zeltbahn noch
Mantel bei sich und war durch nichts zu bewegen, das eine
oder das andere von mir oder von Melechow anzunehmen.
Das Wasser des Siwasch kräuselte sich leicht, als der Kutter
gemächlich seine Bahn zog.
„Ich bin selbst schuld“, sagte Nikolajew leise und finster, „es
ist meine Schuld. Immer habe ich sämtliche Stellungen inspiziert. Immer habe ich kontrolliert, wie sie sich verschanzt haben. Nur auf die Arabatsker Landzunge bin ich nicht gefahren.
Da vertraute ich Sawinow, der sagte: ,Alles in Ordnung.’ Es ist
meine Schuld“, wiederholte er, „meine Schuld.“
Als ich seine harte Miene sah, wußte ich, daß er wieder und
wieder auf die Arabatsker Landzunge fahren würde, daß er
innerlich die volle Verantwortung für diese verlorene Kompanie übernahm, daß er sich sein Versäumnis nicht verzieh und
nicht ruhte, bis er in alle Winkel gekrochen war und jeden Graben mit eigenen Augen gesehen hatte.
Am anderen Ufer der Halbinsel Tschongar erwartete uns der
Wagen.
Wir entfernten die Tarnnetze von den Scheinwerfern und
preschten mit Höchstgeschwindigkeit nach Simferopol.
So endete diese Reise, an die ich noch oft denken mußte, nicht
nur im Frühjahr 1942, als ich die entsprechenden Zeilen des
Tagebuchs diktierte, sondern auch später, 1945, in den Straßen
Berlins, wo sich die Erinnerung schon der Kontraste wegen
aufdrängte. Der Gerechtigkeit halber muß ich jedoch hinzufügen, daß die betrüblichen Episoden bei der Station Salkowo
und auf der Arabatsker Landzunge für die Septembertage in
mancherlei Hinsicht schon nicht mehr typisch waren. Hier stießen die Deutschen, die nach drei Kriegsmonaten die Krim erreichten, auf völlig unerprobte Einheiten, die noch nie im Gefecht gestanden hatten, und vieles, was ich mit eigenen Augen
gesehen und im Tagebuch notiert habe, ist auf diese Tatsache
zurückzuführen. Ich wende mich nun den Dokumenten zu, die
im großen und ganzen meine Tagebuchaufzeichnungen bestätigen. Der Kampf bei der Station Salkowo sah nach dem operativen Sammelbericht der 51. Armee folgendermaßen aus:
„Am 15. September zeigten sich geringe Kräfte des Gegners
auf dem Abschnitt der 276. Schützendivision. Nur deshalb,
weil die Einheiten der 276. Schützendivision noch immer einen
niedrigen Stand der Gefechtsbereitschaft aufwiesen, gelang es
um 10.30 Uhr zwei oder drei Panzern sowie einigen Kradfah-
rern, ohne auf Widerstand zu stoßen oder Verluste zu erleiden,
zu der Station Salkowo vorzudringen, , wo ein mit Autos und
Traktoren beladener unbekannter Güterzug eingefahren war.
Durch direkten Beschuß einer Panzerkanone wurde die Lokomotive zerstört, und der Zug blieb liegen. Etwa zur selben
Stunde griff eine Kradfahrerkompanie aus südwestlicher Richtung die Station Nowo-Alexejewka an, deren Gebiet vom 3.
Bataillon des 876. Schützenregiments nebst einer Batterie verteidigt wurde.
Die Besetzung der Station Salkowo durch den Gegner unterbrach die ständige Telephonleitung nach der Station NowoAlexejewka, wodurch die Kommandeure der 276. Schützendivision und des 876. Schützenregiments die Verbindung zum
Bataillonskommandeur verloren.
Im Verlaufe des 15. und bis 15.00 Uhr des 16. September
blieben Kommandeur und Stab der 276. Schützendivision unbeteiligte Zuschauer, wie ein kleines feindliches Häuflein vor
ihren Augen von dem Zug mit den Kraftfahrzeugen und Traktoren Besitz ergriff. Der Kommandeur der 276. Schützendivision unterließ es, die Lage des Bataillons des 876. Schützenregiments zu klären, ebensowenig ergriff der Kommandeur des
876. Schützenregiments Maßnahmen, um das 3. Bataillon zu
entsetzen. Erst auf meine Forderung hin unternahm der Divisionskommandeur den Versuch, die Station Salkowo an sich zu
reißen, die Kraftfahrzeuge abzutransportieren und eine Verbindung zum 3. Bataillon des 876. Schützenregiments herzustellen. Gegen 18.00 – statt 16.30 Uhr, wie vom Divisionskommandeur vorgesehen – begann der Angriff des Bataillons, aber
das schlecht organisierte Gefecht brachte keinen Erfolg. Unsere
Artillerie richtete mehrere Feuerstöße gegen die eigene Infanterie. Um 24.00 Uhr wurde der Angriff abgebrochen, und das
Bataillon erhielt den Befehl, die Gefechtssicherung aufzugeben
und bis zum Morgen in die Ausgangsstellung zurückzukehren.“
So hatte es sich tatsächlich zugetragen, und ich glaube, daß
dieser wirklichkeitsgetreue Bericht nicht zuletzt das Ergebnis
des Umstandes war’, daß Nikolajew, Mitglied des Kriegsrats
der Armee, alles mit eigenen Augen gesehen hatte.
Hätte er es aber nicht gesehen, so wäre der wahre Gang der
Ereignisse bei Salkowo dem Armeestab vermutlich unbekannt
geblieben oder doch nicht restlos zugänglich gemacht worden.
Weshalb ich das glaube?
Aus folgendem Grund. Am 16. September, 23.40 Uhr, also
etwa eine halbe Stunde bevor Nikolajew und ich nach dem
erfolglosen Angriff zu Sawinow in den Stab zurückkehrten,
hatte der Divisionskommandeur an das Korps gemeldet: „Am
späten Abend des 16. September nahm das Bataillon die Station Salkowo im Kampf ein. Unter dem Druck des vorgehenden
Bataillons wich der Gegner kämpfend zurück. Das Bataillon
wurde durch eine frische Kompanie mit der Auflage verstärkt,
die Station Salkowo bis zum Abladen der Kraftfahrzeuge und
der Klärung der Lage des 3. Bataillons in Nowo-Alexejewka zu
halten. Am Morgen führte ich das Bataillon in die Ausgangsstellung zurück.“
Diese ursprüngliche Meldung, die von der Division den vorgesetzten Stellen zugeleitet wurde, hatte mit der wirklichen
Lage kaum etwas gemein. Es genügt, sie und den oben zitierten
Sammelbericht der 51. Armee zu vergleichen.
Im Sammelbericht werden auch die Ereignisse auf der Arabatsker Landzunge genannt. „Ein Beispiel von Willenlosigkeit
und Feigheit lieferte an diesem Tag der Kommandeur des 873.
Schützenregiments, Oberst Kiladse, im nördlichen Abschnitt
der Arabatsker Landzunge. Statt den nördlichen Außenbezirk
von Genitschesk und dann den Nordteil der Arabatsker Landzunge zu verteidigen, wich die 4. Kompanie des 873. Schützen-
regiments kampflos in den Raum Genitscheskaja Gorka aus.
Da eine dreißig bis vierzig Mann starke Gruppe von Faschisten am 16. 9. nicht auf unsere Einheiten stieß, drang sie gegen
23.00 Uhr in den Nordteil der Arabatsker Landzunge vor, von
wo sie durch Artilleriefeuer vertrieben wurde, ohne daß die
Infanterie in den Kampf eingriff.
Die Tatsache, daß der Gegner mit Motorrädern ungeschoren
zur Arabatsker Landzunge vorrücken konnte, zeugt von der
Unfähigkeit und Feigheit des Kommandeurs des 2. Bataillons
des 873. Schützenregiments, des Oberleutnants Kusnezow.
Oberst Kiladse, Kommandeur des 873. Schützenregiments, der
sich am 16. 9. auf der Landzunge befand, setzte sich bei Zuspitzung der Situation schändlich, feige, selbstherrlich von der
Landzunge ab, ohne irgendwelche Maßnahmen einzuleiten, um
die Ordnung wiederherzustellen und die Rotarmisten und
Kommandeure des 2. Bataillons zu zwingen, den Gefechtsbefehl auszuführen. Überdies meldete Oberst Kiladse dem Divisionskommandeur, auf der Landzunge sei alles ruhig, und der
Divisionskommandeur, Generalmajor Sawinow, unterließ es,
die Richtigkeit der Meldung zu überprüfen.
Oberst Kiladse führte den Befehl des Divisionskommandeurs
nicht exakt aus. Statt sich unverzüglich auf die Arabatsker
Landzunge zu begeben und die Lage zu klären, begab sich
Oberst Kiladse erst am 17. 9. um 8.00 Uhr auf die Landzunge.
Nach dem Eintreffen im Raum Genitscheskaja Gorka unternahm Oberst Kiladse nichts, sondern setzte seine Untätigkeit
feige und schändlich fort.
Die Ereignisse auf der Arabatsker Landzunge offenbaren das
Fehlen einer straffen Führung und Kontrolle seitens des Divisionskommandeurs, Generalmajor Sawinow, sowie des Stabes
dieser Division und der Regiments- und Bataillonskommandeure der 276. Division. Sie zeigen eine verbrecherische Feig-
heit im Verhalten des Kommandeurs des 873. Schützenregiments, Oberst Kiladse.“
Und jetzt nehmen wir diese Episode, die schon zweifach dargestellt wurde – in meinen Tagebuchaufzeichnungen und in
dem oben zitierten Sammelbericht –, und sehen uns einmal
eine dritte Variante an. Im Juli 1942, als die Ereignisse schon
weit zurücklagen und der ehemalige Kommandeur des 873.
Schützenregiments, Oberst Kiladse, zu glauben schien, es sei
Gras über die Geschichte gewachsen, reichte er bei der Kaderverwaltung der Roten Arbeiter-und-Bauern-Armee eine Beschwerde ein. Darin heißt es:
„Mit der in der Beurteilung meiner militärischen Arbeit in den
Jahren des Vaterländischen Krieges gegebenen Einschätzung
meiner Kampfmoral bin ich nicht einverstanden. Im August
1941 wurde das Regiment an die Krimfront geworfen. Im Konzentrierungsraum des Regiments wurde das 2. Bataillon zur
selbständigen Besetzung eines Gebietes auf der Arabatsker
Landzunge herausgelöst. Dieses Bataillon befehligte ein unerfahrener Kommandeur.
In den letzten Augusttagen 1941 führte der Gegner im Abschnitt des 2. Bataillons eine Aufklärung durch; es gelang ihm,
die Positionen des Bataillons festzustellen. Ein Aufklärungstrupp des Bataillons mußte sich nach einem Scharmützel mit
dem Gegner unter Verlusten zurückziehen, wurde jedoch nicht
völlig aufgerieben. Die Verbindung zum 2. Bataillon wurde
ausschließlich durch Melder aufrechterhalten, da sich der Regimentsstab sowie zwei Bataillone am linken Siwaschufer befanden, das 2. Bataillon dagegen zweieinhalb Kilometer entfernt auf der rechten Seite des Siwasch.
Das Bataillon erhielt erst seine Feuertaufe, seine Führung
vermochte den Gegner nicht frühzeitig genug einzuschätzen
und unterließ es, seine Vernichtung zu organisieren. Sobald ich
davon erfuhr, setzte ich mit dem Stabschef ans andere Ufer
über und ergriff alle Maßnahmen…
Der Armeebefehlshaber ordnete eine Untersuchung der Ursachen an, die ein Vordringen des Gegners auf die Arabatsker
Landzunge ermöglichten. Es wurde festgestellt, daß der Bataillonskommandeur keine lückenlose Aufklärung in die Wege
geleitet und eine unzulängliche Sicherung organisiert hatte,
was zum Tod des Bataillonskommandeurs in besagtem Scharmützel führte und mir für mein ganzes Leben eine unverdiente
Beschuldigung eintrug, welcher der Armeebefehl über meine
Absetzung als Regimentskommandeur folgte, mit der Formulierung ,für erwiesene Charakterschwäche und Wankelmütigkeit’, obwohl durch das Untersuchungsmaterial bestätigt wurde, daß ich und der Stab zu diesem Zeitpunkt das Bataillon
nicht führen konnten, und das Verfahren gegen mich eingestellt
wurde, worüber ich eine Bescheinigung der Staatsanwaltschaft
der Krimfront besitze.“ Ich habe diese ein Jahr nach den Ereignissen – übrigens erfolglos – geschriebene Eingabe deswegen
angeführt, weil man sie sich zurückdatiert und als Meldung
vorstellen kann. So hätte dieser Mann die Vorgänge auf der
Arabatsker Landzunge seinen Vorgesetzten schildern können,
wäre zu seinem Unglück nicht Nikolajew dort gewesen, der
alles mit eigenen Augen sah.
In dem Armeebefehl wurde dem Generalmajor Sawinow wegen Nachlässigkeit und Unentschlossenheit eine Rüge erteilt.
Kiladse wurde wegen Tatenlosigkeit und Feigheit seiner Funktion enthoben und dem Militärgericht übergeben. Dieser Befehl
stellte auch den Kommandeur des auf der Arabatsker Landzunge liegenden Bataillons vor das Tribunal, obwohl er zu dieser
Zeit schon tot war. Der Befehl war offenbar in größter Eile zu
Papier gebracht worden, Nikolajew hatte nicht unterschrieben.
Der nächste Armeebefehl, der fünf Tage später erlassen wurde
und die Unterschrift Nikolajews trug, enthielt eine Korrektur.
„Angesichts des inzwischen geklärten Umstands, daß Oberleutnant Kusnezow, Kommandeur des 2. Bataillons des 873.
Schützenregiments, den Kampf einer einzelnen Gruppe des
Bataillons gegen den auf die Arabatsker Landzunge vorgedrungenen Gegner führte und dabei den Heldentod fand, befehle ich, Punkt 5 des Armeebefehls vom 18. September 1941 zu
streichen. Die Verantwortung für die falschen Informationen
über Oberleutnant Kusnezow trägt der ehemalige Kommandeur
des 873. Schützenregiments, Oberst Kiladse.“ Ich habe geschrieben, daß der erste Armeebefehl wahrscheinlich in aller
Eile abgefaßt wurde. Dafür spricht sein rasches Erscheinen.
Soviel ich weiß, wurde er durch eine Anfrage des Generalstabschefs B. M. Schaposchnikow ausgelöst, der – über welche
Kanäle, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis – von den
Vorgängen Wind bekommen hatte. Aus dem Wortlaut geht
hervor, daß der Bericht an Schaposchnikow gerichtet war und
eine Antwort auf seine Anfrage darstellte.
Rein militärisch gesehen, war keine Katastrophe geschehen.
Auf der Arabatsker Landzunge wurde die alte Lage ohne besondere Anstrengung wiederhergestellt, und jenes Bataillon der
276. Division, das die Deutschen bei Salkowo abgeschnitten
hatten, war entgegen den ersten Nachrichten nicht aufgerieben;
es hatte zwar fünfzig Mann an Toten und Verwundeten verloren, sich aber durch das rückwärtige Gebiet der Deutschen geschlagen und einer Division der auf dem Festland kämpfenden
9. Armee angeschlossen. Doch die Bedeutung der Ereignisse
und ihrer Lehren war weit größer als das Ausmaß der beiden
Mißerfolge. Von dieser Überlegung schien sich der Generalstab leiten zu lassen. Es war wichtig und nützlich, den zitierten
Befehl herauszugeben und die Dinge beim Namen zu nennen;
denn bis zum Beginn der deutschen Generaloffensive auf der
Krim verblieb uns knapp eine Woche.
Nun, und wenn man sich ein falsches Bild gemacht, wenn
man die frisierte Darstellung des Kommandeurs der 276.
Schützendivision vom Kampf um die Station Salkowo oder die
Erklärungen, die der Kommandeur des 873. Regiments zu seiner Verteidigung anführte, für bare Münze genommen hätte?
Was dann? Welche Auswirkungen hätten diese und ähnliche
Unwahrheiten bei unseren weiteren Verteidigungsanstrengungen auf der Krim gehabt? Sicherlich sehr nachteilige. Gewiß
war es diese Überzeugung, die mich damals zu Worten der
Entrüstung veranlaßten. Welches Unglück können doch Menschen heraufbeschwören, die einen Vorgesetzten mehr als den
Gegner fürchten.
Ich möchte dem, was über den Verlauf der Kämpfe bei Salkowo und auf der Arabatsker Landzunge bereits gesagt wurde,
nur noch ein Zeugnis hinzufügen. Der ehemalige Stellvertreter
des Befehlshabers der 51. selbständigen Krimarmee, General P.
I. Batow, schreibt in seinen als Buch erschienenen Erinnerungen:
„Die Verteidigung oblag hier, wie schon erwähnt, der 276.
Schützendivision, die erst nach Kriegsbeginn in Tschernigow
aufgestellt worden war; ihre Soldaten setzten sich zu mehr als
der Hälfte aus Leuten über dreißig Jahren zusammen, die keine
Gefechtsausbildung genossen hatten. Wie General I. S. Sawinow mir gegenüber freimütig bekannte, geriet er manchmal
außer sich, weil die Leute nicht einmal richtig mit dem Gewehr
umgehen konnten, die meisten Kommandeure aus der Reserve
kamen und keine Erfahrung in der militärischen Leitung hatten.
Ihm mit Kadern auszuhelfen war unmöglich, da das belagerte
Odessa damals unter äußerstem Offiziersmangel litt und die 51.
selbständige Armee sich von einigen ihrer Kommandeure trennen mußte, um sie dorthin zu schicken. Den Divisionskom-
mandeur kannte ich als qualifizierten Stabsangehörigen. Später,
im November und Dezember 1941, als ich auf der Halbinsel
Taman den Befehl über die 51. Armee übernahm, war General
Sawinow bei uns Stellvertreter des Armeestabschefs, und nach
dem Tod General Schischenins stand er an der Spitze des
Stabs. Hier leistete er Ausgezeichnetes bei der Vorbereitung
einer Seelandungsoperation. Er war ein sehr erfahrener Stabsarbeiter, aber eine Divsion zu führen fiel ihm offensichtlich
schwer. Sein weicher Charakter, seine umgängliche Art, seine
Gewohnheit, mehr zu vertrauen als zu kontrollieren, brachten
ihn in vollen Gegensatz zu Tschernjajew und Perwuschin, und
dann hatte er noch eine Schwäche, die im Krieg sehr gefährlich
war. Nichts fürchtete der Kommandeur der 276. Division so
wie seine Vorgesetzten. Ein Tadel beraubte ihn seiner Arbeitsfähigkeit.“
Mein besonderes Interesse erregten in Batows Memoiren auch
einige Bemerkungen über Andrej Semjonowitsch Nikolajew.
Zwei davon führe ich an.
„Nikolajew inspizierte, wie es seine Art war, sämtliche Stellungen der 156. Division, ausgerechnet an einem Tag, als uns
die deutschen Flugzeuge das Leben zur Hölle machten. Nun,
dieser Nikolajew blieb gegenüber den Gefahren des Gefechts
nicht nur gleichgültig, im Gegenteil, das Bewußtsein, diese
Gefahren mit den Massen der Soldaten und Offiziere zu teilen,
versetzte ihn geradezu in Hochstimmung. Leider fand er keine
Antwort auf brennende Fragen: die Einschätzung des Gegners,
seine vermutliche Stoßrichtung und nicht zuletzt unsere Reserven…“
„…. machte ihm wie vielen Genossen, die Ende der dreißiger
Jahre außerordentliche Beförderungen erfuhren, einiges zu
schaffen… Auf Chassan war er Regimentskommissar, jetzt
aber Mitglied des Kriegsrats einer Armee, die eine Front reprä-
sentierte. Zwischen ihm und dem Befehlshaber gab es kein
Einvernehmen. Da sich Nikolajew außerstande sah, den Armeeführer zu wandeln, korrigierte er die Umstände und fuhr zu
den Regimentern, dorthin, wo gekämpft wurde und wo er ganz
in seinem eigentlichen Element war.“ Als ich das gelesen hatte,
dachte ich noch einmal über Andrej Semjonowitsch Nikolajew
nach. Ich überprüfte meine damalige, im allgemeinen enthusiastische Bewertung seiner Persönlichkeit und versuchte zu ergründen, wer dieser Mann wirklich war, nicht aus der Sicht
eines Frontkorrespondenten, den seine Tapferkeit begeisterte,
sondern von einem so wesentlichen Standpunkt, wie ihn Batow
vertrat. Nikolajew… Ich betrachtete seine Kaderakte, die verschiedenen Archivunterlagen, die bald den einen, bald den anderen Abschnitt seines Lebenslaufs erhellen. Batow hatte
wahrscheinlich recht. Auf der Krim, in einer so exponierten
Stellung, war Nikolajew überfordert. „14. August 1936 Verleihung des Dienstgrades Oberpolitleiter.
3. Dezember 1937 Ernennung zum Chef der Politabteilung
der Generalstabsakademie. 8. Dezember 1937 Verleihung des
Dienstgrads Bataillonskommissar. 8. Juli 1938 Betrauung mit
der Wahrnehmung der Pflichten eines Chefs der Politabteilung
der 1. Armee der Fernöstlichen Rotbannerfront. IO. Juli 1938
Verleihung des Dienstgrades Brigadekommissar.
31. Juli 1938 Bestätigung als Chef der Politabteilung dieser
Armee. 10. September 1938 Ernennung zum Chef der Politabteilung der 1. Selbständigen Rotbannerarmee. 18. November
1938 Ernennung zum Mitglied des Kriegsrats des Kiewer Besonderen Militärbezirks.
19. November 1938 Verleihung des Dienstgrads Divisionskommissar. 2. Februar 1939 Verleihung des Dienstgrads
Korpskommissar.“ Zieht man das Fazit dieser Entwicklung,
dann war also der Mann, der am 2. Dezember 1937 als höherer
politischer Leiter die Militärpolitische Akademie absolvierte,
genau vierzehn Monate später bereits Korpskommissar und
Mitglied des Kriegsrates eines Militärbezirks. Was soll man
dazu sagen?
Selbst ein der Sache ergebener und unerschrockener Mensch
vermag sich nicht einzig und allein kraft der Befehle in einem
Jahr oder zwei von einem höheren politischen Leiter zu einem
Korpskommissar zu entwickeln, wie das bei Nikolajew geschehen sein sollte, oder von einem Oberleutnant zum stellvertretenden Volkskommissar für Verteidigung und zum Oberbefehlshaber der Luftstreitkräfte aufzuschwingen, wie das zum
Beispiel bei einem so außerordentlich tapferen Piloten wie Rytschagow der Fall war.
Sinne ich heute über Nikolajew nach, so begreife ich weitaus
besser als damals, 1941, daß er nicht die Voraussetzungen mitbrachte, Mitglied des Kriegsrates einer Armee zu sein, die eine
Front repräsentierte. Was er vermochte und seinem Wesen
nach auch darstellte, das war, ein tapferer, ein hervorragender
Regiments- oder Divisionskommissar zu sein.
Damals, 1941 auf der Krim, bewunderte ich ihn, weil ich ihn
gerade in solchen Situationen erlebte, in denen er den Platz
eines furchtlosen Regiments- oder Divisionskommissars ausfüllte und all das tat, wofür er besonders geeignet war. Darum
beeindruckte er mich so sehr.
Nach Simferopol zurückgekehrt, ging Nikolajew geradenwegs
zum Befehlshaber, und mich führte Melechow in das Zimmer
der Adjutanten. Kurze Zeit darauf trat Wassili Wassiljewitsch
Rostschin ein. Melechow und ich berichteten von unseren Erlebnissen; dabei unterbrachen wir uns gegenseitig. Rostschin
saß vor uns und betrachtete uns mit seinen klugen, traurigen
Augen. Wir erwähnten die Ängste, die wir ausgestanden hatten, aber das schien ungehört an seinen Ohren vorüberzurau-
schen. Dagegen beunruhigte ihn sichtlich, was ich zwar nicht
aussprach, aber was mich doch bei meinem Bericht über die
Arabatsker Landzunge bewegte und erregte. Danach nahm er
mich schweigend bei der Hand und brachte mich zu seinem
Diwan. Ich schlief augenblicklich ein, ich stürzte in einen bodenlosen Abgrund.
Am nächsten Tag wurde in Simferopol der Held der Sowjetunion Trubatschenko zu Grabe getragen. Ich kannte ihn vom
Chalchyn gol her. Er war bei einem Luftkampf gefallen und
wurde feierlich – mit Musik, Fahnen und Reden – beigesetzt.
Bei dem Gedanken, daß die Deutschen jetzt in Simferopol
sind, sehe ich jenen Morgen vor mir, den gefallenen Trubatschenko, Blumen über Blumen… Ein verwüstetes Grab stimmt
mich trauriger als eine verwüstete Stadt.
Nach dem Begräbnis verbrachte ich den Rest des Tages in der
stillen Wohnung, wo ich schrieb, meine Gedanken und Erinnerungen ordnete.
Chalip war in Sewastopol hängengeblieben. Er photographierte dort Matrosen und Flieger. Da ich meine Arbeit abgeschlossen hatte, fuhr ich anderntags zu ihm.
Gegen Mitternacht kehrten wir nach Simferopol zurück. Für
alle Fälle suchte ich Nikolajew im Stab auf. Nächstentags wollte er sich die Stellungen ansehen, zuerst am Faulen Meer, dann
auf der Arabatsker Landzunge.
Am Morgen fuhr Chalip mit unserem Wagen zu den Fliegern,
und ich begleitete Nikolajew zum Siwasch. Unterwegs grübelte
ich über meine Arbeit nach. Einerseits sah ich hier manches
und würde sicherlich noch viel zu sehen bekommen, andererseits wußte ich nicht so recht, wie ich das alles für die Presse
verwerten konnte. Sollte ich darauf verzichten, die Landschaft
zu beschreiben, den Ort des Geschehens zu nennen? Meine
Berichte schminken, zurechtstutzen, in die Odessaer Gegend
verlegen? Oder durfte ich schon die Kämpfe im Vorfeld der
Krim schildern? Das alles mußte geklärt werden, und nach reiflichem Überlegen eröffnete ich Nikolajew, daß ich demnächst
für zwei, drei Tage nach Moskau fliegen wollte, um Material
abzuliefern und mich über mein weiteres Vorgehen zu erkundigen, was ich schreiben durfte und was nicht.
Wir brachten diesen ganzen Tag am Siwasch zu, wo alles ordentlich befestigt war. Ufer und Sandbänke waren vermint,
Drahtverhau versperrte nicht nur das Land, sondern auch die
seichten Buchten. Auf den Erhebungen standen Betonbunker
und Stahlkuppeln, und ein stark verzweigtes System von Gräben und Verbindungsgängen vereinigte alles zu einem Ganzen.
Die deutsche Luftwaffe hatte ihre Tätigkeit über der Krim
schon erheblich verstärkt, und zweimal gerieten wir in Bombenhagel. Auf der Erde war es noch ruhig. Nur am anderen
Ufer zeigten sich kleinere feindliche Gruppen – Infanterie, Motorradfahrer. Unsere Artillerie nahm sie unter Beschuß. Unsere
Spähtrupps, die drüben operierten, wurden hier und da in
Schießereien verwickelt. Mit bloßem Auge konnten wir beobachten, wie die Artillerie einen feindlichen Zug beschoß, wie
sich die Deutschen hinlegten, weiterliefen, wieder hinlegten…
Kurz, es war die Ruhe vor dem Sturm, ein ereignisarmer Tag,
ohne Höhepunkte und Tiefen. Chalip hatte mir wieder eine
seiner Kameras überlassen, und ich photographierte. Die Aufnahmen erschienen später in der „Krasnaja Swesda“.
Nikolajew überprüfte die Stellungen gründlich, lief durch die
Gräben, erkundigte sich nach allem möglichen, angefangen bei
sauberer Leibwäsche bis zum Tabak, und er überzeugte sich
auch persönlich davon, wie die Leute lebten, kostete das Essen
aus dem Kochgeschirr. Da er ein einfacher und kluger Mensch
war, erweckte das alles nicht den Anschein gekünstelter Sorge,
es wirkte ungezwungen, aufrichtig und ganz natürlich.
Eine gute Division, in ihrem Kern ein Eliteverband, verteidigte den Siwasch, und Oberst Perwuschin war ihr Kommandeur.
Später, beim Rückzug, schlug sich diese Division am besten.
Sie verließ die Krim nach sehr schweren Kämpfen in einem
geordneten Rückzugsmanöver. A. N. Perwuschin wurde daraufhin zum General befördert und befehligte fortan die 44.
Armee.
Hier, am Siwasch, gefiel er mir sehr in seiner Rolle eines Divisionskommandeurs. Er war ein willensstarker, zurückhaltender Mensch, streng und energisch, bei jeder Gelegenheit merkte man, daß er seine Division fest in der Hand hatte. Die gleiche Korrektheit und Strenge spürte man bei seinen Regimentskommandeuren. Auch Kusnezow, der Befehlshaber der 51.
Armee, besuchte die Stellungen der Division. Wie Nikolajew
kontrollierte er hier das Verteidigungssystem. Sie waren betont
höflich zueinander, aber hinter ihren geschliffenen Umgangsformen verbarg sich kühle Reserviertheit.
Wir gingen gerade einen Graben entlang, als über uns die
Flugzeuge auftauchten. Alle suchten sofort Deckung – und das
war natürlich auch richtig –, nur Nikolajew stand oben auf der
Brustwehr und guckte, von woher die Maschinen anflogen und
wo sie im Sturzflug niedergingen.
Kusnezow rief erbost aus dem Graben hinauf: „Andrej Semjonytsch! Runter! Sie verraten uns doch!“
Nikolajew sprang gehorsam in den Graben, räusperte sich jedoch unwillig. Melechow sagte mir, der Korpskommissar und
der Befehlshaber seien sich nicht mehr recht grün, seitdem Nikolajew – wenige Tage zuvor – während einer gemeinsamen
Fahrt bemerkt habe, der Befehlshaber zeige nach seiner Meinung bei dem leisesten Geräusch von Flugzeugmotoren eine
übertriebene Hast, aus dem Wagen zu stürzen. Freilich maße
ich mir kein Urteil darüber an, inwieweit diese Behauptung der
Wirklichkeit entsprach.
