Artikel Architektur + Technik, Ausgabe 12-2016

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Aktuell
Verdichtet bauen
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Aktuell
Verdichtet bauen
Verdichtung auf dem Land
An guten
Plätzen
dichter bauen
Von Titus Ladner und Stephan Rausch
«Je weiter man zurückblicken kann, desto weiter
wird man vorausschauen», sagte einst Winston
Churchill und betonte damit, wie wichtig es ist, aus
den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und die
Erfahrungen unserer Vorfahren für die Zukunft zu
nutzen. Wenn es um die Verdichtung beim Bauen
geht, wird heute ausschliesslich die Verknappung
des verfügbaren Bodens ins Feld geführt. Dieses
Argument trifft zu. Doch nicht allein deshalb macht
es Sinn, Bauten zu verdichten. Vielmehr geht es
seit Urzeiten um den Menschen. Den Wohnmenschen, um genau zu sein. Menschen brauchen Halt,
Orientierung und Gemeinschaft. Genau da setzt das
verdichtete Bauen auf dem Land an. Hätten unsere
Vorfahren diese Bedürfnisse nicht gehabt, würden
wir heute noch in Streusiedlungen wohnen. Selbst
in Zentraleuropa herumziehende Völker wie die
Walser bauten Dörfer und kleine Städte – natürlich
nicht zuletzt aus infrastrukturellen Gründen, war es
doch seit jeher effizienter, Kanalisation, Wasserzufuhr oder Nahversorgung gemeinsam zu errichten
und zu nutzen. Doch es ging immer auch um soziale
Ideale: Menschen wollen sich austauschen und
Gemeinschaften bilden. Früher wie heute. Im St.
Galler Rheintal konnte man früher an klaren Abenden, wenn die Lichter in den Häusern angingen, von
einer beliebigen Anhöhe aus die einzelnen Dörfer
trennscharf erkennen. Heute verläuft ein einziger
Lichtstreifen durch das ganze Tal. Ein analoges
Bild präsentiert sich am helllichten Tag: Sämtliche
Dörfer sind zusammengewachsen. Es ist nicht mehr
möglich, sich mit dem eigenen Dorf zu identifizieren. Mit der Gemeinschaft, die eine «Marke» darArchitektur+Technik 12/16
Titus Ladner (oben) ist
Architekt und Vorsitzender Gruppenleitung
und Mitglied Verwaltungsrat der RLC AG
Stephan Rausch Dipl.
Architekt ETH / SIA,
KMU HSG, ist Mitglied
Gruppenleitung und
Verwaltungsrat der
RLC AG. RLC gehört
zu den führenden
Archi­tekturbüros in
der Ostschweiz und
mit 80 Mitarbeitenden
auch zu den grössten der Schweiz.Es
steht für Architektur,
Generalplanung und
Projektent­wicklung im
Wohn-, Industrie- und
Bürogebäudebau.
stellt. Das Tal ist wie eine Stadt ohne Stadtkern – ein
dicht besiedelter Einheitsbrei.
Der Mensch braucht nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen, sondern auch einen
spezifischen, einmaligen Raum, mit dem er sich
identifizieren und an dem er sich im Alltag orientieren kann. Ein solcher Ort gewährt Sicherheit im
Verhalten in vertrauten räumlichen und zeitlichen
Strukturen. Der Mensch weiss, wer er ist, wer die
anderen sind und wie er sich zu verhalten hat. Die
Überschaubarkeit vertrauter Räume wie Landschaften oder Dörfer hat wichtige Funktionen. Die
Gewöhnung an das Bekannte – an sich wiederholende Situationen mit bekannter Natur und bekannten
Menschen – befreit von Ängsten, Unsicherheiten
und Überraschungen. Der US-amerikanische Kommunikationswissenschaftler Joshua Meyrowitz
spricht hierbei von der «merkwürdigen Macht der
gemeinsamen Erfahrung, die daraus erwächst, dass
man längere Zeit dieselbe Umgebung teilt». Somit
verknüpft sich das Werte- und Normensystem einer
Gruppe mit dem vertrauten Ort, der mit kulturellen
Orientierungswerten besetzt wird.
