die blutrote kontokarte

DIE BLUTROTE KONTOKARTE
Die wahre Seele eines Menschen zeigt sich selten, wenn er Schönwetterkapitän auf ruhiger See ist. Sie kommt zum Vorschein, wenn es stürmt und die
Wellenberge aufs Deck stürzen. Im Augenblick der Gefahr, wenn das Schiff
zu kentern droht, sieht man, wie seetauglich der Mensch ist. Woolf und die Rose
kletterten in den mit Jeansstoff bezogenen Jeep von Jean. Ein schickes Unikat.
Die Stille im Auto zitterte vor Gefahr. Man konnte die Luft förmlich schneiden, so
schwül und schwer war sie. Woolf tropfte die Sitze nass. Er starrte verbittert ins
Nichts und kaute Fingernägel. Die Rose sah schwermütig aus dem Fenster.
Sie wollte nicht hier sein. Sie sehnte sich weit weg. Doch wie konnte sie all das
abbrechen und hinter sich lassen? Ohne dass es ihre Seele verfolgte? „Can I let it go
or will it haunt my soul?“ Jean hatte die vorletzte CD des seligen Joe Cokker angeschmissen. Seine einzigartigen Schmerzensschreie spiegelten den Zustand der
Rose perfekt wider. „Alter. Mach die Scheiße aus! Du hast hier den King of Rock im
Auto!“, brüstete sich Woolf, obwohl sein Anblick im Moment so gar nicht dem eines
Rockgottes entsprach.
Karen sah das anders. Sie streichelte Woolf mitfühlend über die durchs
Salzwasser wieder drahtig gewordenen Locken. Nichts war anrührender als
ein Macho mit angekratztem Schutzschild. Seine sensible Seite schien durch.
Ihr Mutterinstinkt überwältigte die heißblütige Spanierin. Er war doch bloß ein
unartiger Bengel ... Sie zog sein langes Kinn tröstend an ihren berstenden Busen.
Die Eifersucht stach tief in Nikkis Herz. Warum nur liebte sie ihn noch immer so
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sehr? Tat er doch alles dafür, ihre Gefühle für ihn zu verletzen und zu vernichten?
sekündlich mehr in sie verliebt. Er zog in ihr kleines Haus in Kokosnuss Groove ein
Doch Liebe ist stärker als Stolz. Wieder einmal war es an der Rose, die Situation zu
und bestritt ihren Lebensunterhalt als Dachdecker. Bei den vielen Hurrikans in
retten. „Guys. Es ist immer noch THANKSGIVING. Gehen wir zur Feier des Tages
Florida ein sehr einträgliches Geschäft!
ins Restaurant Le Petit Français!“ Zugegeben: Das war nicht vernünftig angesichts
des blutroten Standes ihrer Kontokarte. Doch die einzige Möglichkeit, aus dem
Doch seine Lungen spielten nicht mit. Der Teer verklebte sie. Er war retired
höchstgradig blamablen Thanksgiving doch noch einen Festtag zu machen ... Jean
und genoss das Leben in der Groove. Während Karen verzweifelt versuchte, sich als
und Karen stimmten freudig zu. Selbst Woolfs Mundwinkel verzogen sich zu einer
Taschendesignerin zu etablieren. „Und wovon fi nanzierst du dein Start-up?“, legte
Art Lächeln. Jean hatte zwischenzeitlich AC/DC aus den Kassettenbeständen gekr-
die kluge Rose den Finger in die Wunde. Karen wurde rot. „Äh. Eigentlich wollten
amt. „I’m on a highway to hell“ tönte es freudig aus den Böse-Boxen. Alle sangen
wir Peter Payer heute um ein Investment anhauen. Schließlich ist Thanksgiving.
lautstark mit. Sie waren (naja nicht mehr ganz so) jung, aber umso freier und
Das stimmt ihn immer sentimental. Da kann man fast alles von ihm haben!“ Jetzt
wilder. Niemand konnte ihnen das nehmen ...
grinste Nikki breit. „Zwei Dumme, ein Gedanke!“ Sie zauberte das Private Placement Booklet aus der Tasche und erntete Bewunderung für das meisterhaft
Euphorisch, einander umarmend, fielen sie in das kleine französische
gestaltete und ausgearbeitete Luxuswerk. „Auf das Big Business! Ran an die Milli-
Restaurant ein. „Champagner für alle!“, konnte es Woolf mal wieder nicht lassen,
onäre!“, rief Woolf seinen Schlachtruf aus. Sie stießen klirrend darauf an. Heute
den Krösus zu geben. Sie nahmen auf der hölzernen Veranda Platz und bestellten
waren sie nicht nur Könige, sondern Götter!
dreimal das große Thankgiving Menue. Nikki gönnte sich Tuna Tartar, den unvermeidlichen Tomatensalat und gegrillten Loup de Mer. Keine Sättigungsbeilage.
