Die russischen Jünger des Andrej Tarkowski

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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature
Im Spiegel der Nostalgie.
Die russischen Jünger des Andrej Tarkowski .
Feature von Mario Bandi
Produktion: DLF/WDR/SWR 2016
Redaktion: Ulrike Bajohr
Erstsendung: Sonntag, 25.12.2016 , 15:05-16:00 Uhr
Regie: Mario Bandi
Sprecher:
Sprecherin Olga: Doris Plenert
Sprecherin Marina: Wieslawa Wesolowska
Sprecherin Alla Demidowa: Renate Fuhrmann
Sprecherin Marianna: Susanne Barth
Sprecher Slawa/ Sprecher Wladimir Martynow: Wolfgang Rüter
Sprecher Tarkowski: Robert Dölle
Autor: Mark Zak
Sprecher junger Mann/ Philipp: Florian Seigerschmidt
Urheberrechtlicher Hinweis
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©
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O-Ton Tarkowski – übergehend in Musik für „Andrej Rubljow“
Sprecher Tarkowski: (Drehbuch „Andrej Rubljow“)
8. September 1380. Kulikowo-Schlachtfeld. Reiter prallen aufeinander, Krummsäbel
blitzen, Kampffahnen fallen nieder, getroffen von Tatarenpfeilen.
Zügel, Hände, Blut, rasierte Köpfe, durchbohrt von Pfeilen, rote Schilde, von Äxten
zerschlagen, ein Pferd mit zerfetztem Bauch… Staub, Geschrei. Tod.
Sound
O-Ton/ Sprecherin Marina:
Es gab einen Termin mit dem Chef der Propaganda-Abteilung. Andrej war so
verunsichert, dass man ihn fast mit Gewalt in den Raum schieben musste.
Autor:
Marina Tarkowskaja, die Schwester
O-Ton/ Sprecherin Marina:
Der Parteibonze fragte freundlich, wie lange es dauern würde, das Drehbuch zu
schreiben und den Film zu drehen? Andrej antwortete, mindestens zwei Jahre.
Gut, meinetwegen, in zwei Jahren bin ich sowieso in Rente.
Sound
O-Ton /Sprecherin Alla Demidowa:
Als er begann, "Andrej Rubljow” zu drehen, kannten wir uns schon.
Autor:
Alla Demidowa, Schauspielerin
O-Ton /Sprecherin Alla Demidowa:
Er hatte mir die Rolle des schwachsinnigen Mädchens angeboten. Ich lehnte ab, weil
ich in einer Episode urinieren sollte. Na, sowas! Nie im Leben! Keiner ahnte, dass es
ein genialer Film werden würde.
Sound
O-Ton/ Sprecherin Olga:
Bei der Moskauer Premiere im Februar 1967 war der Saal voll. Der Film wurde sehr
kalt aufgenommen. Einer rief laut: Das ist keine Kunst, das ist Sadismus!
Autor:
Olga Surkowa, Tarkowskis Ko-Autorin
O-Ton/ Sprecherin Olga:
Als der Abspann lief, stand Tarkowski allein da, blass. Nur meine Mutter grüßte ihn.
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Der "kollegiale, progressive" Teil der Öffentlichkeit lehnte den Film als slawophil ab,
die Parteiobrigkeit fand ihn dagegen antirussisch. Fast wie heute. Zur selben Zeit
hatte man das Werk versehentlich in den Westen verkauft.
Auf diese Weise geriet „Andrej Rubljow“ 1969 nach Cannes und bekam den
FIPRESCI-Preis.
Musik/Soundscape Rubljow
Sprecher Tarkowski: (Drehbuch Rubljow)
Der Russe erhebt sich mit letzter Kraft, im schleimig-kalten Blut findet er ein Schwert
– und sinkt zu Boden.
O-Ton Sprecherin Marianna:
Die Schlacht wurde nicht gedreht, obwohl sie im Drehbuch von „Andrej Rubljow“
stand. Zu teuer.
Autor:
Marianna Tschugunowa, Tarkowskis Rechte Hand
O-Ton/ Sprecherin Marianna:
Auch der Film “Der Spiegel” sollte mit dieser Szene anfangen.
Sprecher Tarkowski: (Drehbuch Rubljow)
In der Brust des Tataren steckt ein Pfeil. Sein Pferd hat ihn aus Schlacht
herausgetragen. Jetzt wirft ihn die schwarze Stute ab, im wilden Ritt, der Sonne
entgegen.
Musik
Ansage:
Im Spiegel der Nostalgie.
Die russischen Jünger des Andrej Tarkowski .
Feature von Mario Bandi
Autor:
Andrej Arsejniewitsch Tarkowski, 1932 bis 1986.
Im Westen der vielleicht berühmteste russische Regisseur seit Eisenstein.
Und: Marina, Marianna, Alla, Olga
O-Ton/ Sprecher Schmyrow
Das sind alles tolle Leute, aber man muss sie miteinander versöhnen.
Autor:
Und Wjatscheslaw Schmyrow, Cineast
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O-Ton/ Sprecher Schmyrow:
Weil Marina lange Zeit Irma Rausch nicht mochte, ist sie auf mich sauer, weil ich zu
Irma Kontakt aufgebaut habe.
Atmo: Telefongespräch mit Irma Rausch (unverständlich)
Autor:
Irma Rausch, Tarkowskis erste Ehefrau. Die Mutter in Tarkowskis erstem Film, dem
Welterfolg „Iwans Kindheit“. Die Schwachsinnige in „Andrej Rubljow“ - die Rolle, die
Alla nicht spielen wollte. Irma gibt kein Interview. Nie.
Telefon Abbruch / Sound Amsterdam
Sprecher Autor:
Amsterdam. Ein Intellektuellen-Wohnzimmer. Bücher, Bilder. Vor dem Fenster: Grün.
Eine jugendliche Mittsechzigerin, klein, kräftig, resolut, rotgefärbtes Kurzhaar, packt
Fotos und Bücher auf den Tisch.
O-Ton/ Sprecherin Olga:
Also, selbstverständlich habe ich alle Papiere von meiner Arbeit mit Andrej
Tarkowski gesammelt.
Autor:
Die Filmwissenschaftlerin Olga Surkowa lernt Tarkowski 1965 kennen.
Als Studentin der Moskauer Filmhochschule hospitiert sie bei den Dreharbeiten zu
„Andrej Rubljow“. Bis in die 1980er Jahre nimmt Tarkowski den wichtigsten Platz in
ihrem Leben ein.
