Urban Memory and Visual Cul - H-Soz-u-Kult

S. Ward: Urban Memory and Visual Culture in Berlin
Ward, Simon: Urban Memory and Visual Culture in Berlin. Framing the Asynchronous City 1957–2012. Amsterdam: Amsterdam University Press 2016. ISBN: 978-90-8964-853-2;
212 S.
Rezensiert von: Carla Aßmann, LeibnizInstitut für Raumbezogene Sozialforschung,
Erkner
In der Tradition der Erforschung des kulturellen Gedächtnisses und mit einem Schwerpunkt auf der visuellen Darstellung fügt der
in Durham lehrende Literaturwissenschaftler Simon Ward dem Berliner Diskurs über
den Umgang mit der Vergangenheit im Stadtraum, dessen erhitzte Debatten oftmals im
argumentativen Bermudadreieck aus Abriss,
Erhalt oder Rekonstruktion gefangen bleiben,
eine neue Perspektive hinzu. Für das Konzept
des titelgebenden „urbanen Gedächtnisses“
baut Ward auf dem „Ortsgedächtnis“ („place
memory“) aus den Werken Maurice Halbwachs’ und Paul Connertons auf. Genau wie
dieses ist auch das „urbane Gedächtnis“ als
kritische Praxis zu verstehen, die sich der Vereinheitlichung des Stadtraums durch moderne Planung widersetzt. Denn solche Planung
negiere historische Zeit; stattdessen produziere sie die synchrone Erfahrung austauschbaren Raums, in der Zeit mit Aktivität und Erneuerung gleichgesetzt werde.
Dabei legt der Verfasser Wert auf die
Abgrenzung gegenüber einer „nostalgischen
Sehnsucht nach dem authentischen Ort“ und
betont stattdessen das dynamische Potenzial von Praktiken, die Diskontinuitäten und
„Asynchronizitäten“ im Raum-Zeit-Gefüge
der Stadt sichtbar machen (S. 43). Aus diesem Fokus auf den Prozess der Herstellung
von urbanem Gedächtnis folgt auch die Untersuchung Berlins – nicht als singulärer Ort,
sondern als eine Stadt, die seit dem modernistischen Wiederaufbau in West und Ost einer
fortgesetzten beschleunigten Transformation
unterworfen ist und daher als prominentes
Beispiel für generelle Prozesse der Produktion urbanen Gedächtnisses dienen kann (S. 13,
140).
Ward identifiziert zwei Arten, wie urbanes
Gedächtnis erzeugt wird: zum einen die Rekonstruktion städtischer Umgebung mit dem
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Ziel, ein verloren gegangenes soziales Milieu wiederzubeleben, zum anderen die Neugestaltung von Brachflächen und materiellen
Zeugnissen der Vergangenheit, um durch Dokumentationen oder künstlerische Interventionen ein urbanes Gedächtnis hervorzubringen (S. 15). Die Untersuchung dieser beiden
Stränge in der Zeit von 1957 bis 2012 bildet
das Programm des Buchs. Nach einer umfangreichen Einleitung, mit der sich Ward im
Feld der Erinnerungs- und Gedächtnistheorien positioniert, folgen vier chronologisch geordnete Kapitel. „Remembering the ‚Murdered City‘“ umfasst die Jahre 1957 bis 1974
und schildert die Durchsetzung des „synchronen Blicks“ in West- und Ost-Berlin, der
die Stadt einzig unter den Aspekten der Verwertbarkeit und des reibungslosen Funktionierens betrachtet habe. Dennoch habe es bereits früh Versuche gegeben, diese Hegemonie
der technokratischen Sicht zu durchbrechen,
wie Ward anhand der Proteste gegen den
Abriss der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche,
der Städtebaukritik Wolf Jobst Siedlers und
Alexander Mitscherlichs, am Beispiel von Aktionen der Außerparlamentarischen Opposition (APO) sowie der erhaltenden Sanierung
am Arnim- und Arkonaplatz in Ost-Berlin
zeigt. Besondere Aufmerksamkeit schenkt der
Autor dabei der filmischen Inszenierung des
synchronen und des „musealen“ Blicks auf
die Stadt. Beginnend mit Wim Wenders’ erstem Film „Summer in the City“ (1970) und
Heiner Carows „Die Legende von Paul und
Paula“ (1973) bildet die Entwicklung dieser
Bildsprache in West- und Ost-Berliner Filmen
einen Schwerpunkt in Wards Argumentation.
