Leseprobe

DAR 12/2016
Leichte HWS-Verletzung, ein Update – oder auch nicht!?
Leichte HWS-Verletzung, ein Update – oder auch nicht!?
Von Rechtsanwalt Gunnar Semrau, u. a. Fachanwalt für Verkehrsrecht, Frechen/Köln* und
Rechtsanwalt Carsten Staub, u. a. Fachanwalt für Verkehrsrecht, Mettmann**
In Kürze
Ca. 400.000-mal im Jahr sollen Ärzte nach einem
Verkehrsunfall eine Verletzung der Halswirbelsäule
diagnostizieren, allgemein als „Schleudertrauma“ bezeichnet.1 Seit Ewigkeiten streiten sich, dem folgend,
Geschädigte, besser: deren Kfz-Haftpflichtversicherungen und Schädiger über Ersatzansprüche für HWSVerletzungen, seien es Zerrungen, Schleudertraumata
oder sonstige Verletzungen nach Verkehrsunfällen. Die
Gesetzeslage ist eigentlich eindeutig. Denn der Schädiger ist nach § 249 Abs. 1 Satz 1 BGB verpflichtet, den
Zustand wiederherzustellen, der bestehen würde, wenn
der zum Ersatz verpflichtende Zustand nicht eingetreten
wäre. Und gemäß § 253 Abs. 2 BGB ist u. a. bei einer
Verletzung des Körpers, der Gesundheit, … Schadensersatz zu leisten und zwar eine billige Entschädigung in
Geld. Damit fokussiert sich die Schwierigkeit des/der
Geschädigten bzw. seines/r Rechtsanwalts/-wältin in
der Praxis zwangsläufig auf den Kausalitätsnachweis
und damit auf die Vorschriften der §§ 286, 287 ZPO.
A. Die Ausgangslage
In der Vergangenheit wurde zum Kausalitätsnachweis so
gut wie alles vertreten, z. B., dass erst ab einer bestimmten
Kollisionsdifferenzgeschwindigkeit überhaupt Verletzungen
entstehen könnten (sog. „Harmlosigkeitsgrenze“)2 mit der
Folge, dass es bei Kollisionen mit unter dieser Grenze liegenden Geschwindigkeiten solche Verletzungen gar nicht gebe,
schließlich würde ja auch auf Jahrmärkten Autoscooter gefahren, hierbei komme es nicht zu vergleichbaren Verletzungen.3
Grad II:
Bei röntgenologisch feststellbaren Veränderungen der
HWS (z. B. Gefäßverletzungen, Gelenkkapseleinrissen) liegen mittelschwere Fälle vor. Die Symptome treten regelmäßig mit einer kurzen Verzögerungszeit (1 Std.) auf.
Grad III:
Schwere Grad-III-Verletzungen sind Risse, Frakturen,
Verrenkungen, Lähmungen und ähnlich schwere erkennbare
Folgen. Sie sind ohne zeitliche Verzögerung feststellbar.
Bei eindeutig messbaren und medizinisch diagnostizierbaren Verletzungsbildern (Grad II und III) gibt es grundsätzlich keine Besonderheiten (außer bei dem Einwand der überholenden Kausalität, wenn unfallunabhängige Beschwerden
die durch den Unfall ausgelösten Beschwerden überlagern,
vgl. dazu unten D).
C. Die leichte HWS-Verletzung
Schwierigkeiten entstehen regelmäßig im Rahmen lediglich leichter HWS-Verletzungen (Grad I). Von Versichererseite wird hier oftmals eine Regulierung unter Verweis auf
mangelnde medizinische Feststellbarkeit und eine lediglich
geringe Aufprallgeschwindigkeit abgelehnt.
I.
Auffassung des BGH zur leichten HWS-Verletzung
Der BGH8 hat hierzu – auf den ersten Blick – eindeutig Stellung genommen und eine Richtung vorgegeben, wie
HWS-Verletzungen zu beurteilen sein sollen. In der Entscheidung heißt es insoweit:
Der BGH hat hierzu Einiges entschieden; insbesondere der sog. Harmlosigkeitsgrenze eine Abfuhr erteilt.4 Auch
Oberlandesgerichte sind angetreten, das Problem des Kausalitätsbeweises sauber dogmatisch zu behandeln.5 Man möchte meinen, dass seither Regulierungs-Ruhe eingetreten sei.