Verdichtetes Bauen macht also auch aus sozialer Sicht Sinn. Dies leuchtet zwar vielen ein, doch
selber in solchen Häusern wohnen wollen die
wenigsten. Warum eigentlich? Wenn die Qualität
stimmt, gibt es an der Wohnform der Zukunft wenig
auszusetzen. Doch leider wird landauf, landab oft
mit wenig Erfahrung geplant und gebaut. Statt zu
kluger Verdichtung führt dies dann zu Dichtestress.
Die Schweiz wächst weiter – das steht fest. Unklar
ist nur, wann die ominöse 10-Millionen-Marke
erreicht sein wird. Seit 1945 ist die Wohnfläche von
Herrn und Frau Schweizer kontinuierlich angestiegen – ein wunderbares Wohlstandsphänomen. Auch
für Architekten. Doch das Ganze hat eine Kehrseite:
Man baute auch an Orten, die die Menschen seit
Generationen gemieden. So wurden nicht nur die
sozialen Bedürfnisse ausgeblendet, sondern man
ignorierte schlichtweg das überlieferte Wissen rund
ums Bauen – und wunderte sich dann, wenn Naturkatastrophen folgten. Deshalb müssen wir heute
an «guten Plätzen» dichter bauen. Auch in den
Dörfern, die wieder kompakter werden und soziale
Orientierung sowie Identität bieten sollen. Wir
dürfen nicht mehr jede Lücke in der Landschaft mit
einem «Blöckli» füllen, das eine Erbengemeinschaft
glücklich macht. Das heimatliche Idyll will wieder
gepflegt werden – wenn auch nicht unbedingt als
Ballenberg-Romantik. Urbanes Bauen unter Berücksichtigung der ländlichen Gegebenheiten erfordert viel Erfahrung, auch im Umgang mit Behörden,
Heimatschutzorganisationen und den Menschen,
die sich in ihrer Umgebung nicht von Dichte gestresst, sondern pudelwohl fühlen wollen.
Überbauung als Dorf
Ein positives Beispiel ist die Wohnüberbauung
«36.5°» in Heerbrugg, einem «identitätsarmen»
Ort, der nicht einmal im Rheintal als eigene Gemeinde gilt, sondern als ein Konglomerat aus den
vier Gemeinden Balgach, Berneck, Au und Widnau. Ein Dorf ohne Dorfkern. 36.5 Grad beträgt die
Normaltemperatur des menschlichen Körpers.
Und genau darum geht es bei diesem Projekt – um
modernes Wohnen mit Freiraum, Stil und gemeinschaftlichen Dienstleistungen. Ohne Barrieren
und Einschränkungen. Innert kürzester Zeit haben
sich in dieser Wohn- und Gewerbeliegenschaft
verschiedene Generationen mit unterschiedlichen Lebensformen eingefunden, um neben- und
miteinander zu leben und zu arbeiten. Grosszügige
Erschliessungszonen, Wohnungen mit Balkonen,
warme, ansprechende Farben und Materialien sowie der natürlich gestaltete Aussenraum prägen das
Konzept. Die Überbauung funktioniert wie ein Dorf.
Die Generationen werden nicht auseinandergerissen. Davon zeugen zum einen Gemeinschafts- und
Spielzonen und zum anderen Services wie Privatpflege für ältere Menschen oder Dienstleistungen,
die auch Berufstätige rege nutzen: von Einkaufen
über Wohnungsreinigung, Kleiderwaschen und
Bügeln bis zu Blumen- und Pflanzenservice oder
Haustierbetreuung. So entstand ein lebendiges Miteinander von Jung und Alt, von Singles, Paaren und
Familien. Dies wird unterstützt durch ein ideales
Wohnumfeld, eine zentrale Lage mit einer optimalen Anbindung an den öffentlichen Verkehr, zahlreichen Einkaufsmöglichkeiten sowie verschiedenen
Naherholungsgebieten in der Umgebung.●
Architektur+Technik 12/16
Der vorliegende
Artikel gehört zur
Reihe «Verdichtet
bauen», einer
Zusammenarbeit von
«Architektur + Technik»
mit Creafactory,
Agentur für Immobilienkommunikation, und
der HIG Immobilien
Anlage Stiftung.
Die Wohnüberbauung
«36.5°» in Heerbrugg.
Die Überbauung
funktioniert wie ein
Dorf. Die Generationen werden nicht
auseinandergerissen.