Soziale Sicherheit ⁄ CHSS ⁄ 4 | 2016 FAMILIE, GENERATIONEN UND GESELLSCHAFT Vorschriften für die Eröffnung von Betreuungseinrichtungen Philipp Walker, Annick Baeriswyl, Elvira Hänni; Ecoplan Staatliche Überregulierung wird gerne und häufig als Ursache fehlender Betreuungsplätze genannt. Doch fehlte bis anhin eine Übersicht über die geltenden Vorschriften für die Eröffnung von Betreuungseinrichtungen. Erstmals liegt nun eine Bestandsaufnahme und Beurteilung der Regulierung vor. Im Postulat Quadranti «Abbau von bürokratischen Hürden und Vorschriften bei der Kinderbetreuung im ausserfami liären Bereich» vom September 20131 wurde der Bundesrat aufgefordert, die Bürokratie und Auflagen bei der Bewil ligung von Plätzen für die familienergänzende Kinderbe treuung zu prüfen. Im Auftrag des Bundesamts für Sozi alversicherungen wurden deshalb erstmals die Vorgaben untersucht, die auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene für die Eröffnung von Kindertagesstätten und Tagesstruktu ren für Schulkinder gelten. Im Zentrum der Analyse standen die Bedingungen, die eine Betreuungseinrichtung bau(-po lizei-)lich, aber auch beim Brandschutz, bei der Unfallverhü tung, Hygiene und Lebensmittelsicherheit und beim Nach 1 weis der Wirtschaftlichkeit erfüllen muss, bevor sie ihren Betrieb aufnehmen kann. Für die Bestandsaufnahme wurde in einem ersten Schritt die bestehende Regulierung erfasst. Anschliessend wurden in den Kantonen Zürich, Luzern, Genf und Frei burg 14 teilstrukturierte Gespräche mit Betreibern kürz lich eröffneter Betreuungseinrichtungen durchgeführt, um ihre Erfahrungen mit den Regulierungsvorgaben zu doku mentieren und die Akzeptanz der Vorgaben zu beurteilen. BRANDSCHUTZ Auf Bundesebene verlangt zum einen die Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern (PAVO) die Erfüllung anerkannter Brandschutzvorgaben. Zum ande ren gelten die Brandschutzvorschriften der Vereinigung kantonaler Feuerversicherungen (VKF). Betreuungsein Postulat 13.3980: http://bit.ly/2drM2YC. 31 Soziale Sicherheit ⁄ CHSS ⁄ 4 | 2016 richtungen müssen die gleichen Anforderungen wie Schu len erfüllen, einzig für die Fluchtwege in Kindertagesstät ten gelten spezielle Vorschriften (maximale Länge von 20 Metern; Erschliessung von Schlafräumen auf Zwischenge schossen sowie Galerien durch horizontale und vertikale Fluchtwege). Zudem gibt die Verordnung 4 zum Arbeitsge setz (ArGV 4) eine Mindesttürbreite von 90 Zentimetern vor. Da die Brandschutzvorschriften der VKF für alle Kan tone verbindlich sind, beschränken sich kantonale und kom munale Auflagen meist auf die Präzisierung der nationalen Vorgaben. Überall muss die kantonale Gebäudeversicherung bei einem Neubau sowie in der Regel bei einer Umnutzung prüfen, ob die Brandschutzbestimmungen der VKF einge halten werden. Auch für die Fluchtwege gelten die nationa len Vorgaben, wobei einige Kantone präzisieren, dass Flucht wege und Notausgänge gut signalisiert sein müssen. Einige wenige Kantone machen bezüglich der Brandabschnittsbil dung strengere Vorgaben als die VKF: So müssen in Zürich alle Schlafräume, die sich nicht auf dem Erdgeschoss befin den, einen eigenen Brandabschnitt bilden, dasselbe gilt im Kanton Aargau für alle drei- oder mehrgeschossigen Bauten. Daneben geben einige Kantone organisatorische und tech nische Massnahmen vor, z. B. einen sichtbaren und leicht zugänglichen Feuerlöscher oder eine automatische Brand meldeanlage. Trotz der detaillierten Vorgaben behindert der Brand schutz den Eröffnungsprozess einer Betreuungseinrichtung selten. Die Auflagen gewähren eine hohe Sicherheit und wer den darum in der Regel als sinnvoll empfunden. In Einzelfäl len führten der Einbau von Brandschutztüren und spezifi sche Anforderungen an die Fluchtwege zu