„Der erkennende Senat hat eine ‚Harmlosigkeitsgrenze‘
in Form einer geringen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung für ungeeignet erachtet, um eine Verletzung
der Halswirbelsäule trotz entgegenstehender konkreter Hinweise auf eine entsprechende Verletzung generell auszuIn der jüngeren Vergangenheit ist jedoch zu beobachten, schließen (vgl. Senat, NJW 2003, 1116). (…) Die kollisionsbedass die Regulierung von Ansprüchen aufgrund von HWS- dingte Geschwindigkeitsänderung durch den Zusammenstoß
Verletzungen zumindest im außergerichtlichen Bereich mehr zweier Fahrzeuge ist nicht die einzige Ursache für die Entsteund mehr von den Kfz-Haftpflichtversicherungen grundsätz- hung eines HWS-Syndroms, vielmehr sind hierfür eine Reilich abgelehnt wird.6 Neben der Diskussion über die Höhe he weiterer gewichtiger Faktoren ausschlaggebend, etwa die
von Entschädigungsansprüchen wird also diskutiert, ob konkrete Sitzposition des Fahrzeuginsassen oder auch die
überhaupt die körperliche Integrität verletzt ist bzw. bewie- unbewusste Drehung des Kopfes. Deshalb ist eine ‚Harmlosen werden kann. Es stellt sich zeitgleich die Frage, ob es sigkeitsgrenze‘ der erwähnten Art auch für Verletzungsfolgen
hierzu neuere technische oder medizinische Erkenntnisse aus Frontalkollisionen ungeeignet. Bei der Prüfung, ob ein
gibt, ob sich ein Wandel der Rechtsprechung vollzieht oder Unfall eine HWS-Verletzung verursacht hat, sind vielmehr
ob schlicht und einfach wirtschaftliche Erwägungen der Kfz- stets die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (…)“
Haftpflichtversicherungen ausschlaggebend sind.
Demnach kann es wohl auch auf die Geschwindigkeitsänderung, die der Geschädigte erlitten hat, ankommen –
daneben sind aber noch weitere Aspekte zu berücksichtigen.
B. Streitige HWS-Verletzungen
Der Verletzungsnachweis ist vor allem bei leichten HWSVerletzungen problematisch. Dabei ist davon auszugehen,
dass HWS-Verletzungen grundsätzlich nach ihrem Schweregrad eingeordnet werden:
Grad I:
Leichte Verletzungen in Form von Hinterkopf-/Nackenschmerzen und geringer Bewegungseinschränkung der
HWS. Meist unauffällige röntgenologische oder neurologische Befunde. Beschwerden treten häufig erst mit zeitlicher
Verzögerung auf.
*
RA Gunnar Semrau ist seit 2004 zugelassener Rechtsanwalt, FA für Verkehrsrecht, Herausgeber des JURION Navigator Verkehrsrecht, Autor im
Formularbuch des Fachanwalts Verkehrsrecht, Hrsg. RAin Ulrike Dronkovic, 4. Aufl. 2017 und Autor im Großkommentar Gesamtes Verkehrsrecht,
Hrsg. Haus/Krumm/Quarch, 2. Aufl. 2017.
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RA Carsten Staub ist seit 1995 zugelassener Rechtsanwalt, seit 2000 ADAC
Vertragsanwalt, FA für Strafrecht und FA für Verkehrsrecht, Ausbilder für den
juristischen Vorbereitungsdienst, Referent bei der DeutscheAnwaltAkademie,
Autor: Formularbuch des Fachanwalts Verkehrsrecht, 4. Aufl. 2016; Himmelreich/Krumm/Staub, Verkehrsunfallflucht, 6. A u fl. 20 13; Kr um m/Kuhnert/
Staub/Weber, Straßenverkehrssachen, 2. Aufl. 2016, § 6 PflVG in Halm/
Kreu-ter/Schwab, AKB-Komm., 2. Aufl. 2015, div. Aufsätze in der DA
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