Gegen Abend fuhren wir auf die Halbinsel Tschongar. Dort
übernachteten wir wie das erstemal bei Sawinow, und am Morgen ging es zur Arabatsker Landzunge weiter.
Nikolajew wollte selbst sehen, welche Maßnahmen ergriffen
waren. Diesmal verbarg er seine Ironie nicht, als er Sawinow
fragte: „Sie sind wohl schon dort gewesen?“
„Ja“, sagte Sawinow.
„Sie sind wohl völlig im Bilde?“
„Ja“, sagte Sawinow.
„Dann kommen Sie doch mit und zeigen mir, welche Maßnahmen Sie eingeleitet haben.“
Am Morgen setzten wir per Motorboot wieder zur Arabatsker
Landzunge über.
An der Stelle des Bataillonsgefechtsstandes waren jetzt Uljanow und sein Stab untergebracht. Während Nikolajew und Sawinow mit ihm sprachen, suchte ich Pascha Anostschenko, die
jetzt für den Regimentsstab fuhr. Gelegentlich wollte ich über
sie schreiben. Wir setzten uns auf einen Heuhaufen, und ich
interviewte sie. Es war eine höchst einfache Lebensgeschichte,
die mir das Mädchen in flottem Tempo, mit südlichem Akzent
und heftig gestikulierend erzählte. Pascha trug keine Uniform,
zum Einkleiden hatte die Zeit nicht ausgereicht. Ihr ohnehin
hageres Gesicht wirkte beim Sprechen noch spitzer, die Augen
wurden noch größer.
Nachdem sie mir von den Ereignissen der letzten beiden Tage
berichtet hatte, zog sie mich an der Hand zu ihrem Anderthalbtonner und zeigte mir, wo tags zuvor während des Verwundetentransports Granatsplitter den Wagen durchschlagen hatten.
So photographierte ich sie, in ihrem Kleidchen und dem dreieckigen Tuch neben dem durchlöcherten Anderthalbtonner.
Diese Aufnahme erschien später in der „Krasnaja Swesda“.
Nach dem Interview ging ich zu Nikolajew zurück. Ihm wurde gerade eine Frau mit einem Bündel auf dem Rücken vorgeführt. Sie wohnte in Genitschesk und war in der Nacht über die
gesprengte Brücke gekommen. Die Brücke war so flach eingesunken, daß man sie, bis zur Brust im Wasser, benutzen konnte. Eine Patrouille hatte die Frau auf dieser Seite aufgegriffen.
Die Angehörigen der Streife hatten Mitleid gehabt, die Verpflegung mit ihr geteilt, und derjenige, der sie zum Stab brachte, beteuerte immer wieder, daß er sie zu seinem Leidwesen
nicht ins Dorf Genitschcskaja Gorka passieren lassen durfte.
Der Befehl lautete, es müßten alle vorgeführt werden, aber
sonst natürlich – mit dem größten Vergnügen… Kurzum, sie
wurde zum Stab gebracht.
Der Angehörige der Sondereinheiten hatte die erste Befragung
durchgeführt und behauptete, die Frau sei uninteressant und
unverdächtig. Sie habe Genitschesk verlassen, um sich nach
Genitscheskaja Gorka zu begeben, ihrem früheren Arbeitsort,
und sich von dort zu ihrer verheirateten Schwester nach
Kertsch durchzuschlagen. Eine kleine Person mit dunklem,
ausdruckslosem Gesicht, keine Schönheit, alles an ihr war
schwarz, nicht nur das Kleid, auch das Gesicht.
Nikolajew betrachtete sie mißtrauisch, und als er den Mann
von der Sondereinheit entlassen hatte, verhörte er sie selbst.
Den ersten Verdacht erregte der Inhalt ihres Bündels. Nikolajew befahl ihr, es aufzuschnüren. Zum Vorschein kam nicht
etwa, was jemand bei der sorgfältigen Vorbereitung einer geplanten Reise einpacken würde. Sie hatte alles zusammengerafft, was ihr zufällig unter die Finger geraten war. Aber seit
dem Eintreffen der Deutschen, und das war schon einige Tage
her, hatte sich diese Frau angeblich mit Fluchtabsichten getragen.
Das Gespräch war lang und zermürbend. Die Unbekannte ver-
riet weder List noch Verstand, sie zeigte sich weder erschrocken, noch zürnte sie. Offenbar hatte man ihr eingeschärft, was sie sagen sollte, und daran hielt sie hartnäckig fest,
auch dann noch, als der Schwindel offensichtlich wurde.
Ich erinnere mich nicht an alle Einzelheiten des Verhörs, aber
es dauerte etwa zwei Stunden. Nikolajew mußte ihr jedes Wort
aus dem Munde ziehen. Anfangs gab sie gar nichts zu, dann
gestand sie, daß die Deutschen sie mit vorgehaltener Waffe
gezwungen hätten, herzukommen, um für sie zu spionieren.
Das zu tun sei jedoch nicht ihre Absicht gewesen. Vielmehr
habe sie Einverständnis vorgetäuscht, um leichter fliehen zu
können. Dann wurde festgestellt, daß sie einen Passierschein
für die Rückkehr hatte und daß vereinbart worden war, wie sie
wieder auf die andere Seite gelangen konnte. So entpuppte sich
diese harmlos aussehende Frau nach und nach als angeworbene
Spionin. Sie war eine jener zahlreichen Kundschafterinnen, die
seit Kriegsbeginn bald hierhin, bald dorthin geschickt wurden,
meist aufs Geratewohl und in der Hoffnung, diese oder jene
Angaben zu erhalten. Selten gelang es ihnen, häufiger wurden
sie überführt. Die Deutschen scherte das wenig. Wer auf der
Strecke blieb, hatte Pech. Dafür brachten diejenigen, die erfolgreich waren, einige Informationen mit.
Diese Frau hier sollte erkunden, wie stark unsere Panzerabwehr auf der Arabatsker Landzunge war. Als Gegenleistung
hatte man ihr zehntausend Rubel versprochen. „Zehntausend
Rubel!“ Sie sprach das beinah andächtig aus, als wolle sie
durch die Nennung der Summe ihr Handeln rechtfertigen. Anscheinend war es nach ihrer Meinung ein Preis, für den man
jede Schandtat begehen konnte. Sie war die Tochter eines reichen, 1930 enteigneten Großbauern und ging mit ihrer Familie
in die Verbannung, kehrte jedoch zurück. Ihr Bekanntenkreis
setzte sich aus ehemaligen Verbannten zusammen. Die einen
waren entlaufen, die anderen legal zurückgekehrt. Ihr Geliebter
Kostjukow – dieser Name ist mir in Erinnerung geblieben –
war schon vor dem Krieg aus der Verbannung entflohen und
hatte sich nicht nur in die Armee, sondern sogar in die „Kommandeursschule“ eingeschlichen. Mit den Deutschen zusammen kam er von Nikolajewa nach Genitschesk, und durch seinen Einfluß wurde sie Spionin. Man erschoß sie nicht, weil
man hoffte, dieses Kostjukow mit ihrer Hilfe habhaft zu werden. Sie gab zu verstehen, daß sie den Geliebten verkaufen
würde, um ihr Leben zu retten.
Nach dem Verhör betrat Pascha Anostschenko den Unterstand. Die Blicke der beiden Frauen begegneten sich.
Sie zupfte Nikolajew am Ärmel, und da sie keine Ahnung von
Rängen und Stellungen hatte, sagte sie: „Genosse Chef, wann
fahren wir? Der Wagen steht bereit. Ich warte. Aber ich möchte
ganz nach vorn mitkommen. Daß Sie mich nicht sitzenlassen.
Nein, Genosse Chef?“ Hinter Pascha verließ ich den Unterstand.
„Genosse Chef“, sagte sie zu mir und zupfte mich am Ärmel,
wie sie vorher Nikolajew gezupft hatte. „Warum geben Sie sich
mit der ab? Ich würde sie erschießen, und fertig. Sie lassen sie
doch nicht etwa laufen?“
„Das werden wir nicht tun“, sagte ich.
Eine Viertelstunde später war der Anderthalbtonner zur
Hauptkampflinie unterwegs, und Pascha saß am Lenker.
An dieser Stelle, an der ich im Tagebuch zum letztenmal Pascha erwähne, ergreife ich gern die Gelegenheit, noch ein wenig von ihrem weiteren Schicksal zu erzählen.
Die „Krasnaja Swesda“ brachte nicht nur ihr Bild, sondern
auch mein Porträt „Das Mädchen aus dem Salzwerk“. Wie mir
später klar wurde, hätte ihr damals, im Jahre 1941, beides teuer
zu stehen kommen können. Das Gesicht dieser verwegenen
und selbstlosen Fahrerin war mir lange im Gedächtnis geblieben. Fünfzehn Jahre nach jenen Ereignissen auf der Krim, die
im Tagebuch festgehalten sind, schrieb ich die kleine Novelle
„Pantelejew“. Darin kommen die Arabatsker Landzunge und
die verlorene Kompanie vor – und ein Mädchen, das keine Zeit
zum Einkleiden gefunden hatte, das in zivilem Aufzug – verschossenem Kleid und Kopftuch – unter Beschuß Granatwerfer
fuhr, die sie an ihren von Splittern durchlöcherten Anderthalbtonner gekettet hatte. Eben diese Novelle war es, die mir nach
weiteren zehn Jahren dazu verhalf, Pascha Anostschenko aufzuspüren. Eines Tages fand ich auf meinem Schreibtisch einen
Brief aus Kertsch vor. Der Absender war mir unbekannt, aber
nachdem ich die ersten Zeilen gelesen hatte, wußte ich, wer es
war. Dies ist der leicht gekürzte Wortlaut:
„Ich wende mich mit einer Bitte an Sie. Die Sache betrifft einen Artikel, der in der Zeitschrift ,Moskwa’ unter der Überschrift ,Paritelejews Erzählung’ erschienen ist. In dieser Erzählung beschreiben Sie etwas, was auf der Krim, auf der Arabatsker Landzunge, nahe Genitschesk, passiert ist. Die Erzählung handelt von einem Mädchen, das Fahrerin war und Munition nach vorn brachte. Als ich diese Erzählung las, erkannte
ich mich in der Fahrerin wieder. Das war Ende September
1941. Ich war Zivilbeschäftigte, man hatte mich mit dem Wagen zur Stärkung der Verteidigungskraft herangezogen. Aus
dem Dorf Genitscheskaja Gorka, wo sich der Stab befand,
brachte ich durch das Pionierlager Granaten in unsere Stellungen vor Genitschesk. Die Deutschen beschossen den Wagen, in
dem sich fünf Soldaten und auch Granaten befanden, und der
Regimentsgranatwerfer war angekettet. Ein Granatsplitter zerschmetterte die Motorhaube, die wegflog. Der Motor war
glücklicherweise nicht beschädigt, aber die Kugeln hatten den
oberen Teil der Karosserie durchschlagen. Der Motor stand
still. Die Soldaten suchten Deckung im Graben, und ich säuberte die Kraftstoffleitung. Dann startete ich, nahm die Soldaten auf, und wir fuhren weiter. Die Granaten wurden bei einem
Flauschen unweit des Pionierlagers abgeladen. Der Beschuß
dauert an. Das Haus bekam einen Volltreffer, was den Wagen
und die Granaten rettete… Diese Ereignisse wurden später in
der Zeitung unter der Überschrift ,Das Mädchen aus dem
Salzwerk’ beschrieben, am 2. Oktober 1941, soviel ich weiß.
Jahre vergingen. Die Tage des Krieges gerieten in Vergessenheit, und einmal kam eine Lehrerin, der ich von Genitschesk
erzählt hatte. Sie brachte mir eine Zeitung mit einer Beschreibung dieser Vorkommnisse. In der ganzen Familie wurde die
Erzählung gelesen. Dann schickte ich sie dem studierenden
Sohn nach Leningrad, und er gab sie einem anderen zum Lesen
weiter. So ist sie verschwunden.
Nun habe ich keine Erinnerung an diese Kriegserlebnisse
mehr in Händen… Wie gern hätte ich eine Nummer aus den
Kriegsjahren, in der diese Episode meines Lebens beschrieben
wird. Aber wo gibt es solche Zeitungen? Vielleicht können Sie
mir hierbei behilflich sein? Es grüßt Sie hochachtungsvoll
Praskowja Nikolajewna Kolupowa, geb. Anostschenko. Die
Zeitung hat meinen Mädchennamen richtig gebracht, aber die
Zeitschrift nicht. Dort stand Gorobez statt Anostschenko.“
Ich schrieb Praskowja Nikolajewna und erhielt bald Antwort.
„… bitten Sie mich, über mein weiteres Schicksal nach dem
September 1941 zu berichten. Ich will es Ihnen schreiben. Am
2. November 1941 folgten wir dem Befehl zu einem zeitweiligen Rückzug und setzten uns durch die Meerenge nach Taman
ab. Ich fuhr damals einen Sanka. In Taman bestellte mich
Oberst Uljanow zu sich und sagte mir, daß sich unser Regiment
auflöse und ich mich mit den Soldaten nach der Eisenbahnstation Rogowskaja, Gebiet Krasnodarsk, zu begeben hätte, und
zwar zum Sanitätsbataillon 217. Dort begegnete ich meinem
Mann Georgi Jefimowitsch Bespjatkin, der damals Leutnant
war. Geheiratet hatte ich schon vor dem Krieg, aber im Ausweis war noch nichts geändert, und so behielt ich meinen Familiennamen bei. Lange konnten wir nicht zusammen bleiben.
Am 22. März wurde unsere 156. Division zur Unterstützung
der Landungsoperation nach Kertsch geschickt. Am 9. Mai
begannen wir den Rückzug. Ich transportierte mit dem Sanka
Verwundete aus dem Dorf Michailowka in die Festung von
Kertsch, und am 14. Mai sagte mir der Oberleutnant, daß mein
Mann G. J. Bespjatkin bei den Kämpfen um Kertsch gefallen
sei.
Nach dem Rückzug von Kertsch wurden wir wieder an die
Front von Rostow geschickt. Nahe Rostow gerieten wir am
Manytsch in einen Kessel. Auf Befehl unseres Kommandeurs
bildeten wir kleine Gruppen, um uns nachts aus der Umzingelung zu lösen. Tagsüber trug ich Zivil und beschaffte Lebensmittel für unsere Gruppe. Wir zogen durch die Salsker Steppen.
Dann wurde es schwierig, und man sagte mir, als werdende
Mutter sollte ich mich lieber allein durchschlagen. So ging ich
allein weiter. Das war sehr schwer. Ich lief vor allem nachts,
wählte Feldwege und brauchte etwa einen Monat und zehn
Tage.
Um das Salzwerk, wo ich früher gearbeitet hatte, machte ich
einen Bogen, da ich erfuhr, daß ich dort gesucht wurde und daß
beim Polizeichef ein Zeitungsausschnitt über mich unter der
gläsernen Schreibtischplatte lag – ein Photo und ein Artikel –
und daß er immerfort fragte, ob ich nicht zurückgekehrt sei. So
gelangte ich in ein anderes Salzwerk bei Kertsch, aber auch
hier sprach es sich herum, daß ich in der Armee gedient hatte.
Der Polizeibeamte der Ortschaft fragte mich, mit welcher Absicht ich hergekommen sei, und schlug mich. Zu dieser Zeit
wurde mein Sohn geboren. Ich nannte ihn zu Ehren meines
toten Mannes Georgi.
Die Gattin des Polizeibeamten trat für mich ein. Es tat ihr als
Frau leid, weil ich ein kleines Kind hatte. Trotzdem sagte der
Polizist einem deutschen Offizier Bescheid, ich sei russischer
Soldat und mein Mann Kommandeur. Der Offizier kam zu uns
nach Hause, schlug mich und sagte, man werde mich erschießen. Er drohte, wenn ich fortliefe, würden sie alle meine Verwandten erschießen, und er fuhr zur Gestapo. Zu meinem
Glück kam er dort nicht an, sondern wurde unterwegs getötet.
Ich aber nahm mein Kind und fuhr in den Kreis Islametr, wo
ich bis zur Befreiung von Kertsch lebte. In den Ortschaften
wohnten Evakuierte aus dem Salzbergbau. Sie wußten alles
über mich, verrieten mich jedoch nicht, und wenn sie Flugblätter fanden, brachten sie sie mir zum Lesen.
Nach der Befreiung der Krim schickte mich die Salzbehörde
des Kreises sofort als Fahrer nach Marfowka. Dort arbeitete ich
bis 1947. In Marfowka lernte ich Wassili Iwanowitsch Kolupow kennen. Er war schwerbeschädigt. Den Krieg hatte er in
Leningrad verbracht und die Blockade überlebt. Er war alleinstehend und hatte zwei Kinder, und ich beschloß, ihn zu heiraten und meinen Sohn und diese beiden Kinder aufzuziehen.
Unsere ganze Familie siedelte auf die Arabatsker Landzunge
über, wo ich wieder als Fahrer arbeitete.“ Zum Schluß des
Briefes schreibt Praskowja Nikolajewna kurz über ihr späteres
Leben. Daß sie im Kolchos „Rasswet“ arbeitete, ihren alten
Beruf als Kraftfahrer jedoch aufgegeben hatte. Die drei ältesten
Söhne ihrer Familie sind jetzt auch schon erwachsen und verheiratet. Der eine arbeitet in leitender Stellung beim Post- und
Fernmeldedienst, der zweite ist Bergbaumeister, der dritte
Kraftfahrer. Die vier kleineren Kinder – drei Töchter und ein
Sohn – befinden sich noch in der Ausbildung. Der Jüngste,
Wassilek, besucht die erste Klasse.
Ich besorgte für Pascha die alte Nummer der „Krasnaja Swesda“ mit meinem Artikel und ihrem Photo aus einem Archiv.
Aus dem Porträt geht hervor, wie besorgt wir damals um ihr
Schicksal waren.
„… Von fern noch hörten wir häufige Granatdetonationen.
Unwillkürlich dachten wir an Pascha. Wir wollten ihr weißes
Tuch sehen und ihr kornblumenblaues Kleid, wir wollten den
eilig fließenden Strom ihrer Rede hören, und wir bangten um
sie. Wir hatten Angst, weil man im Krieg allzu häufig jemanden kennenlernt, den man dann nie wieder sieht…“
Qualvoll oft waren solche Befürchtungen völlig begründet.
Das konnte sich auch diesmal wieder bewahrheiten – auf der
Arabatsker Landzunge, bei Kertsch, bei Rostow, während der
Einkreisung, während der Besetzung… Dennoch kam es anders, obwohl ich erst nach so vielen Jahren davon erfahren sollte.
Zurück zu meiner Schilderung, die ich unterbrochen habe.
Diesmal fuhr Sawinow auf dem Anderthalbtonner mit. Zunächst hielten wir bei den Artilleristen, dann an der Stelle, wo
wir zwei Tage zuvor unsere ersten Toten gesehen hatten. Jetzt
trafen wir dort Marineinfanterie. Die Matrosen hatten sich
sorgfältig eingegraben, ebenso die Infanteristen, die hinter ihnen lagen und die Batterie deckten. Es war eine Küstenbatterie,
und der Kompaniechef der Matrosen fragte Nikolajew, ob man
denn nicht alle Angehörigen der Seestreitkräfte vereinen könne, so daß sie auch den Schutz ihrer Batterie übernähmen. Dieselbe Bitte hatte vorher der Batteriechef ausgesprochen, als wir
dort gehalten hatten, und Nikolajew hatte zugestimmt. Jetzt
sagte er jedoch zu meiner Verwunderung: „Nein, nein, Sie
bleiben, wo Sie sind. Graben Sie sich hier ein!“
Wir hielten uns noch ein wenig bei den Matrosen auf. Es war
verhältnismäßig ruhig. Die Deutschen schossen leichtes Störfeuer mit Granatwerfern, alle fünf bis sechs Minuten eine Granate. Als wir umkehrten, dämmerte es schon.
Ich wandte mich an Nikolajew. „Genosse Korpskommissar,
beantworten Sie mir bitte eine Frage.“
„Ja.“
„Warum haben Sie dem Chef der Küstenbatterie gesagt, daß
Sie die Matrosen zu ihm verlegen, wenn die Matrosen dort
bleiben müssen, wo sie sind?“
Nikolajew lachte auf. „Warum, warum! Natürlich werden sie
verlegt! Wir werfen die Infanterie nach vorn, und sie ziehen
wir zur Batterie zurück. Ich habe es ihnen nur nicht gesagt.
Wenn sie wissen, daß sie verlegt werden, bauen sie ihre Gräben
nicht fertig aus, für andere machen sie das nicht. So schanzen
sie die ganze Nacht. Für sie selbst sind die besten Stellungen
gerade gut genug. Morgen früh werden sie zwar stöhnen, daß
sie umsonst geschuftet haben, aber die Gräben haben ihren
letzten Schliff. Verstehen Sie? Na also!“ Er brach in lautes Lachen aus. Bei der Rückfahrt photographierte ich die Batterie.
Diese Aufnahmen erschienen später in der Presse. Den Liman
erreichten wir sehr spät. Es war eine tiefschwarze südliche
Nacht. Wir waren etwas umhergeirrt und hatten die Anlegestelle nicht gleich finden können. Während wir das Motorboot
suchten, redete Sawinow pausenlos auf Nikolajew ein. Nikolajew schwieg unzufrieden. Sawinow war ohne ihn nur bis zu
Uljanows Gefechtsstand gefahren, obwohl er ihm eingeschärft
hatte, alles zu besichtigen. Schon als wir den Regimentsgefechtsstand verlassen hatten, wußte er, daß Sawinow nicht vorn
gewesen war. Nikolajew sagte es ihm nicht ins Gesicht, gab
ihm aber zu verstehen, daß er genau im Bilde war.
Zu weit vorgerückter Stunde setzten wir uns ins Boot. Das
Wasser war kalt, ein kräftiger Wind trieb schaumgekrönte Wel-
len vor sich her, vor allem aber – es war stockfinster. Nur am
Horizont zeigte sich über Genitschesk ein rötlicher Schimmer.
Wie voriges Mal saßen zwei Fischer im Motorkutter, der unser Boot schleppte. Es war so dunkel, daß ich kaum den mir
gegenüber sitzenden Nikolajew sehen konnte. Wir unterhielten
uns leise. In dieser Nacht hätten uns die Fischer überallhin entführen können, wenn es ihnen um eine deutsche Belohnung
gegangen wäre, die für einen General und einen Korpskommissar sicherlich nicht gering war. Wir lavierten in den Wellen,
der rötliche Schimmer am Himmel über Genitschesk verlagerte
sich bald nach links, bald nach rechts, und wir verloren jede
Orientierung. Uns zu entführen und am anderen Ufer abzusetzen wäre wahrhaftig ein Kinderspiel gewesen. Nach anderthalb
Stunden legten wir an, kletterten über den Bootsrand, das Wasser schwappte in die Stiefel. Trotz der völligen Finsternis hatten uns die Fischer genau an die Stelle gebracht, von der wir
am Morgen aufgebrochen waren.
Wie brachte ich es nur fertig, so etwas Ungehöriges, ja sogar
Beleidigendes in mein Tagebuch zu kritzeln, die Fischer hätten
uns „überallhin entführen“ können?
Sonst pflegte ich mich in meinem Tagebuch über den Argwohn anderer Leute lustig zu machen. Hier war mir der Gedanke selbst wie ein verirrter Querschläger aus dem Jahre 1937
in den Kopf geflogen. Also war auch ich imstande, grundlos
Leute zu verdächtigen, mir ohne Veranlassung oder Rechenschaft abzulegen irgendwelche Gefahren einzubilden. Bis zu
einem gewissen Grad hatte dieser Verfolgungswahn also auch
von mir Besitz ergriffen… Ich schreibe diese Zeilen nicht zum
Zwecke der Selbstgeißelung, sondern um zu verdeutlichen, daß
die Rückkehr zu diesen oder jenen Seiten der Geschichte dieser
großen und schweren Zeit nicht auf der Verleugnung seines
damaligen Ich basieren kann noch auf der künstlichen Verlage-
rung seines heutigen Ich in die Vergangenheit.
Völlig durchfroren stiegen wir in das wartende Auto und fuhren nach Simferopol. Nikolajew hatte es eilig; wir rasten mit
Höchstgeschwindigkeit und nicht abgeblendeten Scheinwerfern. Die Streifen unterwegs brüllten fürchterlich, als wir an
ihnen vorüberpreschten, und ich war immer darauf gefaßt, eine
Kugel in den Rücken zu bekommen.
Wir erreichten Simferopol zu später Nachtstunde des 23. September. Nikolajew sagte, ich solle um neun Uhr zu ihm kommen, wir wollten nach Perekop fahren. Als ich mich am nächsten Morgen bei ihm einfand, erklärte er mir jedoch, die Fahrt
müsse bis auf weiteres verschoben werden.
Ich erkundigte mich nach der Lage. Einstweilen nichts Neues,
meinte er. Da ich nicht tatenlos herumsitzen wollte, sagte ich,
wenn die Fahrt verschoben werden müsse, wolle ich nicht, wie
ursprünglich geplant, danach, sondern vorher nach Moskau
fliegen. „Für wieviel Tage denn?“ fragte Nikolajew. „So für
drei“, erwiderte ich.
Da lachte er schallend. Vor dem Ersten erwarte er mich nicht
zurück, sagte er, aber ich solle ihm versprechen, daß ich bis
zum Ersten zurück sei. Ich gab ihm mein Wort.
Noch einmal schweife ich ab, um eine kleine, doch in diesem
Fall wichtige Präzisierung vorzunehmen.
Von unserem zweiten Abstecher nach der Arabatsker Landzunge kehrten Nikolajew und ich nicht in der Nacht des 23.
September, wie es im Tagebuch heißt, sondern in der Nacht
zum 23. September zurück, und unser letztes Gespräch fand
folglich am 23. statt. Wäre das Gespräch am 24. gewesen, was
man auf Grund der Tagebuchnotizen annehmen könnte, hätte
der Stab und somit auch Nikolajew von Mansteins Angriff auf
Perekop im Morgengrauen gewußt. Die Antwort „einstweilen
nichts Neues“ konnte nur noch am Morgen des 23. gegeben
werden. Das war der letzte Tag, an dem man auf der Krim so
dachte.
Nachdem ich mich von Nikolajew verabschiedet hatte, fuhren
Chalip und ich zum Flugplatz. Ich nahm weder Mantel noch
Koffer mit, überhaupt nichts außer meiner Kartentasche. Ich
sah keinen Sinn darin, mich mit Gepäck abzuschleppen, da ich
nach drei Tagen zurück sein wollte. Der Mantel, das Gewehr,
der Koffer – kurzum, meine gesamte Habe blieb in Simferopol,
und nichts davon sollte ich jemals wiedersehen.
Auf dem Flugplatz mußte ich lange warten. Zwei TB-3 flogen
nach Rostow, aber beide Maschinen starteten erst nach Stunden. Mir war es einerlei, in welcher ich Platz nahm. Schließlich
setzte ich mich in die linke, die zuerst abflog. Als wir aufstiegen, winkte mir Jascha von der Erde mit der Mütze zu.
Bis zum Anbruch der Dunkelheit sollten wir in Rostow sein,
aber das erwies sich als unmöglich. Zu guter Letzt landeten
wir, bis Rostow waren es noch sechzig Kilometer. Wir übernachteten. Am Morgen starteten wir erneut.
In Rostow stellte sich heraus, daß die Maschine nach Moskau
schon abgeflogen war und weitere Flüge am nächsten oder
selbst übernächsten Tag nicht zu erwarten waren. Ich wollte
Rostow auf Biegen oder Brechen verlassen, setzte mich zum
Dispatcher und wartete auf irgendeinen Piloten. Endlich erblickte ich durchs Fenster eine landende Maschine. Ich fragte,
woher und wohin. Ich erhielt zur Antwort, nach Moskau, aber
es sei ein Verbindungsflugzeug und nehme niemanden mit. Ich
wartete auf den Flieger und heftete mich an seine Fersen. Er
war ein alter Pilot aus der Zivilluftfahrt. Er winkte mit der
Hand und sagte, er wolle mich mitnehmen. Den Dispatcher
schien meine Eigenmächtigkeit zu ärgern. Er erklärte, daß ein
Mitflug ohne Fallschirm instruktionsgemäß verboten sei und
für mich sei kein Fallschirm da. Der Pilot zwinkerte mir zu und
entgegnete dem Dispatcher, er habe in Rostow gerade einen
Fluggast abgesetzt und folglich einen zusätzlichen Fallschirm
zur Verfügung. Wir holten uns Weintrauben aus der Kantine,
stiegen ein, und das Flugzeug erhob sich in die Luft.
Nach vier Stunden landeten wir auf einem Flugplatz bei Moskau. Ich trug meine Feldbluse, und unterwegs klapperten mir
die Zähne. Ein Oberst, der nach Moskau fuhr, nahm mich in
seinem Wagen mit. In der Trubnaja stieg ich in der Nähe der
Wohnung meiner Mutter aus. Ich besuchte sie und wollte die
Redaktion anrufen. Die Redaktion befand sich jedoch nicht
mehr am alten Ort, sondern war zum Schutz gegen Bombenangriffe in die Kellerräume des Theaters der Roten Armee übergesiedelt. Um neunzehn Uhr saß ich dort vor dem Redakteur
und erzählte ihm von der Fahrt.
Er schickte mich sofort an die Arbeit. Ich saß den ganzen
Abend und die folgenden Tage über meinen Krimberichten.
Zwei wurden vollständig abgedruckt, der dritte zur Hälfte.
Die Presse schwieg sich noch darüber aus, daß Cherson gefallen war und die Deutschen den Dnepr überschritten hatten.
Darum mußten – meinen Aufenthalt in Odessa nutzend – die
Artikel dem Odessaer Kolorit angepaßt werden. Viele Menschen glaubten dann auch, die Sachen seien in Odessa geschrieben.
Damals erlebte ich eine unangenehme Zeit. Bekannte fragten
mich, wo ich so lange gesteckt hätte. Auf der Krim, antwortete
ich. „Wie lange hast du dort zugebracht?“ – „Zwei Wochen.“
Sie sahen mich erstaunt und sogar unwillig an. Wie ich dazu
käme, zwei Wochen in einem Kurort zu faulenzen! Vom wirklichen Stand der Dinge hatten sie keinen Schimmer, sie ahnten
nicht, daß die Deutschen bis Perekop und Tschongar vorgerückt waren, und ich hatte kein Recht, es ihnen zu erklären. So
fiel es mir sehr schwer zu schreiben, zumal ich ohnehin nicht
von allen Erlebnissen berichten konnte.
