Detaillierte Inhaltsangabe.

Professor Dr. Andrea Sieber
Professur für
Ältere Deutsche Literaturwissenschaft
Das Tagelied – okzitanisch ‚Alba‘: die Weiße des Morgengrauens – zählt zu den unbestreitbar bekanntesten Gattungen
des deutschen Mittelalters, was jedoch nicht nur darin gründet, dass die Verfasser der Tagelieder so gut wie
ausschließlich der kanonischen Prominenz angehören; vielmehr scheint sich das Tagelied gegenüber den vor allem im
Hohen Minnesang und in der Epik so aufwendig konstruierten ideologischen Aspekten der literarischen Minne-Kultur in
Opposition zu stellen. Das Grundmotiv, zwei Liebende und deren Befindlichkeit kurz vor dem dräuenden Abschied bei
Tagesanbruch, hat wenig gemein mit der (gewollt-ungewollten) Klage des Ritters über Distanz und Ablehnung durch die
Angebetete in der Hoffnung auf (zumindest) ethische Verfeinerung. Im Tagelied finden Ritter und Dame an der Schwelle
zwischen Tag und Nacht ihre (auch körperliche) Liebeserfüllung inklusive aller Facetten von liep unde leit. Anhand
ausgewählter Textbeispiele aus den verschiedenen Phasen des Minnesangs sollen neben deren Herkunft die
verschiedenen Motivkomplexe der Tagelieder im jeweiligen literaturgeschichtlichen Kontext beleuchtet, intertextuelle
Beziehungen aufgedeckt, formale Strukturen untersucht sowie Gegenentwürfe, Abgesänge und/oder Abwandlungen und
auch die Rezeption jener Gattung bis zur Neuzeit betrachtet werden. Ebenso wird das gemeinsame Übersetzen der
ausgewählten Texte Bestandteil des Seminars sein, da dies für den Zugang zu der ebenso faszinierenden wie ästhetisch
anspruchsvollen Gattung der Tagelieder letztlich die unabdingbare Voraussetzung darstellt.
Textgrundlage zur Anschaffung: Tagelieder des deutschen Mittelalters. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von
Martina Backes. Einleitung von Alois Wolf. Stuttgart.
45499 Proseminar: Tagelieder -
Wintersemester 2016/17