Zentrale Inhalte

Repetitorium für Lehramtsstudierende
Sommersemester 2003
Einleitungswissenschaft Neues Testament
Ettl/ Häfner
Gattungen der synoptischen Tradition I: Die Wunderüberlieferung
1.
2.
Zur Terminologie
§
Es gibt im Neuen Testament keinen einheitlichen Begriff für Wunder bzw.
Wundererzählungen.
§
Die Synoptiker verwenden für die Wunder Jesu überwiegend den Begriff
„Machttaten/Krafterweise“ (griech. „dynameis“), in eher negativem Sinn findet
sich auch der Begriff „Zeichen“ (griech. „sçmeion“).
§
Das Johannesevangelium verwendet dagegen das Wort „Zeichen“ („sçmeion“
durchwegs in positivem Sinn für die Wunder Jesu.
§
Auch die alttestamentlich geprägte Kombination „Zeichen und Wunder“
(„sçmeia kai terata“) findet sich häufiger im NT (Mk 13,22; Apg 2,19.22 u.ö.;
Röm 15,19 u.a.).
Der religionsgeschichtliche Hintergrund: Wunder und Wundergeschichten in der
Antike
2.1 Das Wunderverständnis der Antike
§ Unterschied zwischen antikem und heutigem Wunderverständnis
§ Wichtige Aspekte des antiken Wunderverständnisses:
o Religiös-theologisches Wirklichkeits- und Weltverständnis
o Wunder besitzen Hinweischarakter: Zentral ist die Frage nach dem Wesen
und der Bedeutung der sich im Wunder manifestierenden Kräfte und
Mächte
2.2 Der hellenistisch-römische Hintergrund
(1) Der Heilgott Asklepios und seine Verehrung
§ Heil- und Kultstätten, z.B. in Pergamon, Epidauros, Kos: Religiöse Kuranstalten
§ Inkubationsschlaf / Heilschlaf
§ Votivtafeln bzw. Stelen mit Berichten über erfahrene Heilungen
§ Aufbau dieser Berichte: (1) Art des Leidens wird festgestellt
(2) Heilender Eingriff wird berichtet
(3) Heilerfolg wird konstatiert
§
Beispieltexte aus Epidauros:
Euhippos trug eine Lanzenspitze sechs Jahre lang im Kiefer.
Als er im Heilraum schlief, nahm ihm der Gott die Lanzenspitze heraus und
gab sie ihm in die Hände.
Als es Tag geworden war, ging er gesund heraus mit der Lanzenspitze in
den Händen.
Alketas von Halieis war blind.
Er sah einen Traum: Es träumte ihm, der Gott komme zu ihm und öffne mit
den Fingern seine Augen. Da habe er zuerst die Bäume im Heiligtum
gesehen.
Als es Tag geworden war, kam er gesund heraus.
(2) Wandernde Mantiker und religiöse Propagandisten
§ „göttliche Menschen“ / griech. „theioi andres“
§ Beispiel: Apollonius von Tyana (1. Jh. n.Chr.)
(3) Herrscher und Kaiser als Wundertäter
§ z.B. Wunderberichte über Vespasian (Heilung eines Blinden und eines
Lahmen)
2.3 Der jüdische Bereich: Wunder im Alten Testament
§ grundsätzlich: Zurückhaltung im AT gegenüber Wundern und Wundertätern
§ Grund: Das Heilungsmonopol liegt bei Jahwe
vgl. Ex 15,26: „Ich bin der Herr, dein Arzt.“
Dtn 32,39: „Ich bin es, der tötet, und der lebendig macht, ich habe
zerschlagen und ich werde auch heilen.“
§ Wunder sind auffällige Zeichen für Gottes sichtbares, heilmachendes Handeln
für den Einzelnen wie für das ganze Volk
§ aber auch das Wirken dämonischer Mächte kann sich in Wundern zeigen
§ auch rettende Erfahrungen können als Wunder interpretiert werden (vgl. Ps
107: Erreichen des Reiseziels, Befreiung aus Gefangenschaft, Genesung nach
Krankheit, Rettung aus Seenot)
§ Menschliche Wundertäter sind allenfalls „Vermittler“
§ vgl. 1 /2 Kön: Elia-Elischa-Zyklus
§ Im Frühjudentum verstärkte Entstehung von Wundergeschichten und Auftreten
von Wundertätern (z.B. Choni, der Kreiszieher)
3.
Gattungsspezifische Züge neutestamentlicher Wundergeschichten
3.1 Aufbau
(A) Einleitung:
Situationsschilderung – Auftritt der Personen
(B) Exposition:
Spannung – Charakterisierung der Not
(C) Zentrum:
Heilung
(D) Schluss:
Demonstration – Beglaubigung - Werbung
3.2 Motive / Topik
vgl. Motivgerüst!
2
3.3 Ein Beispiel: Mk 1,29-31
(A)
Einleitung: Mk1,29-30a
Motive:
Auftritt Wundertäters (M 1)
Auftritt Hilfsbedürftige (M 2)
Auftritt Begleiter (M 4)
Begegnung / Herstellung von Kontakt (M 10)
(B)
Exposition: Mk 1,30
Motive:
Charakterisierung der Not (M 11)
Information des Wundertäters (M 17)
(C)
Zentrum: Mk 1,31a-d
Motive:
Szenische Vorbereitung: Hinzutreten (M 29)
Berührung (M 30)
unauffälliger Vollzug (M 33)
Konstatierung des Wunders (M 37)
(D)
Schluss: Mk 1,31e
Motive:
Demonstration (M 39)
3.3 Gattungsmäßige Klassifizierung: Typen neutestamentlicher Wundergeschichten
(1) Heilungen / Therapien
§
Beispiele:
Mk 1,29-31
Mk 2,1-12
Mk 3,1-6
§
Vielfältige Krankheitsbilder: Fieber, Lähmung, Aussatz, Blutfluss, Blindheit
u.a.