Als ich die letzte Arbeit abgegeben hatte, ging ich zu Ortenberg. Soeben hatte man ihm die TASS-Meldung überbracht,
bei Murmansk seien englische Flieger eingesetzt. Er fing sofort
Feuer und sagte, man müsse unverzüglich einen Berichterstatter hinschicken. Da ich leibhaftig vor ihm stand, unterließ er es,
noch direkter mit dem Zaunpfahl zu winken. Ich sagte ihm
jedoch, daß ich schon fahren würde, nur erwarte mich Nikolajew auf der Krim.
„Das macht nichts. Du fliegst für eine knappe Woche nach
Murmansk, kommst zurück und fährst auf deine Krim“, sagte
Ortenberg, und auf der Stelle folgten Telephongespräche. Die
Beschaffung eines Flugzeugs, Befehle, mir eine Order auszustellen. So flog ich in die Nähe des Polarkreises, während die
Deutschen ihre Offensive bei Moskau begannen.
Ich verlasse meine Tagebuchaufzeichnungen an diesem ersten
Tag meiner Reise in den Norden, die sich wider Erwarten auf
mehr als zwei Monate ausdehnte.
Ehe ich mich den weiteren Eintragungen zuwende, möchte ich
mit meinen Gedanken noch einmal nach Süden zurückkehren,
um in Verbindung mit dem Krimproblem die damaligen globalen Vorstellungen der Nazis von der Kolonialisierung Rußlands
– nicht einer Okkupation, sondern eben einer auf Jahre und
Jahrhunderte berechneten Kolonialisierung – aufzugreifen.
Weder den Kumpanen Hitlers vom Schlage eines Manstein, die
einer nach dem anderen den Marschallstab erhielten, noch viel
weniger ihm selbst kam es seinerzeit in den Sinn, daß diese
„russischen Eingeborenen“, wie er sich auszudrücken beliebte,
sowohl sein eigenes Dasein wie auch die Existenz des Tausendjährigen Reiches auf ganze drei Jahre und acht Monate
befristeten, wenn man der Rechnung den Zeitraum vom deutschen Überfall auf die Krim – September 1941 – bis zum 5.
Mai 1945, dem Fall des faschistischen Berlins, zugrunde legt.
Einen Eindruck, wie brennend die Nazis die Eroberung der
Krim herbeiwünschten, vermitteln einige Auszüge aus den jetzt
veröffentlichten, nicht offiziellen Gesprächen Hitlers mit Bormann. In diesen Gesprächen, die einen stark differenzierten
Problemkreis berühren, wendet sich Hitler wiederholt der Krim
zu.
Die Schönheit der Krim wollten sie sich mittels Autobahnen
zugänglich machen. Die Krim sollte ihre Riviera werden. Kreta
sei von der Sonne verdorrt und trocken. Zypern wäre nicht
schlecht, aber die Krim könne man auf dem Landwege erreichen (Gespräch in der Nacht vom 5. zum 6. Juli).
Die Südukraine, insbesondere die Krim, sollte völlig in eine
deutsche Kolonie verwandelt werden (Gespräch vom 27. Juli).
Die Krim liefere Zitrusfrüchte, Baumwolle und Kautschuk.
Zehntausend Acres Plantagen reichten aus, um die Unabhängigkeit des Großdeutschen Reiches in dieser Hinsicht zu sichern. Dafür würden sie die Ukrainer mit Glasperlen und allem
sonstigen versorgen, was den Kolonialvölkern gefällt… Sie
wollten Reisen auf die Krim und in den Kaukasus organisieren,
weil es ein großer Unterschied sei, ob man sich eine Landkarte
ansehe oder die Stätten selbst besuche (Gespräch vom 18. September).
In den Ostgebieten werde er (Hitler) alle slawischen erdkundlichen Namen durch deutsche ersetzen. Die Krim könne man
beispielsweise in Gotenland umbenennen (Gespräch vom 2.
November). Ein seltsames, zwiespältiges Gefühl befällt mich,
wenn ich jetzt das Buch dieses schlecht gebildeten Kannibalen
lese, der es liebte, seine Gespräche für die Geschichte mitstenographieren zu lassen. Er behauptete in vollem Ernst, nach
Meinung des Russen sei die Hauptstütze der Zivilisation der
Wodka, Rußland könne er „mit einer Handvoll Menschen“
regieren, es „sei ein großer Fehler“, den „russischen Eingeborenen“ Bildung zukommen zu lassen, da sie vor der Aufgabe
ständen, dieses Land mit Hilfe deutscher Umsiedler zu germanisieren und mit der einheimischen Bevölkerung wie mit „Rothäuten“ umzuspringen. Einmalig detailliert entwarf er ein Bild
vom zukünftigen Leben der Faschisten auf dem ehemaligen
Territorium der unterworfenen Sowjetunion. Die deutschen
Kolonisten sollten in erstaunlich schönen Siedlungen wohnen.
Die deutschen Behörden würden wunderbare Gebäude erhalten, die Statthalter Paläste. Ringsum würde alles errichtet werden, was man fürs Leben brauche. Auf dreißig bis vierzig Kilometer Entfernung von den Städten sei ein Gürtel schöner
Dörfer zu schaffen, verbunden durch erstklassige Straßen. Jenseits dieses Gürtels befände sich eine andere Welt, in der den
Russen gestattet sei zu leben.
Bei dieser Lektüre folge ich nicht der ersten Regung, das
Buch wegzuschleudern. Daran hindert mich nicht einfach das
Interesse an der Person Hitlers, obwohl man wissen muß, was
dieser Deutsche aus Braunau damals von sich und der Menschheit hielt. Er war 52 Jahre alt, 1,72 Meter groß, wog 83 Kilo,
hielt sich für einen verhinderten Architekten, liebte Hunde,
verabscheute Schnee. Es war ihm peinlich, wenn sein Wagen
am Straßenrand laufende Passanten bespritzte, und er ließ sich
bei dem Berliner Zahnarzt Blaschke ein Gebiß und Kronen
anfertigen, eben jenes Gebiß, dank dessen er nach dem Tode
unter all den Leichen letztlich identifiziert werden konnte. Übrigens habe ich mich nicht ganz richtig ausgedrückt. Bis zu
einem gewissen Grad interessiert mich diese – ob man will
oder nicht – historische Gestalt schon, nur das ist nicht der
Hauptgrund, weshalb ich mich mit diesem Buch befasse.
Der Hauptgrund ist vielmehr der, daß ich – und sei sie noch so
schmerzlich – Gewißheit erlangen möchte, was aus uns gewor-
den wäre, wenn sie uns damals, 1941, in die Knie gezwungen
hätten. Ja, was hätte das ganze „Gebiet diesseits des Ural“ erwartet, aus dem einmal jährlich eine Gruppe Kirgisen nach
Berlin gebracht werden sollte, um die Größe des Dritten Reiches zu demonstrieren! Was hätte jenen geblüht, an die der
deutsche „Passierschein für Überläufer“ gerichtet war? „Der
Überbringer überschreitet die Front auf eigenen Wunsch. Ich
befehle, ihn gut zu behandeln und ihn unverzüglich in einem
Auffanglager zu verpflegen. Wir wollen Euch helfen und befreien. Vergießt nicht sinnlos Euer Blut… Tötet Kommissare
und Juden, wo Ihr ihrer habhaft werdet, verweigert ihre Befehle.“ Was hätte die friedliche Bevölkerung erwartet, der auf einem Flugblatt der „Befehlshaber der deutschen Truppen“ durch
seine Unterschrift versicherte, daß die deutsche Armee keinen
Krieg gegen sie, sondern nur gegen die Rote Armee führte, daß
die Zivilisten die Sowjetmacht nicht länger zu fürchten brauchten, deren Tage gezählt seien und in deren Hände sie nie wieder fallen würden? „Verfolgt und tötet Eure Kommissare, die
Euch zum Partisanenkrieg gegen uns aufwiegeln wollen, befolgt nicht ihre wahnsinnigen Anordnungen.“ Ja, aber: Das
„Gebiet diesseits des Ural“ – ein riesiges, von einer deutschen
Verwaltung kontrolliertes weißrussisches, russisches, ukrainisches Ghetto, das war es, was uns alle erwartet hätte, wenn wir
1941, zur Ader gelassen und schlecht ausgebildet, die
„wahnsinnigen Anordnungen“ der Sowjetmacht nicht befolgt
hätten. So hätte unsere Befreiung ausgesehen, daß wir lieber
stehend gestorben wären als kniend gelebt hätten.
Und wenn heute gewisse faschistische Generale in ihren
Schriften bedauern (Generale, die einen Krieg verloren haben,
pflegen überhaupt gern zu wehklagen, aber das ist bloße Spiegelfechterei), daß es zur Zeit des russischen Feldzuges in der
Behandlung der Bevölkerung und der Kriegsgefangenen unnö-
tige Härte gegeben habe, so ist diese „Reue“ keinen Pfifferling
wert.
Was sich dahinter verbirgt, sind in der Regel weniger verspätete Humanitätsgefühle als rein militärische Erwägungen. Eine
„unnötig grausame“ Behandlung der Zivilbevölkerung und der
Kriegsgefangenen verängstigte den Gegner nicht, sondern
stärkte seine Widerstandskraft und wirkte sich negativ auf die
Operation der deutschen Armee der Ostfront aus.
Die deutschen Generale beklagen den in Stalins Julirede enthaltenen Appell, auf Leben und Tod zu kämpfen, und sie sind
betrübt darüber, daß, wie sie schreiben, dieser Aufruf – und
daran seien zum Teil die Deutschen selbst schuld gewesen – in
den Herzen der Menschen Widerhall gefunden habe.
Sie neigen also offenbar zu der Annahme, daß die unnötige
Grausamkeit, die sie seit dem ersten Tage an der sowjetischdeutschen Front praktizierten, verfrüht und psychologisch ungünstig war; jedenfalls hätte man sie in dieser äußerst zugespitzten Form nicht vor der endgültigen Beseitigung des ganzen Gebietes „diesseits des Ural“ ausüben dürfen. Doch Hitler
beabsichtigte 1941 nicht, solche in seinen Augen unwesentlichen psychologischen Feinheiten zu berücksichtigen. Für ihn
gab es damals nur strategische Ziele, zunächst die Eroberung
des ganzen „Ostraums“ bis zum Ural.
Und wenn einige seiner Generale, die zu Beginn des Krieges
im wesentlichen die gleichen Ziele verfolgt hatten wie er, dabei
lediglich etwas maßvoller und klüger und daher besonnener
waren, dann, als sie sahen, daß es schlecht um die Sache stand,
sich von ihm zu distanzieren suchten, so haben immer noch
nicht sie ihn, sondern er hat sie ins Jenseits befördert, und das
hat er mit Hilfe der anderen, der Mehrheit seiner Generale getan, die im Gegensatz zu einigen Generalen – der Minderheit –
seine Bestrebungen bis zum Schluß und in vollem Umfange
teilten. Um das Gesagte zu illustrieren, möchte ich einige Stellen aus einem Dokument anführen, das unter völlig anderem
Aspekt meine Aufmerksamkeit erregte.
Am 7. März 1945, genau zwei Monate vor Kriegsende, ergab
sich in Pommern der Wehrmachtsgeneral Raitel.
Am 10. März äußerte genannter Wehrmachtsgeneral folgende
Ansichten bezüglich der deutschen Armee und des Nationalsozialismus, „Er sei Himmler mehrmals begegnet und kenne ihn
als ordentlichen und korrekten Menschen. Er sei sehr verständnisvoll gegenüber den Nöten der Armee, kenne die Soldaten,
sorge sich um sie. Ohne Zweifel liebe er die Macht und erstrebe sie, aber das mache er ihm nicht zum Vorwurf… Himmlers
Ernennung zum Oberbefehlshaber der Heeresgruppe
.Weichsel’ solle den unbeugsamen Willen zum Widerstand
symbolisieren. Daß er keine militärische Ausbildung besitze,
sei kein Unglück. Hier entscheide der Wille. Die SS-Generale
bewiesen nach seiner Meinung in ihrer Masse mehr Willenskraft und persönliche Tapferkeit als – ebenfalls in ihrer Masse
– die Heeresgenerale. Das wiege das Fehlen einer richtigen
Schulung und den Mangel an militärischer Ausbildung auf. Sie
fänden leichter den Weg zum Herzen des Soldaten… Er sei
sich darüber im klaren, daß dies letzten Endes zur Einverleibung der Armee durch die SS-Truppen führen würde, aber er
nehme an, daß dies dem Geist der nationalsozialistischen Revolution entspreche und der militärischen Stärke Deutschlands
zugute komme… Der Gedanke an die Aussicht einer Niederlage Deutschlands erschrecke ihn. Er glaube, daß Deutschland
danach zu bestehen aufhöre… Außerdem würde Deutschland
des nazistischen Verwaltungssystems beraubt, und das, glaube
er, sei ein großes Unglück. Dieses sei ein dem deutschen Volk
weitestgehend gemäßes System, das seinen Interessen entspreche. Das grundlegende Verdienst dieses Systems sei die Politik
der Aufrechterhaltung der Reinheit der Rasse und des sich
hieraus ergebenden Anspruchs der nordischen Rasse auf Herrschaft… In der Tatsache, daß einerseits Witzleben und seine
Gruppe und andererseits Paulus und seine Anhänger gegen den
Nazismus auftraten, sehe er noch keinen Beweis dafür, daß ein
Widerspruch zwischen den Traditionen der deutschen Armee
und dem Nazismus existiere. Zur Zeit gingen die Traditionen
der deutschen Armee als eine Spielart des Zeitgeistes mehr und
mehr an die Truppen der SS über. Er halte das für gesetzmäßig.“
Offen gestanden, man kann so einem Feind nicht die Konsequenz absprechen, die Entschlossenheit, aufs Ganze zu gehen.
In einer Zeit, da die deutsche Armee einer endgültigen Katastrophe entgegenging, sagte dieser gefangene General bei seiner Vernehmung standhaft aus, wie er wirklich über den Nazismus dachte.
Wenn auch die übrigen deutschen Generale, die in den Tagen
des Sieges Hitlers Ansichten geteilt hatten, später so ehrlich
gewesen wären wie am 10. März 1945 dieser Raitel bei seiner
Vernehmung in Pommern, so würden viele, viele ihrer Memoiren wohl anders aussehen, als sie es tun.
Mir scheint nicht, daß ich wesentlich vom Thema abgeschweift bin, indem ich dieses lange Zitat als Zeugnis des Vergangenen anführte. Als sich General Manstein im September
1941 aufmachte, die Krim zu erobern, dachte er sicher ähnlich
wie General Raitel. Gewiß war er etwas weniger angetan von
Heinrich Himmler und dem Heldentum der SS-Generale, aber
irgendwelche Widersprüche zwischen den Traditionen der
deutschen Armee und dem Nazismus bereiteten ihm schwerlich
Seelenpein. Später, nach der Niederlage, gab er sich den Anschein, als denke er anders, aber seinerzeit hatte er auch so gedacht. Und so dachte die Mehrheit der deutschen Generalität,
auf jeden Fall damals, 1941, und diese Übereinstimmung zementierte fraglos die Zuversicht, mit der Hitler seine tausendjährige Besetzung des Gebiets bis zum Ural plante. Ich denke
dabei natürlich auch an seinen von grenzenlosem Optimismus
zeugenden Ausruf, mit dem er Mansteins Sturm auf die Krim
begrüßte: Welche großartigen Aufgaben vor ihnen lägen, Jahrhunderte der Genüsse ständen bevor (Gespräch vom 17. Oktober).
Ich lege dieses ins Englische übersetzte dicke Buch mit dem
Bild Hitlers auf dem Umschlag beiseite. Ich leg’s weg, und der
Gedanke kommt mir, daß man einige Stellen daraus ins Russische, Ukrainische, Belorussische, Georgische, Armenische,
Tatarische, Kirgisische und in viele andere Sprachen unseres
Landes übersetzen sollte. Dort wird an mehreren Stellen Wesentliches darüber ausgesagt, was nach den einundvierziger
Plänen mit uns allen geschehen sollte, und das sollten wir zu
unserer Information lesen.
Freilich, die Jahre gehen dahin, die Zeiten ändern sich. Wer
Altes aufwärmt, sieht nichts Neues mehr, lautet ein russisches
Sprichwort, aber die Fähigkeit zu vergessen ist uns allen eigen,
und die Zukunft, die man uns zugedacht hatte, war für Jahrhunderte programmiert. Für Jahrhunderte, das ist wahrlich keine Bagatelle, und das mag der Grund sein, weswegen man heute, nach über dreißig Jahren, den ganzen Spuk vergessen möchte und nicht vergessen kann…
Zurück zum Tagebuch.
„Hiermit werden Sie verpflichtet, sich zur Erfüllung der Aufgaben unserer Redaktion zur operierenden Nordarmee und zur
Nordflotte zu begeben.“
So hieß es in der Anweisung für mich und Mischa Bernstein,
der mit mir flog.
Eine Stunde bevor sich der Redakteur entschied, mich nach
Norden zu schicken, war mir in der Redaktion der „Krasnaja
Swesda“ Mischa über den Weg gelaufen. Wir hatten uns seit
der Zeit am Chalchyn gol nicht gesehen. Er war verwundet,
aber schon auf dem Weg der Besserung, und er begrüßte mich
mit viel Hallo und Umarmungen. Ich mußte ihm versprechen,
daß wir das nächste Mal gemeinsam an die Front fahren würden, und als ich ihn zum Partner haben wollte, stimmte der
Redakteur sofort zu.
Mit einer R~5 flogen wir von Moskau nach Wologda. Dort
saßen wir wegen ungünstiger Witterung und anderen objektiven Schwierigkeiten vier Tage fest. Nach dieser Verzögerung
stiegen wir auf eine zweimotorige TB-1 um, die Archangelsk
anfliegen sollte. Die vier Tage in Wologda schleppten sich träge dahin, sie waren nutzlos vertan. Ich wollte mich recht
schnell in die Arbeit stürzen, und der unfreiwillige Aufenthalt
wurmte mich.
Wologda bot das Bild einer Etappenstadt. Bei den Gaststätten
wimmelte es von Menschen, es kam zu Raufereien, manchmal
blitzten Messer. Uniformierte, die von der Verwaltungs- und
Wirtschaftsabteilung oder von irgendwelchen Verpflegungsstellen abkommandiert waren, schubsten die Leute, packten sie
an der Brust und jaulten: „Wir von der Front…“ Was sich
wirkliche Frontsoldaten nach meinen Beobachtungen nicht
herausnahmen.
Die Stadt war herbstlich, regennaß, das Holzpflaster knarrte,
und die niedrigen grauen Häuser mit ihren Vortreppen ähnelten
den Bauwerken auf Rerichs Bildern. An die Stadt kann ich
mich gut erinnern. Hier gewann ich einen Vorgeschmack vom
Norden, und ich hatte das Gefühl, Archangelsk glich Wologda
haargenau. Ich schrieb die ersten Strophen des Gedichts „In
einer trauten, selbstgebauten Stadt aus Holz“, das ich später
vollendete.
An einem Abend besuchte ich das Theater, in dem „Ein Bursche aus unserer Stadt“ gegeben wurde. Der künstlerische Leiter dieser Bühne, der verdienstvolle Schauspieler Larionow, hat
sich mir fest ins Gedächtnis eingeprägt. Er war ein großer alter
Herr mit schütteren grauen Locken, die sein Haupt umwallten,
einem schweren, knorrigen Stock und überhaupt der typische
edle Provinzschauspieler der alten Tage, wie ich ihn seit meiner Kindheit aus Büchern kannte. Ein reizender, liebenswerter
Mensch, der für meinen Geschmack etwas sonderbar sprach,
sehr gewählt und – wie ich damals fand – sogar hochtrabend.
Viele Monate später schickte er mir einen rührenden, erschütternden Brief. Er hatte in Leningrad nahezu seine ganze Verwandtschaft verloren, und er schrieb mir, daß er mit bitteren
Rachegefühlen an den „Russischen Menschen“ arbeite.
Beim Lesen des Briefes sah ich das Antlitz dieses altmodischen Schauspielers wieder von mir; seine feierliche, auch
hochtrabende Ausdrucksweise spiegelte keine seelische Hohlheit und Falschheit wider, sondern war einfach die Folge von
Gewohnheit und Erziehung. Etwa zweieinhalb Stunden nach
dem Abflug kamen wir bei Archangelsk an. Wir landeten auf
der Insel Keg. Um in die Stadt zu gelangen, mußten wir übersetzen. Alles ringsum war niedrig und flach, das graue Meer,
die auseinandergezogene nördliche Stadt. Viel Weite, viel
Holz, es war kalt und schön.
In der Hoffnung, etwas zwischen die Zähne zu bekommen,
saß ich beim Diensthabenden des Flughafens – Mischa hatte
sein Glück mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit bereits versucht
– und entnahm der Lokalpresse, daß im Archangelsker Schauspielhaus für den Abend „Ein Bursche aus unserer Stadt“ auf
dem Programm stand. Das Flugzeug nach Murmansk ging am
Morgen. Auf dem Flugplatz zu übernachten wäre langweilig
gewesen. Wir erbaten uns einen Kutter und fuhren hinüber.
Archangelsk erweckte den Anschein einer Stadt im tiefsten
Frieden. Auf den Straßen viele Menschen, hier und da englische Matrosen in der Menge. Bei näherer Betrachtung kamen
uns die Leute schrecklich unrasiert und ungepflegt vor. Vor der
Vorstellung suchten wir einen Friseur auf und wichsten unsere
Stiefel.
Im Theater machten wir die Bekanntschaft des Intendanten
Andrejew, eines bärtigen, gemütlichen, klugen Russen, und des
Spielleiters Prostow, eines durchtriebenen, humorvollen Sibiriers. Nach der Vorstellung tranken wir bei ihm Tee, den uns
seine Mutter einschenkte, eine Sibirierin mit glatt zurückgekämmtem Haar, einem wie aus Stein gemeißelten Heiligengesicht und einer ruhigen, fließenden Stimme.
Unser Nachtquartier fanden wir hinter der Loge des Direktors
auf sorgfältig bezogenen Theatersofas.
Im Morgengrauen liefen wir durch die noch schlafende Stadt
zum Kai. Dort warteten wir auf das Fährschiff nach Keg, und
plötzlich bemerkte ich zwei Militärangestellte, einen von den
Landstreitkräften und einen von der Marine. Das Gesicht des
ersten kam mir sehr bekannt vor, und schließlich wußte ich,
wer es war: Juri German. Der von den Seestreitkräften war der
Korrespondent von der „Sewernaja Wachta“ und hieß Konowalow, ein weißblonder junger Mann des Leningrader Typs,
korrekt und sarkastisch.
German beklagte sich, daß er schon den fünften Tag versuche,
nach Murmansk zu kommen. Zweimal sei er schon abgeflogen,
aber des Wetters wegen umgekehrt. Wie mir German unterwegs erzählte, warteten auch Alexander Sharow und Selma,
Bildberichterstatter der „Iswestija“, in Archangelsk auf den
Weiterflug nach Murmansk. Als wir am Flugplatz ankamen,
erfuhren wir, daß die Maschine ausgebucht sei. Mir war klar,
daß ich wieder so lange wie in Wologda festsitzen würde, und
ließ meine Beziehungen spielen. Außer dem Dienstreiseauftrag
der „Krasnaja Swesda“ hatte ich noch das von Mechlis unterschriebene Schriftstück der Politischen Verwaltung der Republik bei mir, und schließlich erreichte ich, daß auf der Passagierliste zwei Namen gestrichen und unsere beiden dafür eingesetzt wurden. Wir sollten uns nur ja beeilen, hieß es.
Juri German und Konowalow sahen und hörten verdutzt zu,
dann bearbeiteten sie ihrerseits den Flugdienstleiter, aber es
war schon zu spät. Sie wurden aufgefordert, sich bis zum nächsten Flug zu gedulden.
So wurde ich schuldlos schuldig. Wie sich in Murmansk herausstellte, waren die zurückgestellten Fluggäste zwei Frontberichterstatter und die gestrichenen Namen ausgerechnet German und Konowalow. Ich fürchte, das haben sie mir nicht verziehen, und ich bin dem Himmel dankbar, daß ich es erst nach
einigen Tagen erfuhr. Zunächst erfreute ich mich meines Erfolges, und fünf Minuten später waren wir eingestiegen. Die
Maschine startete.
Es war eisig kalt, Unter uns lag das Meer, dann die öde Weite
der östlichen Halbinsel Kola. Es wurde kälter und kälter. Anderthalb Stunden flogen wir über Kola. Es war langweilig, und
ich sah die ganze Zeit hinunter, aber so große Ausdauer ich
dabei auch bewies, ich erblickte nicht eine menschliche Wohnstätte. Um zwölf landeten wir.
Alles war verschneit, der Norden regierte uneingeschränkt –
ein Bild, das ich aus dem Jahre 1938 kannte, als ich mich das
erstemal in diesen Breiten aufhielt. Zwei Stunden warteten wir
im Divisionsstab auf den Wagen, der uns in die Stadt bringen
sollte. Die Flieger fragten mich nach der Lage im Süden. Das
interessierte sie mehr als alles andere, wohl des Reizes der Gegensätze wegen.
Dann fuhren wir auf einem klapprigen Anderthalbtonner nach
Murmansk. In den dreieinhalb Jahren, die seit meinem ersten
Aufenthalt vergangen waren, hatte sich die Stadt sichtlich gemausert. Statt vereinzelter Steinhäuser gab es schon zwei oder
drei steinerne Straßenzüge und den großen Stalin-Prospekt mit
fünfstöckigen Bauten. Wir statteten der Redaktion der Armeezeitung einen Besuch ab, verbrachten den Abend auf dem Gefechtsstand der 14. Armee, der außerhalb der Stadt an einem
unauffälligen, einsamen Ort zwischen Hügeln versteckt lag,
und fuhren für die Nacht zum Hotel „Arktika“, wo wir zu unserem Glück ein freies Zimmer fanden, ein „Regierungszimmer“,
wie man in provinziellen Hotels zu sagen pflegt, ein Appartement, das aus zwei mit „Luxusmöbeln“ ausgestatteten Räumen
bestand. Die nicht benutzbare Badewanne diente meinen Kollegen Bildberichterstattern später als Photolabor.
Nach all den Aufregungen und Reisen – zu Wasser, zu Lande
und in der Luft – schliefen wir wie Tote.
An den beiden folgenden Tagen machten wir Bekanntschaften
und versuchten herauszubekommen, wie, mit wem und mit
wessen Genehmigung man zu den britischen Fliegern gelangen
konnte, wenn man über sie schreiben wollte. Inzwischen traf
auch Juri German aus Archangelsk ein, und in seiner und in
Raswilowskis Begleitung – er war Mitarbeiter der Politabteilung der Armee – suchten wir die Briten auf.
Die Fahrt begann damit, daß wir uns nach Grjasnoje begaben,
dem Gefechtsstand des Befehlshabers, Generalmajor A.A.
Kusnezow von den Seefliegerkräften. Die britischen Flieger
waren ihm direkt unterstellt, und von seiner Entscheidung hing
es ab, ob wir sie sprechen durften.
Der Gefechtsstand war unterirdisch angelegt, in einen Hügel
getrieben und – so würde ich sagen – nach Prinzipien des
Schiffsbaus konstruiert, mit Schotten, Kajüten und Bullaugen –
eine saubere, wohnliche Unterkunft. Den gut aussehenden,
graumelierten General Kusnezow hielt ich zunächst für höchstens vierzigjährig, aber als ich ihn aus der Nähe sah, wußte
ich, daß er kaum die Dreißig überschritten hatte. Er war zurückhaltend, würdevoll und sprach mit jener für alle im Dienst
der Flotte stehenden Leute geradezu charakteristischen Betonung, die wohl ihre Überlegenheit gegenüber den Vertretern
der Landstreitkräfte unterstreichen sollte, obwohl General
Kusnezow wie alle seine Jagdflieger auf dem Festland ausgebildet worden war und sich von den übrigen hier stationierten
Piloten vor allem dadurch unterschied, daß er Marineuniform
trug.
Wie uns Kusnezow erzählte, vereinigten sich in seiner Hand
die Jagdfliegerkräfte und die Flakartillerie, was eine planmäßige Abwehr der deutschen Luftangriffe ermöglichte.
Von Kusnezow fuhren wir zu den Briten, wo uns Mr. Hodson
empfing, der Wirtschaftsleiter der britischen Flieger. Er war ein
kleiner, untersetzter Mann mit hübschem Gesicht, sehr zuvorkommend und höflich, nur seine Stimme hatte zuweilen einen
metallischen Klang. Vor der Revolution hatte er lange in Rußland gelebt, zur Zeit der Intervention hatte er sich in Archangelsk und Murmansk aufgehalten, danach – die letzten zwanzig
Jahre – war er im britischen Reisebüro beschäftigt gewesen.
Zwei- oder dreimal war er noch in die UdSSR gekommen, aber
vor allem hatte er sich auf Deutschland spezialisiert, das er
nach eigenen Angaben wie seine Westentasche kannte. Seit
Beginn des Krieges und bis zu seiner Verlegung nach Murmansk hatte er im britischen Luftfahrtministerium gearbeitet.
Wie er uns erklärte, war Großbritannien in mehrere Dutzend
Bezirke unterteilt, und in jedem gab es einen Chefdolmetscher.
Wenn ich recht verstand, gehörte er der Spionageabwehr an
und verhörte in seinem Bezirk die gefangenen deutschen Pilo-
ten. Dieses System sicherte nach seinen Worten eine effektive
Arbeit durch den Einsatz spezialisierter, erfahrener Kader.
Mit seinem durchdringenden Blick und vollendeten Schliff
wirkte Mr. Hodson selbst wie ein Routinier. Nach zwanzigjähriger Tätigkeit im Reisebüro kannte er gewiß nicht nur
Deutschland, sondern auch die Deutschen gut genug, um die
abgeschossenen Flieger erfolgreich verhören zu können.
