MEDIZINREPORT DIABETES MELLITUS Wie Datenbanken und Strukturen eine gute Versorgung ermöglichen ie viel kann eine strukturierte, auf Information, Prävention und frühe Therapie ausgerichtete Diabetesversorgung erreichen? Was bedeutet das für die behandelnden Ärzte, und welche Rolle spielen dabei moderne ITSysteme? In Israel zeigen innovative Health Maintenance Organisationen (HMO), wie eine moderne Diabetikerversorgung aussehen kann – und was sie erreicht. Strukturierte Diabetesprogramme werden in vielen Gesundheitssystemen genutzt, doch häufig fehlt die nötige Konsequenz bei der Umsetzung. Im israelischen Gesund- W A 2372 heitswesen ist das anders. Dort gibt es 4 HMOs, die die 8 Millionen Einwohner des Landes medizinisch versorgen. Sie verfügen teils über eigene Krankenhäuser und kooperieren eng mit Apotheken und niedergelassenen Ärzten. Arabische Bevölkerung hat hohe Diabetesinzidenz Diese Struktur gestatte eine sehr transparente, langfristig angelegte Versorgung, betonte Dr. Nicky Liebermann, Leiter der Abteilung Community Medicine bei der HMO Clalit im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt. Denn pro Jahr wechsle nicht einmal jeder hundertste Israeli seine HMO. Sowohl die Primär- als auch die Sekundärprävention seien für eine israelische HMO daher hoch attraktiv. Clalit ist die größte israelische HMO mit über 4,2 Millionen Mitgliedern. Liebermann und andere initiierten dort 1998 ein strukturiertes Versorgungsprogramm für Diabetespatienten. Denn Israel hatte und hat ein großes Diabetesproblem. Während die Diabetesinzidenz in der jüdischen Bevölkerung bei „normalen“ 4–8 % liegt, erreicht die arabische Bevölkerung Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 51–52 | 26. Dezember 2016 Foto: Can Stock Photo everythingpossible In Israel zeigen innovative Health Maintenance Organisationen (HMO), wie eine moderne Diabetikerversorgung aussehen kann – und was sie erreicht. MEDIZINREPORT Israels rund 10 %. Einzelne Zuwandergruppen, etwa aus Äthiopien, kommen auf bis zu 24 %. Was Clalit seit 1998 über Jahre hinweg umgesetzt hat und jetzt im digitalen Zeitalter weiter ausbaut, ist eine Kombination unterschiedlicher Maßnahmen auf Ebene der primärärztlichen Versorgung, mit denen, wie sich mittlerweile herausstellt, Erstaunliches erreicht wird. Im Bereich der Therapie werden gemeinsame Fortbildungen für Ärzte und ihre Angestellten sowie Patientenschulungen ergänzt durch klar definierte Intervalle für Kontrollen von HbA , Füßen, Mikroal1c buminurie, Augenhintergrund und Lipiden. Auf medikamentöser Seite gebe es dagegen kein Korsett, sondern Therapiefreiheit: „Metformin ist Erstlinientherapie, alles darüber hinaus stellen wir frei.“ Motivierend wirkt eine Liste von Qualitätsindikatoren Durch die Therapiefreiheit würden Ärzte motiviert, ihre Patienten optimal zu versorgen, so Liebermann. Motivierend wirkt eine Liste von Qualitätsindikatoren, darunter auf Prozessseite die Häufigkeit der: ● HbA1c-Messung, ● Blutdruckmessung, ● GFR-Bestimmung und ● Fußkontrollen. Auf der Outcome-Seite stehen: ● LDL-Wert unter 100 mg/dl, ● HbA1c-Wert unter 8 % beziehungsweise als negativer Outcome-Indikator: ● HbA1c-Wert über 9 %. Für diese Indikatoren gibt es ein Benchmarking, das extrem gut funktioniere: „Es entsteht ein echter Wettbewerb, niemand will der Letzte sein.“ Was es nicht gibt, sind Outcome-abhängige Honorare: „Wir glauben nicht an Pay-for-Performance. Wir denken, wir erreichen am meisten, wenn alle überzeugt sind, das Beste zu tun und tun zu können.“ Dass der Ansatz funktioniert, zeigte sich nicht sofort: „Nach etwa 6–7 Jahren fingen wir an, messbare Ergebnisse zu sehen, und nach etwa 10 Jahren zeigte sich neben dem medizinischen auch ein klarer ökonomischer Nutzen.