Schimpfen auf Kerry

Offen neoliberal
WASHINGTON ALVES/REUTERS
Im Sommer drängte Brasiliens rechtes Establishment Präsidentin Dilma
Rousseff aus dem Amt. Seither wurden viele Errungenschaften früherer
Jahre beseitigt. Die neue Regierung
hat den Armen den Kampf angesagt. Von Achim Wahl
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Investigativjournalist Ahmet Sik in der Türkei festgenommen. Prozessauftakt gegen
Schriftsteller, Zeitungsmacher und Menschenrechtler. Von Nick Brauns
Bereits am 3. März 2011 (Foto) war Ahmet Sik wegen seines Buchs über die Gülen-Bewegung in Istanbul festgenommen und für ein Jahr inhaftiert worden
I
ch werde festgenommen«, twitterte der prominente türkische
Journalist und Autor Ahmet Sik
am Donnerstag, nachdem die Polizei
in seine Istanbuler Wohnung eingedrungen war. »Ich werde wegen eines Tweets zur Staatsanwaltschaft gebracht.« Gegen Sik, der 2014 mit dem
UNESCO-Preis für Pressefreiheit ausgezeichnet worden war, werde wegen
»öffentlicher Verächtlichmachung der
Türkischen Republik, der Justiz, des
Militärs und der Sicherheitsbehörden«
sowie wegen »Terrorpropaganda« ermittelt, meldete die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu. Um welche
Äußerungen von Sik, der die autoritäre
Herrschaft von Staatspräsident Recep
Tayyip Erdogan mehrfach in die Nähe
des Faschismus gerückt hatte, es genau
geht, ist nicht bekannt. Aufgrund des
geltenden Ausnahmezustandes darf
Sik erst nach fünf Tagen einen Anwalt
sehen.
Der linksgerichtete Investigativjournalist ist vor allem als scharfer Kritiker
der Bewegung des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen bekannt
geworden, die von der türkischen Regierung für den Putschversuch vom
Juli 2016 verantwortlich gemacht wird.
Gülen nahestehende Staatsanwälte
hatten Sik im Jahr 2011 aufgrund seines noch vor Erscheinen verbotenen
Buches »Die Armee des Imams« über
die Unterwanderung der Polizei durch
die Gülen-Bewegung für ein Jahr in
Untersuchungshaft genommen. Nach
dem Bruch zwischen der Regierungspartei AKP und der Gülen-Bewegung
erinnerte Sik weiter daran, dass die
nunmehr als »Staatsfeind Nummer
eins« verfolgte Sekte ihren Einfluss
der jahrelangen Förderung durch Erdogan zu verdanken hatte. »Die GülenBewegung und die AKP sind beide
Komplizen im Verbrechen«, schrieb
Sik im Oktober. »Fethullah Gülen und
Recep Tayyip Erdogan gehören gemeinsam vor Gericht.«
In Istanbul begann am Donnerstag
vor dem 23. Strafgericht in Caglaya
zudem der Prozess gegen neun Herausgeber und Mitglieder des Redak­
tionsbeirates der prokurdischen Tageszeitung Özgür Gündem. Die Zeitung war im August per Dekret auf
Grundlage des Ausnahmezustandes
als vermeintliches Sprachrohr der
verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans
PKK verboten worden. Unter den Angeklagten befinden sich die Schriftstellerinnen Asli Erdogan und die
Linguistin Necmiye Alpay, die seit
August inhaftiert sind. In ihrem Falle
hat die Staatsanwaltschaft jedoch die
Entlassung beantragt. Angeklagt sind
weiterhin der Verleger Ragip Zarakolu und die Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Eren Keskin. Sie
werden der PKK-Mitgliedschaft und
der Terrorpropaganda beschuldigt,
die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft. Der seit Jahrzehnten als
Menschenrechtsanwältin tätigen Eren
Keskin wird vorgeworfen, als Chefredakteurin der Özgür Gündem »eine
PKK-Kämpferin mit der Feder« gewesen zu sein. Der 49jährigen Asli
Erdogan wird in der Anklageschrift
bereits als Terrorpropaganda angekreidet, dass sie ihren bekannten Namen als Romanautorin für die Özgür
Gündem genutzt habe. Zudem habe
sie Mitglieder der kurdischen Guerilla in ihren Texten menschlich dargestellt. »Im Herausgreifen einiger
Worte aus acht Büchern und Hunderten Artikel spiegelt sich der Geist der
mittelalterlichen Inquisition wider«,
befand Asli Erdogan ihrer Prozesserklärung.