Er erinnerte mich an einen Gutsverwalter und kam mir
manchmal eher wie ein russischer Emigrant vor und nicht wie
ein Engländer. Wahrscheinlich täuschte ich mich, aber die russische Sprache beherrschte er erstaunlich gut. Auf seiner Brust
prangten in allen Farben des Regenbogens Schnallen englischer und französischer Orden aus dem ersten Weltkrieg.
Er war so liebenswürdig, uns während unseres Aufenthaltes
bei seinen Landsleuten überallhin zu begleiten.
Der bei Murmansk stationierte Truppenteil der britischen Piloten nannte sich „Wing“ (Flügel). Der Wing ist ein taktischer
Verband der britischen Luftstreitkräfte, seine Stärke jedoch ist
nicht genau fixiert.
Verblüffend und bemerkenswert war für mich die geringe
Anzahl der Personen, die im Führungsapparat arbeiteten. Der
ganze Stab bestand aus einem Oberstleutnant – dem Kommandeur –, einem Offizier des Intelligence Service im Rang eines
Captain – er war Stabschef und Chef der Aufklärung in einer
Person –, Mr. Hodson – dem Leiter des Verwaltungsteils – und
drei Unteroffizieren, den Clerks des Stabes. Alle übrigen gehörten zum fliegenden oder zum technischen Personal.
Zwei Tage lang sah ich mich bei den Briten um. Besonders
gründlich machte uns Mr. Hodson mit den wirtschaftlichen
Angelegenheiten vertraut. Auch nach ihrer Anreise trennten
sich die Briten nicht von ihren Lebensgewohnheiten. Sie hatten
eine Fülle Hausrat und sonstiger Gegenstände mitgebracht, um
den gewohnten Lebensstil weiter praktizieren zu können. In
den Unterkünften der Flieger besichtigten wir die ganze bewegliche Habe eines britischen Offiziers. Sie ist vernünftig
ausgewählt und verhältnismäßig leicht zu transportieren, das
heißt natürlich innerhalb der Grenzen des Quartiers. Ich erinnere mich nicht mehr an alles, aber dem Offizier stehen zum Beispiel fünf Decken zu, mit denen sich leicht eine Schlafstätte
oder – falls nötig -ein Zelt herrichten läßt. Außerdem führt er
stets eine kleine Wanne und einen Eimer aus Segeltuch bei
sich, da ein Engländer, der auf sich hält, ohne Bad nicht leben
kann.
Mr. Hodson führte uns durch die Stabsräume; in einem fand
ein lustiges Gespräch statt.
„Und das ist unser Chiffrierapparat.“ Hodson deutete auf ein
Gerät, das sich drehte und vor dem ein Mann saß. So etwas
hatte ich in meinem Leben noch nicht gesehen. German und
ich nickten verständnisvoll.
Danach sagte Hodson beiläufig: „Der Anblick wird für Sie
nicht ganz neu sein. Natürlich haben Sie ähnliche Apparate?“
Wir schwiegen.
Er wartete geduldig. Dann fragte er: „Wie sehen Ihre Apparate aus? Sie sind auch so rund, ja?“
Juri German erwiderte, er glaube schon, sei sich jedoch nicht
ganz sicher.
„Bestimmt wird bei Ihnen nicht mehr mit der Hand chiffriert?“ fragte Hodson hartnäckig. „Selbstverständlich haben
Sie Chiffriermaschinen?“
Diesmal hielt sich Juri German zurück, und ich antwortete.
Ganz gewiß, nur hätte ich persönlich noch keine gesehen. Das
war nun zwar die lautere Wahrheit, aber ich sah Hodson an,
daß er mir nicht glaubte. Er hielt uns für übertrieben vorsichtig
und meinte, wir machten Ausflüchte. Nach dem Rundgang
durch die Stabsräume begaben wir uns auf den Flugplatz. Es
schneite leicht und war recht kalt. Britische Soldaten liefen in
unserer Nähe hin und her. Sie waren salopp gekleidet. Graue
Hose, Wolljacke, Fliegermütze, in der Hand oder am Koppel
den unverwechselbaren flachen Stahlhelm, der wie ein umgedrehter Teller aussah.
Als ich Hodson fragte, warum sie diese Helme mitschleppten,
entgegnete er, es gebe einen Armeebefehl, wonach man den
Helm unter allen Umständen bei sich zu führen habe. Freilich,
Offiziere würden sich zuweilen die Freiheit nehmen, ihn abzulegen, den Mannschaften sei es jedoch kategorisch untersagt.
Kürzlich sei einer vor Gericht gestellt worden, weil er gegen
den Befehl verstoßen habe. Bei unseren Begegnungen prahlten
die Briten ständig, aber sie taten es lässig – unaufdringlich.
Soldatischer Schneid im eigentlichen Sinne des Wortes war
nicht zu spüren, dafür kannten sie eine andere, eigenartige
Form von Disziplin.
Der Flugplatz war wie alle Flugplätze im Norden groß und
zickzack-förmig angelegt, ein sorgfältig planiertes, sauberes
Feld, ringsum von Felsen umgeben. Sämtliche Maschinen, die
sich nicht im Einsatz befanden, standen im Freien unter kleinen, nach oben getarnten Anlagen. Einige Briten spielten auf
dem verschneiten Flugfeld Fußball. Wir fuhren bis vor den
Felsen und kletterten zum Gefechtsstand des Flügels hinauf.
In dem Raum saß Oberstleutnant Isherwood, ein gut aussehender, nicht eben großer Mann mit gewaltigem Kopf, ergrauenden Schläfen und klugem Gesicht. Neben ihm hatte der Captain des Intelligence Service Platz genommen, der ganz gut
russisch sprach und einen völlig anderen Eindruck als der
Oberstleutnant machte. Der Oberstleutnant war vom Scheitel
bis zur Sohle Soldat, während der Captain durch und durch
Aufklärer war, woraus er übrigens auch kein Hehl machte.
Ein ausführliches Gespräch kam nicht zustande. Wir unterhielten uns eine Weile mit Isherwood, dabei half uns Andrjuschin, Hauptmann der Seefliegerkräfte, unser Vertreter bei den
Engländern. Dann besuchten wir die Beobachtungsstelle. Bernstein machte ein Dutzend Aufnahmen von den Briten, die sich
geduldig photographieren ließen, und wir betraten die Unterstände einer Staffel am Rande des Flugfeldes.
Hier hielten sich die Piloten bereit. Zuerst besichtigten wir
den Unterstand von Major Rook. Major Rook war ein
schwarzhaariger Hüne mit fröhlichen Augen und schwarzem
Schnurrbart, etwa dreißig Jahre alt, vielleicht ein wenig älter.
War schon Major Rook sehr groß, so unterschied sich Captain
Rook vor allem durch einen vollends riesenhaften Wuchs von
seinem Bruder, was übrigens eine an der Wand hängende Karikatur anschaulich zum Ausdruck brachte. Sie zeigte Captain
Rook, in den Kampf fliegend. Er saß rittlings auf einer „Hurricane“, seine Beine baumelten vom Himmel bis zur Erde. Die
Gebrüder entstammten einer „guten“ Familie, wie mir Hodson
versicherte.
In dem zwar niedrigen, aber recht geräumigen Unterstand
mangelte es den Engländern nicht an Möglichkeiten, sich während des Bereitschaftsdienstes auf angenehme Weise die Zeit
zu vertreiben. Dort gab es ein Grammophon, Schallplatten mit
Tanzmusik und einige Spiele: Bilboquet, chinesisches Billard
und zum Training der Treffsicherheit eine Zielscheibe aus
Kork, gegen die Metallpfeile mit Stabilisierungsfedern geschleudert wurden. Wollte man dieses scheinbar so einfache
Wurf spiel erfolgreich handhaben, so mußte man viel geübt
haben, wozu bei den hiesigen Witterungsverhältnissen allerdings auch reichlich Zeit und Gelegenheit war.
Die Briten hatten den Bereitschaftsbunker mit selbstgebauten
Sesseln ausgestattet. Diese Möbel bestanden aus Brettern und
voll Heu gestopften Matratzen. Man konnte sich bequem hineinfläzen und sogar ein Nickerchen machen. Als sehr angenehm empfand ich, daß die Briten – im Gegensatz zu dem, was
ich manchmal bei uns erlebt hatte – auf Ernst und steife Förmlichkeit verzichteten, wo diese völlig entbehrlich waren. Bei
uns müßte man die Geschwaderführung davon überzeugen, daß
keine Disziplinlosigkeit einreißt, niemand über die Stränge
schlägt und überhaupt nichts passiert, wenn man den wartenden Fliegern solche Spiele oder ein Grammophon mit Schallplatten zur Verfügung stellt. Wir Russen sind da päpstlicher als
der Papst, verbissen, aber enthaltsam; was wir machen, machen
wir richtig; Krieg ist Krieg, Dienst ist Dienst, Bereitschaft ist
Bereitschaft, lieber legen wir die Hände in den Schoß, obwohl
das keineswegs die Stimmung hebt, eher im Gegenteil.
Bei den Briten herrschte fröhliche Ungezwungenheit. Dabei
verkehrten sie sehr kameradschaftlich miteinander, sie hatten
einen lockeren, saloppen Umgangston, und in dieser Hinsicht
ähnelten sie unseren Fliegern.
Mischka quälte die geduldigen Briten ausgiebig. Zuerst knipste er sie im Unterstand, dann zerrte er sie in die Kälte hinaus
und photographierte sie am Flugzeug, von links, von rechts, in
der Kabine, mit Kappe, ohne Kappe. Sie froren gründlich
durch, aber sie rissen sich zusammen, bemühten sich, nicht mit
den Zähnen zu klappern, und machten kecke photogene Gesichter. Wir konnten uns davon überzeugen, daß die Behauptung, Briten und Amerikaner seien große Souvenirjäger, kein
bloßes Gerücht ist. Viele dieser Briten hatten sich unsere Sterne angesteckt, unsere Balken angeschraubt, unsere Uniformknöpfe angenäht. Auch wir mußten die Taschen umkehren und
alles Entbehrliche hergeben. Am Abend saß Juri German im
Hotelzimmer auf dem Bettrand. Den Regenmantel, den er unter
den gegebenen Witterungsbedingungen für entbehrlich hielt,
hatte er über die Knie gebreitet, und eingedenk der Tatsache,
daß der ersten Zusammenkunft mit den Verbündeten eine weitere folgen sollte, trennte er einen Knopf nach dem anderen ab.
An diesem und am folgenden Tag lernten wir einige britische
Flieger kennen, einschließlich des kleinen Rose, einem, wie
man mir sagte, sehr guten Piloten, der in Großbritannien für die
Auszeichnung mit dem höchsten Orden der Luftstreitkräfte
vorgesehen war. Über London hatte er zwölf oder dreizehn
deutsche Flugzeuge abgeschossen, aber bei Murmansk war er
nicht so erfolgreich. Er hatte in der ganzen Zeit noch nicht eine
deutsche Maschine heruntergeholt, während der lange Captain
Rook bereits drei Abschüsse verzeichnen konnte. Insgesamt
verzeichneten die britischen Piloten hier sechzehn oder siebzehn Abschüsse, von denen dreizehn oder vierzehn auf die
Staffel des Majors Rook entfielen und nur drei auf die zweite
Staffel unter Major Miller.
Major Miller war ähnlich wie Rook ein starker, langer Kerl,
jedoch etwas älter. Er hatte leicht schütteres rotblondes Haar
und einen kräftigen roten Schnurrbart. Irgendwie erinnerte er
mich an Abbildungen aus der „Allgemeinen Geschichte“, die
ich als Junge gelesen hatte: Ritter im Harnisch, aber ohne
Helm. Major Miller ähnelte einem Anführer von Landsknechten, obwohl sich seine Staffel vor allem damit befaßte, die aus
Großbritannien gelieferten Jäger vom Typ „Hurricane“ an unsere Flieger zu übergeben. Das diente ihm zugleich als Rechtfertigung dafür, daß seine Jungs erst wenige Maschinen abgeschossen hatten, eine Tatsache, die den guten Miller trotz der
einleuchtenden Erklärung gehörig fuchste.
Als die Briten uns Berichterstatter zum Essen einluden, ließen
sie bei Tisch durchblicken, daß auch sie ihre Sache verstünden.
Einer ihrer Clerks, der im Stab des Flügels diente und Unteroffiziersuniform trug, arbeitete gleichzeitig als Korrespondent
einer großen Londoner Zeitung.
Von der Offiziersmesse gingen wir uns ansehen, wie die Soldaten aßen. Neben der Küche standen auf der Erde Tonflaschen
mit Rum. Als Maß für eine Ration diente ein Metallbecher, der
etwa siebzig Gramm faßte; doch wurde dem Rum Wasser zugesetzt. Unverdünnten Rum zu trinken war verboten.
Am Abend, kurz vor der Abfahrt, besichtigten wir die Unterkünfte der Piloten. Wenn die Flieger vom Einsatz zurückkamen, versammelten sie sich in einem großen Raum mit selbstgefertigten niedrigen Liegen. Auch dort hing eine Korkscheibe
wie im Bereitschaftsbunker, und einige der Anwesenden warfen Pfeile. Zwei oder drei lasen Zeitschriften, die anderen hatten sich auf den Liegen ausgestreckt und plauderten.
Ein Unteroffizier ging durch den Raum und schenkte allen,
die es wünschten, Whisky mit Soda ein. Die Briten haben da
ihr eigenes System, das unseren Trinkgewohnheiten diametral
entgegengesetzt ist. Sie gießen eine mikroskopisch winzige
Menge Whisky auf den Boden des Glases und kippen ein
mehrfaches Quantum Wasser nach. Keine Portion übersteigt
dreißig Gramm, aber sie trinken den ganzen Abend.
Plötzlich bemerkten wir etwas Lustiges. Der Unteroffizier
schenkte den Whisky aus und ließ jeden sich in ein Büchlein
eintragen, den er bedient hatte. Als wir Hodson erstaunt nach
dem Sinn fragten, erklärte er, Offiziere wie Mannschaften erhielten eine unentgeltliche Rumzuteilung, wohingegen der
Whisky bezahlt werde. Deshalb müsse jeder seine verbrauchte
Menge anschreiben.
Alles in allem verstand ich das. Trotzdem mußte ich bei dem
Gedanken lächeln, unsere Flieger erhielten nach einem Einsatz
Schnapsgläschen mit dreißig Gramm verdünntem Wodka und
müßten jedesmal den Empfang quittieren.
Wir kehrten nach Grjasnoje zurück, übernachteten dort und
gingen zu Kusnezow. Nach den Briten konnten wir unsere eigenen in der Nähe stationierten Fliegerstaffeln aufsuchen. Kusnezow beriet uns, wohin wir fahren sollten. Auch bei der Einschätzung seiner Flieger bewahrte er seine Würde und behielt
einen ungewöhnlich kühlen Kopf. Nur zu oft beurteilten unsere
Offiziere ihre Unterstellten allzu schnell, ohne alle Umstände
und Einzelheiten zu berücksichtigen und ihre Worte abzuwägen, für die sie dann nicht voll geradestehen können. Es war
uns nicht vergönnt, den berühmtesten Flieger des Nordens,
Hauptmann Safonow, zu sehen. Wir verfehlten ihn, weil wir zu
ihm fuhren, als er zu den Briten unterwegs war. Dafür sahen
wir jedoch andere verdienstvolle Leute, unter ihnen Oberleutnant Kowalenko, über den ich später einen Artikel schrieb:
„Der Jäger der Jäger“…
Im Tagebuch findet sich über Alexander Andrejewitsch Kowalenko nur dieser eine Satz. Jetzt möchte ich hinzufügen, daß
er im ersten Kriegsjahr elf Maschinen abschoß, den Titel „Held
der Sowjetunion“ erhielt, alle Rückschläge überdauerte und
heil und gesund blieb. Vor einigen Jahren bin ich ihm begegnet. Er war älter geworden, hatte angesetzt, aber er stand seinen
Mann in einer Moskauer Schule, die Material über die Kämpfe
im Polargebiet sammelte. Als ich jetzt meine Frontnotizen
durchblätterte, fand ich die Stelle über unsere erste Begegnung
im Jahr 1941. Trotz oder dank ihrer Kürze, des Fehlens von
schmückendem Beiwerk und Ausrufezeichen liefert die knappe
Eintragung eine ziemlich treffende Vorstellung von seinem
Charakter und der Einstellung, die er zur Sache hatte.
„Ich war obdachlos, dann Viehhirt, von fünfundzwanzig bis
einunddreißig arbeitete ich in einer Glashütte als Glasbläser.
Besuchte die Fliegerschule, durchlief alle Stadien, flog einen
Aufklärer, einen Jagdbomber, einen Bomber. Während des
Spanienkrieges ging ich zu den Jägern, hoffte hinzukommen.
Hier bin ich seit dem Finnischen Krieg. Die Besonderheit des
Kriegsschauplatzes: heftigste Wetterumschläge. Der Pilot muß
die wenigen Orientierungspunkte im Kopf haben. Selten gelingt es, geraden Kurs zu halten. Schneewolken müssen umflogen werden. Starke Temperaturunterschiede in Abhängigkeit
von der Höhe, bald ist der Motor überhitzt, bald unterkühlt. Im
Tiefflug geht es durch Schluchten und zwischen Bergen hindurch, man muß sich dabei verstecken und den Gegner suchen.
Auch ein feindlicher Tiefflieger ist schwer zu entdecken. In
dieser Gegend gibt es die Möglichkeit eines Lufthinterhalts.
Die Schneewolken verbergen den Gegner. Einmal flieg ich mit
der Kette zum Angriff und stoße überraschend auf Deutsche.
Wolken, Regen. Der Kampf spielt sich zwischen den Bergen in
den Schluchten ab, die Gipfel sind nicht zu sehen. Zwei
,Messer’ hab ich abgeschossen. Im Nebel fanden wir kaum
unseren Flugplatz wieder. Ein andermal waren wir sieben, als
wir unter uns auf der Erde die Einschläge von Bomben bemerkten. Wir sahen uns um, woher es tröpfelte. Dann entdeckten wir sie, Bomber und Jäger. Wir griffen an. Beim ersten
Anflug schossen Safonow und ich je einen Bomber ab. Safonow griff an und entwischte, aber ich war mittendrin. Sie flogen so dicht, daß sie nicht schießen konnten, weil sie sich gegenseitig abgeknallt hätten, und ich hatte beim Feuern meine
Not, weil ich nur immer wenden mußte, um nicht aufzuprallen.
Endlich bemerkte ich unter mir ein Loch und konnte durch eine
Schlucht an den Felsen vorbei entwischen. Anfangs flogen die
Deutschen frech bis Murmansk, dann bloß noch bis zum Meerbusen, dann zur Straße, dann wurden sie sogar von der Front
verdrängt. Einmal trafen wir zu neunt auf deutsche Jäger.
Gleich beim ersten Angriff hatte ich eine ,Messer 110’ im Visier. Den wollte ich unter allen Umständen abschießen, traf ihn,
verfolgte ihn. Bis zur Erde jagte ich ihn.
Er bohrte sich in einen Hügel. Beim Aufsteigen griffen mich
fünf gleichzeitig an, von vorn und von hinten. Jetzt machen sie
dich fertig, dachte ich, aber wieder rettete ich mich in eine
Felsspalte. Nur meine Maschine hatten sie durchlöchert wie ein
Sieb. Die Engländer sind unsere Freunde, sämtliche Knöpfe
haben wir füreinander abgerissen. Sehr gute Jungs, hitzig, stürzen sich mutig in den Kampf. Manchmal kommt man tagelang
kaum aus der Kabine raus. Bei schönem Wetter sieben Einsätze
pro Tag. Jetzt wird’s früher dunkel. Da ist es leichter. Sonst
haben wir gleich in der Kabine geschlafen…“ Die Erzählung
offenbart nicht nur den Charakter dieses Mannes, daraus geht
auch hervor, welche Lage sich im Murmansker Luftraum Anfang Oktober abzeichnete. Das Besondere war, daß man hier
im vierten Kriegsmonat schon nicht mehr von einer Luftüberlegenheit der Deutschen sprechen konnte. Sie bombardierten
nach wie vor Murmansk und die Seewege zum Hafen, doch das
kam ihnen von Tag zu Tag teurer zu stehen. Diesen Zustand
herzustellen hatte große Anstrengungen gekostet. Wie die Dokumente bezeugen, hatten die Fliegerkräfte der Karelischen
Front und der Nordflotte nur veraltete Jäger der Typen I-153, I16, I-i 5 eingesetzt. Als unsere Flieger im Dezember 1941 hier
nach den ersten sechs Monaten des Krieges das Fazit zogen,
stellte sich heraus, daß vierzig Prozent aller Verluste auf den
ersten Monat entfielen und sechzig Prozent auf die übrigen
fünf, was einem Durchschnitt von zwölf Prozent je Monat entspricht. Von diesem Umschwung, der neben der gewachsenen
Kampferfahrung auch darauf zurückzuführen war, daß die meisten unserer Kampfflieger des Nordens im Herbst auf moderne
MiGs, LaGGs, „Hurricanes“ umgesetzt wurden, sprach damals
auch Kowalenko, als er mir erzählte, wie sie die Deutschen
allmählich von Murmansk verdrängten. Der Gerechtigkeit halber muß man hinzufügen, daß eine wichtige Rolle bei der Si-
cherung Murmansks unsere Flakartillerie spielte. Davon konnten wir uns durch persönliche Beobachtungen überzeugen, und
als ich jetzt meine Notizblöcke nach Aufzeichnungen über
meine Gespräche mit den Briten durchblätterte, entdeckte ich,
daß unsere Bundesgenossen von sich aus – ohne auf Fragen zu
antworten – zweimal dieses Thema berührten und des Lobes
für die Murmansker Flakartilleristen voll waren, ja sie sogar
höher als die Londoner einstuften; bedenkt man, daß die meisten der bei uns im Norden eingesetzten britischen Flieger
ehemalige Teilnehmer an der Luftschlacht um England waren,
so hat dieses Lob aus ihrem Munde einiges zu bedeuten.
Mit General Kusnezow, dem die Briten in unserem Norden
operativ unterstellt waren, bin ich während des Krieges nicht
wieder zusammengetroffen. Da ich mich jedoch für sein weiteres Schicksal interessierte, fand ich im Zentralen Archiv der
Seestreitkräfte einige aufschlußreiche Lebensdaten dieses Fliegergenerals. Alexander Alexejewitsch Kusnezow entstammt
einer Bauernfamilie des Kalininer Gebiets und war entgegen
meinen Tagebuchaufzeichnungen zunächst Matrose. Als erstes
absolvierte er die Marineschule, wurde Luftaufklärer, dann
genoß er seine Fliegerausbildung. Als ich ihn bei Murmansk
kennenlernte, war er siebenunddreißig, danach befehligte er
noch zwei Jahre den im Norden operierenden Teil der Luftstreitkräfte, wurde dann in den Fernen Osten versetzt. Auf der
ersten Seite seiner Personalakte stand „Generalleutnant Kusnezow, Held der Sowjetunion“, aber obwohl ich weiter in den
Dokumenten aus der Vorkriegs- und aus der Kriegszeit blätterte, fand ich keinen Befehl über die Verleihung dieses Titels.
Nach gründlichem Suchen wandte ich mich den Charakteristiken zu. Sie waren alle außergewöhnlich gut: „Bescheiden,
energisch, beharrlich, ausdauernd, zielstrebig, zur Lösung jeder
Aufgabe befähigt, hart in den Forderungen gegenüber sich
selbst und den Unterstellten, auf der Erde wie in der Luft, beim
Fliegen genau, kann unter schwierigen Witterungsbedingungen
fliegen, in der Luft diszipliniert, liebt die Fliegerei, allseitig
gebildet, in der Arbeit methodisch, genau, zuverlässig, orientiert sich auch unter schwierigen Bedingungen schnell.“
Militärische Beurteilungen haben ihre besondere Sprache. Sie
vertragen weder Verschwommenheit noch Unverbindlichkeit,
denn sie sind ihrem Wesen nach nicht für die Vergangenheit,
sondern für die Zukunft geschrieben und müssen letzten Endes
auch in der schrecklichen Situation des Krieges gültig bleiben.
Die Einschätzung zurückliegender Verdienste erfolgt vor allem
im Hinblick auf die Fähigkeit, bevorstehende Aufgaben zu
lösen. Wieweit sie ihrer Verantwortung für die Zukunft gerecht
zu werden vermag, hängt zu einem erheblichen Teil davon ab,
ob jede Formulierung exakt oder ungenau gewählt, von Weitblick getragen ist oder nicht. Es geht nicht nur um den einzelnen Menschen, für den die Beurteilung geschrieben wird, sondern auch um das Schicksal seiner zukünftigen Unterstellten
und um die Sache, der er und sie einst zu dienen haben.
Die Beurteilungen in der Personalakte Alexander Alexejewitsch Kusnezows waren ausnahmslos positiv. Dementsprechend hervorragend waren die Kampfaufgaben, die ihm während seines Militärdienstes übertragen wurden, und seine Auszeichnungen und Beförderungen in Rang und Stellung. Dennoch erhielt er den Titel Held der Sowjetunion nach dem
Krieg, als er zu friedlicher Arbeit überwechselte, wo er unerhört mutigen Einsatz auf wissenschaftlichem Gebiet bewies.
Sicher hätte ich das vorher wissen sollen, aber wie ich zu
meiner Schande gestehen muß, erfuhr ich erst jetzt, daß Kusnezow der Initiator zweier großer und breit angelegter Flugexpeditionen war, die die Hauptverwaltung Nördlicher Seeweg im
Polarbecken der Arktis durchführen ließ. Ich möchte jetzt eini-
ge Passagen aus der Verleihungsurkunde anführen.
„A.A. Kusnezow… erforschte in klugen und mutigen Untersuchungen die Eisgebiete, die als Fluggelände und für die Aufnahme wissenschaftlicher Stationen geeignet waren. Die Landungen auf diesen Flugplätzen führte er persönlich durch. Im
kritischsten Moment der Arbeiten dieser Nordpolexpedition
verursachte Druck ein Brechen des Eises, den dort befindlichen
Flugzeugen und wissenschaftlichen Ausrüstungen drohte die
Vernichtung. Genosse Kusnezow flog persönlich in das Katastrophengebiet und landete das Flugzeug auf der nicht planierten Eisscholle… Sein kühner Entschluß sicherte den Start der
Maschinen und rettete die wissenschaftliche Ausstattung. 1949
leitete Genosse A.A. Kusnezow eine Expedition wesentlich
größeren Ausmaßes unter komplizierteren meteorologischen
Bedingungen… Persönlich führte er Aufklärungsflüge durch
und bewerkstelligte die erste Landung in den schwierigsten
Eisgebieten, um die Errichtung wissenschaftlicher Stationen zu
organisieren. Als die Expedition die Arbeit auf zweiunddreißig
Eisflugplätzen beendet hatte, verließ er das Arbeitsgebiet und
flog ohne Zwischenlandung vom Nordpol nach Moskau…“
So wurde der vor einigen Jahren verstorbene Kusnezow, ehemaliger Befehlshaber der Fliegerkräfte der Nordflotte, Held der
Sowjetunion; aus meinen Notizblockaufzeichnungen geht hervor, daß der Kommandeur des britischen Verbands, der neuseeländische Oberstleutnant Nevil Isherwood, selbst professioneller Versuchspilot, mir 1941 sagte, es wäre ihm besonders angenehm, mit General Kusnezow zusammenzuarbeiten, und er
betrachte es als glückliche Schicksalsfügung, an diesen Menschen geraten zu sein.
Zum Tagebuch.
Am späten Abend kehrten wir nach Murmansk zurück. In unserem Hotelzimmer hatte sich noch jemand eingefunden: Gri-
scha Selma, Bildberichterstatter der „Iswestija“. Juri German
verbrachte dort noch die Nacht, am Morgen reiste er nach Poljarnoje ab. Wir vereinbarten, von hier kein Material über die
Briten zu verschicken, sondern erst in Archangelsk. Auch kamen wir überein, uns nicht zu wiederholen.
In der Nacht schrieb ich die kleine Arbeit „Eine gemeinsame
Sprache“, aber als ich am Morgen die Zeitung aufschlug, stellte
ich betrübt fest, daß mir Sklesnew zuvorgekommen war und
die „Iswestija“ vom 5. Oktober aus seiner Feder einen Artikel
über die Engländer brachte. Ich fand den Artikel nicht übermäßig gut, aber auf jeden Fall war das Thema zunächst erschöpft.
Ich las meine über Nacht entstandene Arbeit noch einmal durch
und steckte sie in die Feldtasche. Das Material, das zu sammeln
wir in erster Linie hergekommen waren, hatte für die Presse
seine Bedeutung verloren. Was nun? fragte ich mich. Meine
Stimmung sank auf den Nullpunkt. Aus Moskau trafen alarmierende Nachrichten ein. Die Deutschen hätten die Front
durchbrochen und befänden sich im Vormarsch. Die erste Regung war: Alles stehen- und liegenlassen, zurück!
Andererseits: der lange Herflug. Für nichts und wieder nichts?
Außerdem war es in einer Zeit des Rückzugs so gut wie unmöglich, wertvolles Material zu beschaffen, das wußte ich aus
eigener Erfahrung. Also würde die Zeitung auf dem trockenen
sitzen, obwohl sie gerade an solchen Tagen dringend Material
von beständigeren Frontabschnitten benötigte.
Hinzu kam, daß ich nach meinem Aufenthalt in Odessa, dem
südlichsten Punkt der Front, sehr gern die Halbinsel Rybatschi,
ihren nördlichsten Punkt, kennengelernt hätte. Aber auf dem
Meer tobten heftige Stürme, so daß weder heute noch morgen
die geringste Aussicht bestand, die Halbinsel zu erreichen, und
die Zeitung wartete nicht! Darum tat ich etwas, was mir sehr
zuwider war. Ich sammelte Material von anderen, um recht
schnell irgendeinen Artikel schreiben zu können.
Übrigens, diesmal hatte ich Glück. Ich lernte einige Leute
kennen, die später meine Frontfreunde wurden.