Der Kater kam mit der Rechnung. Nikki wurde so blutrot wie der Konto-
Keinen Nachtisch. Dazu drei Flaschen St. EineMillion für die Fleischfresser und
stand, als der Kellner ihr die Kredit-Karte mit einem mitleidigen Kopfschütteln
eine Flasche Sancerre Rosé für die Rose. Das Essen, der Wein und die lauschige
zurückgab. Woolf verzog sich auf die Toilette. Immer wenn man ihn brauchte, war
Atmosphäre tauchten den Tag in ein zauberhaftes Licht. Jean erzählte von den Auf
er weg. Nikki zog resignierend die Firmenkarte aus dem Portemonnaie. Da waren
und Abs seines Lebens. Er war Schweizer und Lebenskünstler. Ähnlich wie bei
genau noch 5.000 Bucks drauf. Das war ein teures Thanksgiving! Kaum hatte sie
Woolf und der Rose war aus einem Urlaub in Miami der Entschluss entstanden,
sich einen Bewirtungsbeleg geben lassen – Betreff: Beratung Business-Plan
in diesem Tropenparadies zu bleiben. Er hatte Karen hier kennengelernt und sich
Taschendesign –, erschien Woolf zurück auf der Veranda. „Leute. Der Abend ist zu
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schön, um schon zu enden! Lasst uns an die Bar vom KokosnussWalk gehen.
Tageseinnahmen. Du warst der Letzte auf der Toilette. Die Kohle lag da gegenüber
ICH LADE EIN!“ Die Rose hob erstaunt die Augenbrauen. Das konnte sie inzwi-
direkt am Tresen. Sag bitte nicht, dass du das Geld gestohlen hast!“ Woolfs Gesicht
schen so gut wie Leonard Nimroy aus Star Track. Woher hatte Woolf denn das Geld?
verdunkelte sich sekündlich. „Die spinnen doch! Ich hab doch deren Drecksgeld
nicht nötig!“, sprach er und wendete sich wieder Wichtigerem zu. Er versenkte den
Der hatte es schon wieder eilig fortzukommen vom kleinen Franzosen.
Er zog die Rose hastig vom Stuhl. „Schnell, ich habe DURST!“ Wie durstig konnte
Restchampagner aus ihrem Schuh in Karens Dekolleté und machte sich daran, ihn
von der salzig-sündigen Haut zu lecken.
seine Rockerseele denn noch sein? Sie schaute skeptisch auf die leer getrunkenen
Flaschen am Tisch und ließ sich, auf den Stilettos stolpernd, auf die Bayview Road
Nun erschien eine auff ällig animalische Gestalt mit verschränkten Armen
katapultieren. Jean und Karen folgten im Galopp. Im Hafen ihrer Lieblingsbar am
vor der Bar. „Darf ich mich vorstellen? Claude de Rudolpho. le Chef du Restaurant
KokosnussWalk angekommen, wurden sie lautstark begrüßt vom Barkeeper ihres
Le Petit Français.“ Die Rose blickte ihn erkennend an. Er hatte verdammt viel
Vertrauens. Als wären sie verschollene Ertrunkene. In der Tat. Ihre Kehlen waren
Ähnlichkeit mit dem bekannten deutschen Schauspiel-Bösewicht, der durch seine
schon wieder so ausgetrocknet, als würden sie inmitten des Ozeans verdursten.
Rollen in DAS BOOT und JAMES BOND in Film, Funk und Fernsehen bekannt war.
Kaum hatten sie eine köstlich-kalte Flasche Ruinhart Rosé-Champagner vor sich,
Seine vernarbte Haut hatte offensichtlich schon einige Schläge eingesteckt. Die
klingelte das Handy der Rose Alarm. „Excusez-moi. Ici Claude de Rudolpho, aus
dunklen Augen waren hinter einer schwarzen Sonnenbrille versteckt. Die schwar-
dem Petit Français. Madame Rose. Je suis desolé. Ische glaube, Ihr Mann hat
zen halblangen Haare hatte er zuhälterhaft nach hinten gegelt. Der schwarze
genommen den Envelope mit dem Tagesumsatz. Es tut mir leid. Kommen Sie bitte
BrioNie-Anzug unterstrich die muskulöse Kraft des kampferprobten Mega-Machos.
und bringen zurück l’envelope et l’argent!“ Die Rose traute ihren Ohren nicht. „Das
Er baute sich vor Woolf auf. Mit der Stimme eines Wrestlers und lang auseinander-
kann nicht sein!“, hauchte sie errötend in den Hörer. „Ich frage meinen Mann
gezogenen Lauten gab er dem Woolf das Ultimatum. „Naaa, Alter. Ich glaube, du
und rufe zurück!“ Sie legte auf. Aus den Augenwinkeln schielte sie zu Woolf, der
hast da was, das mir gehört.“ Bei diesen Worten entschränkte er seine Arme und
gerade Champagner aus dem Schuh von Karen trank und sich auff ührte wie Gott in
berührte die Rose besitzergreifend am Rücken. Woolfs Blick verfi nsterte sich.