O-Ton/ Sprecherin Olga:
Das fing am 22. November 1973 an, als Andrej mir anbot, gemeinsam ein Buch zu
schreiben. Damals hatte ich kein Tonbandgerät, so sind große Notizbücher
entstanden mit handschriftlichen Aufzeichnungen unserer Gespräche. Die sind
Bestandteil des Archivs.
Dann fand in London diese Auktion statt. Mein Sohn sagt mir, Mama, du kannst alles
im Internet verfolgen.
Ich setze mich in mein Arbeitszimmer und sehe, mein Archiv ist gerade dran.
Ich denke, was soll das, 60.000 Dollar, ich krieg keine saure Gurke dafür. Und dann
…höre ich diese Zahlen: 250 Tausend, 400 Tausend. …
Autor:
Als Tarkowski 1983 nach Italien geht, um „Nostalghia“ zu drehen, ist Olga die
einzige, die ihn dabei begleiten kann. Denn sie hat kurz zuvor einen Holländer
geheiratet und ist offiziell nach Amsterdam gezogen. Dorthin gelangt auch, allerdings
inoffiziell: Ihr Archiv.
O-Ton/ Sprecherin Olga:
...600 Tausend, eine Million! Eine Million Einhunderttausend, eine Million
Zweihunderttausend… Eine Million Sechshunderttausend und dann der
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Hammerschlag. Verkauft! Was habe ich da gefühlt? Nichts! Ich habe mich
halbtotgelacht.
Autor:
Fotos, Briefe, Notizen. Dazu 32 Audio-Kassetten.
Jahrelang hatte Olga versucht, ihre Tarkowski-Archivalien nach Moskau zu verkaufen
– mit 6000 Dollar wäre sie zufrieden gewesen. Aber ihre Landsleute wollten nicht.
Erstens pflegt die Kulturbürokratie ein nachhaltiges Desinteresse an Tarkowski. Und
zweitens: man schmeißt einer Abtrünnigen keine Devisen in den Rachen!
Und nun, am 28.November 2012, zahlt ein ungenannter Russe bei Sotheby´s in
London 1 Million 497 Tausend britische Pfund für Olgas Schätze. Die landen im
Tarkowski-Museum in der Kleinstadt Jurjewetz an der Wolga.
Dazu gehört ein Notizbuch: Tarkowskis Erinnerungen an seine Kindheit und Skizzen
für den Film „Der Spiegel“:
Sprecher Tarkowski (Notizbuch):
Dieser Film wird keinerlei Bezug zur gewöhnlichen Kinematographie haben, keine
Geschichte. Die Reihenfolge der Ereignisse ist ohne Bedeutung. Der Sinn entsteht in
der Gegenüberstellung von Episoden aus der Vergangenheit und der Reflexion des
Autors darüber. Dieser Film wird einem Traum ähneln, in dem sich der Mensch sehr
alt fühlt und begreift, dass sein Leben zu Ende geht...
Soundscape
Autor
Sawraschje, das zentralrussische Dorf, in dem Tarkowski 1932 geboren wurde, ist in
den Fluten eines Wolga-Stausees versunken. Auf dem Wasser schwimmt ein Floß
mit einem Kreuz, es markiert die Stelle, an der die Dorfkirche stand.
Das sieht man von einem anderen Kirchturm aus: Vom dem der Stadt Jurjewjetz am
Ufer des Sees.
Sprecher Tarkowski(Notizbuch):
So muss ich einen Film über meine Kindheit, entstehen lassen. Jetzt, wo ich
begriffen habe, was ich liebte und warum. Ich kann nur lernen, glücklich zu sein,
wenn ich mich erinnere...
Kindheit….die Sonne in den Baumkronen …die Mutter geht über die Wiese …. wie
auf frischem Schnee hinterlässt sie auf dem Morgentau dunkle tiefe Spuren...
O-Ton/ Sprecherin Marina:
Wir liefen barfuß, ich fühle sie immer noch, diese sumpfigen Erde am Fluss, du gehst
und sie federt unter den Füßen...
Autor:
Andrej und seine Schwester Marina wachsen in Moskau auf.
1941 flieht ihre Mutter, Maria Wischnjakowa, mit den Kindern aus der von den
Deutschen belagerten Hauptstadt zu Verwandten nach Jurjewjetz. Der Vater, der
Dichter Arsenij Tarkowski, hat die Familie 1935 verlassen. Jetzt ist er im Krieg.
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Sprecher Tarkowski(Notizbuch):
1941 war ich neun. Wir waren verbunden durch den Krieg, durch Erwartung,
Hoffnung, Glauben und Hunger. Durch die kleinen dreieckigen Briefe unserer Väter
von der Front. Und das seltene Wiedersehen mit ihnen.
O-Ton Sprecherin Marina:
Die Mutter hat uns beigebracht, das einfache Leben und die Natur zu schätzen. Ja,
wir sind noch sehr klein: Seht, sagt sie, wie schön hier das Moos blüht. … wie schön
ist das Gesicht einer einfachen Bäuerin.
Szene aus dem Film Der Spiegel
Sprecher Tarkowski(Notizbuch):
Da war kein Wald, nur dünne Bäumchen um eine Datscha…Hinter dem Grundstück
sammelten wir Morcheln.
In einem Wassergraben entdeckte ich eine Münze zwischen braunen Blättern. Ich
beugte mich vor … meine Schwester sprang plötzlich schreiend aus dem Gebüsch.
Ich war wütend, wollte sie schlagen …. in dem Moment hörte ich diese
unverwechselbare Stimme: - Marina!
Stimme des Vaters aus dem Film
Sprecher Tarkowski(Notizbuch):
Augenblicklich rannten wir beide nach Hause. Ich fühlte, meine Brust zerreißt, ich
stolperte und stürzte fast, meine Augen standen voller Tränen.
Atmo Eröffnung der Filmfestspiele
Autor
Juni 2016. Ein Kurort an der Wolga. Restaurierte Kirchen, kleine Hotels, eine
Promenade. Die Lewitan-Konferenzhalle, davor Gedränge. Eröffnung der
Filmfestspiele. Ein junger Mann steht auffällig im Bild. Das dunkle Haar ins schmale
Gesicht gekämmt, ein dünner Oberlippenbart...
O-Ton/ Sprecher junger Mann
Nein, ich bin nicht mit Andrej Arsenjewitsch verwandt.