So schloß ich Bekanntschaft mit dem Chef der Seeaufklärung,
Kapitän Wisgin, einem untersetzten, fidelen Burschen, der im
Grunde gutmütig war, obwohl er eine spitze Zunge haben
konnte, auch gegenüber seinen Stellvertretern, von denen einer
der zurückhaltende Oberstleutnant Dobrotin war, eine Seele
von Mensch. Irgendwann einmal hatte Dobrotin seine Laufbahn in der Reiterarmee begonnen, dann war er viel herumgekommen; ich weiß schon nicht mehr, in welcher Tätigkeit; aber
er beherrschte Sprachen, war sehr höflich und zuvorkommend
– kurz und gut, er vertrat jenen Typ des hochgebildeten Berufsoffiziers, dem man nicht alle Tage begegnet. Ausführlich
erzählte er von seiner Tätigkeit bei der Seeaufklärung. Wenn er
sprach, durchmaß er das Zimmer und schleifte ein Bein etwas
nach. Noch war er von seiner Verwundung, die er kürzlich bei
einem Störmanöver gegen die Deutschen in Norwegen erlitten
hatte, nicht völlig wiederhergestellt.
Auch Major Ljuden, Wisgins zweiten Stellvertreter, lernte ich
kennen. Ljuden war das ganze Gegenteil von Dobrotin, er war
so etwas wie ein jüdischer Husar, mittelgroß, vollschlank, ein
Mann mit Halbglatze und dicker Brille, deren Gläser in der
Stärke von etwa minus acht funkelten. Er hatte die lauten Manieren eines Odessaers und summte ständig irgendwelche Arien und Ariosi vor sich hin. Anscheinend war er ähnlich bewandert wie Dobrotin und hatte dienstlich im Ausland zu tun gehabt. Er offenbarte jedoch eine fatale Schwäche für alles Geheimnisvolle und Romantische. Ereifern konnte er sich mit
Feuer und Getöse, und obwohl er überhaupt kein Schwätzer
war und keine wirklichen Geheimnisse ausplauderte, trugen
sein Gebaren und seine Worte eine leicht unseriöse, schwät-
zerhafte Note. Ihm haftete der Spitzname „Diversant“ an, was
ihn sehr freute.
Seiner Tätigkeit nach war er Kommandeur einer Kampfeinheit und hatte sechs oder sieben Aufklärungsunternehmen tief
ins Hinterland der Deutschen hinter sich. Aber offenbar schadete es seiner militärischen Laufbahn, daß er ein so lauter und
lustiger Bursche war, der bald von Scherzen überschäumte,
bald geheimnisvoll und rätselhaft schwieg. Solche Leute haben
es schwer im Leben. Es gibt hierzulande noch Überreste gewisser Fastenbräuche. Erweckt jemand den Eindruck eines Leichtfußes, lärmt er und erzählt Schwanke, so genügt das, ihn nicht
zu befördern.
Einen Tag vor meinem Aufbruch zur Seeaufklärung kehrte
eine kleine Diversantengruppe von einem Störmanöver zurück.
Leutnant Karpow war der Truppenführer. Ich unterhielt mich
lange mit ihm. Er war ein derber, stämmiger, ernsthafter Bursche. Sein Gesicht beeindruckte mich auf recht sonderbare
Weise. Bei einem Aufklärungsunternehmen hatte er eine seltene Verwundung davongetragen. Die Kugel war ihm quer durch
die Nase gefahren, so daß es jetzt schien, als hätte er beidseitig
schwarze Schönheitspflästerchen aufgeklebt. Er sprach gewandt und ohne Aufschneiderei, und was er erzählte, lieferte
mir das Hauptmaterial für „Ferne Kundschafter“, den ersten
Artikel, den ich vom Norden an die Zeitung schickte. Von Beruf Hydrograph, bewarb sich Karpow bei der Seeaufklärung,
als sein Bruder gefallen war. Seitdem diente er dort. Im November brachen zwei Aufklärungsgruppen zu gleicher Zeit auf.
Ljuden nahm mich mit in seine Gruppe, Karpow leitete die
andere. Von diesem Einsatz kehrte er nicht zurück. Bei einem
nächtlichen Nahkampf in einem deutschen Graben streckte ihn
ein tödlicher Schuß nieder.
Bisweilen glaubt man, einen Menschen, dem man vor langer
Zeit einmal begegnete, hätte man schon endgültig vergessen.
Aber blättert man in alten Dokumenten, so sieht man ihn leibhaftig vor sich, und alles wird wieder gegenwärtig: der Krieg
mit seiner Tragik, die Vergänglichkeit. Im Archiv der Seestreitkräfte befindet sich die Personalakte des Leutnants Gennadi Wladimirowitsch Karpow. Sie ist dünn. Wie konnte sie
dicker sein! Die letzte Vorkriegsbeurteilung lautet: „Liebt das
Meer, den Dienst, seinen Beruf, beweist Pflichtgefühl und Verantwortungsbewußtsein für übertragene Aufgaben. Er ist energisch, findet sich in einfacher wie in komplizierter Lage zurecht, sorgt sich um die Unterstellten, ist einsatzfreudig und
ausdauernd. Schlußfolgerung: Bekleidet eine seinen Fähigkeiten entsprechende Stellung, ist für 1941 nicht zur Beförderung
vorgesehen.“ So schien es vor dem Krieg. Dann wurde er dennoch befördert. Der Arbeitsleiter des Jokanger Abschnitts der
Wasserwirtschaft wechselte auf eigenen Wunsch zur Seeaufklärung über. Vier Monate vor Kriegsbeginn heiratete er, konnte ich der Personalakte entnehmen. Im fünften Kriegsmonat –
auch das geht aus den Papieren hervor – wurde er von den Offizierslisten der Seestreitkräfte gestrichen, er war im Kampf um
die sozialistische Heimat gefallen. Der Akte ist eine Belobigung beigefügt: „Leutnant Karpow stand bei einer nächtlichen
Aufklärung an der Spitze eines sechs Leute zählenden Spähtrupps, der überraschend auf Feuerstellungen stieß… Mit
Handgranaten zerstörte der Trupp die Feuerstellungen, und mit
Maschinenpistolen setzte er Infanteristen in Stärke eines Zuges
außer Gefecht… Genosse Karpow nutzte die Verwirrung des
Gegners, um mit seiner Gruppe zum Meerbusen durchzubrechen. Die Ebbe gestattete es ihm, die steile Felswand zur Bucht
hinabzusteigen und seine Gruppe verlustlos durch die tiefen
Verteidigungsanlagen des Gegners zu führen. Erst auf der Linie des Gefechtsvorpostens wurde der Trupp beschossen, und
drei wurden verwundet, einer getötet. Karpow selbst trug Verletzungen im Gesicht, am Bein und am Arm davon. Auf Karpows Befehl bestatteten die Soldaten den gefallenen Genossen
zwischen den Felsen, nachdem sie seine Waffen sichergestellt
hatten. Unter Mitnahme der Verwundeten zog sich der Aufklärungstrupp zur eigenen Verteidigungslinie zurück. Genosse
Karpow nahm an drei Aufklärungseinsätzen im rückwärtigen
Gebiet des Gegners teil und zeichnete sich stets durch Mut und
Tapferkeit aus. Auf Grund des beschriebenen Verhaltens erachte ich es für möglich, den Genossen Karpow zur Auszeichnung
mit dem Orden des Roten Sterns vorzuschlagen. Major Ljuden,
Chef der ersten Gruppe der Aufklärungsabteilung der Nordflotte.“ Stellungnahme der übergeordneten Vorgesetzten: „…trägt
trotz dreifacher Verwundung erneut eine Operation ins rückwärtige Gebiet des Feindes vor. Er ist würdig, mit dem Rotbannerorden ausgezeichnet zu werden. Chef der Aufklärungsabteilung der Nordflotte Wisgin, Kapitän 3. Ranges.“
Am Kopf der Verleihungsurkunde stehen die Worte: „Rotbannerorden. Durch den Kriegsrat der Nordflotte.“ Darunter –
mit Bleistift -: „Gefallen.“
Darunter – ebenfalls mit Bleistift, aber in anderer Handschrift
„Personalakte zur Rentenberechnung vorgelegt.“ Und noch
etwas, eine Laune des Krieges, die wohl erwähnt werden sollte.
1970 schrieben mir die Angehörigen Karpows einen Brief, dem
ich entnahm, daß sein gefallener Bruder – eigentlich sein Vetter, aber sie waren wie leibliche Brüder zusammen aufgewachsen – noch lebte. Als Karpow die Nachricht von seinem vermeintlichen Tod erhalten hatte, ging er zur Aufklärung, aber
der Totgeglaubte war vom Kampfplatz getragen und in ein
Lazarett eingeliefert worden. Die Verwundung an der Wirbelsäule führte zu einer Lähmung der Beine, aber er brachte nach
dem Krieg noch den Willen auf, die Mechanisch-
Mathematische Fakultät der Moskauer Staatlichen Lomonossow-Universität zu beenden und Wissenschaftler zu werden.
Was für erstaunliche, kaum vorstellbare Schicksalswendungen
gab es doch im Krieg!
Außer Karpow lernte ich bei den Aufklärern Starschina Motowilin kennen, über den ich zahlreiche Notizen besitze, die ich
für die Zeitung noch nicht bearbeitet habe.
Motowilin war ein interessanter Bursche, in der Vergangenheit nicht allzu diszipliniert. Er entfaltete sich im Krieg und
war der prädestinierte Kundschafter. Er war kühn, entschlossen, sehr gewandt, den vielfältigen Wechselfällen seiner
Arbeit gewachsen und überhaupt wie eigens für die Aufklärung
geschaffen.
Merkwürdigerweise war er kein bißchen ehrgeizig, obwohl er
völlig in seiner Arbeit aufging. Er erstrebte weder Rang noch
Stellung, wollte sich nicht als Kommandeur ausbilden lassen
und spielte nicht mit dem Gedanken, nach dem Kriege in der
Armee zu bleiben. Ihn interessierte die Jagd, er angelte gern,
und wenn ihm die Aufklärung so zusagte, dann sicherlich, weil
sie mehr mit der Tätigkeit eines Jägers als mit der eines Soldaten gemein hatte.
Im Tagebuch gehe ich nur kurz auf Motowilin ein, aber mein
Frontnotizblock enthält seine Ausführungen. Sie vermitteln
einen Eindruck vom Charakter dieses Mannes und gewähren
einen Einblick in seinen Dienst……wurden wir Anfang Juli
mit einem Trawler an die Sapadnaja Liza gebracht. Major Dobrotin begleitete uns. Wir betraten das Ufer, verabschiedeten
und küßten uns und zogen los. Nikitin und ich. Den ersten Tag
blieben wir unbemerkt. Am zweiten entdeckten uns Flugzeuge.
Wir erklettern gerade einen Hügel, da kommen sie im Tiefflug… Dann beschießt uns ein Maschinengewehr. Wir suchen
bei den Felsen Deckung, halten uns weiter links. Auch dort
werden wir beschossen. Überall Stellungen. Die Lebensmittel
gehen zu Ende. Am vierten Tag- kehren wir um. Wir laufen
zum Ufer und geben Signale.
Sie holten uns ab, und wir schliefen sofort ein, noch auf der
Fahrt nach Poljarnoje.
Ein paar Tage später bekamen wir eine neue Aufgabe. Diesmal zählten wir zweiundzwanzig Mann. Oberleutnant Lebedew
führte uns an.
Als wir an Land gegangen waren, sagte er: ,Motowilin ist
mein erster Stellvertreter. Wenn mir etwas zustößt, ist er für die
Abteilung verantwortlich.’
Unterwegs stießen wir auf einen verdächtigen Hügel. Ich kraxelte mit zwei Genossen hoch. Alles war still, aber von oben
konnten wir drei Telephonleitungen erkennen. Auf einer Rast
bemerkten wir eine Straße. Dort fuhr ein Auto. Auf der Karte
war die Straße nicht eingezeichnet.
Lebedew fragt: ,Wer klettert auf den Mast?’
,Ich’, sag ich, klemme den Dolch zwischen die Zähne und säge ihnen den Draht wie mit einem Fuchsschwanz durch. Dann
sprengten wir den Mast. Wir legten sechs Masten um, danach
ging es weiter.
Das dritte Unternehmen führte wieder dieser Stoßtrupp durch,
und zwar hatten wir dasselbe Ziel, aber wir wurden bei starkem
Nebel an einer anderen Stelle abgesetzt. Durch den Nebel gingen wir zu dem bekannten Hügel. An einem kleinen See machten wir halt, setzten uns hin, um etwas zu essen. Plötzlich sehen
wir: Auf dem Hügel ist jemand. Dann verdeckt der Nebel wieder alles, und wir gehen weiter. Einige Meter vor uns ist ein
Unterstand, daneben duselt ein Posten. ,Kinder’, sagt Lebedew,
,nehmen wir den Hügel!’ ,Machen wir.’
Durch eine Spalte kriechen wir ganz nahe an den Hügel heran.
Da kommt ein Gefreiter aus der Bude. Leonow schießt auf ihn.
Ich rufe: ,Handgranaten zum Zelt!’ Wir werfen.
Der Deutsche wirft gleichfalls eine. Rjabow wird am Bein
verwundet, sein Gewehr ist hin, und mir fliegt der Helm runter.
Von den Nachbarhügeln eröffnen Granatwerfer das Feuer.
,Motowilin’, sagt Lebedew, ,leite den Rückzug, ich gebe Dekkung.’ Wir setzten uns ab. Rjabow wurde getragen. Er hatte
eine tödliche Kopfwunde erhalten. Insgesamt waren drei gefallen, und als wir uns zurückzogen, fielen noch zwei.
Der Rückzug war schwierig, aber die Stelle, wo wir gelandet
waren, erreichten wir vor der vereinbarten Zeit. Während wir
auf das Boot warteten, entdeckten wir ein Häuschen. Darin
fanden wir Salz. Na also, jetzt fehlte uns zum Essen nur noch
das Fleisch. Wir schossen einen Hirsch und brieten Schaschlyk
am Spieß.
Dann kam das Boot, und wir mußten mit dem halbgaren Braten einsteigen.
Wir fuhren nach Poljarnoje, von dort nach Murmansk, wo wir
uns ausruhten, allerdings nur zwölf Stunden. Wir übernachteten – und ab ging’s zum vierten Einsatz.
Diesmal bestand unser Trupp aus achtzig bis neunzig Mann.
Dobrotin führte das Kommando. Auch Lebedew war dabei.
Wir gingen wieder zu jenem besagten Hügel, und weiter…
Zurück führte ich die Leute befehlsgemäß auf dem kürzesten
Weg, über den Hügel. Wir fanden eine Junkers’. Ringsum
brannte die Erde; da es am Tag zuvor geregnet hatte, mußte das
Flugzeug also frisch abgeschossen sein.
Wir erreichten die Stelle am Meerbusen, wo sie uns abgesetzt
hatten, und hörten Kuckucksrufe. Zuerst kam uns das komisch
vor. Kein Wald weit und breit, aber Vögel? Wir dachten schon,
die Finnen. Zwölf Stunden warteten wir auf das Boot.
Einige Tage verbrachten wir in Poljarnoje, dann starteten wir
zum fünften Unternehmen. Bei einigen verlassenen Häuschen
gingen wir vom Motorboot. Gleich beim Ufer hatte sich ein
Hirsch in einem Netz verfangen. Er tanzte hilflos auf dem kahlen Felsen. Ich zog das Messer und zerschnitt das Netz. Der
Hirsch jagte in die Freiheit. Er war halbverhungert, nur noch
Haut und Knochen.
Ich ging mit einer sieben Mann starken Gruppe, Leutnant
Klimenko stand an der Spitze. Dreißig Kilometer sollten wir
vordringen und uns am Kap Pikschujew mit dem Rest der Abteilung vereinigen. Als wir uns dem Ufer näherten, hörten wir,
daß schon gekämpft wurde. Einen kleinen Hügel hatten wir
bereits genommen, aber der Haupthügel hielt sich. Wir versuchten hinaufzukommen. Ich war nur noch wenige Schritte
entfernt, da wurde ich am Bein verwundet. Die restliche Strekke kroch ich, und wir nahmen auch diesen Hügel. Ich meldete,
daß ich verwundet war. Mir wurde befohlen, einen Verband
anzulegen, und ich verband mich. Wir sahen uns in den eroberten Stellungen um, stärkten uns mit ihrem Schnaps. Bei den
Bunkern saßen acht Gefangene, sieben Soldaten und ein Offizier. Ein anderer Offizier lag tot neben ihnen. Die Soldaten
sagten, sie hätten sich ergeben wollen, aber der Offizier hätte
sie gehindert. Plötzlich hörte ich, Lebedew sei gefallen. Ich
wollte es nicht glauben. Wir verbrachten die Nacht auf den
Felsen. Am Morgen zogen wir uns unter Beschuß zu den Booten zurück. Die Leute mußten kriechen, die Verwundeten mitschleppen. Wir Verwundeten wurden als erste auf die Schaluppen gebracht und setzten mit den Gefangenen zu einem größeren Schiff über.
Bei unserer sechsten Aktion traten wir zu einem Hundertfünfundsiebzig-Kilometer-Marsch ins Innere Finnlands an. Wir
liefen sechs Tage, nachtsüber die ganze Zeit, bei Tageslicht
bewegten wir uns kaum .und rasteten meistens. Es regnete
Bindfäden, und wir waren immer durchnäßt. Da wir kein Feuer
machen durften, waren wir auf Kaltverpflegung angewiesen
und würgten das Essen trocken runter. Die Gegend war waldreich und morastig. Vier Flüsse mußten wir überqueren. Nirgends konnten wir uns aufwärmen, weit und breit nichts als
Sumpf. Starschina Darygin sank ein. ,Leg das Gewehr unter’,
rufen sie ihm zu, ,dann hast du Halt!’ Er sagt jedoch: ,Kommt
nicht in Frage, das ist ein Scharfschützengewehr.’ Ehe sie ihm
ein anderes reichen konnten, war er versunken, aber sein Gewehr gab er nicht her. Zu unserem siebenten Unternehmen
setzte man uns im Kampfgebiet ab. Wir drehten unsere Helme
um, so daß sie wie Finnenmützen aussahen, und spazierten
dreist das andere Flußufer lang, vor den Augen der Deutschen,
die dergleichen einfach nicht für möglich hielten. Nachdem
sämtliche Beobachtungen erledigt waren, gingen wir in der
Nacht bei strömendem Regen ans Ufer zurück, um zu signalisieren. Wir hörten ein Boot, signalisierten, aber es kam und
kam nicht näher. Schließlich wurde durchs Megaphon gerufen:
,Am Ufer!’ – ,Wir sind am Ufer!’ Wir waren in Brast und
fluchten. Durchnäßt und frierend standen wir da. Wenn das
Boot in der nächsten Viertelstunde nicht kam, mußten wir uns
wieder in die Felsen zurückziehen und bis zum nächsten Abend
verstecken.
Zu Hause wird es gegen Abend immer dunkler. Hier war es
umgekehrt. Das Nordlicht…“
Nach dem Gespräch mit Karpow und Motowilin luden mich
die Angehörigen der Aufklärungseinheit überraschend nach
unten in ihre Kajüte ein. Ich geriet in eine kleine „Familienfeier“, wie sie es nannten. Nach der Rückkehr einer ihrer Gruppen
veranstalteten sie einen geselligen Abend.
Mehr als zwanzig Leute saßen am Tisch: Motowilin, Karpow,
Ljuden, Dobrotin, Wisgin, Arzthelferin Olga Parajewa, ein
zugeknöpftes Mädchen mit gestutztem Haar und gutem russi-
schem Gesicht; sie war schon bei mehreren Erkundungen dabeigewesen. Draußen tobte ein Schneesturm, es war ein Hundewetter, und in dem geheizten Holzhäuschen herrschte eine
angenehme Wärme. Alle hatten schon etwas getrunken und
sprachen lauter als nötig. Toasts wurden ausgebracht, auf die
Zurückgekehrten, zum Gedenken an die Gefallenen, auf alle,
die jetzt auf Erkundungsgang waren. Ich spürte etwas von der
Romantik dieser Arbeit, und ich fühlte, daß es mir peinlich
wurde, die Leute weiter zu interviewen, wenn ich nicht am
eigenen Leibe verspürt hatte, was sie ständig durchmachten.
Ich sagte zu Wisgin, daß ich die Aufklärer gern bei einer Operation begleiten würde.
Zuerst zuckte er mit den Achseln. Dann sagte er: „Warum
nicht? Ich denke, das wird sich einrichten lassen.“
Besonders deutlich erinnere ich mich der Atmosphäre dieses
Abends. Sie war harmonisch und doch ein wenig gereizt – weil
sich die einen im Einsatz befanden und die anderen gerade zurückgekehrt und den tödlichen Gefahren entgangen waren.
Am nächsten Tag lernte ich Hauptmann Swistunow von der
Staatssicherheit kennen. Er war Leningrader, ein harter, zurückhaltender und korrekter Mann. Für das Gespräch mit mir
bestellte er einen kürzlich aus deutscher Kriegsgefangenschaft
geflohenen Rotarmisten namens Kompanejez. Seine Worte
legte ich dann dem Artikel „Der Rückkehrer von drüben“
zugrunde, den die Redaktion umbenannte und mit der Überschrift „In den Klauen des faschistischen Untiers“ versah. Ich
interviewte ihn einige Stunden hintereinander, und sein Bericht
kam mir schrecklich vor. Schrecklich nicht, weil er irgendwelche besonderen Brutalitäten schilderte – die hatte es in diesem
Fall nicht gegeben –, aber aus den ruhig berichteten Erlebnissen gewann ich eine Vorstellung von dem feingesponnenen,
unmenschlichen, sadistischen System der unauffälligen und
langsamen Zugrunderichtung eines Kriegsgefangenen. Die
Erzählung mit ihrer minuziösen Darstellung vieler Einzelheiten
– wie sich Gefangene um einen Knochen balgten, wie sie ins
Gesicht geschlagen wurden, wie sie Hunger und Kälte erdulden
mußten – war grauenvoller und aufschlußreicher als Erzählungen von in den Rücken geschnittenen Sowjetsternen, ausgebrannten Augen und anderen Bestialitäten.
Damals lernte ich in der Politabteilung der Armee auch den
Regimentskommissar Rusow kennen. Rusow war ein sehr interessanter Mensch. Vor Papanin hatte er zwei Jahre die Überwinterungsstation am Kap Tscheljuskin geleitet und darüber
ein Buch geschrieben. Alle seine Kameraden erhielten für ihre
Hilfe bei der Rettung der Männer von der Tscheljuskin einen
Orden, nur er nicht, weil er auf eine von seinen Vorgesetzten
im Nördlichen Seeweg telegraphisch übermittelte bürokratische Anweisung einen Fluch zurückgefunkt hatte. Moskau forderte ungläubig eine Bestätigung, und Rusow bestätigte. Im
ersten Weltkrieg war er Kundschafter der EinjährigFreiwilligen und kehrte als Träger des Georgskreuzes heim. Im
Bürgerkrieg diente er bei der Kavallerie, und jetzt hatte man
ihn wegen seiner Fremdsprachenkenntnisse in die Abteilung
zur Arbeit unter den gegnerischen Truppen geholt, obwohl eine
Tätigkeit als Kundschafter nach meinem Dafürhalten besser
seinem Wesen entsprochen hätte. Er war kühn im Urteil, geistreich, ein Spötter, trank gern, machte den Frauen den Hof, liebte Ausgelassenheit und lustige Geschichten. Kurz, er war ein
fröhlicher, witziger Mensch, der Herz, Verstand und einen
Kopf zum Denken hatte. Der Dienst war für ihn eine Quelle der
Aktivität, und er diente selbstlos.
Ich lernte Rusow kennen, als er in einem kleinen Raum einen
gefangenen deutschen Piloten verhörte, einen hübschen Jungen, der sich einen Bart stehen ließ. Es war kalt. Der Deutsche
fröstelte und zog den Mantelkragen enger um den Hals. Im
Ofen knisterte das Holzfeuer, aber es war gerade erst angeheizt
worden.
Während des Verhörs lief Rusow durchs Zimmer. Kam er am
Ofen vorbei, streckte er, ohne stehenzubleiben, die Hände aus.
Er war klein, hatte schlohweißes Haar, eine scharfe Nase, ein
nach vorn strebendes Gesicht. Ein Orden und zwei Medaillen
zierten seine Brust. Er nahm mich äußerst ungnädig auf. Erst
gegen Abend machte seine Abneigung gelindem Wohlwollen
Platz. Veranlassung für seine ursprüngliche Antipathie hatte
ihm, wie sich dann herausstellte, einer meiner Kollegen gegeben, ein Journalist, der sich wichtiges dokumentarisches Material ausgeliehen hatte und es völlig verdreht wiedergegeben
hatte.
Ich besuchte Rusow drei Tage hintereinander, während ich
auf Wetterbesserung hoffte, denn ich wollte das nächste Motorboot nach der Halbinsel Rybatschi nehmen.
Danach begegnete ich Leonid Wladimirowitsch noch zweimal
im Krieg – 1942 in der 14. Armee, ebenfalls bei Murmansk,
und 1944, sehr fern von hier, in Bukarest.
Aus Dokumenten des Archivs geht hervor, daß der Freiwillige
Rusow seinen Wehrdienst 1914 in Ostpreußen begann. 1915
wurde er in Polen am Kopf verwundet und geriet in deutsche
Gefangenschaft. 1918 kehrte er aus Kriegsgefangenschaft zurück, und 1919, als Mamontow auf Tula vorrückte, trat er in
die Rote Armee ein. Bei Rossosch traf ihn ein Säbelhieb. Während der Parteiwoche wurde er Mitglied der Partei und blieb bis
August 1920 an der Front – als Brigadekommissar und Kommissar einer kommunistischen Abteilung, zuerst im Kampf
gegen die Weißen, dann gegen die Weißpolen. Nach einer weiteren Verwundung und einer Kontusion brachte er ein Jahr in
Lazaretten zu. Danach wurde er zunächst den Kreml-Kursanten
zugewiesen, dann jedoch langfristig in den Zivildienst beurlaubt, da er infolge der Kontusion unter Anfällen litt. Er arbeitete als Bevollmächtigter für Getreidebeschaffung und für die
Kollektivierung in Sibirien und im Nordkaukasus. Schließlich
kehrte er in die Armee zurück und studierte an der FrunseAkademie. 1933 fuhr er als Leiter der Überwinterungsstation
nach Kap Tscheljuskin. Fünf Jahre verbrachte er in der Arktis,
und vor seiner Rückkehr nach Bolschaja Semlja erhielt er doch
noch den Orden des Roten Sterns, der ihm wegen seines widerspenstigen Charakters so lange vorenthalten worden war. Nach
seiner Rückkehr aus der Arktis bewarb er sich um die Fortsetzung seiner militärischen Laufbahn. 1940 kämpfte er auf der
Karelischen Landenge, 1941 bei Murmansk und ab 1943 im
Süden. Für seine Verdienste in der Aufklärung und in der operativen Arbeit wurde er mit mehreren Orden und Medaillen
ausgezeichnet, darunter – nach der Schlacht um Budapest – mit
dem Kutusow-Orden III. Klasse. Die letzte Aktion, an der er
beteiligt war, die Gefangennahme und Entwaffnung von Wlassow-Einheiten, die sich zu den Amerikanern absetzen wollten –
fand am 12. Mai 1945 statt, drei Tage nach Friedensschluß.
In der Nachkriegszeit leitete Rusow an einem Leningrader Institut den Lehrstuhl für Fremdsprachen. Dann – im vorgerückten Alter -wurde er Rentner, doch bis an sein Lebensende ließ
er sich weder von Krankheit noch von den Folgen seiner Verwundungen und Kontusion unterkriegen. Den Lebensabend
verbrachte er in Gattschina, wo er gewissenhaft historisches
Material sammelte und ein Buch schrieb, die Geschichte einer
Stadt, das zweite Buch seines Lebens. So starb er, ohne zur
Ruhe gekommen zu sein, ohne sich selbst und seinen Charakter
zu verleugnen.
Ich besuchte ihn kurze Zeit vor seinem Tode im Krankenhaus,
und obwohl seit unserer ersten Begegnung bei Murmansk na-
hezu ein Vierteljahrhundert vergangen war, schien er sich trotz
seiner Krankheit kaum verändert zu haben. Er war so klein, so
schlohweiß, so lebhaft wie ehemals, und immer wieder bemühte er sich krampfhaft, aufzuspringen, um, wie es seine Art war,
durchs Zimmer zu laufen. Die ungewohnte Bettruhe war ihm
hinderlich beim Sprechen.
Am 17. Oktober, als gemeldet wurde, daß mit einer Wetterbesserung zu rechnen sei und das erste Motorboot um 15.00
Uhr nach der Halbinsel Rybatschi auslaufen würde, kehrte
Mischka Bernstein von einem Stadtbesuch zurück. Er war rot
im Gesicht und völlig aus dem Häuschen. Zwei Korrespondenten des „Stalinski Sokol“ flögen nach Moskau. Sie hätten
Mischka angeboten, sie zu begleiten. Außerdem sei in Murmansk gerade ein Journalist gelandet, der am Vortag von Moskau abgeflogen sei, und er habe Mischka die letzten Ereignisse
in allen Einzelheiten geschildert. Ich hörte das aus zweitem
Munde, aber der Eindruck war niederschmetternd wie bei der
ersten Erzählung. Was immer ich beim Nachdenken über Borissow und Dnepropetrowsk und andere Städte empfunden hatte – diese Nachricht aus der Hauptstadt war ein besonders
schwerer Schlag. Nunmehr stand fest, daß die Deutschen Moskau direkt bedrohten.
Vor Mischkas Eintreffen hatten wir vereinbart, daß Selma und
ich den Seeweg nach Rybatschi wählen würden, während
Bernstein, der das Schlingern nicht vertrug, auf dem Landweg
zur 52. Division und zu General Westscheserski fahren sollte.
Später, wenn wir wieder in Murmansk waren, konnten Selma
und Bernstein ihre Photos austauschen.
Doch jetzt führte Mischka das große Wort. Wir seien nur für
zehn Tage herbeordert, länger könne er nicht bleiben, er müsse
mit sämtlichen Aufnahmen so schnell wie möglich nach Mos-
kau, denn hier, im Norden, gebe es für ihn nichts mehr zu tun,
wohingegen er in Moskau dringend gebraucht würde.
Ich teilte seine Gefühle. Auch mir war der Gedanke daran,
was sich gegenwärtig bei Moskau zutrug, nahezu unerträglich.