(2) Dämonenaustreibungen / Exorzismen
§
Beispiele:
Mk 1,21-28
Mk 5,1-20
§
oft Abwehrversuche des Dämons
§
„Kampfcharakter“
3
(3) Totenerweckungen
§
Beispiele:
Mk 5,21-24.35-43
Lk 7,11-17
Joh 11,17-44
§
Steigerung einer Therapie
(4) Fernheilungen
§
Beispiel:
Lk 7,1-10
§
Steigerung einer Therapie
(5) Rettungswunder
§
Beispiele:
Mk 4,35-41
Mk 6,45-52
(6) Epiphanien / Erscheinungen
§
Beispiel:
Mk 6,45-52
Mk 9,2-10
Mt 28,9f.
(7) Geschenkwunder ?
§
Beispiele:
Mk 6,32-44
Mk 8, 1-10
Joh 2,1-12
(8) Straf- und Normwunder ?
§
umstritten, ob überhaupt im NT vorkommend
§
Beispiele eventuell: Mk 11,12-14.20
Apg 5,1-11
3.4 Zur Überlieferungsgeschichte neutestamentlicher Wundergeschichten
(1) Wachstum und Steigerung
Mk 10,46 è Mt 20,30
(2) Dubletten
Mk 6,32-44 è Mk 8,1-10
Mt 9,27-31 è Mt 20,29-34
4
(3) Erzählerische Konkretion
Mk 1,17 è Lk 5,1-11
(4) Übertragung von Motiven aus der Umwelt auf Jesus
Lk 7,11-17 vgl. Apollonius von Tyana (bei Philostrat, Vita Apollonii 4,45)
3.5 Die Deutung der Wunder in den synoptischen Evangelien
(1) Markus
§
Geheimnismotiv / Messiasgeheimnis: Wirken Jesu nur im Kontext von
Passion und Ostern verständlich
(2) Matthäus
§
Zurückdrängung der Wunder gegenüber Mk
§
entscheidend ist die Wortverkündigung Jesu
§
Wunder sind Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen (Mt 8,17 è Jes
53,4)
(3) Lukas
4.
§
Wunder als Zeichen der Heilszeit, die in Jesus angebrochen ist
§
Wunder als Zeichen der Zuwendung Gottes zum Menschen (Lk 4,18)
Theologische Relevanz: Die Bedeutung der Wunder im Rahmen des Wirkens und
der Verkündigung Jesu
4.1 Die Frage nach der Historizität der Wunder Jesu
§
§
4.2
Einerseits: Wirken Jesu als Therapeut und Exorzist unbestreitbar
Andererseits: Deutende und steigernde Ausgestaltung im Lauf der
Überlieferung: Wundergeschichten über Jesus sind „in den Sog von Ostern
geraten“ (J. Gnilka, Jesus 139).
Die Wunder im Rahmen des Wirkens Jesu
§
§
§
Gleichnisse als Illustration und Wundergeschichten als Demonstration der
Basileiabotschaft Jesu
Wunder als zeichenhafte Handlungen mit Hinweischarakter
Eschatologischer Charakter: Die Basileia Gottes und ihre Durchsetzung als
Hintergrund: Wunder sind sichtbare Zeichen des Anbruchs der Basileia (Lk
11,20)
5
§
§
§
Wunder als Hinweis auf die Selbstdurchsetzung Gottes in der Endzeit und auf
das Heil-Werden der ganzen Schöpfung
Wunder sind „christologische Entscheidungstexte“: Sie provozieren die Frage
nach der Besonderheit Jesu von Nazaret: „Wer ist dieser Jesus?“ (vgl. Mk
4,41)
Bedeutung des Glaubens (vgl. Mk 5,43; 10,52)
„Als apokalyptischer Wandercharismatiker steht Jesus singulär in der Religionsgeschichte. Er
verbindet zwei geistige Welten, die vorher nie in dieser Weise erbunden worden sind: Die
apokalyptische Erwartung universaler Heilszukunft und die episodale Verwirklichung
gegenwärtigen Wunderheils.“
(Gerd Theißen, Urchristliche Wundergeschichten [StNT 8], Gütersloh 1974, 274)
„Das einzigartige der Wunder Jesu liegt darin, dass gegenwärtig geschehenden Heilungen und
Exorzismen eine eschatologische Bedeutung zugesprochen wird. In ihnen beginnt eine neue
Welt. (…)
Nirgendwo sonst finden wir einen Wundercharismatiker, dessen Wundertaten das Ende einer
alten und der Beginn einer neuen Welt sein sollen. (…)
Die Gegenwart wird so im Kleinen zu einer Zeit des Heils – entgegen einem apokalyptischen
Pessimismus, der in der Gegenwart nur die große Krise sieht, in der die neue Welt in Schmerzen
geboren wird.“
(Gerd Theißen / Annette Merz, Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 21997, 279)
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