Autor
ein Wiedergänger des jungen Andrej Tarkowski
O-Ton/ Sprecher junger Mann
Ja, meinen Schnurrbart habe ich extra wachsen lassen, abrasiert und wieder
wachsen lassen. Doch so ähnlich bin ich ihm nicht mehr, obwohl ich oft gefragt
werde, wieso ich Tarkowski so ähnlich sähe. ... Sergei ist mein Name, ich arbeite in
der Uni-Bibliothek von Iwanowo und bin ein Stammgast bei den Festspielen. Seine
Filme, „Nostalghia“, zum Beispiel, habe ich in den 90ern schon gesehen…. und ich
denke, den Nachlass meines großen Landsmannes sollten wir zurück ins Land
holen!
Atmo Eröffnung der Filmfestspiele
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Autor
Im Mittelpunkt: eine große, schmale alte Frau, schwarz gekleidet, das Haar im
Nacken geknotet. Sie hält sich sehr gerade.
O-Ton/ Sprecherin Marina:
Den Film “ Der Spiegel” hat Andrej dort gedreht, wo wir in den Jahren 1935/36
wohnten. Im Drehbuch heißt es “das Haus meines Großvaters”, es ist aber einfach
das Haus eines Bauern, der im Film selber mitspielt. Er schreit “Dunja Dunja”...
Atmo aus dem Film Der Spiegel
...wenn das Feuer sich ausbreitet. Das ist Onkel Pascha Gortschakow, das war sein
Haus, wo sich die Eltern für zwei Jahre eingemietet hatten.
Deswegen ist mir dieser Ort bis zum letzten Bäumchen bekannt.
Auch die große Wiese, wo Andrej gedreht hat. Das Haus von Onkel Pascha ließ er
als Kulisse originalgetreu nachbauen.
Atmo Filmfestspiele
Autor:
Marina Tarkowskaja, die Schwester, ist Ehrengast des Internationalen Filmfestivals.
Es findet jährlich im Juni eine Woche lang in drei Städten im Umkreis statt: im Kurort
Pljoss, in Jurjewietz und in der Gouvernements-Hauptstadt Iwanowo. Das Festival
zeigt neben Neuproduktionen auch Tarkowski-Werke und heißt wie Tarkowskis
autobiografischer Film: Serkalo. Der Spiegel.
Es läuft allerlei Moskauer und ausländische Filmprominenz auf.
Olga Surkowa wird zu dem Festival nicht eingeladen: sie ist persona non grata, seit
ihr Archiv in Jurjewjetz gelandet ist. Es fällt vielen schwer, ihr die fast 2 Millionen
Dollar zu verzeihen.
O-Ton/ Sprecherin Olga:
Das lief sicherlich über Premierminister Medwedjew, der dort in der Gegend seine
Datscha hat. Marina Tarkowskaja hat bei ihm erwirkt, dass das Archiv nach Russland
gebracht wird, ins Tarkowski-Museum. Der Gouverneur des Gebietes Iwanowo sollte
Geld dafür, egal wo, auch bei reichen Privatpersonen, auftreiben... Der Etat der
Filmfestspiele wurde dadurch gekürzt, habe ich gehört. Also ich werde dort
besonders gehasst!
Sound
Sprecher Tarkowski (Tagebuch):
6. Dezember 1973
Heute Abend fahren wir für ein, zwei Tage nach Jurjewetz. Irgendwie ist mir dabei
unbehaglich zumute. Ich war 30 Jahre nicht mehr dort. Wie wird es dort wohl
aussehen?
Atmo Führung durch Museum auf Englisch für ausländische Gäste.
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Autor:
Jurjewjetz. Ein einstöckiges Holzhaus. Ein kleines Zimmer: eisernes Bett, Esstisch,
ein betagtes Büffet, ein Schrank. Zwischen den Fenstern: ein großer Spiegel.
Es gehört sich nun mal für Tarkowski-Anhänger, gedankenschwer in den Spiegel zu
schauen.
Eine alterslose blonde Dame, die Hände mit modernen Silberringen besteckt, dunkle
Brillengläser, lächelt nachsichtig.
O-Ton/ Sprecherin Alla:
Die Tarkowskis hatten zwei Zimmer in diesem Haus, das bis in die 1990iger Jahre so
ein Krähennest war, in dem etliche Familien hockten.
Die wurden umgesiedelt, nach langem Papierkrieg mit den Behörden, das Haus
stand leer und ich durfte diese zwei Zimmer sehen.
Die Tapeten waren an vielen Stellen abgerissen, darunter sah ich noch eine Schicht:
Blätter aus Schulheften, bestimmt von Marina und Andrej. Das war eigentlich der
Anfang dieses Museums.
Autor:
Alla Demidowa spielte im „Spiegel“ die Lisa, eine Freundin von Tarkowskis Mutter,
und ging damit in die Filmgeschichte ein.
Film, Episode mit Alla Demidowa
O-Ton, Sprecherin Alla:
Ich bin wegen der Vertonung eines einzigen Wortes zweimal 6 Stunden geflogen.
Aus purer Hochachtung vor Andrej. Er war ein außerordentlicher Mensch. Einem so
talentierten, auserwählten Menschen möchte man dienen, möchte man helfen.
Besonders, wenn er von den Mächtigen dieser Welt vernachlässigt, verachtet wird,
aber größer und bedeutender als sie alle ist. Das konnte ich bei ihm spüren.
Atmo Führung in Englisch.
Autor:
Das Tarkowski-Museum von Jurjewjetz steht auf der Tarkowski-Straße. Im Garten
gibt es eine Art Kapelle, dort wird zur Erhebung der Festival- Besucher die
Tarkowski-Gedenkglocke geläutet.
Eingerichtet wurde es mit Hilfe des Verbandes der russischen Filmschaffenden –
dank Demidowas Kontakten. Denn Alla Demidowa ist noch immer eine prominente
Moskauer Schauspielerin. Sie war stellvertretende Leiterin der Stiftung, die das
Museum ins Leben gerufen hat.
Atmo Museum, Führung.
Aber die Rolle der Herrin des Gedenkens und der Erinnerung spielt Marina
Tarkowskaja - in entschiedener Bescheidenheit.
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O-Ton/ Sprecherin Marina:
Andrej hat so oft die Schule geschwänzt. Ging stattdessen ins Kino oder spielte um
ein paar Kopeken mit den Kameraden, ein Wurfspiel. Schulaufgaben wollte er gar
nicht machen. Geschichte und Literatur - das ging gut, aber Mathematik musste er
üben… Oft kam er aus der Schule, schmiss seine Tasche in die Ecke und
verschwand.