Außerdem – warum sollte ich es verhehlen – spielten persönliche Gefühle hinein. In Moskau lebten Mutter und Vater und
alle näheren Verwandten. Andererseits sagte mir mein journalistischer Instinkt, daß die Zeitung gerade jetzt unbedingt Berichte von einer stabilen Front brauche, wo nicht zurückgegangen wurde, wo alles in Ordnung war, denn diese Mitteilungen
mußten -- dem Gesetz des Kontrastes entsprechend -eine heilsame Wirkung auslösen. Nachdem ich eine Weile geschwankt
und die erste Regung, nach Moskau zu fliegen, überwunden
hatte, überredete ich Mischka, die belichteten Filme den Bildberichterstattern des „Stalinski Sokol“ mitzugeben und selbst
vereinbarungsgemäß zu Westscheserski an die Front zu fahren.
Gegen zwei Uhr nachmittags erblickten Selma und ich von
der hölzernen Anlegestelle das Boot, mit dem wir fahren sollten, das kleine, schmutzstarrende Motorfahrzeug „Taimen“.
Acht Zivilisten versahen darauf ihren Dienst, den Kapitän, den
ersten Maschinisten und das Büfettfräulein eingeschlossen.
Diesmal hatte die „Taimen“ Brennholz geladen. In Erwartung
noch heftigerer Winterstürme sollte es rechtzeitig auf die Halbinseln Rybatschi und Sredni geschafft werden.
Wir gingen an Bord. Der Frachter legte ab, und etwa zwei
Stunden lang fuhren wir durch den Kolski Saliw. Lange noch
sahen wir Murmansk. Das Wetter war gut.
Die Deutschen griffen die Stadt routinemäßig an. Über dem
Meerbusen kreisten die Flugzeuge, entspann sich ein Luftkampf. Weit hinter uns fielen Bomben.
Der Kapitän, ein hoch aufgeschossener, nicht mehr junger
Mensch mit wattierter Jacke und ausgebleichtem rotem Unter-
hemd, erzählte uns, in eine dicke Machorkawolke gehüllt, wie
er bei der letzten Fahrt, als er den Hafen Eina anlief, von den
deutschen Batterien unter Beschuß genommen wurde und einige kleinere Lecke davontrug. Er redete mit Händen und Füßen
und sprach sehr laut, als ob wir taub wären. Ich gelangte zu
dem Schluß, daß er das letztemal nicht nur Brennholz, sondern
auch Wodka nach Rybatschi gefahren hatte und daß die Beförderung dieser Fracht für ihn nicht ohne Folgen geblieben war.
Der Kapitän entwickelte übrigens eine andere Variante. Mit der
Begeisterung eines in sein eigenes Seemannsgarn verliebten
Menschen erzählte er von einem ersponnenen Obersten, einem
herzensguten, einem großartigen Menschen, der ihm eine ganze Buddel Wodka dagelassen habe. „So!“ Der Kapitän zeigte
das immer größer werdende Format der Buddel. „Dir zum
Wohl, Peterchen! Trink, teurer Seemann, trink, solange du
lebst!“ So hatte der Oberst angeblich gesprochen, behauptete
der Kapitän, den wir unter uns fortan „Peterchen“ nannten. Zu
Beginn der fünften Nachmittagsstunde senkte sich die Dämmerung herab, und als wir Grjasnoje passierten, war es schon völlig dunkel. Eine Brise kam auf. Peterchen sagte Gefahr voraus.
„Der Motor ist angelassen“, erklärte er. „Motor“ – das war auf
Motowski Saliw gemünzt. „Das wird ein Wetterchen!“ meinte
er verheißungsvoll mit einer Miene, als könnte uns seine Prognose nur Vergnügen bereiten. Dann lud uns Peterchen in seine
Kajüte ein. Das war ein Käfterchen mit einem Tischchen und
zwei Kojen, eine über der anderen. Ich kletterte in die obere,
Selma nahm die untere. Inzwischen waren wir weit in den
Meerbusen hinausgefahren, und das Schiff begann tatsächlich
zu schlingern.
Nach anderthalb Stunden kam Peterchen vom Wachdienst zu
uns. Seine Lobeshymne auf den Obersten setzte er fort, wobei
er unter der Koje tatsächlich eine riesige Flasche Wodka her-
vorholte. Er schenkte Teegläser voll, und wir tranken. Ein angenehmes Wärmegefühl durchrieselte mich, und die Planken
schienen weniger zu schwanken. Dann kam der Maschinist
herunter, ein eingefleischter Pessimist, wie ich bald merkte, ein
Mensch mit einer ausgeprägten negativen Lebenseinstellung,
dem nichts und niemand recht war, weder Peterchen als Kapitän noch die Tonnage des Fahrzeugs noch die Beschaffenheit
der Maschine noch der Kriegszustand zwischen Deutschland
und der UdSSR, und ganz besonders empörte es ihn, daß die
Bucht beschossen wurde. Das regte ihn trotz der Verfassung
auf, in der er die Kajüte betrat, denn offensichtlich hatte der
wohltätige Oberst nicht nur Peterchen, sondern auch den Maschinisten so reichlich mit Wodka versorgt, daß ich fürchtete,
die Güte dieses Menschenfreundes würde uns nach Kap Pikschujew verschlagen und statt in den Hafen von Eina in die
Hände der Deutschen führen.
Zwischen dem Maschinisten und Peterchen entbrannte ein
langer Streit, in dessen Verlauf sie uns abwechselnd um Beistand anriefen. Anderthalb bis zwei Stunden zeterte der Maschinist. Alle möglichen fürchterlichen Episoden aus seinem
Leben fielen ihm ein. Er hielt uns vor, nicht einmal zu ahnen,
mit welcher Mühe er uns auf einem so schäbigen Pott mit einer
so miserablen Maschine befördere. Den Kapitän bezichtigte er,
die Schiffswache zu vernachlässigen, obwohl uns die Deutschen jeden Augenblick beschießen konnten, aber als Peterchen, durch die Vorwürfe verletzt, vorzeitig auf seinen Posten
zurückkehren wollte, sagte er beleidigt: „Du bringst es nicht
übers Herz, von mir zu gehen, Peterchen“, und Peterchen blieb.
Vom langen Streit erschöpft, schlief der Maschinist endlich
ein, und Peterchen setzte seine Wache fort.
Stunden verstrichen. Da ein schönes Lüftchen wehte und der
Wind mit Stärke fünf oder sechs – günstig stand, erreichten wir
Eina früher als erwartet. Es war tiefste Nacht, und frostgekrümmt krochen wir an Deck und über den Steg an Land.
Backbords und steuerbords sahen wir die verschneite Küste
der Halbinsel Rybatschi. Vor diesem weißen Saum war das
Meer schwarz. Rechts von uns ragten die Masten des im ganzen Land bekannten hydrographischen Schiffs „Persej“ empor,
das hier kürzlich auf Grund gesetzt worden war, und dahinter
erhoben sich die Masten und Schornsteine zweier weiterer versenkter Fahrzeuge. Seitdem die Deutschen in den ersten drei
Kriegstagen mit ihrem Vormarsch nach Osten – zur Sapadnaja
Liza – Rybatschi und Sredni vom Festland abgeschnitten hatten, waren die Garnisonen der beiden Halbinseln ohne jede
Landverbindung. Jetzt versuchten die Deutschen auch die letzten noch vorhandenen Zugangsmöglichkeiten – die Seewege –
auszuschalten, indem sie den kleinen Hafen Osjorki auf der
Halbinsel Sredni und den Hafen Eina auf Rybatschi laufend
bombardierten. Auf den Kais und den dahinter liegenden Gebieten war kaum noch ein Stein auf dem anderen, überall gähnten verwehte Trichter. Wir wollten die zuständigen Leute ausfindig machen. Es war eiskalt und stürmisch, lockere Wolken
fegten dicht über die Erde hin. Selma und ich kämpften uns,
immer wieder im Schnee versinkend, zu einem Hügel vor, wo
wir niemanden fanden. Wir kehrten zur Anlegestelle zurück
und versuchten unser Glück in der entgegengesetzten Richtung.
Wir gingen einem leichten Rauchgeruch nach und stießen
schließlich auf eine Höhle, in der sich die Posten aufwärmten.
Ein Rotarmist führte uns zum Kommandanten. Sein Bunker
befand sich einen Kilometer vom Hafen entfernt in einem steinigen Hügel. In dem geräumigen Erdbunker standen vier Betten und ein aus Brettern gezimmerter Tisch, an dem der Hafenkommandant saß, Oberleutnant Ginsburg; er war in Odessa
geboren. Auf Rybatschi stand ihm nur ein Korrespondent zur
Verfügung, und er zeigte sich erfreut über unser Erscheinen.
Wir fragten ihn sofort nach dem Stab des befestigten Raums.
So bald könnten wir nicht dorthin gelangen, sagte er, das sollten wir uns aus dem Kopf schlagen. Arn Tage wäre Osjorki
übers Wasser nicht zu erreichen, da die deutsche Batterie von
Pikschujew die Bucht beschieße, und der Landweg erstrecke
sich über vierzig Kilometer, und die Verbindungsstraße zwischen Eina und Osjorki sei. so verweht, daß Dutzende von
Lastwagen mit Lebensmitteln schon zwölf Stunden feststeckten
und die Fahrer nur noch Schnee schaufeln könnten, damit die
Fahrzeuge nicht vollends unter den Schneemassen verschwanden. So baten wir also den Kommandanten, über Nacht bleiben
zu dürfen. Der Kommandant folgte dem Gebot der Gastfreundschaft. Er setzte uns zum Anwärmen Wodka vor und forderte
uns auf, dazubleiben. Gegen Morgen weckte mich kräftiges
Husten und Ächzen. Oberstleutnant Sobtschak, ein alter Haudegen, kehrte vom Holzabladen zurück. Er war dem Aussehen
nach über fünfzig, hatte einen grauen Schnurrbart und eine
Stimme, die mächtig wie die eines Feldwebels der Leibgarde
gellte. Trompetenstößen gleich erfüllte sie den unterirdischen
Raum, als er mit dem Kommandanten das Ergebnis des Verund Entladens besprach. Schließlich übermannte die Müdigkeit
die beiden, und nach Sobtschak und Ginsburg schlief auch ich
wieder ein. Nach etwa einer Stunde hörte ich im Schlaf Ginsburg telephonieren.
Dann betrat noch jemand den Bunker, und ein dienstliches
Gespräch wurde in scharfem Ton geführt. Obwohl ich noch
benommen war, erkannte ich im Gesprächspartner des Kommandanten eine Frau. Ein Mädchen mit Pelzjacke, Breeches,
eleganten Stiefeln und schief aufgesetzter Ohrenmütze stand
vor Ginsburg stramm. „Genosse Oberleutnant“, sagte sie,
„wenn Sie nicht umgehend den Transport der Verwundeten
vom Verbandplatz zum Hafen organisieren, erstatte ich auf
dem Dienstweg Meldung.“
Sie sprach deutlich, gleichsam mit Punkt und Kommas, und
Ginsburg, der müde am Tisch saß, antwortete ihr leise und
friedfertig. „Warum gleich eine Meldung, Taissia Iwanowna?
Ich tue doch auch so alles für Sie. Und warum kommen Sie so
zeitig? Sie wecken mir ja die Gäste auf. Hier schlafen zwei
Journalisten. Warum müssen Sie mit Ihrem Geschrei die Leute
wach machen?“
Taissia Iwanowna verlangte jedoch mit dem Zorn und der unnachgiebigen Strenge ihrer neunzehn Jahre die Wahrung der
Bestimmungen. Es gebe da Paragraphen, an die sich ein Hafenkommandant zu halten habe.
„Sind Sie Kommandant oder nicht, Genosse Oberleutnant?“
fragte sie unbarmherzig.
Der friedfertige Ginsburg gab zu, es zu sein.
„Na also, worauf warten Sie dann noch!“ sagte Taissia Iwanowna hartnäckig.
Der Kommandant murmelte einige versöhnliche Phrasen, daß
er die Forderungen erfüllen werde, worauf sie endlich ging und
uns armen Sündern einen hochmütigen Blick zuwarf.
Als ich erneut wach wurde, sickerte weißliches Tageslicht
durch das Fensterchen. Selma erhob sich, ergriff den Apparat
und lief zum Hafen, um zu schlendern und sich dort umzusehen und bei Tageslicht möglichst viel aufzunehmen. Ich wartete auf Ginsburg, der inzwischen weggegangen war. Als er zurückkam, setzten wir uns an den Frühstückstisch.
Beim Essen fragte mich Ginsburg nach Odessa. Zuerst interessierte ihn natürlich das Schicksal des Opernhauses. Als er
erfuhr, daß es während meines Aufenthaltes von zwei Granaten
getroffen worden sei, stöhnte und wehklagte er wie die anderen
Odessaer, denen ich davon erzählt hatte. Er jammerte lange,
schilderte mir dieses herrliche Theater und beteuerte, wie er es
bedauere, daß die Granaten eingeschlagen waren. Sein Kummer war so groß, daß man meinen konnte, die Beschädigung
des Opernhauses sei der größte Verlust des ganzen Krieges.
Nachdem ich alle seine Fragen beantwortet hatte, erkundigte
ich mich nochmals nach den Möglichkeiten, Osjorki zu besuchen. Wieder sagte er, der Schiffsverkehr dorthin sei eingestellt
und die Wagen könnten frühestens in ein, zwei Tagen weiterfahren, da der Schneesturm mindestens so lange anhalten würde. Ich wollte reiten, aber davon riet er mir dringend ab.
„Bei diesem Schneesturm gehen wir sogar zum Abort – Sie
entschuldigen den Ausdruck“, fügte er hinzu, „sogar zum
Abort am Strick, um uns nicht zu verlaufen.“
Ich bat ihn, den Stab des befestigten Abschnitts anzurufen und
zu veranlassen, daß man uns in der kommenden Nacht aus Osjorki ein Motorboot schicke. Diesen Plan befürwortete der
Kommandant. Er befahl dem Telefonisten, eine Verbindung
herzustellen. Dann fragte ich, was man hier mit dem Rest des
Tages anfangen könne. Besonders lohnende Ziele gebe es
nicht, erwiderte er; er habe Selma draußen getroffen, er wolle
die Flakartilleristen aufnehmen. Sie hätten sich jedoch noch
nicht so hervorgetan, daß man unbedingt über sie schreiben
müsse.
Dann unterhielten wir uns noch eine Weile. Er dachte an Frau
und Tochter, die er in Odessa zurückgelassen hatte, und sehnte
sich nach dem Süden. „Wenn die Halbinsel Kola die Nase des
europäischen Festlands ist“, so bemerkte er scherzhaft, „dann
ist die Halbinsel Rybatschi eine Warze auf der Nase, und er,
Ginsburg, müßte dann wohl oder übel nur der Warzenkommandant sein.
Später kam auch Taissia Iwanowna. Sie erschien mir jetzt
weniger schrecklich als im Morgengrauen und war auch nicht
mehr so grob zu Ginsburg. Sie war Feldscher, Leiterin der Abtransportstelle des Hafens von Eina, weit und breit die einzige
Frau unter den mittleren Kommandeuren. Dieser Umstand veranlaßte sie wohl zu ihrem streng offiziellen, ja barschen Umgangston gegenüber den männlichen Kommandeuren.
Ginsburg verließ den Bunker, und ich war mit Taissia Iwanowna allein. Bei unserer Unterhaltung setzte sie die Mütze ab,
ihr knabenhaft kurzgeschnittenes Haar kam zum Vorschein,
und Taissia Iwanowna verwandelte sich in das Mädchen Taja
aus Leningrad; dort lebten Vater und Mutter und die Geschwister. Auf die Halbinsel hatte es sie vor einem halben Jahr verschlagen, und ihr unterstanden hier sechs Frauen – Sanitäterinnen und Wäscherinnen –, die sie mit der ganzen Strenge ihrer
Jugend befehligte.
Außerdem gab es auf der Halbinsel rund dreißig Kommandeure, von denen es die meisten zunächst als ihre vornehme
und vergnügliche Pflicht betrachteten, Taissia Iwanowna den
Hof zu machen, was keineswegs verwunderlich war, da die
meisten schon lange – seit dem Friedensschluß mit Finnland,
also seit März 1940 – in diesem befestigten Gebiet lagen.
Das Mädchen trug die Verantwortung eines Kommandeurs
und mußte ihren dienstlichen Verpflichtungen nachkommen.
Die Folge waren häufige Wortwechsel – wegen des Transports,
der Verpflegung, der Medikamente und aus vielen anderen
Gründen. Sie stand zu allen in offizieller Beziehung und konnte
sich keine Lockerung der Beziehungen leisten. So lebte sie
ständig in einem Zustand der Spannung, und daher rührten ihre
betonte Dienstlichkeit und ihre Forderung, stets beim Vor- und
Vatersnamen angesprochen zu werden. Da sie nur von Männern umgeben war, konnte die geringste Vertraulichkeit, konnte ihr ein Lächeln schon die Möglichkeit nehmen, so weiterzuarbeiten, wie sie es für nötig und richtig hielt. Das alles erin-
nerte mich irgendwie an Gorkis Erzählung „Sechsundzwanzig
und eine“ und an die Gefahr, die dort der Heldin droht. Ich
begleitete den Kommandanten zu den Frauen. In ihrem Bunker
führte der Leiter der Politabteilung der Garnison eine Komsomol-Versammlung durch.
Woran gewöhnt man sich im Krieg nicht alles! Und wenn ich
an den armseligen Bunker zurückdenke, an die langen, primitiven Schlafstellen, an dieses Erdloch am Ende der Welt, in das
– auf einem Hügel über einem Hafen, der häufig bombardiert
wurde – sieben Frauen gepfercht waren, wenn ich an die
schrecklichen Schneestürme und das pausenlose Gebrause des
Windes denke, so werde ich die dort verbrachten Minuten trotz
ihrer Eintönigkeit nie vergessen. Die Versammlung ließen die
Frauen müde über sich ergehen. Sie saßen mit hängenden Köpfen da, unfähig, ihr Schlafbedürfnis zu überwinden; denn sie
waren es gewohnt, tagsüber zu ruhen und nachts zu arbeiten.
Sie wuschen, wenn es dunkel war und der dem Schornstein
entsteigende Rauch uns nicht verraten konnte. Bei diesem Ablauf hatten die Frauen schon seit Wochen kein Tageslicht mehr
gesehen, obwohl die Polarnacht noch dabei war, sich voll zu
entfalten.
Gegen Abend bekam Ginsburg endlich Verbindung und erhielt eine Zusage. Bei halbwegs günstiger Wetterlage wollte
man uns aus Osjorki ein Motorboot schicken. Doch ununterbrochen tobte der Schneesturm.
Am späten Abend kam Oberstleutnant Sobtschak zurück. Zerschlagen sank er aufs Bett, drehte sich eine Zigarette und kam
ins Erzählen. Er sprach vom Finnischen Krieg und von den
Scherereien, die ihm damals der Rentransport bereitet hatte.
Hole ihn der Teufel! „Es ist aber auch ein zu anspruchsloses
Tier, das Ren“, sagte er grimmig, „so anspruchslos, daß es außer dem Rentiermoos nichts frißt. Aber soll ich’s mir denn aus
den Rippen schneiden. Werfe ich dem Ren Heu vor, schüttelt
es den Kopf. Gebe ich ihm Brot, schüttelt es auch den Kopf.
Rentiermoos, nur Rentiermoos! Aber ich hatte keins. Ich
kämpfte mit dem Rengespann und zog die Lasten schließlich
allein, während sich die Tiere ihr Moos selbst suchten.“
Eine Geschichte nach der anderen tischte Sobtschak auf, Geschichten, die mit Verwaltung und Wirtschaft und mit dem
Dienst im Norden zu tun hatten. Manche habe ich vergessen,
aber etwas ist mir bei dieser Erzählung klargeworden. Im Norden kann man nur leben, wenn man die Hände regt. Ohne eigene Arbeit sitzt man da, hat man nicht einmal Brennmaterial,
rein gar nichts.
Am ersten Tag nach unserer Ankunft in Eina wurde der Hafen
zweimal bombardiert, und einmal fand über uns ein Luftkampf
statt, der sich dann irgendwo hinter die Wolken verlagerte. In
der Nacht erörterte man träge alle Einzelheiten der Luftangriffe, wo die Bomben diesmal, wo sie letztens gefallen waren.
Sobtschak meinte, alles Eisen gesammelt, das auf die wenigen
Häuser abgeworfen wurde, ergebe anstelle der einstigen Siedlung wenigstens drei. Wir sprachen lange über die Bombardierungen, vermutlich anderthalb Stunden, und ich konnte es den
Leuten nachfühlen, daß sie sich maßlos langweilten, nachdem
sie ein Jahr und sechs Monate hier zugebracht hatten. Für sie
bedeuteten die Bomben, die an den verschiedensten Stellen
niedergingen – heute hier, morgen da – eine wenn auch makabre Abwechslung im ständigen Einerlei ihres Lebens und bildeten ebendarum das Hauptthema ihrer abendlichen Unterhaltung, nicht weil ihnen die Luftangriffe besonders wichtig erschienen, sondern weil es ansonsten kaum etwas gab, worüber
man sprechen konnte.
In der Nacht wurde angerufen, das Boot sei eingetroffen.
Selma und ich verabschiedeten uns vom Kommandanten, von
Taissia Iwanowna und dem Oberstleutnant, schulterten die
Kleidersäcke und gingen zum Hafen.
Das Fahrzeug lag an einer beschädigten Dalbe. Wir sprangen
zu den beiden Männern – dem Steuermann und dem MGSchützen – ins Boot, das sofort losfuhr. Im Hafen war es verhältnismäßig ruhig, aber kaum befanden wir uns im Motowski
Saliw, da spürten wir auch in Ufernähe die frische Brise. Der
Wind wehte mit Stärke fünf bis sechs, und das Boot schwankte.
Wellen schlugen über Bord, und obwohl ich außer der wattierten Jacke einen Ledermantel trug, war ich bald bis auf die Haut
durchnäßt. Wir sollten etwa anderthalb Stunden unterwegs
sein, und von Anfang an stürzten die Wassermassen ins Boot.
Der Steuermann saß am Steuerrad, der MG-Schütze lag mit der
Waffe unter der Plane im Bug.
Einmal rief uns von unserem Ufer ein Posten an. Dort patrouillierten ständig Streifen die Felsen entlang, denn bis zu
den deutschen Stellungen auf der anderen Seite der Bucht waren es zweieinhalb, stellenweise nur zwei Kilometer. Wir blieben dicht am Ufer, damit wir uns gegen die steinige Küste
nicht zu sehr abhoben. Die Nacht war zwar bewegt, aber nicht
sonderlich finster.
Als sich links von uns – weiter zum deutschen Ufer hin – ein
Schatten zeigte, rief der Steuermann dem Schützen zu: „Wolkow, mach das MG fertig!“
Schweigend kroch Wolkow unter der Plane hervor, montierte
das Maschinengewehr und entsicherte. Der Schatten entpuppte
sich jedoch als eine unserer Barkassen, die im Schutze der
Nacht die Fahrt nach Osjorki gewagt hatte und jetzt zurückkehrte. „Nimm das MG runter“, sagte der Steuermann.
Schweigend montierte Wolkow das Maschinengewehr ab und
kroch damit wieder unter die Plane.
Wir hatten etwa noch zwanzig Minuten zu fahren. Nach unse-
rer Berechnung konnte es nicht mehr weit bis Osjorki sein. Das
Boot schlingerte jedoch immer heftiger, und ich hatte manchmal den Eindruck, daß der Bug zu tief eintauchte und nicht
mehr weit genug aus dem Wasser kam. Immer höher stieg das
Wasser im Boot. „Für mehr ist kein Platz“, sagte der MGSchütze ruhig. „Wieviel fehlt noch zum Kurbelgehäuse?“ fragte der Steuermann. „Zwei Finger“, antwortete der Schütze.
„Dann schaffen wir es“, sagte der Steuermann, aber für alle
Fälle fuhr er noch näher ans Ufer heran.
Als uns endlich das ruhige Wasser des Hafens aufnahm, war
das Boot völlig vollgelaufen.
An gleichfalls beschädigten, gesplitterten Dalben wurde es
vertäut. Stapelweise lagerten am Kai Säcke, Kisten, Fässer, die
in der Dunkelheit auf Lastwagen verladen wurden, vermutlich
Lebensmittel, die von der uns entgegengekommenen Barkasse
nach Osjorki gebracht worden waren.
Wir erklommen die glatte Böschung.
Während der Fahrt hatte es der Steuermann sehr eilig gehabt.
Wie er uns erklärte, sollte gleich nach unserer Ankunft ein
Aufklärungstrupp zur deutschen Seite übergesetzt werden. Bereits wenige Minuten nach unserem Eintreffen kam uns der
Trupp entgegen. Fünf oder sechs mit Maschinenpistolen bewaffnete Männer in weißen Tarnanzügen näherten sich dem
Kai. Wie ich am nächsten Tag erfuhr, stießen sie in dieser
Nacht noch auf eine nach Petsamo führende Straße vor, die
nahe am Meer verlief. Ein Deutscher fiel, einen zweiten nahmen sie zu Aufklärungszwecken gefangen.
Wir erreichten einen Bunker, in dem ein Grenzposten untergebracht war. Von dort riefen wir im Stab an. Man versprach
uns, ein Auto zu schicken, aber der Wagen ließ auf sich warten.
Vierzig Minuten standen wir bei der ehemaligen Post zitternd
im Wind. Das rasch erbaute Osjorki war vor dem Krieg ein
hübsches Provinzstädtchen mit Klub, Schule, Post und einigen
Reihen ein- und zweistöckiger Häuschen gewesen. Jetzt lag
alles in Trümmern. Pfähle und Balken ragten aus dem Schnee
und versperrten die Straße. Seit vier Monaten wurde der Ort
pausenlos bombardiert, obwohl niemand mehr die Häuser bewohnte und es längst nichts mehr zu zerstören gab. Das Leben
spielte sich unterirdisch ab. Nur nachts eilten die Leute an den
Kai, um geschäftig die ankommenden Motorboote und Barkassen zu entladen.
Endlich traf ein Wagen ein. Zweimal blieben wir stecken und
mußten mit den Schultern schieben. Dann waren wir über den
Berg und kamen in eine weiße, öde Schlucht, wo es keinerlei
Anzeichen für menschliches Leben gab. Wie aus dem Boden
gewachsen stand ein Posten vor uns, nur zwei Schritte entfernt.
Die weiße Jacke und Hose hoben sich kaum vom Schnee ab. Er
führte uns zunächst zur Politabteilung, dann begleitete er uns
zum Kommissar des befestigten Raums. Der Bunkereingang
war mit weißem Leinen verhängt. Nach zwei weiteren Schritten tauchte plötzlich noch ein Posten aus dem Nichts auf. Hier
herrschte Ordnung.
Der Bunker, den wir betraten, war herrschaftlich eingerichtet,
aus dicken Balken gezimmert und innen mit Brettern verkleidet. Die Nachtlager befanden sich in Seitennischen. Das war
eine stabile, dauerhafte Unterkunft, die schon lange bewohnt
wurde und noch lange bewohnbar bleiben sollte.
Der Chef des befestigten Raumes, Oberst Krassilnikow, war
nicht da, wohl aber sein Kommissar Schabunin, der ebenso
solide und behaglich aussah wie der Bunker. Er hatte die Fünfzig überschritten, lebte schon seit vielen Jahren hier und kannte
auf beiden Halbinseln jedes Loch, wie er sich ausdrückte. Da er
jedoch an Asthma litt, kam er in letzter Zeit verhältnismäßig
selten an die frische Luft, ganz im Gegensatz zu dem unruhi-
gen Regimentskommandeur. Schabunin begrüßte uns erfreut
und bewirtete uns mit Tee, der bei unserer Ankunft bereits auf
der runden, geriffelten Kochplatte dampfte. Selma zog sich
zum Schlafen in die Politabteilung zurück, während ich hierblieb. Ich zog mich bis auf die Haut aus, da an dem, was ich
auf dem Leibe trug, buchstäblich keinen trockenen Faden gab
und ich alles für die Nacht um das eiserne Öfchen aufhängen
mußte. Dann kletterte ich in die obere Nische.
Am Morgen kroch ich hinaus, rieb mich gründlich mit Schnee
ab und blickte mich interessiert um. Der Sturm hatte sich gelegt. Es war ruhig und klar. Der Gefechtsstand befand sich zwischen zwei steinigen Hügeln in einem kleinen Tal, das jetzt –
Mitte Oktober – schon völlig verschneit war. In den Felsspalten
wuchs zähes, knorriges Gestrüpp, die einzigen Pflanzen, die
auf den beiden Halbinseln gediehen. Eine kältere und ödere
Gegend kann man sich schwerlich vorstellen. Beim aufmerksamen Hinsehen erkannte ich auf den Felsen die Öffnungen der
mit weißen Laken zugehängten Unterstände. Aus der Luft war
sicherlich nichts zu sehen, und so glaubte ich nun zu wissen,
warum die Luftwaffe immer noch das längst entvölkerte Osjorki bombardierte. Die Deutschen standen vor der Alternative,
entweder Osjorki zu bombardieren oder, da sie kein anderes
Ziel entdecken konnten, die Halbinsel aufs Geratewohl mit
Bombenteppichen zu belegen. Offenbar hatten sie sich für die
erste Variante entschieden und bombardierten die Häuserruinen, aus denen sie immerhin noch einige Holzsplitter herausjagten.
Übrigens wurde mir bei dieser Besichtigung im Tageslicht
klar, wie schwer es die Fliegerkräfte hier hatten, und zwar sowohl unsere als auch die deutschen.
Als Selma kam, stellte sich zu seinem Leidwesen heraus, daß
Schabunin ein leidenschaftlicher Photoliebhaber war. Der Re-
gimentskommissar erbat sich sofort aus, daß Selma sämtliche
Aufnahmen an Ort und Stelle entwickelte und abzog, denn in
seinem Haushalt gebe es alles, was sein Herz begehre: Photopapier, Chemikalien, einen Vergrößerungsapparat.
„Glauben Sie nicht, daß man am Ende der Welt arm wie eine
Kirchenmaus ist“, sagte Schabunin. „Zufällig gibt es hier alles,
was man so braucht.“
Selma begriff, daß er hier nicht nur photographieren konnte –
was die Bildberichterstatter schrecklich gern tun –, daß er auch
entwickeln mußte – was sie schon nicht sonderlich mögen –
und Abzüge machen durfte, was sie einfach widerwärtig finden. Begriff’s und schickte sich drein, um so leichter, als sich
Schabunin in allen anderen Fragen als fabelhafter Mensch erwies.