Schwierigkeiten. Zudem spezifizieren sie bauliche und organisatorische Mass nahmen, die sich im Detaillierungsgrad und Umfang stark unterscheiden. Während einige Kantone wie Obwalden, Tes sin und Bern eher allgemein auf die Leitlinien der bfu ver weisen, kennen andere Kantone wie Genf oder Waadt sehr detaillierte Regelungen, die wiederum auch nicht alle ver bindlich sind. Die Fallstudien zeigen, dass die Vorgaben zur Unfall verhütung in der Praxis selten zu Schwierigkeiten führen. Im Grossen und Ganzen werden sie als gut nachvollzieh bar empfunden. Zudem fallen durch die Massnahmen sel ten hohe Kosten an. In Einzelfällen stellten verschiedene Ämter widersprüchliche Anforderungen oder die involvier ten Bewilligungsinstanzen waren sich uneins, weil sie ihren Ermessensspielraum unterschiedlich interpretierten (bei spielsweise unterschiedliche Anforderungen an die Ausge staltung eines Treppengeländers oder eines Fensterschut zes). WOHNHYGIENE UND LEBENSMITTELSICHERHEIT BZW. -HYGIENE Die PAVO verlangt eine gesunde und abwechs lungsreiche Ernährung, zudem müssen die Einrichtun gen den anerkannten Anforderungen an die Wohnhygi ene entsprechen. Das Bundesgesetz über Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände spezifiziert die Anforderungen an die Lebensmittelhygiene und die Lebensmittelsicherheit. Folglich gelten für Kindertagesstätten und Tagesstruktu ren für Schulkinder grundsätzlich die gleichen lebensmit telrechtlichen Vorschriften wie für alle anderen Betriebe, die mit Lebensmitteln arbeiten. Auch Einrichtungen, die das Mittagessen nicht selbst kochen, müssen die Anforde rungen erfüllen, allerdings kommen einzelne Auflagen nicht zur Anwendung (z. B. Einhaltung der guten Herstellungspra xis). Kantonale Ergänzungen zur (Wohn-)Hygiene betreffen meistens den Betrieb der Betreuungseinrichtung und nicht die Eröffnungsphase. Einige Kantone kennen jedoch umfas sende Ergänzungen, die bereits einen kleinen Aufwand vor der Eröffnung zur Folge haben können (z. B. Erstellen eines Reinigungsplanes). Da der Bund bereits viel vorgibt, ist die Lebensmittelsi cherheit und -hygiene in den Kantonen relativ einheitlich geregelt. Die Kantone halten sich entweder an die bundes rechtlichen Vorgaben oder präzisieren den bestehenden UNFALLVERHÜTUNG Die PAVO regelt die Unfallverhü tung insofern, als sie eine Förderung der körperlichen und geistigen Entwicklung der Kinder sowie die Sicherstellung einer ärztlichen Überwachung vorschreibt. Ferner erlässt die Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu) Leitlinien für die Gestaltung einer gefahrenarmen, kindgerechten Umge bung, die aber nicht rechtsverbindlich sind. Die baulichen Sicherheitsauflagen der Kantone und Gemeinden sind für Kindertagesstätten etwas umfassender als für schulische Tagesstrukturen. Die meisten Kantone ver langen den Nachweis eines Sicherheits- und Notfallkonzepts. 32 familie, generationen und gesellschaft ⁄ Vorschriften für die Eröffnung von Betreuungseinrichtungen Spielraum, den sie bezüglich Kücheninfrastruktur haben. Ein Grossteil der Kantone verlangt, dass die Betreuungs einrichtungen ein Hygienekonzept bzw. eine Dokumenta tion zur Selbstkontrolle einreichen. Einige wenige Kantone gehen punktuell weiter, z. B. sieht der Kanton Bern die Mög lichkeit vor, die Selbstkontrolle in Tagesstrukturen an die Speiseproduzenten zu delegieren. Vereinzelt werden die Anforderungen an die Lüftungen präzisiert. Die Vorgaben zur (Wohn-)Hygiene und Lebensmittel sicherheit bzw. -hygiene geniessen bei den Befragten eine hohe Akzeptanz, unter anderen weil sie in der Regel nicht zu hohen Kosten führen. Eine Person merkte aber an, dass gerade die Vorgaben für die Kücheninfrastruktur kleine Einrichtungen belasten können. Eine Betreuungseinrich tung konnte