Sprecher Tarkowski (Tagebuch):
8 Dezember 1973
Heute morgen aus Jurjewetz zurück. Es war kalt, alles verschneit. Jurjewetz machte
keinerlei Eindruck auf mich, so als sähe ich es zum ersten Mal. Ich erkannte meine
alte Schule wieder und stand vor dem Haus, in dem wir während des Krieges
wohnten.
Atmo Akkordeonklänge am Wolgaufer
O-Ton/ Sprecherin Marina:
In Jurjewjetz war es kalt, wir hatten Hunger. Die Fenster mussten verdunkelt bleiben,
weil über uns die deutschen Bomber auf die Stadt Gorki zuflogen. Trotzdem wollte
Mama, dass Andrej seinen Musikunterricht fortsetzt, ging mit ihm zu einer Frau, die
ein Klavier besaß. Er hat das nicht gemocht. Er war nicht fleißig.
Sprecher Tarkowski (Tagebuch):
8 Dezember 1973
Ich hätte nicht nach Jurjewjetz fahren sollen. Es hätte in meiner Erinnerung ein
wunderbares glückliches Land, das Land meiner Kindheit bleiben sollen. Ich habe zu
recht in meinem Drehbuch zum “Spiegel” geschrieben, dass man nicht zu den
Ruinen zurückkehren solle. Welche Leere empfinde ich, wie traurig ist mir zumute.
Moskau/ der sowjetische Jazzsänger L.Utjossow
Autor:
1943 kehren Andrej, Mutter und Schwester zurück nach Moskau. Hier wird er später
studieren: Musik, Kunst, Orientalistik– bevor er 1954 in die Filmhochschule wechselt.
O-Ton/ Sprecherin Marina:
Als wir erwachsen wurden, ging er gern mit mir spazieren. Ich war ein schönes
Mädchen und er wollte, dass alle denken, ich wäre seine Freundin. Er ging vor mir
und ich sollte hinter ihm her laufen. Ich habe gefragt, was soll das denn? - So wird in
Amerika spazieren gegangen, hat er gesagt.
O-Ton/ Sprecherin Alla:
Ich habe Tarkowski das erste Mal gesehen, als er schon Student der Filmhochschule
war. Er hat sich von den anderen deutlich unterschieden: als Erster in Moskau hat er
Jeans getragen. Und Erster einen Schal wie ein Künstler, über die Schulter
geworfen. Er war ein Ästhet.
Autor:
Die Familie wohnt in einer Arbeitergegend, in der Ersten-Schipkówski-Gasse. Das
Haus, ein Holzhaus, war für die Arbeiter der Michelsohn Dampfmaschinenfabrik
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gebaut worden, wo 1918 Fanny Kaplan auf Lenin schoss. Daraufhin bekam der
Betrieb seinen Namen. Das Werk produziert in den Kriegsjahren Munition für die
Katjuschas, die Stalinorgeln.
In der Nähe ist das Wischnewski-Krankenhaus - dort wird dem Vater, Arsenji
Tarkowski, das Bein amputiert, als er von der Front zurückgekehrt ist.
O-Ton/ Sprecherin Marina:
Unser Vater war ein Poet. Seine Gedichte wurden nicht veröffentlicht, Geld verdiente
er nur mit Nachdichtungen von Poesie aus den Sowjetrepubliken. Jedes Treffen mit
ihm war ein Fest: Freude, Liebe, Geschenke. Das war schön. Den Alltag musste
meine Mutter bewältigen.
Doch sie hatte Hefte mit Vaters Gedichten. Daraus las sie uns manchmal vor…
Ich kann daran nicht ohne Herzklopfen denken. Es fällt mir sehr schwer… Ja, Papa
war ein großer Poet.
Originalstimme Arsenij Tarkowskis aus dem Film.
Sprecher Tarkowski: ( Drehbuch “Der Spiegel”)
Meine Schwester und ich saßen in dem dämmerigen Zimmer und aßen
Buchweizenbrei mit Milch. Die Mutter ging zum Fenster, zog aus einem Koffer ein
Heft, setzte sich aufs Fensterbrett und begann darin zu blättern...
Es hatte alles neue Eigenschaften:
Die simplen Dinge - Schüssel, Krug sogar,
Wenn morgens zwischen uns wie eine Wand
Das schichtige und starre Wasser stand.
Und führte es - geheimnisvoll - wohin
Wie Spiegelungen wichen fremde Städte,
Durch Zauberei gebaut, vor unserem Blick.
Die Minze legte sich uns selbst zu Füßen,
Und Vögel zogen mit uns über Land,
Die Fische kamen an des Flusses Rand,
Der Himmel rollte sich bis zu den Fluren:
Das Schicksal folgte damals unseren Spuren
Wie ein Verrückter mit der Klinge in der Hand.
Atmo Moskau,Straße
Autor
Moskau. Ein planiertes, leeres Grundstück, eingezäunt. Am provisorischen Tor
ein Plakat. Die Aufschrift: “Wiederherstellung eines Objekts des Kulturerbes. Hier
lebte von 1934 bis 1962 der Filmregisseur Andrej Tarkowski.”
Ins Haus gegenüber ist Wjatscheslaw Schmyrow eingezogen. Der
Filmwissenschaftler träumt davon, Tarkowskis Nachbar zu sein.
Das alte Haus war Privatbesitz und wurde 2004 abgerissen.
Seitdem kämpft Schmyrow um den Wiederaufbau.
O-Ton/ Sprecher Schmyrow:
Was wir als Stiftung besitzen, ist nicht bloß eine Dokumentensammlung, es ist eine
materielle Welt. Viele private Gegenstände. Noch befinden sie sich bei Marina
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Tarkowskaja. Teilweise sind das Dinge, die die Mutter von Andrej und Marina, Maria
Wischnjakowa, aufbewahrt hatte. Kinderzeichnungen, Briefe.
Das ist gewissermaßen unsere Hauptsammlung.
Außerdem haben wir Dokumente von Irma Rausch, der ersten Frau Tarkowskis, und
Zeichnungen von Pawel Safonow, dem Szenenbildner bei “Andrej Rubljow”. Von ihm
erwarb ich auch 30 Minuten Amateuraufnahmen von den Dreharbeiten. Die hat noch
kein Mensch gesehen, die hat Tarkowski selbst aufgenommen. Diese 30 Minuten
sind absolut einzigartig.