Er erzählte uns an diesem Morgen eingehend, wie der Krieg
hier begonnen hatte und durch welche Ereignisse die beiden
Halbinseln – die Sredni und die Rybatschi – von der übrigen
Front abgeschnitten wurden, wie es sich ergeben hatte, daß sie
vom Festland umgeben und doch nur von der See her zugänglich waren.
Nach dem Gespräch mit Schabunin (und später nach meinem
Gespräch mit Oberst Krassilnikow und anderen Kommandeuren) konnte ich mir ein ungefähres Bild davon machen, was
sich hier abgespielt hatte.
Am ersten Tag hatten die Deutschen drei Gebirgsjägerregimenter gegen unsere unmittelbar an der Grenze liegenden
Einheiten geworfen. Unsere Truppen hielten dem unerwarteten
Ansturm nicht stand und zogen sich zurück. Der Divisionskommandeur fiel. Nach zweimal vierundzwanzig Stunden waren die Deutschen am Ufer dreißig Kilometer weit vorgestoßen, hatten Titowka eingenommen und besetzten die Landenge, die Sredni mit dem Festland verbindet. Tags darauf wollten
sie auch die Halbinsel im ersten Ansturm an sich reißen. Sie
wandten sich der Landenge zu und versuchten den Gebirgszug
Musta-Tunturi zu überschreiten. Wäre es ihnen gelungen, hätten sie über die ganze Halbinsel ausschwärmen können; für
dieses Ziel unternahmen sie große Anstrengungen.
Ihre Absicht ist vollauf verständlich, wenn man bedenkt, daß
die Deutschen, sollte es ihnen gelingen, auf dem Landweg bis
Murmansk und zur Bucht von Kola vorzustoßen, nicht in der
Lage wären, ihre Operationen von der See her zu unterstützen,
solange sich die Halbinseln Sredni und Rybatschi nicht in ihrer
Gewalt befanden. Wer Sredni und Rybatschi in der Hand hatte,
der beherrschte das ganze Seegebiet zwischen Murmansk im
Osten und Petsarno im Westen. Aber gerade deshalb, weil von
Rybatschi und Sredni aus das Meer kontrolliert wurde, war es
jetzt so schwer, die Halbinseln gegen einen Angriff von der
Landenge her zu verteidigen. Sämtliche Batterien waren darauf
vorbereitet, einen Angriff von See her abzuwehren. Dieser
Aufgabe entsprechend waren die Geschütze postiert, einige
sogar auf Sockeln, was eine Veränderung des Standorts besonders erschwerte. Kein einziges Rohr war zu Beginn des Krieges
auf die Landenge gerichtet. Die Verteidigungslinie verlief weiter westlich, und es hatte als völlig ausgeschlossen gegolten,
daß die Deutschen imstande wären, auf dem Landwege so weit
vorzudringen. Einen Tag lang war alles in Bewegung. Mit bloßen Händen zogen die Artilleristen in der Nacht die schweren
Geschütze über die Felsen und brachten sie in Positionen, die
es ihnen erlaubten, die Landenge zu bestreichen.
Das war eine Titanenarbeit. Hinterher sagt sich das alles leicht
hin, aber um die Leistung der Artilleristen ermessen zu können,
muß man die Felsen und die neuen Feuerstellungen gesehen
haben.
Am Morgen zerschlugen die Deutschen unsere schwache Si-
cherung auf der Musta-Tunturi und schickten sich an, den
Kamm zur Halbinsel hin zu überschreiten, und dort, auf den
Berghängen, gerieten sie ins Feuer der Artillerie. Es schossen
alle Geschütze, die zu diesem Zeitpunkt die neue Stellung erreicht hatten, auch die schweren. Oberst Krassilnikow führte
das Regiment, das Rybatschi zu sichern hatte, schubweise zur
Sredni hinüber und warf es in den Kampf. Auch zog er sämtliche verfügbaren Maschinengewehre vom vorderen Raum ab.
Um die Mittagsstunde konzentrierten so viele Geschütze und
Maschinengewehre ihr Feuer auf die Landenge, daß sie den
Deutschen, die den Höhenzug überschritten hatten, den Abstieg
verwehrten. Seither erstreckte sich die Verteidigungslinie quer
über die Gebirgskette. Sie verlief dort, wo die Deutschen zum
Stehen gebracht worden waren, und die Kampfhandlungen
beschränkten sich auf blutige Geplänkel der Gefechtssicherungen, auf die Tätigkeit der Späh- und Stoßtrupps, die tief ins
rückwärtige Gebiet des Gegners vordrangen und Gefangene
einbrachten. Manchmal waren an den Unternehmen große
Gruppen beteiligt.
Dort, wo die Deutschen gestoppt wurden, erstreckten sich
Drahtsperren und Minenfelder vor unseren Stellungen, aber der
pioniertechnische Ausbau des Geländes war erst später und
unter deutschem Beschuß erfolgt. An den ersten Tagen hatte es
auf der Landenge absolut keine Befestigungsanlagen gegeben.
So hatten sich die Dinge auf Rybatschi und Sredni entwickelt,
nach der Darstellung von Leuten, die dieses Stück Geschichte
vor unserem Eintreffen miterlebt hatten.
Am ersten Tag wollten wir ins Randgebiet der Halbinsel
Sredni fahren, in einen kleinen finnischen Kurort. Von dort
hatte man einen ausgedehnten Blick auf die Bucht von Petsamo. An klaren Tagen konnte man angeblich sogar die einige
Dutzend Meilen entfernte norwegische Küste sehen.
Mich interessierten besonders unsere Torpedoschnellboote,
die in einer kleinen Bucht der Halbinsel gut gedeckt vor Anker
lagen und von hier überraschende Einsätze nach Petsamo und
an die norwegische Küste unternahmen.
Schabunin wollte uns begleiten. Für den Fall, daß wir auf Hasen stießen, die hier wohl sehr zahlreich waren, nahm er seine
Doppelflinte mit.
Der Wagen brachte uns zur zweiten Landenge, die beide
Halbinseln – Sredni und Rybatschi – miteinander verbindet.
Hier hatte man einmal einen Kanal anlegen wollen, um den
Schiffen die Durchfahrt zu ermöglichen, so daß sie beim Verkehr zwischen Murmansk und den norwegischen Inseln nicht
mehr einen Bogen um Rybatschi zu machen brauchten. Jetzt
war Krieg und an den Bau des Kanals natürlich überhaupt nicht
zu denken.
Auf der Landenge lag ein Pionierbataillon in Steinbunkern.
Wir mußten den Wagen zurücklassen und warteten auf Pferd
und Schlitten für die Weiterfahrt.
Der Kommissar des Pionierbataillons erzählte, wie seine Leute im feindlichen Feuer die Befestigungsanlagen errichtet hatten. Dann ließ er einen seiner besten Pioniere kommen, einen
Mann kasachischer Nationalität. Das war ein mittelgroßer, etwa fünfundzwanzigjähriger schneidiger Bursche mit weit auseinanderliegenden Augen und einem mädchenhaft schönen
Gesicht. Er trug leichte, auf Hochglanz gewichste Stiefel, gegürtete Feldbluse, keinen Mantel. Als er gefragt wurde, ob er
nicht friere, antwortete er: „Überhaupt nicht.“ Er berichtete mit
starkem Akzent von seinen Kriegserlebnissen und betonte immer wieder, wie wichtig eine leichte Gefechtsbekleidung sei,
um behende über die Felsen kriechen zu können. Statt „f“ sagte
er „p“, und von sich selbst sprach er in der Mehrzahl: „Wir
gingen über Pelsen“, „wir erpüllten den Bepehl.“ Er war ein
guter Junge, und was er erzählte, entsprach ohne Zweifel der
Wahrheit, aber ich konnte mich manchmal eines Lächelns nicht
erwehren.
Nach dem Gespräch mit den Pionieren verließen wir ihren
Bunker, bestiegen den Schlitten und fuhren weiter. Es ging
bergan, aber das Pferd schlug einen munteren Trab an. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten dieser Straßen, gleichzeitig
Flußbett zu sein. Im Winter sind sie bald mit Schnee verweht,
bald hat der Wind ihren steinigen Grund freigelegt, so daß die
hölzernen Schlittenkufen knirschend und quietschend darüberschurren.
Stellenweise fuhren wir durch seichtes Wasser, dann wieder
rutschten wir über Steine. Zweimal mußten wir raus und den
Schlitten im Galopp durch reißende Gebirgsbäche ziehen. Als
es kälter wurde, stiegen wir zum Warmlaufen aus, denn vom
Waten im Wasser waren unsere Beine klamm und starr geworden.
In höheren Lagen auf den Felsen gab es keine Vegetation
mehr. Das folgende Beispiel vermittelt vielleicht eine Vorstellung davon, wie rauh dort oben die Natur ist. Die ständige Telephonleitung verlief neben der Straße, und rund um die Masten waren bis zur Mitte Steinpyramiden errichtet, damit die
Stürme die Masten nicht knickten oder aus dem Boden rissen.
Durchgefroren und müde erreichten wir kurz vor dem Abend
unser Ziel. Zwölf, höchstens dreizehn Kilometer waren wir
gefahren und hatten dafür fast einen ganzen Tag gebraucht.
Der ehemalige finnische Kurort bot ein idyllisches Bild, einen
scharfen Kontrast zu allen anderen Eindrücken, die ich vorher
auf den Halbinseln gewonnen hatte. Das Wasser war dunkelgrau, fast schwarz, und an einer kleinen stahlblauen Anlegestelle waren Torpedoboote vertäut. In weiter Ferne erhob sich
das norwegische Ufer über das schwarze Meer, während ich
auf der Halbinsel hinter mir überall makellos weiße, schneebedeckte Berge erblickte, und inmitten dieser Schneelandschaft
lagen zwei Dutzend ziegelrote Häuschen, schmuck und blitzsauber, mit weißen Tür- und Fensterrahmen, so klein und einander so ähnlich wie akkurat aus der Spielzeugschachtel hingestellt.
Vor dem Finnischen Krieg waren Urlauber hergekommen, um
sich zu erholen, das Nordlicht zu sehen, zu angeln, auf die Hasenjagd zu gehen. Jetzt bildete dieser winzige Kurort den äußersten Punkt im Norden der gewaltigen Front, und in einem
der Häuschen hatte der Stab der Torpedobootabteilung sein
Quartier aufgeschlagen. Die Operationen der Boote leitete hier
der Vertreter des Flottenstabs, Oberleutnant Mol, ein fideler
und doch maßvoller, intelligenter Mann mit klugen Gedanken
und feinem Humor.
Mol und andere Matrosen erzählten uns von den letzten
Einsätzen der Boote, die vor und in der Bucht von Petsamo
mehrere deutsche Transportschiffe versenkt hatten.
Hierüber schrieb ich später den Bericht „Auf du und du mit
der Barentssee“, den die Redaktion in „Wagemut“ umbenannte. Der Hauptfeind der Matrosen waren weniger die Deutschen
und die Finnen als vielmehr das scheußliche Wetter, das in
dieser Gegend fast das ganze Jahr über andauerte und bei dem
so zerbrechliche Fahrzeuge wie die Schnellboote kaum den
Hafen verlassen konnten. „Wir schicken sie trotzdem ins offene Meer“, gestand Mol. „Obwohl die Barentssee verlangt, daß
wir sie siezen, sagen wir manchmal doch du zu ihr.“
An jenem Abend lernte ich die solide Bauweise eines Finnenhäuschens schätzen. Draußen war die Hölle los, immer stärker
fegte ein verheerender Sturm übers Meer, aber in dem Häuschen war es warm und gemütlich. Der Funker am Pult gab von
Zeit zu Zeit Rufzeichen durch, und im Zimmer bangten alle um
ein Schnellboot, das trotz des stürmischen Wetters mit einem
Sonderauftrag hinausgeschickt worden war. Ich fragte Mol, ob
an diesem Tag noch andere Boote fahren würden. Eins noch,
sagte er. Ob ich denn nicht mitfahren könne, fragte ich. Im allgemeinen ja, antwortete er, doch diesmal ginge es leider nicht,
das Boot habe ein Ziel, das so etwas ausschließe. Ich wollte
schon fragen warum, doch dann sagte ich mir, dieses Schnellboot habe wahrscheinlich eine sehr spezielle Aufgabe zu erfüllen und eine lange Aufklärungsfahrt vor sich. Sonst wäre Mol
nicht ausgewichen. So fragte ich nicht.
Nach einem Blick ins Nachbarzimmer wußte ich, daß ich
mich nicht getäuscht hatte. Dort saßen fünf Matrosen der Seeaufklärung, unter ihnen Motowilin. Dann trat ein Hüne ein, und
obwohl er Leutnantsuniform trug, erkannte ich einen der Zivilisten wieder, die seinerzeit mehrmals das Gebäude der Murmansker Aufklärung aufgesucht hatten.
Die Leute saßen da und entspannten sich. Mol ging mit dem
Funker die letzten Einzelheiten durch. Dann sagte einer der
Seeoffiziere: „Also, es ist soweit.“ Er stülpte sich die gewaltige
Lederkappe auf, knöpfte seinen Raglan zu und trat mit dem
Leutnant und fünf Aufklärern in die Nacht hinaus. Mol und die
übrigen Matrosen blieben zurück.
Bald traf der Kommandeur einer in der Nähe liegenden Einheit der Küstenartillerie ein. Er war Hauptmann, und alle gratulierten ihm zur gerade erfolgten Auszeichnung mit dem Rotbannerorden. Der Orden war ihm verliehen worden, weil er
keine Minute lang das Feuer eingestellt hatte, als die Deutschen
pausenlos seine Batterie bombardierten und ihre Schiffe
gleichzeitig versuchten, in die Bucht von Petsamo einzudringen; während eine Bedienungsmannschaft schoß, lagen die
anderen in Deckung, dann schoß die nächste und so weiter.
Nach der Ankunft des Hauptmanns kam verdünnter Sprit auf
den Tisch, und es gab Sprotten, wie ich sie in dieser Menge
noch nie gesehen hatte, keine Konservendose, kein Teller mit
Sprotten, sondern eine Schüssel voll, die ein Drittel des Tisches
einnahm. Zum Sprottenschmaus wurde Kakao eingeschenkt.
Wir blieben lange und diskutierten.
Es war Nacht, als ich vor die Tür trat, ringsum alles schwarz
in schwarz. Auf dem Meer tobte der verwünschte Sturm, und
ich dachte unwillkürlich an die Männer, die vor zwei Stunden
mit ihrem Schnellboot ausgelaufen waren. Die Windstärke lag
bei acht, und sie waren wahrscheinlich weit hinausgefahren,
nach Norwegen, wie ich glaubte und was sich später auch bestätigte.
Wir schliefen im Quartier der Matrosen. Als wir am Morgen
erwachten, hatte sich die Zahl der Anwesenden über Nacht
verdoppelt. Vier Stunden hatten sich die Aufklärer abgequält
und vergeblich versucht, das offene Meer zu erreichen, und
waren schließlich völlig durchnäßt und erschöpft in die Unterkunft zurückgekehrt, wo sie wie die Toten schliefen.
Gegen Mittag machten wir uns mit Mol vereinbarungsgemäß
auf den Rückweg. Gegen Abend erreichten wir den Gefechtsstand des befestigten Abschnitts.
Das Radio funktionierte auf Grund atmosphärischer Störungen sehr schlecht. Trotzdem empfing die politische Abteilung
Fetzen eines Berichts, aus dem hervorging, daß die Lage in
Moskau besorgniserregend war. Ich fühlte mich einsam, weil
ich nicht dort sein konnte. Nicht nur ich hatte dieses Gefühl, so
empfanden alle Menschen meiner Umgebung. Hier war auch
Krieg, auch Front, aber die Teilnahme an den Kämpfen, die
jetzt die wichtigsten waren, blieb uns versagt. Ich kroch in
meine obere Koje unter der Bunkerdecke, und meiner wehmütigen Stimmung entsprang ein Gedicht, das die „Krasnaja
Swesda“ als „Stimme der fernen Söhne“ druckte. Die Verse
legten einen umständlichen Weg in die Redaktion zurück. Zunächst gelangten sie auf einen Motorkutter, der sie nach Murmansk brachte. Dort wurden sie dem Militärfernschreiber
übergeben und erst am dritten oder vierten Tag telegraphisch
nach Moskau weitergeleitet. Als ich das Gedicht zu Ende geschrieben hatte, war späte Nacht, aber ich machte einen Spaziergang. Es stürmte und fror. Die Kälte ging mir durch und
durch, doch so bald zog es mich nicht in den Bunker zurück.
Über mir stand das Nordlicht, das heißt, eigentlich wanderte es
über den Horizont. Manchmal glich es einer Himmelsbrücke –
einem Bogen, dachte ich, der sich von einem Menschen zum
Ort seiner Gedanken spannt. Ich wanderte noch lange umher,
blieb in Schneewehen stecken und wollte die bedrückenden
Gedanken verscheuchen, die ich seit dem Abend nicht mehr los
wurde. Am Morgen brachte ich meine Aufzeichnungen in Ordnung, dann telephonierte ich mit Mol, und er sagte mir, wenn
sich das Wetter bis zur Tagesmitte bessere, würde eine Nachtoperation eingeleitet werden, zu der sie mich mitnehmen könnten.
Bis um drei wartete ich vergeblich auf einen Anruf von den
Matrosen, und als er endlich kam, teilten sie mir mit, das Wetter erlaube es nicht, ein Boot hinauszuschicken.
Nun ist es interessant, wenn man viele Jahre später beim
Wühlen in den Dokumenten plötzlich auf eine Protokollnotiz
rein militärischen Charakters stößt, die sich jedoch auf dieselben Vorgänge bezieht wie die eigenen Tagebuchaufzeichnungen.
Im Archiv der Seestreitkräfte fand ich eine Eintragung, die
von einem Militärtechniker namens Wesselkow unterschrieben
ist, vermutlich jenem Hünen in Leutnantsuniform, der im Oktober 1941 zu einer weiten Erkundungsfahrt im Schnellboot
aufgebrochen war. Einige Zeilen möchte ich hier wiedergeben.
„In Pumanki erhielt ich einen Funkspruch folgenden Inhalts:
Aufgabe Nr. 1 erfüllen, Aufgabe Nr. 2 bis auf weiteres aufschieben. Am 19. Oktober 1941 befand ich mich an Bord des
Schnellboots Nr. 13, das eine Aufgabe zu erfüllen hatte, aber
wegen starken Sturms zur Basis zurückkehrte.
Am 20. Oktober 1941 erhielt ich einen zweiten Funkspruch,
nach dem war die Aufgabe Nr. 2 zu erfüllen. Ich ergriff die
erforderlichen Maßnahmen und brachte die Leute aufs Boot.
Infolge des schweren Seegangs in der Bucht waren alle bis auf
die Haut durchnäßt. Vom 21. zum 22. Oktober war das Wetter
nicht schlecht, aber dichter Nebel behinderte unsere drei Versuche, an Land zu gehen. So trafen wir am 22. um acht Uhr
morgens in Pumanki ein…“ Aus dem weiteren Wortlaut geht
hervor, daß die Aufklärer noch mehrmals aufbrachen, das Wetter jedoch fünf Tage hintereinander ihre Absichten vereitelte.
Oberleutnant Mol hatte zwar behauptet, sie bemühten sich, mit
der Barentssee gelegentlich auf du und du zu stehen, aber Erfolg hatten sie offenbar nur selten.
Gegen Abend kam Dmitri Iwanowitsch Jerjomin, ein Alteingesessener, Regimentskommissar der schweren Artillerie, zu
Schabunin. Später wurden wir Freunde, obwohl ich gestehen
muß, daß er mir in der ersten Minute nicht gefiel. Kaum war er
eingetreten, da wußte ich schon, daß er zu jenen Menschen
gehört, die – lebten sie lange neben einem – nicht nur über ihre
eigenen, sondern auch über die wirtschaftlichen Probleme,
Mängel und Unzulänglichkeiten anderer bestens Bescheid
wußten.
Aus Schabunins und Jerjomins Unterhaltung sprach der Überdruß eines vieljährigen Garnisonslebens am Ende der Welt –
eine Langeweile, die auch der Krieg nicht zerstreuen konnte.
Sie waren beide – jeder auf seine Weise – interessante und profilierte Männer, aber sie redeten wahrscheinlich schon das
zehntemal über dieselben Dinge. Nach dem Gespräch mit
Schabunin schlug Jerjomin Selma und mir vor, ihn zum Regiment zu begleiten, um ein paar Worte zu wechseln und am
nächsten Tag die Feuerstellungen der Artillerie zu besuchen.
Wir machten uns schnell fertig und folgten Jerjomin in die
Schlucht, wo der Wagen wartete. Den Fahrer stellte er mir zu
meiner Verwunderung als seinen Sohn vor. „Wissen Sie, das
ist so“, sagte Jerjomin und nickte zu seinem Sohn hin, „ich
muß ihn laufend einsetzen. Kommt Wodka an, verflüchtigt sich
ein Teil davon schon, während er vom Boot auf die Laster verladen wird. Neuerdings schicke ich den in dieser Hinsicht zuverlässigsten Menschen, meinen Sohn. Er vergreift sich nie an
der Zuteilung fürs Regiment. Stellen Sie sich vor, er bringt den
Schnaps zu den Felsen, ohne daß eins der Fässer unterwegs
leck wird!“ Nach etwa zwanzig Minuten hatten wir das Ufer
erreicht. Über ein schmales Treppchen gelangten wir in den
Unterstand. Jerjomin bewohnte nicht einfach einen Bunker,
sondern ein aus zwei Räumen bestehendes Appartement. Der
eine war wie ein Büro eingerichtet, Arbeitstische, grüne Lampenschirme, der andere war ein Wohnzimmer mit zwei Betten
und einem großen Ledersofa.
Jerjomin berichtete mir, was das Regiment in den ersten vier
Kriegsmonaten durchgestanden hatte. Dann meldete sich Sergeant Danilow, Schallmeßposten, aus dem Lazarett zurück, ein
Herkules, der die hohe Bunkerdecke auf dem Kopf zu tragen
schien. Er hatte ein rundes Kindergesicht und Hände, in denen
sich eine Melone wahrscheinlich wie ein Apfel ausgenommen
hätte.
Von nahezu unglaublichen Dingen sprach er mit einer so erstaunlichen Ruhe und kindlichen Selbstverständlichkeit, daß
ich ihm uneingeschränkt glaubte.
Die Seite meines Frontnotizblocks, auf dem ich damals das
Interview festhielt, vermittelt wahrscheinlich am besten einen
Eindruck vom alltäglichen Kampfgeschehen in den Felsen des
Musta-Tunturi. „Am Abend des 12. liefen wir über ein Felsplateau, ich mit meiner Einheit an der Spitze. Wir gerieten in Gewehr- und Granatfeuer. Einer – Borislawski – wird verwundet.
,Genosse Kommandeur!’ ruft er. ,Halt doch den Mund!’ sag ich
ihm.
Viele fielen oder wurden verwundet, neunzehn von sechsunddreißig. Ich warf Handgranaten. Dann hatte ich keine mehr. Ein
Splitter traf mich in der Seite und am Schulterblatt. Ich wurde
verbunden und war der Ranghöchste unter dem Dutzend, das
übrigblieb. Um fünf Uhr abends griffen dreizehn Deutsche an.
Ich hatte im Tagesverlauf weitere Handgranaten gesammelt
und bei mir gehortet, sechzig Stück und drei Gewehre, aber
zwei meiner Leute fielen noch, der Sergeant und ein Soldat
namens Terejzew.
Die Deutschen rückten immer näher. Ich nahm noch mehr
Handgranaten an mich, denn die anderen warfen nicht weit
genug, so daß sie doch nicht trafen. Ich legte sie kreisförmig
um mich herum, damit sie bei einem Einschlag nicht alle
gleichzeitig losgingen.
Die Deutschen bepflasterten uns mit Handgranaten, Maschinengewehren und Granatwerfern. Hinter mir war der Hang, vor
mir das Felsplateau und die Deutschen. Ich stand zwischen
zwei großen Steinen, die mir aber kaum an die Brust reichten.
Die Jungs lagen tiefer als ich. Meine Granaten flogen rüber, ich
brauchte meinen ganzen Vorrat auf. Der Platz maß dreißig Meter, ich durfte die Deutschen nicht auf den Platz lassen. Als ich
meine Granaten alle verfeuert hatte, reichten mir die Jungs von
hinten ihre zu.
Auf diese Weise kriegte ich keinen Deutschen in voller Größe
zu sehen. Kaum hatte sich einer halb aufgerichtet, kam meine
Granate geflogen, und er verschwand von der Bildfläche. So
war es am Anfang, und später gab es so viel Pulverdampf, daß
ich sowieso kaum noch was erkennen konnte, höchstens ihre
Granaten, die über dem Rauch detonierten. Unsere waren mittlerweile fast alle verschossen. Ich wurde noch an den Fingern
der rechten Hand, an der Wange und am Auge verwundet. Das
Auge war blutunterlaufen, und ich konnte damit nichts mehr
sehen.
Dann wurde das Feuer schwächer. Ich ging die paar Meter
zum Kommandeur runter.
,Was nun?’ frag ich. ,Ich hab kein Verbandpäckchen. Das habe ich für Borislawski gebraucht.’ ,Ab zum Sanitäter!’ sagt der
Kommandeur.
Die Jungs verbanden mich und gaben mir Wasser. Ich hatte
schon lange nichts getrunken…“
Soweit die Darstellung des Sergeanten Alexander Iwanowitsch Danilow, eines gewiß nicht redseligen Menschen.
Noch knapper erwähnte der Frontbericht die Ereignisse dieses
Tages. „Im Gebiet Musta-Tunturi gingen zwei Kompanien des
Gegners aus dem Raum 9872 zum Angriff auf die namenlose
Höhe 9672 über. Der Gegner wurde durch Artillerie- und Maschinengewehrfeuer sowie durch Gegenangriffe gestoppt.“ Das
war alles.
Nachdem Danilow abgetreten war, meldete sich Sergeant Bukin zum Rapport, der „Dichter der Halbinsel Rybatschi“, wie
ihn Jerjomin bezeichnete, ein flinker Bursche, der die zehnte
Klasse beendet hatte und sehr belesen war. Er gab sich betont
schneidig, jemand, dem die Exerzierausbildung noch nicht in
Fleisch und Blut übergegangen ist und der jederzeit glaubt,
seine Strammheit bewußt hervorkehren zu müssen. Wir sprachen mit ihm, dann flüsterten, er und Jerjomin in einer Ecke,
dann ging Bukin hinaus, und nachdem er uns verlassen hatte,
beklagte sich Jerjomin bei mir, daß Schabunin ihm diesen Bukin ausspannen wolle.
„Es ist unser Bukin“, fügte er hinzu. „Wie käme ich dazu, ihn
herzugeben?“
Aus seinen weiteren Ausführungen konnte ich schließen, daß
das Artillerieregiment auf angestammte Rechte pochte. Es habe
eine eigene Druckerei, eine eigene Zeitung, seinen Regimentsdichter, Regimentsphotographen, Klub und sogar seine eigene
Hilfswirtschaft – Kühe und Ferkel. Gegenwärtig sei ein gewaltiger Kampf im Gange. Jerjomin unternehme verzweifelte Anstrengungen, den Regimentsbesitz zusammenzuhalten, während Schabunin bestrebt sei, einen Teil der Artilleriereichtümer
in Gemeineigentum zu überführen. Von diesem Standpunkt aus
wurde auch die Sache mit Bukin betrachtet. Jerjomin nannte
ihn „unseren Artilleriedichter“, Schapunin wollte ihn zum politischen Leiter machen und ihn sich in die Politabteilung holen.
Bukin und Jerjomin flüsterten, weil sie sich meiner Beihilfe
bedienen wollten, in der Redaktion der Regimentszeitung zusammenzukommen und mit den angehenden Dichtern der
Halbinseln Rybatschi und Sredni – deren namhaftester Vertreter Bukin war – ein Gespräch zu führen. Ich erklärte mich natürlich einverstanden, und Jerjomin spannte unverzüglich den
Telephonisten ein, um von den verschiedenen Punkten beider
Halbinseln alle literaturbeflissenen Artilleristen zusammenzutrommeln.
Wir übernachteten im Bunker. Vor dem Einschlafen wälzte
sich Jerjomin lange von einer Seite auf die andere und bedauerte, daß ich nicht früher gekommen sei. Was für einen herrlichen Klub sie einmal hatten! Jetzt sei er kurz und klein gebombt. Schade um die ganze Ausstattung. Um den Saal mit
dreihundert Plätzen!
Major Ryklis, der Regimentskommandeur, auf den wir warte-
ten, kehrte nicht von der Beobachtungsstelle zurück, und
Hauptmann Tjurin, der Stabschef, kam erst spät in der Nacht.
Er legte sich auf sein hohes, durch zwei Unterbetten aufgetürmtes Lager, das Jerjomin eine Zielscheibe des Spotts bot.
Tjurin sei zwar ausgebombt, sagte er, aber alles Lebensnotwendige – und die beiden Unterbetten – habe er aus den
Trümmern seines Hauses in den Bunker gerettet. Wir standen
um acht auf. Es war noch finster. Jerjomin rief seine Ordonnanz zu sich und sagte, es könne nicht schaden, für den Abend
„ein Ferkelchen ins Auge zu fassen“. Danach brachen wir auf.
Seit dem frühen Morgen hatte ich bohrende Zahnschmerzen,
die mich bis zum Ende dieser Reise verfolgen sollten. Ehe wir
zu den Artilleriestellungen aufbrachen, spülte ich mit Wodka.
Wir nahmen einen Dreiachser, aber sogar für diesen Wagen
war die Straße nahezu unpassierbar.
Über die Landenge gelangten wir auf die Halbinsel Rybatschi.
Dort führte der steinige Weg durch große Löcher. Eins, in das
wir in voller Fahrt gerieten, war so tief, daß Räder und Motor
im Wasser verschwanden. Auf unserem Wagenkasten kamen
wir uns wie auf einer Insel vor. Wir schalteten den Rückwärtsgang ein, und nach einer halben Stunde hatten wir uns mit Unterstützung einer Zugmaschine herausgearbeitet.