aufgrund von Denkmalschutzauflagen die vor geschriebene Lüftung für die Küche nicht übers Dach ein bauen und sah sich deshalb gezwungen, ihr Essen bei einem Cateringservice zu bestellen. separate – Toiletten einzurichten sind. Unklar ist, wie strikt die Vorgaben zu den Toiletten bei einer Umnutzung eines Gebäudes vollzogen werden, da der Einbau zusätzlicher Toilettenanlagen in ein bestehendes Gebäude kosteninten siv resp. nicht in jedem Fall machbar ist. Beim Lärmschutz machen nur die Kantone Luzern und Zürich höhere Aufla gen. Beide verlangen einen guten Schallschutz nach innen und nach aussen. Das hindernisfreie Bauen ist vor allem bun desrechtlich geregelt. Aargau, Basel-Landschaft und Bern präzisieren marginal, was sie unter dem Begriff «hindernis frei» verstehen. Gemäss dem Prinzip der Verhältnismässig keit müssen die Vorgaben zum hindernisfreien Bauen bei bestehenden Gebäuden nicht in jedem Fall erfüllt werden. Einige Kantone verlangen einen Situationsplan und die Ver wendung gesundheitsverträglicher Baustoffe. Die Auswirkung der bau(-polizei)lichen Vorgaben auf den Eröffnungsprozess einer Betreuungseinrichtung hängt unter anderem von der Zweckmässigkeit der Räumlich keiten ab. Gerade bei Neubauten lassen sich die Auflagen bereits bei der Bauplanung berücksichtigen. Im Gegensatz zu bestehenden Räumlichkeiten müssen Neubauten aller dings häufig strengere Vorschriften erfüllen, z. B. bei der Barrierefreiheit. Wie beim Brandschutz kann die bau(-poli zei)liche Regulierung insbesondere bei der Umnutzung älte rer Gebäude zu hohen Kosten führen. BAU(-POLIZEI) Für Betreuungseinrichtungen gelten grundsätzlich dieselben bau(-polizei)lichen Vorschriften wie für andere Bauvorhaben. Die PAVO schreibt vor, dass das Gesuch für eine Betriebsbewilligung Angaben zur Anord nung und Einrichtung der Wohn-, Unterrichts- und Freizeit räume enthalten muss. In vielen Kantonen kommen zudem die Normen des Schweizerischen Ingenieur- und Architek tenvereins (SIA) zur Anwendung, dies insbesondere bei der Regelung des Schallschutzes, beim Bau von Geländern und Brüstungen sowie in Bezug auf die Barrierefreiheit. Mit Aus nahme der Brandschutzvorschriften der VKF unterscheiden sich die bau(-polizei)lichen Anforderungen der Kantone. Alle Kantone verlangen eine Kopie der Bau- oder Umnut zungsbewilligung. Darüber hinaus beschreiben Basel-Land schaft und Solothurn, unter welchen Bedingungen Betreu ungseinrichtungen als zonenkonform gelten. Da die PAVO nicht festhält, wie eine Betreuungseinrichtung auszustat ten ist, gelten hierfür fast überall kantonale Auflagen: Meist sehr allgemein, wird eine bedürfnisgerechte, zweckdienliche und kindersichere Ausstattung verlangt. Für die Sanitäran lagen schreibt die Hygieneverordnung des Bundes vor, dass genügend Toiletten zur Verfügung stehen müssen; wobei die Kantone in eigener Kompetenz und damit unterschiedlich entscheiden, wie viele – und für welche Personengruppen NACHWEIS EINER WIRTSCHAF TLICHEN GRUND LAGE Gemäss PAVO darf der Betrieb einer Betreuungs einrichtung nur bewilligt werden, wenn die Initianten eine gesicherte wirtschaftliche Grundlage ausweisen. Die Bewil ligungsinstanzen verlangen hierfür häufig eine Bedarfsana lyse, einen Budget- oder Finanzplan, Annahmen zur Aus lastung, das Lohnreglement und einen Businessplan. Der zeitliche und finanzielle Aufwand für den Nachweis der wirtschaftlichen Grundlage halten sich in Grenzen. Prob leme entstehen bei mangelhaftem Finanzwissen der Initi anten. Die Gesprächspartner sind sich einig, dass eine sorg fältige Finanzplanung, ungeachtet allfälliger staatlicher Auflagen, eine zentrale Voraussetzung für die Gründung einer Einrichtung darstellt. FAZIT UND EMPFEHLUNGEN Die kantonalen Vorgaben, stützen sich meist stark auf Bundesrecht