Nachdem sich bis Mitte der 1970er-Jahre eine Wertschätzung historischer Bauten weitgehend durchgesetzt habe – zumindest auf
der diskursiven Ebene, die Ward hauptsächlich interessiert –, verfolgt der Autor im zweiten Kapitel die Entwicklung von Formen eines urbanen Gedächtnisses durch „Place Memory Work“ bis 1989. Dazu prägt Ward den
(modischen, aber inzwischen schon etwas abgenutzten) Begriff des „Kurators“ für Personen, die mit verschiedenen Technologien der
Sichtbarmachung den „kritischen Gedächtniswert“ von Orten hervortreten lassen, indem sie „durch die Dynamik der Begegnung
die Anwesenheit einer (unterdrückten) Ver-
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gangenheit erzeugen und dabei einen Moment des Entdeckens anstreben, der zugleich
ein Moment des Bewahrens ist“ (S. 86).1
Zu diesen Technologien zählten im Untersuchungszeitraum neben medialen Darstellungen auch Architektur, Stadtführungen und
künstlerische Interventionen am Ort selbst,
wie Ward zum Beispiel anhand der Internationalen Bauausstellung (IBA) in Kreuzberg
sowie des Einsatzes von Dieter HoffmannAxthelm und anderen für das Gelände der
„Topographie des Terrors“ diskutiert.2
Das nächste Kapitel („The Remembered
City On Display, 1984–1993“) ist der Ausweitung und Institutionalisierung solcher
Darstellungs- und Gedächtnispraktiken gewidmet. Es handelte sich dabei um eine Entwicklung, die die Umbrüche der Wendezeit
überspannte, wie Ward anhand von Filmen
und Kunstinstallationen im Stadtraum zeigt:
Bereits kurz nach dem Mauerfall verwendeten Künstler dieselbe Bildsprache, die zuvor
Dissidenz gegen den DDR-Staat signalisierte, um das synchrone Zeitregime der gesellschaftlichen Ordnung der Nachwendezeit zu
kritisieren. Im letzten Kapitel („In Search of
a City?“) analysiert Ward, wie ab Mitte der
1990er-Jahre die einst widerständigen Praktiken des urbanen Gedenkens vom synchronen
Blick der Planer einer „post-urbanen Stadt“
vereinnahmt worden seien, um ein Narrativ
glatter Kontinuität zu erzeugen. Zu belegen
versucht er dies unter anderem am Beispiel
des Potsdamer Platzes, wo die Spuren des Nationalsozialismus zugunsten einer Repräsentation der Wilhelminischen und der Weimarer Zeit marginalisiert worden seien, und am
Umgang mit dem Palast der Republik.3 Doch
gerade die Erinnerung an letzteren eigneten
sich neue „Kuratoren“ an und schufen Zugänge zum urbanen Gedächtnis, die unabhängig
sind von einer persönlichen Beziehung zum
Ort – und sich daher an Einheimische, Zugezogene und BesucherInnen gleichermaßen
richten. Dies unterscheidet das Konzept des
urbanen Gedächtnisses vom kulturellen Gedächtnis mit seinen Implikationen nationaler
Identität. So schließt Ward mit einem Plädoyer für das kritische urbane Gedächtnis als eine den Bedingungen der Globalisierung angemessene, weil unabhängig von der Herkunft
der Kuratoren und des Publikums wirksame
Gegenwehr vor Ort gegen Prozesse der Verwertung und Synchronisierung.
Wenn man sich auf Simon Wards hochkomplexen und theoriegesättigten Begriffsapparat
einlässt, eröffnet das Buch neue Einsichten,
wie Gedächtnis im Zusammenhang mit Stadtraum produziert wird. Wards Analyse der Figur des „Kurators“ und dessen „Technologien“, um die Begegnung mit dem Ortsgedächtnis zu strukturieren, ermöglicht etwa neue
Zugänge zur Frage der Subjekte des Erinnerns. Besonders fruchtbar sind Wards Untersuchungen der visuellen Inszenierungen des
urbanen Gedächtnisses durch Filme, Fotografien, Ausstellungen und Installationen. Leider
weist das Buch auf der anderen Seite erhebliche Schwächen auf. Dies betrifft insbesondere die Analyse des zweiten Strangs, der städtebaulichen und architektonischen Gedächtnispraktiken. Sie bleibt oberflächlich und beschränkt sich auf Teile der jeweiligen Diskurse, ohne sich mit den materiellen Produktionen zu befassen, wie etwa bei der IBA (im
Westen) und beim Nikolaiviertel (im Osten).
