12 Aktuell Verdichtet bauen 13 Aktuell Verdichtet bauen Verdichtung auf dem Land An guten Plätzen dichter bauen Von Titus Ladner und Stephan Rausch «Je weiter man zurückblicken kann, desto weiter wird man vorausschauen», sagte einst Winston Churchill und betonte damit, wie wichtig es ist, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und die Erfahrungen unserer Vorfahren für die Zukunft zu nutzen. Wenn es um die Verdichtung beim Bauen geht, wird heute ausschliesslich die Verknappung des verfügbaren Bodens ins Feld geführt. Dieses Argument trifft zu. Doch nicht allein deshalb macht es Sinn, Bauten zu verdichten. Vielmehr geht es seit Urzeiten um den Menschen. Den Wohnmenschen, um genau zu sein. Menschen brauchen Halt, Orientierung und Gemeinschaft. Genau da setzt das verdichtete Bauen auf dem Land an. Hätten unsere Vorfahren diese Bedürfnisse nicht gehabt, würden wir heute noch in Streusiedlungen wohnen. Selbst in Zentraleuropa herumziehende Völker wie die Walser bauten Dörfer und kleine Städte – natürlich nicht zuletzt aus infrastrukturellen Gründen, war es doch seit jeher effizienter, Kanalisation, Wasserzufuhr oder Nahversorgung gemeinsam zu errichten und zu nutzen. Doch es ging immer auch um soziale Ideale: Menschen wollen sich austauschen und Gemeinschaften bilden. Früher wie heute. Im St. Galler Rheintal konnte man früher an klaren Abenden, wenn die Lichter in den Häusern angingen, von einer beliebigen Anhöhe aus die einzelnen Dörfer trennscharf erkennen. Heute verläuft ein einziger Lichtstreifen durch das ganze Tal. Ein analoges Bild präsentiert sich am helllichten Tag: Sämtliche Dörfer sind zusammengewachsen. Es ist nicht mehr möglich, sich mit dem eigenen Dorf zu identifizieren. Mit der Gemeinschaft, die eine «Marke» darArchitektur+Technik 12/16 Titus Ladner (oben) ist Architekt und Vorsitzender Gruppenleitung und Mitglied Verwaltungsrat der RLC AG Stephan Rausch Dipl. Architekt ETH / SIA, KMU HSG, ist Mitglied Gruppenleitung und Verwaltungsrat der RLC AG. RLC gehört zu den führenden Architekturbüros in der Ostschweiz und mit 80 Mitarbeitenden auch zu den grössten der Schweiz.Es steht für Architektur, Generalplanung und Projektentwicklung im Wohn-, Industrie- und Bürogebäudebau. stellt. Das Tal ist wie eine Stadt ohne Stadtkern – ein dicht besiedelter Einheitsbrei. Der Mensch braucht nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen, sondern auch einen spezifischen, einmaligen Raum, mit dem er sich identifizieren und an dem er sich im Alltag orientieren kann. Ein solcher Ort gewährt Sicherheit im Verhalten in vertrauten räumlichen und zeitlichen Strukturen. Der Mensch weiss, wer er ist, wer die anderen sind und wie er sich zu verhalten hat. Die Überschaubarkeit vertrauter Räume wie Landschaften oder Dörfer hat wichtige Funktionen. Die Gewöhnung an das Bekannte – an sich wiederholende Situationen mit bekannter Natur und bekannten Menschen – befreit von Ängsten, Unsicherheiten und Überraschungen. Der US-amerikanische Kommunikationswissenschaftler Joshua Meyrowitz spricht hierbei von der «merkwürdigen Macht der gemeinsamen Erfahrung, die daraus erwächst, dass man längere Zeit dieselbe Umgebung teilt». Somit verknüpft sich das Werte- und Normensystem einer Gruppe mit dem vertrauten Ort, der mit kulturellen Orientierungswerten besetzt wird. Verdichtetes Bauen macht also auch aus sozialer Sicht Sinn. Dies leuchtet zwar vielen ein, doch selber in solchen