Frankreich. „Ähhh, Woolf. Kommst du mal kurz?“ Er blickte genervt. Was hatte
„Ähähäh. Du irrst dich. Ich bin der King of Rock. Ich besitze nur, was mir zusteht!“
seine gestrenge Alte denn jetzt schon wieder? Sie zog ihn zur Seite und fragte ihn
Doch seine Stimme verriet Furcht. Claude de Rudolpho schnappte sich das Messer
flüsternd: „Das Petit Français rief gerade an. Die vermissen den Umschlag mit den
von der Bar, mit dem der Barkeeper die Limonen zerkleinerte. „Looos jeeeetzt. Gib
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mir mein Geld zurück. Sonst zerschneide ich dich zu Schniiiipseln!“ Er trat auf
Ihre Liebe ad acta zu legen, um ihr Herz, ihre Seele und ihre Zukunft zu retten.
Woolf zu und zeigte mit dem Messer auf dessen Hosenstall. Dann zerschnitt er links
Bevor es zu spät war.
davon die Hose. Woolf war Linksträger. Er wimmerte erbärmlich. Sein Juwel hatte
einen Kratzer abbekommen. Nun fuhr das Messer auf die rechte Seite. Die Ausbuch-
Schon hörte sie die Alarmglocken der anrauschenden Polizei. Der Barkeeper
tung dort bestand aus dem Bündel Geldscheine, das Woolf geklaut hatte. Claude
ihres Vertrauens hatte tatsächlich Anzeige erstattet. Gegen seinen Stammkunden!
griff sich das Bündel und schubste Woolf verächtlich weg. Der ging zu Boden und
Was tun? Wohin sich wenden? Hier im KokosnussWalk saßen sie auf dem
lag dort dämlich. Das wurde allmählich zur Routine am heutigen Erntedank-Sonn-
Präsentierteller. Nach Hause konnten sie auch nicht. Die Adresse war dem Restau-
tag. Jetzt griff sich Claude die Rose und knutschte sie in Hollywood-Manier mitten
rantbesitzer bestens bekannt. Mit Woolf war nicht mehr zu reden. Er ließ sich von
auf den Rosenmund. Seine fleischigen Lippen waren nun genauso himbeerrot
Karen trösten und den Kratzer in seinem überstrapazierten Pimmel verarzten. Er
wie die der Rose. Er wischte sie sich mit dem Handrücken ab. „Wir sehen uns
musste sich selbst retten. Mit einem traurigen Lächeln und hängendem Kopf lief
wieder, Rosenbaby! Verlass diesen Wichser! Er ist deine Liebe nicht wert! Du hast
Nikki langsam fort von der Bar, an der Woolf und Karen sich gegenseitig guttaten.
den Besten verdient! Du gehörst zu mir!“ Dann wandte er sich zum Barkeeper. „Ruf
Jean alleine bemerkte ihren Aufbruch. Angewidert von der allzu gewohnten Untreue
bitte die Bullen, Alter! Das Fliegengewicht gehört hinter Gitter!“ Er verbeugte sich
seiner spanischen Sirene, fühlte er sich hingezogen zu der schönen, für die wahre
wie bei einer Theaterauff ührung vor der Barbelegschaft. CIAO ...! Der zwielichtige
Liebe kämpfenden und zutiefst leidenden Rose. Er folgte ihr. „Rose, wohin gehst
Muskelprotz zog ab und hinterließ Eindruck.
du?“ Er hielt sie fest in seinem starken Arm. „Ich weiß es nicht! Ich habe kein
Zuhause mehr!“ Ihre grünen Augen zeigten das Ausmaß ihrer Verzweiflung. Sie
Wie viele Bewährungsproben kann eine Liebe ertragen, ohne zu zerbrechen?
zerflossen förmlich. Jean zog sie tröstend in seine Arme. „Alles wird gut!“, flüsterte
er ihr in das zarte Ohr mit dem Schlitz. Doch sie wusste: Es war genug. Endgültig.
Die Rose war durch die Berührung des muskulösen Schwerenöters ins Herz
„Wie soll denn alles gut werden?“ Jean schluckte. „Wie denn? Ich habe doch nichts
getroffen. Hatte er etwa recht? War Woolf ein Fliegengewicht, das hinter Gitter
und niemanden außer DEM DA!“ Er musste zugeben: Er konnte der Rose nicht
gehörte und es nicht verdiente, ihr Göttergatte zu sein? Sie schien an einem Punkt
wirklich helfen. Er war lungenkrank und von der Gunst seiner Karen abhängig. Die
angekommen, an dem nicht nur der Kontostand blutrot war. Die Soll-Bruchstelle
hatte eindeutig Partei für Woolf eingenommen und stand unter seinem Bann.
fühlte sie erreicht. Es war wohl wirklich an der Zeit, Woolf die rote Karte zu zeigen.
Nikkis Moment der Schwäche ging vorüber. Sie trocknete die Tränen an Jeans Hemd
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und befreite sich aus seiner Umarmung. „Ist schon gut. Ich fi nde meinen Weg! Kümmert ihr euch um Woolf!“ Sie stolzierte zittrig in die Nacht. „Where you going now?“,
tönten die Damn Yankees passenderweise aus den Boxen der Bar!
Wohin sollte sie gehen? Sie wusste es nicht!
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