Hier irritiert auch, dass der Autor einschlägige Literatur aus der stadthistorischen Forschung offenbar nicht zur Kenntnis genommen hat4 , was gerade im ersten Kapitel ver1 Eigene
Übersetzung; im Original: „[...] namely the ‚critical memory value‘ of the built environment, in the
way that it produced the presence of a (repressed) past
through the dynamics of the encounter, aiming for a
moment of discovery that is also a moment of preservation.“
2 Siehe dazu auch Krijn Thijs, West-Berliner Visionen
für eine neue Mitte. Die Internationale Bauausstellung, der „Zentrale Bereich“ und die „Geschichtslandschaft“ an der Mauer (1981–1985), in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 11 (2014), S. 235–261, http://www.zeithistorischeforschungen.de/2-2014/id=5097 (07.12.2016).
3 Siehe dazu auch die Sammelrezension von Hanna Katharina Göbel (geb. Steinmetz), in: HSoz-Kult,
08.04.2009,
http://www.hsozkult.de
/publicationreview/id/rezbuecher-10222 (07.12.2016).
4 Z.B. für die behutsame Sanierung und den historisierenden Neuaufbau in Ost-Berlin: Florian Urban, Berlin / DDR, neo-historisch – Geschichte aus Fertigteilen,
Berlin 2007 (liegt auch auf Englisch vor: Neo-historical
East Berlin. Architecture and Urban Design in the German Democratic Republic 1970–1990, Farnham 2009);
sowie diverse Aufsätze desselben Autors, die ebenfalls
den Umgang mit Geschichte in diesem Kontext thematisieren. Für die von Ward im ersten Kapitel besprochene Interbau 1957 vgl. etwa Gabi Dolff-Bonekämper,
Das Hansaviertel. Internationale Nachkriegsmoderne
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zerrende Auswirkungen auf seine Schlussfolgerungen zeitigt.5 Auch insgesamt vermisst
man in der Studie den historischen Kontext,
so dass es scheint, als seien neue Impulse
der Gedächtnisarbeit aus dem Nichts, beziehungsweise einzig aus dem Diskurs selbst gekommen (vgl. z.B. S. 73). Ward verfolgt den
Anspruch, die Überbetonung historischer Zäsuren in der neueren Gedächtnisforschung zu
korrigieren (S. 11f.) – vielleicht ist er dabei
über das Ziel hinausgeschossen, selbst wenn
sein Versuch, Ost- und West-Berlin in übergreifenden Zusammenhängen zu betrachten,
grundsätzlich anregend ist.
HistLit 2017-1-012 / Carla Assmann über
Ward, Simon: Urban Memory and Visual Culture in Berlin. Framing the Asynchronous City
1957–2012. Amsterdam 2016, in: H-Soz-Kult
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in Berlin, Berlin 1999 (mit Einbeziehung der Debatten über architektonisches Erbe in den 1990er-Jahren);
sowie die Literatur im Zusammenhang mit dem 50jährigen Jubiläum der Siedlung, wie: Sandra WagnerConzelmann, Die Interbau 1957 in Berlin. Stadt von
heute – Stadt von morgen, Petersberg 2007; Sylvia Stöbe (Hrsg.), Hansaviertel und die Documenta Urbana.
Hansaviertel – Frühe und späte Wirkungen, Kassel
2008.
5 So führt Wards Diskussion der studentischen Proteste gegen den modernistischen Stadtumbau der 1960erJahre anhand eines einzigen zeitgenössischen Artikels
aus dem Magazin „Der Spiegel“ dazu, dass der Autor
Forderungen nach Erhalt der Bausubstanz („Alle Häuser sind schön – Hört auf zu bauen“) übersieht und die
fundamentale Kritik der „Diagnose“-Ausstellung von
1968 am „Prinzip des Tauschwerts von Raum“ negiert
(S. 67).
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