und geben dieses 33 familie, generationen und gesellschaft ⁄ Vorschriften für die Eröffnung von Betreuungseinrichtungen entweder materiell wieder oder präzisieren es. Sie werden mehrheitlich als sinnvoll und zweckmässig empfunden. Kos tenrelevant sind insbesondere der Brandschutz und bau(-po lizei)liche Weisungen. Zudem können der Einbau oder der Umbau einer Küche zu hohen Kosten führen. Letztlich zeigt sich, dass zur Eröffnung einer Einrichtung viel Wissen aus ganz unterschiedlichen Bereichen notwendig ist. Probleme entstehen dort, wo die Richtlinien einen gewis sen Ermessensspielraum zulassen. Der Vorteil behördlicher Entscheidungsbefugnis liegt darin, dass Situationen indi viduell angemessen beurteilt werden können. Der Nachteil liegt in der potenziell unterschiedlichen Auslegung eines Sachverhalts durch verschiedene Personen. Aus der eingehenden Analyse des Regulierungsumfelds für die Eröffnung von Betreuungseinrichtungen lassen sich fünf Empfehlungen ableiten: Behörde. Auch könnte eine Gemeinde den Initianten geeig nete Lokalitäten vermieten und bei neuen Überbauungen entsprechende Räumlichkeiten fördern. K ANTONALE UND KOMMUNALE STARTHILFEBEITRÄGE Auch wenn die Vorgaben weitgehend akzeptiert sind, können sie im Einzelfall zu hohen Investitionskosten führen. Die Kantone oder Gemeinden können diese im Rah men einer finanziellen Starthilfe übernehmen oder mittra gen, aber auch zinslose Darlehen gewähren. REGELMÄSSIGER INFORMATIONS- UND ERFAHRUNGSAUSTAUSCH Die zuständigen Behörden sollten sich regel mässig austauschen. In mehreren Regulierungsbereichen bestehen bereits Strukturen, die für den fachspezifischen Austausch genutzt werden. Sie sind bestens geeignet, um darin auch die Unterschiede im Vollzug zu diskutieren. Dabei soll dieser nicht vereinheitlicht, jedoch kritisch hin terfragt und diskutiert werden. Ergänzend empfehlen wir den themenübergreifenden Austausch unter den verschie denen Fachbehörden eines Kantons. ANPASSUNG DER GESETZLICHEN GRUNDLAGEN NICHT NOTWENDIG Es drängen sich keine Anpassungen der gesetzlichen Grundlagen auf. Die davon abgeleiteten Vorga ben lassen einen angemessenen Ermessensspielraum zu und sind weitgehend akzeptiert. LITERATUR Walker, Philipp; Baeriswyl, Annick; Hänni, Elvira; Meuli, Nora (2016): Regulierungen für die Eröffnung einer Einrichtung der familienergänzenden Kinderbetreuung; [Bern: BSV]. Beiträge zur sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 11/16: http://bit.ly/2gkX5ld. LEITFADEN MIT GOOD-PRACTICE-BEISPIELEN Einige Kantone haben die wichtigsten Informationen für die Grün dung einer Betreuungseinrichtung auf einer Homepage, in einem Ordner oder in der Form einer Checkliste mit Doku mentenvorlagen zusammengefasst. Wir empfehlen Kanto nen, die noch nicht über entsprechende Hilfestellungen ver fügen, deren Einführung zu prüfen. Auf nationaler Ebene können die Fachverbände Kibesuisse, PRo Enfance sowie Bildung + Betreuung Übersichtsdokumente erstellen. Alle Informationen wären mit Good-Practice-Beispielen zu ergänzen, die v. a. den Umgang mit persönlichem Ermessen beispielhaft aufzeigen. Philipp Walker MSc in Economics, Senior Consultant Ecoplan. [email protected] Annick Baeriswyl MSc in Psychology, Consultant Ecoplan. [email protected] BERATUNG BEI DER SUCHE NACH RÄUMLICHKEITEN Je besser sich Liegenschaften und Räumlichkeiten für die Ein richtung einer Betreuungseinrichtung eignen, desto rei bungsloser und kostengünstiger verläuft der Eröffnungs prozess. Um Interessierten allfällige Massnahmen und damit verbundene Kostenfolgen aufzuzeigen, empfiehlt sich eine vorgängige Prüfung der Räume durch die zuständige Elvira Hänni MSc in Economics, Junior Consultant Ecoplan. [email protected] 34
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