Nikolai Jünger - Kirchenkreis Wittstock

Hat uns das Glück verlassen? Tausende Kraniche, die Vögel des Glücks, haben sich in Linum
zu ihrer Reise in den Süden versammelt. Für viele ein faszinierendes Schauspiel. Am 9. Okt.
1989 hatten sich Menschen in Leipzig versammelt. Nach den Friedensgebeten in der
Nikolaikirche gingen sie auf dem Karl-Marx-Platz und setzten sich dann in Richtung
Innenstadtring in Bewegung. Es war der Höhepunkt der Montagsdemonstrationen. Von
70.000 Menschen ist die Rede. Polizisten, Soldaten und Kampftruppen waren aufmarschiert.
Das eigentliche Wunder war, dass der Einsatzbefehl zurückgenommen wurde. Obwohl das
Schlimmste befürchtet wurde, griffen die Einsatzkräfte nicht ein. Genau einen Monat später
fiel die Mauer. Das Ganze ist 27 Jahre her. Hat uns das Glück verlassen? Die Band Wir sind
Helden singt „Die Zeit heilt alle Wunder“.
Es gibt wieder Montagsdemonstrationen. Wie 1989 rufen die Demonstranten „Wir sind das
Volk!“. Was ich heute nicht höre, ist die Parole von damals: „Keine Gewalt!“
„Die Zeit heilt alle Wunder schon nach wenigen Jahren, nur noch Narben da, wo Wunder
waren.“, heißt es in dem Lied von Wir sind Helden. Für manche fühlt es sich so an. 27 Jahre
lang sahen sie die Kraniche ziehen und mit ihnen scheint das Glück für sie weitergezogen zu
sein.
Wer nimmt sich die Zeit und erklärt mir, wie ich das Glück beobachte? Ich wünsche mir
einen, der mich an die Hand nimmt und mir zeigt, dass wir nicht alleine sind. So wie die
Zugvögel, die weite Strecken überwinden, können auch wir das gemeinsam. Es braucht in der
alltäglichen Eile eine ganze Zeit, bis ich zur Ruhe komme und ihre Schönheit sehen kann.
Tanzende Gestalten auf einer weiten Bühne. Sie strecken ihr Gefieder in den Himmel. „Gott
nahe zu sein ist mein Glück“ heißt der letzte Liedvers aus Psalm 73. „Wen hätte ich sonst im
Himmel? Bei dir zu sein, das ist alles, was ich mir auf der Erde wünsche.“
Ich behaupte nicht, dass es allen gut geht. Das gab es nie und wird es wohl erst im Himmel
geben. Ich bin davon überzeugt, dass wir unseren Blick schärfen können – auf das Glück in
unserem Leben und darauf, wie wir andere glücklich machen können. Das Glück hat uns nicht
verlassen, es ist bei dir wie bei mir. Dass wir es nicht immer sehen, bedeutet nicht, dass es
nicht da ist. Und die Zeit? Die gibt es nicht bei Gott. Er wird die ewige Kraft oder kurz: Der
Ewige genannt. Heilen und Glücklichsein gibt es bei Gott jetzt und immer.
Pfarrer Nikolai Jünger