Alles befindet sich momentan in verschiedenen Privatwohnungen - bereit für die
kostenlose Übergabe an das Tarkowski-Museum hier. Doch seit zwei Jahren wird
dieser Prozess vom Moskauer Kultur-Departement gebremst. Es gibt keinerlei
Interesse an einem Museum.
Übrigens, alle Tarkowskis zusammenzubringen war schwer. Innerhalb der Familie
gibt es verschiedene Ambitionen.
Autor:
Olga Surkowa kommentiert von Amsterdam aus die russische Szenerie in einer Art
befriedigter Rachsucht:
O-Ton/ Sprecherin Olga:
Marina sitzt also in ihrer Festung in Jurjewietz, und Wjatscheslaw kaufte sich in
Moskau eine Wohnung mit Blick auf Brachland und hofft, dass dort das Haus wieder
aufgebaut wird!
Jeder ist von seiner Mission getrieben. Jeder hält eine Scherbe aus dem großen
Leben unseres Genies in der Hand. Sein Nachlass wird sich unter der Leitung von
einer dieser Personen niemals vereinen lassen.
Autor:
Olga Surkowa kannte Andrej Tarkowski und dessen zweite Frau Larissa auch privat
sehr gut. Sie war mit Larissas Neffen verheiratet und wohnte mit Tarkowski in einer
Wohnung.
O-Ton/ Sprecherin Olga:
…auf dem Sternenboulevard bei Larissas Schwester. Außerdem wohnten dort: zwei
ihrer Söhne, Larissas Tochter aus erster Ehe, ihr Neffe, also mein Mann Serjoscha,
sechs Personen. Ich war die siebente, und wenn Andrej kam, waren wir zu acht. Die
Wohnung bestand aus zwei Zimmern und einer Küche. Andrej und Larissa schliefen
in der Küche auf dem Fußboden unter dem Esstisch.
Sergej und ich bekamen als frisch Verheiratete das kleine Zimmer für uns allein. Und
im großen Zimmer schliefen alle anderen.
Andrej war ab und zu bei seiner ersten Frau Irma. Dazu kann ich nicht viel sagen.
Wir saßen oft gemeinsam in der Küche auf der Matratze. Selbstverständlich wurde
getrunken. Wir haben Gedichte vorgelesen, geredet… Jeden Trinkspruch hat Andrej
in ein Gespräch über die Kunst verwandelt.
Das alles war mir so heilig, ich glaubte, ich hätte das wunderbarste aller
Familienleben.
Filmton Andrej Rubljow
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Autor:
1969 - in der Zeit, als Tarkowski unterm Küchentisch schläft - wird sein Filmepos
über den russischen Ikonenmaler Andrej Rubljow in Cannes als Höhepunkt der
russischen Kultur hymnisch gefeiert. Der Film läuft wochenlang in den Pariser Kinos.
Irma Rausch bekommt den „Etoile de Cristal“ der französischen Filmakademie als
beste ausländische Schauspielerin.
In der Sowjetunion bleibt das Filmwerk noch bis 1971 im Regal.
Tarkowski ist arbeitslos und überspielt seine Verzweiflung mit Witzen und
Sarkasmen.
O-Ton/ Sprecherin Olga:
Eines Tages habe ich Andrej Rezensionen aus der ausländischen Presse übersetzt.
In der kommunistischen Zeitung L'Humanité hieß es: „Andrej Rubljow“ sei der Film
aller Filme, wie die Bibel das Buch aller Bücher sei. Als Andrej zuckte wie immer mit
den Schultern: Das fehlt mir gerade noch, jetzt schieben sie mir auch noch
Religiosität in die Schuhe!
Andrej hat die Dissidenz nie gewollt, das war für ihn unter seinem Niveau.
Autor:
Tarkowski veranlasst Olga Surkowa zu einem Bitt- und Beschwerdebrief an KPdSUChef Leonid Breschnew. Es kommt keine Antwort.
O-Ton/ Sprecherin Marina:
Andrej hat dieser Macht nicht gedient, aber er war von ihr abhängig. Er wollte Filme
drehen, er war ein Künstler. Er bekam das Angebot, einen Film über Lenin zu
drehen. Der Minister fragte: wieso wollen Sie unbedingt Hamlet inszenieren? Machen
Sie doch mal einen Film über den Genossen Lenin!
O-Ton/ Sprecherin Olga:
Der Film „Andrej Rubljow“ war verboten. Andrei Tarkowski hatte kein Geld. Aber
einen nicht erfüllten Vertrag mit einem Verlag: ein Buch – ein Gespräch zwischen
Regisseur und Filmkritiker. Der Filmkritiker war abgesprungen, und ich durfte dieses
Buch mit Tarkowski machen. Ich habe schnell begriffen, dass er zu einem Dialog mit
mir nicht bereit war. Er war kein Mensch des Dialogs.
Ich habe meine Rolle als Dienerin eines Meister akzeptiert und Andrej folgenden Titel
vorgeschlagen: Andrej Tarkowski - “Das Buch der Vergleiche, niedergeschrieben und
kommentiert von Olga Surkowa”.
Er war damit einverstanden.
Davon abgesehen habe ich in jeder freien Stunde freudig seine Gesellschaft
gesucht. Sei es am Set, sei es bei ihm zu Hause.
Mich zog es einfach zu ihm. Das war die beste Zeit meines Lebens!
Autor:
Aus dem «Buch der Vergleiche» wird «Die versiegelte Zeit», es erscheint in
Russland erst 1991. Als das Buch 1984 in der Bundesrepublik auf den Markt kommt,
zieht Olga Surkowa gegen den Ullstein Verlag vor Gericht. Sie erstreitet das Recht,
neben Andrej Tarkowski als Autorin genannt zu werden.
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O-Ton/ Sprecherin Olga:
Er wollte damit allein brillieren. Mich hatte er gebraucht, um das Buch fertig zu
schreiben. Als ich in diesem Manuskript den letzten Punkt gesetzt hatte, hieß es: Auf
Wiedersehen. Ich war ja bereit, mich aufzuopfern wie Jean d'Arc, umsonst zu
arbeiten. Ein Dankeschön hätte gereicht. Aber nicht mal das kam...