Häusern wohnen wollen die wenigsten. Warum eigentlich? Wenn die Qualität stimmt, gibt es an der Wohnform der Zukunft wenig auszusetzen. Doch leider wird landauf, landab oft mit wenig Erfahrung geplant und gebaut. Statt zu kluger Verdichtung führt dies dann zu Dichtestress. Die Schweiz wächst weiter – das steht fest. Unklar ist nur, wann die ominöse 10-Millionen-Marke erreicht sein wird. Seit 1945 ist die Wohnfläche von Herrn und Frau Schweizer kontinuierlich angestiegen – ein wunderbares Wohlstandsphänomen. Auch für Architekten. Doch das Ganze hat eine Kehrseite: Man baute auch an Orten, die die Menschen seit Generationen gemieden. So wurden nicht nur die sozialen Bedürfnisse ausgeblendet, sondern man ignorierte schlichtweg das überlieferte Wissen rund ums Bauen – und wunderte sich dann, wenn Naturkatastrophen folgten. Deshalb müssen wir heute an «guten Plätzen» dichter bauen. Auch in den Dörfern, die wieder kompakter werden und soziale Orientierung sowie Identität bieten sollen. Wir dürfen nicht mehr jede Lücke in der Landschaft mit einem «Blöckli» füllen, das eine Erbengemeinschaft glücklich macht. Das heimatliche Idyll will wieder gepflegt werden – wenn auch nicht unbedingt als Ballenberg-Romantik. Urbanes Bauen unter Berücksichtigung der ländlichen Gegebenheiten erfordert viel Erfahrung, auch im Umgang mit Behörden, Heimatschutzorganisationen und den Menschen, die sich in ihrer Umgebung nicht von Dichte gestresst, sondern pudelwohl fühlen wollen. Überbauung als Dorf Ein positives Beispiel ist die Wohnüberbauung «36.5°» in Heerbrugg, einem «identitätsarmen» Ort, der nicht einmal im Rheintal als eigene Gemeinde gilt, sondern als ein Konglomerat aus den vier Gemeinden Balgach, Berneck, Au und Widnau. Ein Dorf ohne Dorfkern. 36.5 Grad beträgt die Normaltemperatur des menschlichen Körpers. Und genau darum geht es bei diesem Projekt – um modernes Wohnen mit Freiraum, Stil und gemeinschaftlichen Dienstleistungen. Ohne Barrieren und Einschränkungen. Innert kürzester Zeit haben sich in dieser Wohn- und Gewerbeliegenschaft verschiedene Generationen mit unterschiedlichen Lebensformen eingefunden, um neben- und miteinander zu leben und zu arbeiten. Grosszügige Erschliessungszonen, Wohnungen mit Balkonen, warme, ansprechende Farben und Materialien sowie der natürlich gestaltete Aussenraum prägen das Konzept. Die Überbauung funktioniert wie ein Dorf. Die Generationen werden nicht auseinandergerissen. Davon zeugen zum einen Gemeinschafts- und Spielzonen und zum anderen Services wie Privatpflege für ältere Menschen oder Dienstleistungen, die auch Berufstätige rege nutzen: von Einkaufen über Wohnungsreinigung, Kleiderwaschen und Bügeln bis zu Blumen- und Pflanzenservice oder Haustierbetreuung. So entstand ein lebendiges Miteinander von Jung und Alt, von Singles, Paaren und Familien. Dies wird unterstützt durch ein ideales Wohnumfeld, eine zentrale Lage mit einer optimalen Anbindung an den öffentlichen Verkehr, zahlreichen Einkaufsmöglichkeiten sowie verschiedenen Naherholungsgebieten in der Umgebung.● Architektur+Technik 12/16 Der vorliegende Artikel gehört zur Reihe «Verdichtet bauen», einer Zusammenarbeit von «Architektur + Technik» mit Creafactory, Agentur für Immobilienkommunikation, und der HIG Immobilien Anlage Stiftung. Die Wohnüberbauung «36.5°» in Heerbrugg. Die Überbauung funktioniert wie ein Dorf. Die Generationen werden nicht auseinandergerissen.
© Copyright 2025 ExpyDoc