Jerjomin meinte, wir sollten von dem Lastwagen auf ein Motorboot umsteigen und bei der Gelegenheit ein in der Nähe gelegenes unterirdisches Feldlazarett besuchen. Während er nach
einem Boot telephonierte, führte uns ein Arzt durch die Räume.
Sowohl die Pioniere wie auch die Mediziner verdienten hohe
Anerkennung. Hier war alles sehr solide und sehr praktisch
angelegt. Wände und Decken bestanden aus Holz, das allein
sprach für sich, wenn man bedenkt, daß auf Rybatschi nicht ein
Baum gedeiht. Oben war alles mit Steinen abgedeckt und so
getarnt, daß nicht nur aus der Luft nichts zu erkennen war,
sondern das Lazarett auch aus dreißig Meter Entfernung völlig
unsichtbar blieb. Die Aufnahme, das Verbandzimmer, der Operationssaal und der Raum für die Schwerverwundeten waren
durch einen gemeinsamen unterirdischen Gang miteinander
verbunden. Alle erforderlichen Behandlungen konnten durchgeführt werden, ohne daß der Patient an die Oberfläche gebracht werden mußte.
Hier im Norden war dieses Lazarett wohl das einzige seiner
Art. Der Abtransport von Rybatschi und Sredni und die Überführung von Bolschaja Semlja hierher waren mit so großen
Schwierigkeiten verbunden und kosteten so viel Zeit und Kraft,
besonders bei schlechtem Wetter, wenn keine Verbindung zum
Festland bestand, daß man – im Gegensatz zu den von anderen
Lazaretten praktizierten Gepflogenheiten – alle dabehielt, die
später zur Truppe zurückkehren konnten, selbst Fälle, die eine
dreimonatige stationäre Behandlung erforderten. Deswegen
umfaßte das Lazarett der verhältnismäßig kleinen Garnison
zweihundert Betten.
Der Arzt, der mich stolz von einer Abteilung zur anderen
führte, kehrte mit mir schließlich zur Aufnahme zurück und
sagte: „Und jetzt wollen wir uns etwas Interessantes ansehen!“
Er öffnete eine Klappe und forderte mich auf, einen Blick
durch die kleine Scheibe zu werfen. Im ersten Schreck fuhr ich
zurück. Dann wurde mir klar, daß dieses Fenster in den Operationssaal führte und eine Beobachtung des Operationstischs
gestattete. Ich erblickte ein menschliches Bein, ein blutiges,
vom Knie bis zur Leiste aufgeschnittenes Bein.
Als der Arzt einen Blick darauf geworfen hatte, sagte er zufrieden: „Gerade wird der Verband angelegt. Durch ein Wunder haben sie das Bein gerettet. Sehen Sie, was für ein guter
Anblick!“ Von diesem guten Anblick bekam ich eine Gänsehaut. Der Arzt deutete jedoch auf das Bein und sagte entzückt:
„Nun schauen Sie sich das an, wie rosa es ist! Als sie ihn
brachten, war es schwarz. Rosa bedeutet, daß es in Ordnung
kommt. Es ist nicht mehr vereitert. Ein sehr interessanter Fall.
Schauen Sie, wie großartig es sich macht!“
Er sprach von dem Bein wie von einem Kunstwerk, und aus
seinen Worten klang ein so entwaffnender Berufsstolz, daß ich
meine erste Regung bezwang und eingehend dieses „großartige“ Bein betrachtete. Damit war der Rundgang beendet, und
der Teufel muß mich geritten haben, als ich über Zahnschmerzen klagte. Jerjomin und Selma rieten mir mit der typischen
Leichtfertigkeit von Menschen, die selbst keine Schmerzen
haben, mich sofort, an Ort und Stelle, einem Zahnarzt anzuvertrauen. Wohl oder übel suchte ich ihn auf. Immerhin verfügte
ich über so viel Intuition, daß ich beim Anblick der hübschen
Zwanzigerin, die man mir als Zahnärztin empfahl, erbebte. Es
gefiel mir nicht, daß ihr Gesicht Unentschlossenheit und Zaghaftigkeit ausdrückte, Eigenschaften, die sich schlecht mit ihrem Beruf vertrugen.
Das Mädchen führte mich in ein kleines Zimmer, das von der
Aufnahme lediglich durch einen Vorhang getrennt war. Sie
setzte mich auf einen Schemel und rief einen Sanitäter, der
kam und mit einer Petroleumlampe leuchtete.
Ich öffnete den Mund. Eine Minute später war klar, der Zahn
mußte raus. Das Mädchen wählte die passende Zange und
schritt zur Tat. Der Ausdruck von Unentschlossenheit auf ihrem Gesicht machte Verbissenheit und dem Mut der Verzweiflung Platz. Die Zange klirrte, und der halbe Zahn war abgebrochen. Sie klapperte nochmals, und die zweite Hälfte brach
ebenfalls. Die Arbeit war also zu einem großen Teil getan,
dennoch verblieben einige Stückchen im Kiefer – die „Wurzeln“, wie sie sagte. Zuerst versuchte sie die Wurzeln mit einer
Zange zu fassen, dann griff sie zu einem Instrument, das wie
ein Metallhämmerchen mit Klaue zum Herausreißen von Nägeln aussah. Ich spürte, es stand schlecht um mich, und sah auf
die Uhr. Es war genau zehn. Meine Befürchtungen erfüllten
sich. Erst um elf trennte ich mich von diesem Schemel.
Hätte ich das Lazarett nicht vorher in meiner Eigenschaft als
Korrespondent der „Krasnaja Swesda“ besichtigt, dann hätte
ich jetzt entweder angefangen zu schreien oder wäre weggerannt. So aber war das medizinische Personal hinter dem Vorhang in der Aufnahme versammelt und lauschte interessiert den
Geräuschen aus dem Behandlungszimmer. Zur Flucht war es
schon zu spät, und zu schreien hätte unter der Würde eines
Frontkorrespondenten gelegen.
Zwanzig nach zehn bemerkte ich, wie die Lampe in der Hand
des erfahrenen Sanitäters schwankte. Außerstande, meine Leiden länger anzusehen, drehte er sich zur Wand.
Halb elf stemmte mir das Mädchen ein Knie in den Bauch und
brach ein Stück Knochen heraus, das sie mir zeigte. „Da haben
wir den Übeltäter. Ihre Wurzel.“
„Das ist alles?“ fragte ich erstaunt, als ich das winzige Stückchen erblickte, denn ihr Kraftaufwand hätte ausgereicht, mir
ein Schienbein zu brechen.
„Die eine“, erklärte sie. „Davon haben Sie zwei.“
„Na gut“, sagte ich. „Eine halbe Stunde gebe ich Ihnen noch.
Dann soll sie in Gottes Namen drin bleiben.“
Fünf vor elf griff sie wieder zur Zange. Nachdem sie mir die
Hälfte meines Zahnfleisches herausgefetzt hatte, erklärte sie,
mit der Zange käme sie nicht weiter, und sie nahm abermals
das Hämmerchen zum Nägelziehen.
Um elf wühlte sie mir – nach meiner Meinung jetzt blindlings
und aufs Geratewohl – noch knirschend im Mund herum.
Schließlich sank sie erschöpft auf einen zweiten Schemel an
meiner Seite, ohne den Rest der Wurzel erwischt zu haben. Sie
lehnte den Kopf gegen die Wand. Ihr Gesicht war bleich, die
Augen halb geschlossen. Ich nahm dem Sanitäter besorgt das
Glas Wasser aus der Hand und reichte es ihr. Sie trank und
bedankte sich.
„Na, wie steht’s?“ Jerjomin und Selma empfingen mich erwartungsvoll, als ich hinaustrat.
Ich sagte, daß es mir blendend gehe, aber mein Gesicht strafte
mich wohl Lügen, und Jerjomin, der wie die meisten Nordländer für jedes Wehwehchen ein Mittel kannte, zog mich ohne
viel Federlesens ins Zimmer des Chefarztes und goß mir Sprit
ein. Für die ersten Minuten half diese Arznei wirklich.
Dann kam ein Anruf, das Motorboot liege bereit, und wir
setzten unseren Weg fort.
Auch auf Rybatschi gibt es die Gezeiten. Als wir das Lazarett
verließen, war das Wasser gerade im Steigen. Die herausragenden Steine hinderten das Motorboot, dorthin zu kommen, wo
wir standen. Die Matrosen ließen ein Boot zu Wasser, aber
auch das Boot konnte nicht ans Ufer fahren, sondern nur bis
zum Ende der langgestreckten, noch nicht völlig überfluteten
Landzunge. Um zum Boot zu gelangen, mußten wir etwa fünfhundert Meter laufen. Leicht überschwemmt war sie schon,
aber überall ragten Steine aus dem Wasser, und wir sprangen
von einem zum andern.
Wir hatten nicht mit einem so raschen Steigen der Flut gerechnet. Die zweite Hälfte des Weges zum Boot legten wir wie
Jesus Christus über das Meer schreitend zurück. Wir hielten
den Blick gesenkt und tasteten nach den Steinen. Völlig durchnäßt bestiegen wir das Boot. Die Strömung trieb es gegen die
Steine. Streckenweise schwamm es, aber zwischendurch wurde
es immer wieder eingekeilt und saß fest. Dann stiegen wir aus,
und bis zum Gürtel im Wasser stehend, machten wir das Boot
wieder flott. Allen Schwierigkeiten zum Trotz erreichten wir
schließlich das Motorboot und mit seiner Hilfe die Stelle am
Ufer, von der aus die Feuerstellungen der Artillerie auf dem
kürzesten Wege zu erreichen waren.
Wir liefen einen Kilometer, sprangen von Stein zu Stein, gerieten hin und wieder in eine Schneewehe und gelangten
schließlich zu den Kanonen. Sie standen auf dem rückwärtigen
Hang einer hohen Felswand. Von der Höhe waren alle gegnerischen Stellungen einzusehen, nicht nur auf dem schmalen
Streifen zwischen der Halbinsel Sredni und dem Festland, sondern in die Tiefe bis zur Titowka. Wie wir erfuhren, hatten gerade diese Batterien dank der guten Beobachtungsmöglichkeiten kürzlich zwei deutsche Wasserflugzeuge zerstört, die zwölf
Kilometer von hier, in der Titowka-Bucht, niedergegangen
waren.
Nachdem Jerjomin die üblichen Meldungen entgegengenommen hatte, erhielt die Batterie von der höher gelegenen Beobachtungsstelle den Befehl zum Feuern, und die schweren 152mm-Geschütze begannen zu brüllen.
Die Artilleristen waren an den Lärm gewöhnt, aber ich stand
zwanzig Meter weiter und fuhr bei jedem Abschuß zusammen,
und nach kurzer Zeit war mir, als wären meine Ohren mit Wattepfropfen verstopft.
Selma photographierte, dann stiegen wir zur Beobachtungsstelle auf. In Luftlinie wäre es gar nicht so weit gewesen, aber
den einzigen Pfad entlang waren es etwa fünf Kilometer.
Einen halben Kilometer von der Batterie entfernt drehte ich
mich um. Die Geschütze waren so gut getarnt, daß ich sie
kaum erkennen konnte, obwohl ich wußte, wo sie standen. Es
war eine rauhe Gegend, überall Felsblöcke und Geröll und kein
richtiger Weg. Ich mußte an die Nacht denken, als die schweren Geschütze mit bloßen Händen durchs Gebirge transportiert
wurden, um beide Halbinseln zu retten.
Über zwei Stunden dauerte der Aufstieg. Stellenweise verschwand der Pfad fast völlig. Bergan zu klettern war schwierig,
und bald wurde mir unter meiner Lederjacke warm. Jedes Ding
hat jedoch zwei Seiten. Als wir die halbe Strecke gekraxelt
waren, spürten wir die Nässe nicht mehr. Es schien uns sogar,
daß die Sachen am Körper trockneten.
Mehrmals glaubten wir den letzten Gipfel erklommen zu haben, aber jedesmal tauchte dahinter ein anderer auf. Endlich
erreichten wir das Plateau, die höchste Stelle dieses Berges,
eine glatte Fläche wie eine riesige steinerne Tischplatte, etwa
hundert mal hundert Meter. Auf diesem Plateau lagen riesige
Felsbrocken, natürliche Haufen, von denen die beiden künstlichen – der Gefechtsstand und die Beobachtungsstelle – kaum
zu unterscheiden waren. Der Gefechtsstand war weiter unten
eingerichtet, die Beobachtungsstelle lag hundert Meter davon
entfernt, unmittelbar am Rand des Felsens. Zuerst suchten wir
den Gefechtsstand auf, wo wir erfuhren, daß sich Oberleutnant
Skrobow, Kommandeur dieser Einheit, in der Beobachtungsstelle aufhielt. Wenige Meter oberhalb des Gefechtsstandes
begann das Gebiet, von dem aus die deutsche Seite hinübersehen konnte, und ehe wir weitergingen, legten wir weiße Umhänge, Fausthandschuhe und Kapuzen an, und der gewissenhafte Chef des Divisionsstabs achtete darauf, daß wir die Ferngläser und Photoapparate unter der Tarnkleidung trugen. Die
Disziplin war hier sehr gut.
Übrigens war es bei uns damit keineswegs überall so gut bestellt. Nicht, daß die Leute die Bedeutung der Tarnung unterschätzt hätten; aber eine falsche Auffassung von Tapferkeit
verleitete sie manchmal zur Nachlässigkeit. Sie tarnten sich
nicht, weil sie befürchteten, die Vorsicht könne ihnen als Feigheit ausgelegt werden. In Skrobows Abteilung verachtete man
solche Kraftmeierei und tarnte sich nach allen Regeln der
Kunst, denn man wollte die beste Beobachtungsstelle dieser
Gegend nicht an einen anderen Ort verlegen. Der kleine Bunker war nicht in die Erde gegraben, sondern wie hier allgemein
üblich aus Steinen zusammengesetzt. Er hatte zwei Öffnungen,
eine für das Scherenfernrohr und eine für den Feldstecher. Uns
empfing Oberleutnant Skrobow, ein großer Mann mit scharf
geschnittenem soldatischem Gesicht und klug blickenden aufmerksamen Augen. Er erstattete Jerjomin Meldung und berichtete ihm ausführlich, was sich an diesem Tag zugetragen hatte.
Er teilte ihm alles mit, jede noch so geringfügige Bewegung
der Deutschen, jede kleine Bodenerhebung hatte er studiert,
und aus seinen Worten sprach eine Art Jagdfieber. Lange schon
machte er täglich Jagd auf Deutsche, so daß diese Tätigkeit aus
einer Gewohnheit zum Bedürfnis geworden war. Als wir unten
bei den Geschützen gestanden hatten, hatte die Batterie gerade
eine Talsenke mit Granaten belegt. Ein Seitenweg der Petsamoer Chaussee zur Landenge führte durch die Senke, und dort
waren einige Autos und zwei bis drei Dutzend Berittene aufgetaucht. Ihnen hatte das Feuer der Abteilung gegolten. Die Artillerie hatte sich schon vorher eingeschossen, unter Berücksichtigung der meteorologischen Bedingungen.
Er zeigte uns im Scherenfernrohr die Stellungen der Deutschen, dann das Tal, das sie beschossen hatten. Ich konnte
mich nur wundern, wie genau er sich in der einförmigen, öden
Gegend auskannte, wie er die kleinen Täler voneinander unterschied und die einzelnen Sträucher, die für mich alle gleich
aussahen. Ihm entging nichts, und er machte uns auf die
schwarzen Punkte aufmerksam, es waren die im Schnee liegenden toten Menschen und Pferde, die noch nicht fortgeschafft waren.
Skrobow gefiel mir. Er berichtete dem Regimentskommissar
ruhig und sachlich. In seiner Darstellung gab es keine Effekt-
hascherei, keine Dienerei vor Jerjomin. Dieser Mann fühlte
sich voll für die ihm übertragenen Aufgaben verantwortlich.
Daher seine unerschütterliche Ruhe in Gegenwart des Vorgesetzten.
Nachdem mir Skrobow vom Wirken seiner Einheit und ein
wenig von sich selbst erzählt und ich alles in mein Notizblock
gekritzelt hatte, besprach er mit Jerjomin einige dienstliche
Angelegenheiten. Ich setzte mich auf das Futteral des Scherenfernrohrs. Zum erstenmal ließ der Zahnschmerz plötzlich nach,
und ich spürte ein starkes Schlafbedürfnis. Die Augen fielen
mir zu, mein Kopf sank gegen die eisbedeckten Steine. Ich fror
und war hungrig, aber glücklich, für einige Minuten ungestört
schlummern zu dürfen.
Von der Beobachtungsstelle kehrten wir zum Gefechtsstand
zurück. Dort setzte man uns das Essen in Kochgeschirren vor.
Das Mittagessen mußte in Kanistern auf dem Rücken den Berg
hochgetragen werden – denselben Weg, den wir gekommen
waren. An diesem Tag war das Wetter mehr oder weniger beständig, aber bei starkem Wind und Schneesturm bedeutete
Essenholen harte Arbeit, und man rechnet hier mit rund zweihundert Sturm- und Schneetagen im Jahr. Nach der Mahlzeit
unterhielten wir uns noch mit Skrobow. Er zeigte uns seine
Gefechtsdokumente, die trotz der Bedingungen des Lebens im
Bunker äußerst sorgfältig geführt wurden, mit Farbstiften und
Tusche. Knapp und präzise beantwortete er unsere Fragen;
dann bat er Jerjomin, sich zur Beobachtungsstelle zurückziehen
zu dürfen. Er war ohne Zweifel ein Naturtalent; aus den Reihen
der einfachen Rotarmisten hervorgegangen, hatte er es zu der
Zeit, als wir ihn kennenlernten, bereits zum Oberleutnant gebracht. Er besaß ein ausgeprägtes Gefühl persönlicher Würde,
und das war nicht verwunderlich bei einem Menschen, der absolut alles in seinem Leben selbst gemacht hatte. Als Externer
hatte er die Abschlußprüfung der zehnten Klasse und danach
der Militärschule abgelegt. Ich dachte damals, Menschen dieses Schlages gehen immer ihren Weg; das war sogar früher so.
Auch in der alten Zeit kam es vor, daß Kantonisten zu Generalen aufstiegen. Er hatte einen großen Kopf, eine wuchtige Stirn
und aufmerksame, ruhig blickende Augen.
Als Skrobow gegangen war, saßen wir noch eine halbe Stunde
im Bunker, um uns vor dem Marsch aufzuwärmen, und Selma
veranlaßte mich, für die Artilleristen, die sich hier versammelt
hatten, einige Gedichte zu lesen, darunter „Wart auf mich“.
Damals las ich das noch unveröffentlichte Gedicht „Wart auf
mich“ erstmalig vor einem Dutzend Menschen. Grischa Selma,
der mich hierzu angeregt hatte, wurde während unserer späteren Reisen nie müde, mich für Lesungen zu gewinnen. So kam
es, daß ich das Gedicht bald diesem, bald jenem Publikum vortrug. Ihm selbst waren die Zeilen Medizin gegen die Sehnsucht
nach seiner evakuierten Frau. Als „Wart auf mich“ gedruckt
vorlag, las ich es unzählige Male, während des Krieges und in
der Nachkriegszeit. Doch schließlich – nach zwanzig Friedensjahren – nahm ich mir vor, es nie mehr zu lesen; die zurückkehren konnten, waren zurückgekehrt. Sinnlos, noch auf einen
zu warten. Also hatte sich das Gedicht überlebt. So meinte ich,
und über ein Jahr las ich es tatsächlich nicht; bis ich in den
Fernen Osten geriet, zu den Matrosen der Handelsmarine,
Fischfangflotte und der U-Boote, die zu vielmonatiger – und
manchmal längerer – Fahrt ausliefen.
Sie verlangten gleich bei unserer ersten Begegnung nach
„Wart auf mich“. Ich versuchte ihnen zu erklären, weshalb ich
es nicht lesen wolle, aber sie ließen meine Argumente nicht
gelten. Auch jetzt erfüllte das Gedicht bestimmte Bedürfnisse,
wenngleich andere als im Krieg. Die Leute hatten ihre Gründe,
es sich zu wünschen. Ich gab ihrem Drängen nach und las es,
obwohl es nach meiner Auffassung strikt mit jenen Kriegstagen
verbunden ist, in denen es geschrieben wurde, und als ich beim
Lesen in den Saal blickte, verspürte ich wieder jenes Schuldgefühl vor allen, die gewartet hatten und enttäuscht worden waren.
Nach den vielen Jahren habe ich Hunderte, wenn nicht Tausende von Briefen erhalten – von Menschen, zu denen die Angehörigen zurück-, und von solchen, zu denen sie nicht zurückgekehrt waren. Ein Brief, den ich erst kürzlich bekam,
führte mir den ganzen unlösbaren Widerspruch dieser Verse
eindringlich vor Augen. Die Anschrift der Absenderin behalte
ich für mich, denn nicht um den Namen geht es in diesem
Brief.
„Die endlosen Sendungen zu Themen des Krieges bereiten
einem unerträgliche Seelenqualen, und dabei bin ich schon seit
drei Wochen Rentnerin. Wissen Sie eigentlich, was Ihr Gedicht
,Wart auf mich.’ im Vaterländischen Krieg für uns junge Soldatenfrauen bedeutet hat? Wir glaubten ja nicht an Gott, kannten keine Gebete, konnten nicht beten, aber wir hatten so ein
Bedürfnis, jemanden anzuflehen: Schone sein Leben, laß ihn
nicht umkommen! Da erschien Ihr ,Wart auf mich’. Man
schickte es aus dem Hinterland an die Front und von der Front
ins Hinterland. Das Gedicht flößte jenen Hoffnung ein, die
glaubten, man erwarte sie, und jenen, die warteten… Im Dezember 1943 erhielt ich einen Brief, den mein Mann am 1. November um Mitternacht geschrieben hatte und in dem es heißt:
,Wenn Du meinen Brief empfängst, werden wir schon auf der
anderen Seite des Dnepr sein.’ Das war sein letzter Brief. Der
Dezember verstrich, der Januar und fast der ganze Februar. Ich
sah jeden Tag mehrmals in den Briefkasten und flüsterte wie
ein Gebet vor mich hin: ,Wart auf mich, ich kehr dem Tod zum
Trotz zurück…’ und fügte hinzu: Ja, mein Liebster, ich werde
warten, ich kann…’ Am 23. Februar erfuhr ich, daß ich wohl
doch nicht ,stark wie niemand sonst’ hatte warten können, daß
es mir nicht vergönnt war, seine Rückkehr zu erleben. Er wurde am 2. November, 10.00 Uhr morgens tödlich verwundet,
zehn Stunden nachdem er mir den Brief geschrieben hatte. Ich
wollte es nicht glauben, konnte es nicht glauben, auch nicht,
nachdem ich mit Freunden gesprochen hatte, die beim Begräbnis zugegen waren. Es geziemt sich vielleicht nicht, das zu
schreiben, aber da ich Filme über Aufklärer gesehen und Bücher über sie gelesen hatte, redete ich mir nachts ein, man hätte
ihn zur Aufklärung geschickt, hinter die feindliche Linie, und
um es besser zu verschleiern, hätte man ein Begräbnis fingiert.
Auch heute, auf meine alten Tage, träume ich noch oft, daß er
nach der langen Trennung zurückgekehrt sei. Seit damals stehe
ich mit den Pionieren in Briefwechsel, die sein Grab betreuen.
Am 25. Jahrestag des Sieges war ich selbst dort. Auch zu Ihnen
sind meine Gedanken in diesen Jahren häufig gewandert, dem
Autor von ,Wart auf mich’ – als wären Sie schuldig vor mir.
Als ich an seinem Grab stand, traten Frauen aus dem Dorf an
mich heran, um mich zu trösten, und eine sagte: ,Es ist ein großes Glück, ein Grab zu haben, über dem man weinen kann;
aber wenn jemand vermißt ist oder in fremder Erde ruht, ist es
schwerer.’ So möchte ich Sie im Namen aller, die ,stark wie
niemand sonst’, doch vergeblich gewartet haben, bitten: Rehabilitieren Sie uns! Schreiben Sie etwas zu unserer Rechtfertigung, damit die letzten acht Zeilen Ihres Gedichts für uns, denen kein Wiedersehen vergönnt war, nicht wie ein einziger
Tadel, ein Vorwurf, eine Anschuldigung klingen…“
Aber was soll ich jetzt als Antwort auf diesen Brief schreiben? Von welcher Rechtfertigung könnte die Rede sein?
Vier Jahre lang verrichtete der erbarmungslose Fleischwolf
des Krieges pausenlos sein Werk, ohne Rücksicht auf alle
menschlichen Schicksale. Und es hat sich ergeben, daß ich, der
diese Verse schrieb, den man vielleicht mit weit geringerer
Kraft und Inbrunst als andere erwartete, zurückkehrte, während
andere nicht wiederkamen. Aber welche Möglichkeiten habe
ich jetzt? Welche Verse könnte ich als Nachtrag für jene
schreiben, die ich weiterhin mit einem Gefühl ungewollter
Schuld und im Bewußtsein unlösbarer Widersprüche lese?
Zurück zum Tagebuch.
Der Abstieg dauerte keine Stunde. Erst unten, als es dunkelte
und die Brise vom Meer her auffrischte, spürten wir, wie
durchgefroren wir waren. Ich klapperte vor Kälte mit den Zähnen. Die Beine waren wie Blei und schmerzten vor Kälte. Die
steifgefrorene Wäsche wellte sich am Körper.
Da drehte sich Dmitri Iwanowitsch Jerjomin unvermittelt zu
mir um und sagte: „Ein Ferkel!“
„Was für ein Ferkel?“ fragte ich verwundert.
„Dort wartet ein Spanferkel auf uns, mit Kruste. Beim Gedanken daran friert man weniger. Stimmt’s?“ Ich lachte unwillkürlich auf und gab zu, daß es stimmte. Das Ufer erreichten wir
bei völliger Finsternis. Lange liefen wir über die Steine, rutschten ab und stürzten, aber endlich hatten wir mit Gepfeife und
Geschrei das Boot herbeidirigiert. Nach einer knappen Stunde
saßen wir wieder auf der Halbinsel Sredni bei Jerjomin im
Bunker, und vor uns dampfte das Spanferkel mit Kruste. Für
eine Minute vergaß ich sogar meine Zahnschmerzen. Am nächsten Morgen wechselten Selma und ich von Jerjomin zu den
Grenztruppen über. Der Stab der Grenzer hatte sein Quartier
nahe der Küste aufgeschlagen, im Schwemmland unten, wo der
Boden weicher war als anderswo auf der Halbinsel, so daß man
sich eingraben konnte. Schon am letzten Abend war ein großer
Spähtrupp zur Landenge vorgerückt. In der folgenden Nacht
sollte er unsere Stellungen überschreiten und ins rückwärtige
Gebiet der Deutschen eindringen. Im Stab machten wir uns mit
Kommissar Filatow und dem Kommandeur, Major Kalenikow,
bekannt, und ich muß sagen, ich habe früher wie später selten
so profilierte Persönlichkeiten kennengelernt. Kalenikow war
sehr groß, breit, dem Aussehen nach fünfundvierzig, ein ergrauender Mann, er hatte große Hände und ein breites gebräuntes Gesicht. Für gewöhnlich die Ruhe selbst, saß er wie angenagelt an seinem Arbeitstisch.
Seine Gastfreundschaft war bestechend – in zweierlei Hinsicht. Auf dem Tisch lagen immer einige Schachteln Zigaretten, auf dem Regal stand immer die Schnapsflasche. Ganz ausgeschlossen, nicht zu tauchen oder nicht zu trinken, so nachdrücklich, so wohlmeinend und besorgt forderte er einen zum
Zugreifen auf. Den Schnaps schenkte er selbst ein, und den
größten Becher – einen blau emaillierten – stellte er vor sich
hin. Als wir anstießen, sahen wir, daß er mit Milch gefüllt war.
Der Hausherr prostete seinen Gästen mit Milch zu, dem einzigen Getränk, das er zu sich nahm, und obendrein stellte sich
heraus, daß er Nichtraucher war.
Ein fideler Mensch, ein guter Erzähler und reizender Unterhalter bei Tisch, immer ausgeglichen, in freundschaftlicher
Plauderei wie im dienstlichen Gespräch mit Unterstellten wie –
soweit ich hörte – im Gefecht. Seine unerschütterliche Ruhe,
Herzlichkeit und ungewöhnliche, Behagen ausströmende Gastlichkeit machte ihn zum Liebling der ganzen Abteilung. So ein
Charakter, dachte ich, bildet sich wahrscheinlich am Schlagbaum aus, wo er fast zwanzig Jahre zugebracht hat, an der polnischen und an der rumänischen Grenze, und dann hier, im
äußersten Norden; das Leben im engen Kreis der Garnison, das
ständige Ergreifen von Grenzverletzern, die tägliche angestrengte nervöse Arbeit haben ihn wahrscheinlich zu diesem
ruhigen, bedächtigen Menschen gemacht, der über den Dingen
steht und sich über nichts wundert und dem die Natur eine
fröhliche Ader mitgegeben zu haben scheint.
Erst bei der Abfahrt erfuhr ich vom Abteilungskommissar zufällig, daß Major Kalenikow zu Beginn des Krieges in der
Ukraine seine Familie verloren hatte. Er selbst hatte darüber in
keiner Unterhaltung gesprochen und es nicht einmal beiläufig
erwähnt. Mehrere Tage verbrachten Selma und ich bei den
Grenzsoldaten. Bedeutende militärische Ereignisse gab es in
diesem Zeitraum nicht. Jedoch wurden die Hafenanlagen von
Osjorki bombardiert, bedauerlicherweise nachts, als eine eingetroffene Ladung Lebensmittel gelöscht wurde; es gab zwanzig
Tote und Verwundete. Die Bomben gingen hart neben den
Bunkern der Grenzsoldaten nieder. Zwei erhielten sogar Volltreffer und stürzten ein. Zum Glück waren sie gerade leer. Der
Bunker, den wir bezogen hatten, bebte und wackelte bei jedem
Schlag, und aus den Fugen zwischen den Baumstämmen rieselte Erde. Freilich, der Luftangriff dauerte nicht länger als zwanzig Minuten. Danach ging das Leben seinen gewohnten Gang.
Wir erwarteten die Rückkehr der Aufklärungstrupps, die ins
rückwärtige Gebiet der Deutschen eingedrungen waren, aber
gleich in der ersten Nacht geschah etwa