“ So sank A 2374 der Anteil der Patienten mit einem HbA -Wert von über 9 % von rund 1c 40 % auf unter 10 %. Der Anteil der Patienten, die das LDL-Ziel von 100 mg/dl erreichten, stieg von rund 20 % auf über 60 %. Der Anteil der Patienten, die Amputationen benötigten, sank um ein Viertel. Und auch der Anteil der Diabetiker, die entweder eine Bypassoperation oder eine Koronarintervention benötigten, sank um ein Fünftel. Insbesondere der letzte Punkt habe verdeutlicht, dass gute Diabetesversorgung sich in Geld übersetzen lasse, so Liebermann. Seither gebe es viel weniger Widerstände, wenn neue Maßnahmen in das Diabetesprogramm integriert werden sollen. „Es braucht einen langen Atem, aber es lohnt sich. Diabetespatienten sind bei uns heute insgesamt etwa doppelt so teuer wie vergleichbare Mitglieder ohne Diabetes. Als wir mit dem Programm begonnen hatten, waren sie dreieinhalb Mal so teuer“, so Liebermann. Nicht der einzige, aber ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Diabetesprogramme der israelischen HMOs ist Liebermann zufolge die digitale Vernetzung der unterschiedlichen Leistungserbringer mit einer übergreifenden elektronischen Patientenakte. Anfangs wurden die Datenbanken passiv genutzt, um das geschilderte Benchmarking bei definierten Qualitätsindikatoren zu ermöglichen. Mittlerweile wird das Datenmanagement zunehmend aktiver. „Big Data“ hält Einzug – beim Diabetes und weit darüber hinaus. Elektronische Patientenakte auf dem Smartphone Die digitalen Möglichkeiten erhöhen zum einen die Transparenz der Versorgung, wie Liebermann betonte: „Jeder Patient, der das möchte, kann seine elektronische Patientenakte auf dem Smartphone einsehen. Fast alles, was der Arzt sieht, sieht der Patient auch.“ Innerhalb von nur 2 Jahren hätten sich bereits 400 000 der 4 Millionen Clalit-Mitglieder für den mobilen Zugang angemeldet. Für die HMO ist das attraktiv, denn sie erhält digitale Zugangswege zu ihren Mitgliedern, die sich sowohl für die Therapie als auch für die Prävention nutzen lassen. Wird eine neue Diagnose eingetragen oder ein neues Rezept verordnet, erhält der Patient jetzt immer häufiger automatisch generierte „Informationsrezepte“ über den jeweils bevorzugten digitalen Kommunikationskanal. Algorithmen spüren Risikokonstellation auf Im präventiven Bereich werden die Clalit-Datenbanken zunehmend von Algorithmen auf Risikokonstellationen hin durchleuchtet. Diese Entwicklung steht noch am Anfang, aber Liebermann verspricht sich sehr viel davon. So gibt es erste Projekte, bei denen OTC-Medikamente, die Patienten in mit der HMO Clalit kooperierenden Apotheken erwerben, automatisch mit der in der elektronischen Patientenakte abgelegten Dauermedikation abgeglichen werden. Drohen Wechselwirkungen, kann der Patient gewarnt werden. Auch bei Patienten mit einem hohen Diabetesrisiko wird mit Hilfe von Algorithmen versucht, die Risikokonstellation möglichst früh zu erkennen, um dann gezielt Präventionsmaßnahmen oder gegebenenfalls frühe medikamentöse Therapien anbieten zu können. Ähnliche algorithmenbasierte Programme für die Prävention von chronischem Nierenversagen und für die Überwachung von Schwangeren sind in der Entwicklung. Dass das nicht alles mit automatischen Nachrichten funktioniert, ist klar. Perspektivisch schwebt Liebermann deswegen eine Art eigenes telemedizinisches ServiceCenter vor, das die Patienten in Situationen beraten kann, in denen eine E-Mail nicht ausreicht. Dass die neuen Möglichkeiten auf Dauer zu weniger direkten Arztkontakten führen, davon ist der Internist fest überzeugt. Viele chronisch kranke Patienten, darunter Diabetiker, ließen sich weitestgehend auf Distanz ▄ betreuen. Philipp Grätzel von Grätz Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 51–52 | 26. Dezember 2016
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