Das war eine Liebe, die Andrej verschmähte. Abgewiesene Gefühle hinterlassen
bekanntlich tiefe Spuren. Das war eine Liebe, die unerwidert ausdörrte.
Lied aus Solaris (Oh, Susanna)
Autor:
Im Jahr 1970 erhält Tarkowski den Auftrag, nach Stanisław Lems „Solaris“ einen
Science-Fiction-Film zu drehen.
Das Science-Fiction-Element daran interessiert Tarkowski wenig. Die Raumstation,
die über einem Planeten schwebt, den ein allmächtiger, denkender Ozean bedeckt,
wird zum Ort philosophischer Selbst- und Welterkenntnis. Was bedeutet es, ein
Mensch zu sein?
Musik Solaris
O-Ton/ Sprecherin Alla:
Er hat mich für den Film „Solaris“ eingeladen.
Autor:
Alla Demidowa
O-Ton/ Sprecherin Alla:
Meine Rolle sollte das Phantom einer Frau sein. Andrej sagt: Sie merkt zum Beispiel
nicht, dass für die Knöpfe am Kleid die Knopflöcher fehlen. Das Phantom versteht
von diesen menschlichen Details nichts. Und noch einen Unterschied zwischen
Phantom und Mensch gibt es, sagt er: Ein Phantom leidet nicht. Ich müsse in dieser
Rolle diese Diskrepanz schwer erleben und nervös darauf reagieren.
Naja, schade, ich stand damals bei der Behörde auf der schwarzen Liste. Ich durfte
keine Hauptrolle übernehmen. Ich war sozusagen politisch illoyal. Aber ich denke,
wenn Andrej mich wirklich im Film hätte haben wollen, hätte er darauf bestanden.
Musik weg
Sprecher Tarkowski (Tagebuch):
11. August 1971
Ich befürchte stark, dass Solaris ziemlich bunt ausfallen wird. Diese verfluchten
Korridore, Laboratorien, Apparate, Raketenabschussrampen. Vielleicht ist das
unvermeidlich, weiß der Teufel. Keine Ahnung, was daraus wird. Es ist sehr schwer
zu filmen. Sehr schwer.
O-Ton/ Sprecherin Marianna:
Tarkowski hat die so genannten „blauen Hasen“ erfunden. Das heißt, er schrieb in
das Drehbuch eine teure Szene hinein, die nicht gedreht wird. Das ergab mehr Zeit
und Geld für den Dreh anderer Szenen.
Im Drehbuch zum Film „Solaris“ gab es eine Szene im Raumschiff Prometheus, mit
dem der Hauptheld, Kris Kelvin, von der Erde auf Solaris fliegt. Außerdem gab es ein
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Team auf dem Raumschiff, drei Kosmonauten. Es gab den entsprechenden Text
dafür und so weiter. Unsere Leute für Spezialeffekte haben Boden oder Hals einer
rotierenden Flasche so aufgenommen, als ob etwas durch das All fliegt, und das
war´s dann.
Filmton Solaris
Sprecher Tarkowski (Tagebuch):
12 Juli 1971
Das Kodak- Material ist zu Ende gegangen, wir sind aber noch nicht fertig. Werden
sie uns noch etwas geben? Was nun?
O-Ton/ Sprecherin Marianna:
Alles wollte man mit Kodak drehen, aber Kodakfilm gab es nur für Spezialeffekte.
5000 Meter etwa. Das Team für Spezialeffekte bekam vom Regisseur nur wenig
davon.
Anatoli Solonizyn - der den Sartorius spielte- hatte gleichzeitig im Film eines
anderen Regisseurs, Gerassimow, die Hauptrolle. Für diese Produktion gab es
reichlich Kodak-Film. Also - Anatoli bekam von dem Filmtechniker der fremden
Produktion eine oder zwei Film-Büchsen, unter der Hand. Hatte aber kein Geld!
Keiner von uns eigentlich, außer Natascha Bondartschuk, der Hauptdarstellerin. Sie
bezahlte schließlich diese geklauten letzten 300 Meter Kodak aus eigener Tasche.
Der Kameramann Wadim Jussow sagte den Schauspielern: wer die Aufnahme
verdirbt, geht und kauft neuen Kodakfilm. Das war Disziplin!
Sprecher Tarkowski (Tagebuch):
12 Januar 1972
Morgen gibt es beim Direktor den Abgabetermin für Solaris. Es werden sich weitere
Termine entpuppen. Aus dem Filmkomitee, ZK... Ich glaube, es kommt zu einem
Skandal..
Versch. Sprecher:
- Es muss klar werden, wie die Welt der Zukunft aussieht!
- Vielleicht Landschaftsaufnahmen des Planeten der Zukunft.
- Aus welcher Gesellschaft kommt Kris Kelvin eigentlich?
- Die Konzeption des Christentums muss weg.
- Ja, Gott hat in dem Film nichts zu suchen!
Filmton weg
Sprecher Tarkowski (Tagebuch):
Es ist alles noch viel absurder als bei Rubljow. Klar doch, ich werde nichts ändern.
Autor:
„Solaris“ hat mehr Glück als „Andrej Rubljow“: der Film wird zum sowjetischen
Verleih zugelassen und gut besucht. Beim Filmfestival in Cannes 1972 bekommt er
den Großen Preis.
Musik aus „Nostalghia“
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Sprecher Tarkowski (Tagebuch):
Am 24. April haben wir ein Haus in Mjasnoje gekauft. Das Haus, das wir unbedingt
haben wollten. Jetzt ist mir vor nichts bange - wenn ich keine Arbeit habe, werde ich
auf dem Land hocken, Ferkel und Enten züchten, den Gemüsegarten beaufsichtigen
und auf sie alle spucken! Es ist ein bemerkenswert schönes Landhaus aus Stein. Ich
habe Bienenstöcke aufgestellt. Das gibt Honig. Ein Auto müsste man haben. Dann
wäre alles bestens. Die 300 Kilometer von Moskau hierher wird keiner angeschissen
kommen.
Autor
Ein russisches Landhaus. Der Tarkowski-Fan kennt es aus dem Film „Nostalghia“.
Auf der Treppe eine grauhaarige, korpulente Frau, im Blick eine Mischung aus
Trauer, Müdigkeit und Abwehr.
O-Ton/ Sprecherin Marianna:
Diesen Ort und dieses Landhaus hat er selber gefunden und umgebaut. Hier ist alles
so, wie er es haben wollte.