Nach Angaben der Türkischen Journalistenvereinigung TGC befinden
sich derzeit im Land am Bosporus fast
150 Journalisten in Haft.
Schimpfen auf Kerry
Altbekannte Positionen zum Nahostkonflikt rufen plötzlich Empörung hervor
D
ie demnächst aus dem Amt
scheidende US-Administration unter Barack Obama macht
letzte Anstrengungen, um die »ZweiStaaten-Lösung« für den Nahostkonflikt zu retten. Die Argumente dafür
versuchte US-Außenminister John Kerry am Mittwoch in einer einstündigen
Rede zusammenzufassen.
Während Kerrys Worte von den Regierungen in Berlin, Paris und London sehr positiv aufgenommen wurden, erntete der Außenminister nicht
nur von israelischen Politikern von der
Rechten bis zur Mitte, sondern auch
von beiden Kongressparteien heftige
Kritik. Charles »Chuck« Schumer, voraussichtlich der nächste Fraktionschef
der Demokraten im Senat, warf Kerry
vor, er habe »die Extremisten auf beiden Seiten ermutigt«. Der demokratische Abgeordnete Eliot L. Engel, ranghöchster Vertreter seiner Partei im Außenpolitischen Ausschuss, klagte, dass
Kerrys Rede »keinen anderen Sinn«
gehabt habe, »als Israel Schwierigkeiten zu machen«. Der republikanische
Senator Rafael »Ted« Cruz bezeichnete
Kerry und Obama gar als »unermüdliche Feinde Israels«.
Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, worauf sich die scharfen Verurteilungen beziehen, da keiner der Kritiker konkrete Stellen der Ansprache
beanstandete. Was Kerry zur »ZweiStaaten-Lösung« vortrug, entsprach
den traditionellen Positionen, zu denen
sich seit dem Junikrieg 1967 alle USPräsidenten bekannt haben und denen
auch der Kongress nie widersprochen
hat. Was Kerry über die wachsende
Gefährdung dieses Konzepts durch palästinensischen Terror einerseits und
die Ausbreitung jüdischer Siedlungen
in den besetzten Gebieten andererseits
ausführte, entspricht außerdem dem
Diskurs, der seit Jahren in der israelischen Öffentlichkeit geführt wird.
Seit der Wahl von Donald Trump
zum künftigen US-Präsidenten hat sich
die Stimmung allerdings gewendet.
Dieser meldete sich auch am Mittwoch
zu Wort und sicherte Israel erneut seine
Unterstützung zu. Der israelische Bildungsminister Naftali Bennett machte
am Donnerstag klar, was er sich davon
verspricht: »Palästina wird von der Tagesordnung verschwinden«, sagte Bennett gegenüber dem Nachrichtenportal
Ynet.
Knut Mellenthin
PICTURE ALLIANCE / ABACA
SANA/DPA-BILDFUNK
Syrien: Armee verkündet
Waffenstillstand
Damaskus. In Syrien gilt ab Mitternacht ein landesweiter Waffenstillstand. Das teilte die Armee am
Donnerstag in einer Erklärung mit,
die von der amtlichen Nachrichtenagentur SANA veröffentlicht wurde.
Ausgenommen sind demnach aber
dschihadistische Terrororganisationen. Das Oppositionsbündnis
»Syrische Nationale Koalition«
(SNC) bekundete Unterstützung für
die Feuerpause und rief alle Kräfte
zu deren Einhaltung auf. Der Waffenstillstand war unter Vermittlung
Russlands und der Türkei zustande
gekommen. Russlands Präsident
Wladimir Putin gab am Donnerstag seinerseits in Moskau bekannt,
dass die syrische Regierung und die
»wichtigsten Kräfte der bewaffneten
Opposition« ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen hätten. Laut
Militär befinden sich darunter auch
mehrere islamistische Gruppen.
Laut Putin erklärten sich beide Seiten auch bereit, Friedensverhandlungen aufzunehmen.
(AFP/jW)
Siehe auch Seiten 6 und 8
Italiens Premier von EZB
»überrumpelt«
Frankfurt am Main. Die Mitteilung
der Europäischen Zentralbank
(EZB), dass die italienische Krisenbank Monte dei Paschi di Siena
mehr Geld als gedacht brauche,
hat Ministerpräsident Paolo Gentiloni überrascht. »Es hat mich ein
bisschen überrumpelt«, sagte der
Regierungschef am Donnerstag bei
einer Pressekonferenz zum Jahresabschluss in Rom. Am Montag war
bekanntgeworden, dass die EZB bei
dem schwer angeschlagenen Institut
eine Kapitallücke von 8,8 Milliarden
Euro sieht – zuvor war stets von fünf
Milliarden Euro die Rede gewesen.
Die Einschätzung der EZB sei nicht
anfechtbar, sagte Finanzminister
Pier Carlo Padoan der Zeitung Il
Sole 24 Ore am Donnerstag. Es wäre
aber nützlich zu erfahren, anhand
welcher Kriterien die EZB ihre
Neubewertung vorgenommen habe,
kritisierte Padoan. (dpa/jW)
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