Sein Traum war, dort immer zu leben. Im Unterschied zu seinem Haus in Jurjewetz –
gar nicht zu reden von dem abgerissenen Haus in Moskau – ist hier in Mjasnoje alles
so geblieben, wie es war, als er das Haus verlassen hat. Ich werde den anderen
Museen und Zentren nichts abgeben.
Autor:
Seit über 50 Jahren ist Marianna Tschugunowa ihrem Meister treu wie Sancho
Panza. Sie arbeitete am Set aller 5 Filme, die der Regisseur in Russland gedreht hat,
überwachte das Casting und die Ordnung am Drehort. Sämtlicher Papierkram ging
durch ihre Hände. Da sammelt sich eine Menge Dokumente.
Marianna hockt auf ihrem Schatz, nicht einmal sprechen mag sie darüber:
Tonaufnahme vom Dreh „Stalker“
Autor:
Diese Tonaufnahmen aus „Stalker“ gibt sie nur widerstrebend frei, dabei hütet sie
doch Hunderte Stunden mit Tarkowskis Stimme: Lesungen in der Filmhochschule,
Theaterproben bei der Hamlet-Inszenierung, Podiumsgespräche mit dem Publikum,
aufgenommen während seiner Reisen. Dazu Drehbücher mit handgeschriebenen
Änderungen...
O-Ton/ Sprecherin Marianna:
Während der Arbeit am Film “Der Spiegel” kamen neue Szenen und Texte hinzu.
Tarkowski hat immer etwas dazugeschrieben, auch noch im letzten Moment, nach
den Dreharbeiten. Also der Prozess ging ununterbrochen.
Andrej Arsenjewitsch sagte mir: Lass uns eine Gesamtausgabe vom “Spiegel”
machen! Und ich setzte alle Texte zusammen, von der ersten Variante bis zur
letzten. Chronologisch. Er hat ein paar Worte zur Überleitung geschrieben. Das alles
liegt in einer Mappe bei mir.
Sprecher Tarkowski (Tagebuch):
4 Februar 1973
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Der Titel “Der helle Tag” gefällt mir nicht. Irgendwie schwach. “Martyrolog” wäre gut,
aber das versteht ja niemand. Und wenn sie die Bedeutung erfahren, verbieten sie
den Titel erst recht. “Die Sühne” klingt auch flach. “Die Beichte” - zu prätentiös.
“Warum stehst du in der Ferne?” - das ist zwar besser, aber unklar.
O-Ton/ Sprecherin Marianna:
Der Film bekam den Titel “Der Spiegel” viel später, als die Kulissen schon abgebaut
waren. Ich weiß, dass Andrej Arsenjewitsch einen Film von Ingmar Bergman sehr
gemocht hat – „Wie in einem Spiegel“, heißt er...
Szene aus „Der Spiegel“
Autor:
Eine Schlüsselszene: Die junge Mutter des Helden - Tarkowskis Mutter - rennt in
Panik zur Arbeit in die Druckerei. Ein Druckfehler! Der Zuschauer erfährt nicht,
welcher –aber das Entsetzen der Mutter ist so gewaltig, dass es kein geringerer sein
dürfte als einer im Namen Stalins.
Stalin… Sralin?? Oh, Gott!... Das heißt so was wie Scheißkerl!
O-Ton/ Sprecherin Marina:
Ich weiß nicht, ob man für Druckfehler in den Knast ging. Aber man konnte sehr
schnell rausgeschmissen werden. Den Druckfehler musstest du auf eigene Kosten
und in deiner Freizeit korrigieren, sitzen und den richtigen Buchstaben manuell in die
Bücher eindrucken.
In dieser Druckerei habe ich auch gearbeitet! Ich saß in demselben Zimmer! Ich habe
im Film sofort das große Zimmer erkannt. Es ist einfach erstaunlich! Und den
Betriebseingang kenne ich, den meine Mama im Film benutzt.
O-Ton/ Sprecherin Alla:
Ich finde, kein Kinoregisseur kann wirklich mit Theaterschauspielern arbeiten. Und
Andrej war keine Ausnahme.
Die Szene in der Druckerei…Ich glaube, ich habe sie schlecht gespielt, weil ich nicht
verstanden habe, was er von mir will.
Er machte nie etwas vor, er suchte den Nerv einer Szene. Er kaute auf den Nägeln,
redete sehr nervös und hat im Grunde genommen ein bestimmtes Bild gesucht, rein
ästhetisch gesehen.
Und Andrej hat es keineswegs erklärt, er hat überhaupt nie etwas erklärt, in welcher
Reihenfolge was sein soll, so, wie es im Theater stattfindet, eine Entwicklung der
Rolle. Andrej Tarkowski benahm sich so, dass man mit ihm nicht auf gleicher
Augenhöhe reden konnte.
Szene aus dem Film mit Alla Demidowa
Sprecher Tarkowski (Tagebuch):
18 Februar 1973
Ich habe noch nie eine von Schauspielern gespielte Szene gesehen, in der sie nicht
immer den gleichen Fehler machen: zuerst eine abwartende Haltung einnehmen, um
sich ein Urteil über das Ganze zu bilden, dann darüber reflektieren und dann erst
sprechen. Eine schreckliche, widernatürliche Zeitvergeudung und Sinnlosigkeit,
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dieses Fehlen der inneren Verfassung, diese Unfähigkeit, zu denken und zu
sprechen. ...
Szene aus dem Film mit Alla Demidowa
O-Ton/ Sprecherin Alla:
Ich wusste mich nicht rechtfertigen. Und wenn ich das nicht weiß, drücke ich auf die
Tränendrüse, dann wird es mehr oder weniger natürlich. Na ja, mehr oder weniger.
Und Andrej sagte: Gut, im Kasten!
Meine Partnerin Margarita wusste auch nicht, wie sie spielen soll und ließ auch eine
Träne zu. Margarita und ich haben uns später darüber amüsiert: was so eine Träne
bei Regisseuren ausmacht!
Autor:
1974 ist „Der Spiegel“ vollendet. Etwas Einmaliges in der Filmgeschichte: der surreal
inszenierte, dabei quasi autobiografisch-dokumentarische Film spiegelt Erinnerungen
und Gefühle der sowjetischen Nachkriegsgeneration wider.
“Wir haben künstlerische Freiheit, aber doch nicht in solchem Ausmaß!” befindet der
Filmminister. Der Film darf nur in wenigen Kinos gezeigt werden und keinesfalls die
sowjetische realistische Kinokunst im Ausland repräsentieren.
Dem Regisseur wird erlaubt, mit einer Kopie durch die Sowjetunion zu tingeln, um
Geld zu verdienen.
Im Hintergrund Szene mit dem Publikum
Verschiedene Sprecher
- Warum lassen Sie pornographische Szenen in einem sowjetischen Film zu?
- Sie sagten, es sei Ihnen egal, ob Ihre Filme gefallen oder nicht gefallen, ist Ihnen
die Meinung der Zuschauer wirklich gleichgültig?
- Warum filmen Sie nicht so wie alle?
Sprecher Tarkowski: 11 Dezember 1979
War mit Marianna drei Tage in Kasan, wo ich sieben Auftritte hatte. Eine Menge
Leute im Saal, sehr schlechte Projektion, aber Einnahme 1000 Rubel.
O-Ton/ Sprecherin Marianna:
Moskau, Leningrad, Dnjepropetrowsk, Kasan... Er hat fast überall den Film gezeigt.
Das lief über die örtlichen Kinoklubs und das Büro für Filmkunst. Nach Iwanowo
haben sie ihn auch entsandt. Dort durfte der Regisseur nicht den ganzen Film
zeigen. Nur Fragmente. Deswegen lief den Film ohne Anfang.
Szene mit dem Publikum
Verschiedene Sprecher
- Andrej Arsenjewitsch, leben Sie manchmal im Konflikt mit sich selbst?
- Glauben Sie an den wissenschaftlich-technischer Fortschritt?
- Wenn nicht, woran glauben Sie?
- Sie werden als „Neofaschist“ bezeichnet. Was können Sie zu Ihrer Rechtfertigung
sagen?
Atmo Festspiele in Pljos
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Autor
Sommer 2016. Pljos, das Filmfestival. Zwischen zwei aktuellen Wettbewerbsfilmen
ergötzt sich das Publikum am Sonnenuntergang über der Wolga. Die goldenen
Zwiebeltürme der frischrestaurierten Kirchen bieten ein russisches BilderbuchPanorama und fördern nostalgische Erinnerungen.
O-Ton/ Sprecher Wladimir Martynow:
Bei uns in Iwanowo gab es zu Sowjetzeiten einen der besten Kinoklubs, der “Écran
TN” hieß. Das war ein Territorium bedingter Freiheit.
Autor
Wladimir Martynow, Journalist von Radio Iwanowo. Cineast der ersten Stunde,
damals, vor 30 Jahren, immer mit einer Zenit-Kamera um den Hals.
O-Ton/ Sprecher Wladimir Martynow:
Wir durften Filme vorführen, die man sonst aus politischen Gründen dem breiten
Publikum nicht zeigen wollte. Unter Aufsicht des KGB.
Wir haben Andrej Tarkowski eingeladen. Er durfte mit dem Film “Der Spiegel”
kommen.
Die Platzanweiserinnen haben uns Mitglieder des Kinoklubs sehr gemocht und uns
jedes Mal gesagt, wie viele KGB-Leute da sind. Und diesmal waren es zwei und das
haben wir Andrej Arsenjewitsch auch gesagt. Er ging auf die Bühne starrte
aufmerksam/minutenlang ins Publikum, wahrscheinlich wollte er sie finden.
Aus einem Foto, das ich davon gemacht habe, ist fast ein Meter großes Porträt
geworden. Darauf hat er einen solch angespannten Blick...
Das war eine schwierige Zeit für ihn, er bekam keine Aufträge, fühlte sich bedrängt,
doch er sagte - an den Satz erinnere ich mich gut: wenn ihr hört, dass ich das Land
verlassen habe, glaubt es nicht. Ich habe nicht die Absicht zu emigrieren.
Autor:
1979 kommt Tarkowskis letzter Film in der Sowjetunion heraus, „Stalker“. Danach hat
er keine Aufträge mehr und geht mit einem Arbeitsvisum nach Italien. Dort entsteht
„Nostalghia“ - und in Schweden „Das Opfer“.
Nur sieben Filme hat Andrej Tarkowski gedreht – jeder kulturaffine Westeuropäer
kann ein, zwei aufzählen. In Russland versammeln sich ihre Kenner in einem Kurort
an der Wolga und witzeln darüber, dass Putin „Andrej Rubljow“ heutzutage
wahrscheinlich auch verbieten würde. So wie da die Erbarmungslosigkeit der Macht
gegenüber einem kleinen, unerschrockenen Maler gezeigt wird!
Sprecher Tarkowski ((Notizbuch):
Worüber ich gern einen Film drehen würde: über den Prozess gegen Martin
Bormann, über einen Physikers, der zum Diktator wird...
Über die Deserteure. Josef und seine Brüder. Matrjonas Hof nach Solschenyzin.
Über Dostojewski, Jeanne d'Arc, die Pest nach Camus...
O-Ton/ Sprecherin Olga:
Ich bedauere sehr, dass er „Stalker“ gefilmt hatte, ich bedauere auch, dass er
„Solaris“ gedreht hat. Wenn er doch andere Stoffe hätte machen können! In diesem
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Sinne war er sicherlich ein Opfer des Sowjetsystems. Wenn er damals hätte einen
Film über Dostojewski drehen können, und das in Zusammenarbeit mit Friedrich
Gorenstein! Das wären ganz andere Filme gewesen. Das wäre ein viel größerer
Tarkowski gewesen, als wir ihn kennen.
Musik Luigi Nono "No hay caminos hay que caminar ... Andrej Tarkovskij"
Sprecher Tarkowski (Drehbuch Stalker):
„Stalker“. Kamerafahrt über Wasser, darunter versunkene Reste von Zivilisation.
Einige lose Kalenderblätter tauchen auf. Ein Blatt zeigt die Zahl 29.
Autor
Am 29. Dezember 1986 stirbt Andrej Tarkowski in Paris an Krebs.
Musik Luigi Nono:
Absage
Im Spiegel der Nostalgie.
Die russischen Jünger des Andrej Tarkowski .
Sie hörten Feature von Mario Bandi
Es sprachen: Robert Dölle, Susanne Barth, Renate Fuhrmann, Doris Plenert,
Wieslawa Wesolowska, Wolfgang Rüter, Florian Seigerschmidt
und Mark Zack
Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Angelika Brochhaus
Regie: Mario Bandi
Redaktion: Ulrike Bajohr
Eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Westdeutschen Rundfunk und dem
Südwestrundfunk 2016