Länder gegen weitere Ausgrenzung

faulheit & arbeit
Sonnabend/Sonntag,
17./18. Dezember 2016, Nr. 295
n Drucksachen
n Schwarzer Kanal
n Reportage
n ABC-Waffen
Gegen jeden Krieg? Lenin im Herbst 1916
über die Losung der Entwaffnung (Teil 2).
Klassiker
Autokrat trifft Automat. Herfried Münkler
im Handelsblatt über den neuesten politischen King Kong. Von Arnold Schölzel
Unter Verdacht. In der algerischen Kabylei
wächst das Streben nach Unabhängigkeit.
Von Nick Brauns
Er hörte wieder das Jammern, und zu seiner
Überraschung berührte es ihn. Flüchtlingshelfer Schlademann. Von Annette Riemer
»Der Staat könnte alle
Erwerbslosen beschäftigen«
Gespräch
Mit Eduardo Garzón Espinosa. Über die Forderung der spanischen Vereinigten
Linken nach »garantierter Arbeit«, Geldtheorie und den Kampf des Madrider Stadtrats
gegen das Spardiktat
CARMELA NEGRETE
D
ie Einführung »garantierter Arbeit«
oder auf spanisch
»Trabajo garantizado« war ein wichtiger Teil des Wahlprogramms der
Vereinigten Linken vom Dezember
2015. Was ist darunter genau zu verstehen?
Es geht darum, dass der Staat theoretisch
alle Bürger einstellen und beschäftigen
könnte, solange sie das wollten. Wichtig
dabei ist, dass das natürlich unter würdigen Bedingungen und mit einem auskömmlichen Lohn geschehen müsste, was
auch möglich wäre. So könnte Vollbeschäftigung erreicht werden, ohne dass
die Preise zu steigen bräuchten. Aber die
»garantierte Arbeit« kann nur in einem
Staat durchgesetzt werden, der eine eigene Geldpolitik betreibt, also eine eigene
Währung hat und in dieser alles zahlen
EPA/JERO MORALES/DPA-BILDFUNK
Eduardo Garzón Espinosa
… ist Ökonom und promoviert an der
Universität Complutense von Madrid.
Thema seiner Doktorarbeit sind die
Exporte der deutschen Wirtschaft.
Er arbeitet als Berater der Madrider
Stadtrats, der seit 2015 von den Bürgerplattform »Ahora Madrid« geführt wird.
Außerdem ist er Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von ATTAC Spanien
kann, eben auch die Arbeitskräfte. Aufgabe der Vereinigten Linken ist es nun,
das Programm an spanische Verhältnisse
anzupassen. Schließlich haben wir genau
diese Möglichkeit nicht.
Das Konzept steht im Gegensatz zum
sogenannten bedingungslosen Grundeinkommen, das voraussetzt, dass alle Menschen schon selber wissen, welche Aufgaben in einer Gesellschaft zu übernehmen
sind. Wir sind da paternalistischer, wenn
Sie so wollen. Zum Wohle der gesamten
Gesellschaft muss diese Arbeit geplant
und koordiniert werden. Wenn alle Erwerbslosen eingestellt würden, könnte
man nicht mehr von Kapitalismus reden –
zumindest nicht in der Form, wie wir ihn
heute erleben. Es wäre eine grundlegende
Transformation. Aber natürlich bleibt das
bisher im Bereich der Spekulation, denn
diese Idee wurde noch nirgends umgesetzt. Aber sie ist die logische Konse-
quenz aus der »Modern monetary theory«
bzw. »modernen Geldtheorie«, MMT.
Worum geht es da?
MMT erlaubt es, sich mit der Natur des
Geldes und mit den internationalen Finanzsystemen zu befassen. Dabei wird
ein moderner Kontext zugrunde gelegt,
da wir es mittlerweile mit einer komplett
anderen Situation zu tun haben, verglichen mit 1971. Ab damals erlaubte man,
dass Staaten Geld drucken können, ohne
eine physische Reserve dafür zu haben.
Daher müssen wir besonders in linken
Kreisen damit aufhören, die Welt mit alten Werkzeugen zu analysieren. In der
Linken herrscht generell ein Mangel an
Vorstellung und Kenntnissen, wie Geld
funktioniert, wie die Finanzsysteme funktionieren. Das ist natürlich ein großes
Problem, wenn man Ideen oder Alterna-
In den vergangenen Monaten fanden in Spanien
etliche Arbeitskämpfe
statt, da der Druck auf
die Beschäftigten beständig gewachsen ist
(Foto: 13. Februar, Monesterio)
Umverteilen!
Ein Gespräch mit Eduardo Garzón Espinosa. Über die Forderung der spanischen
Vereinigten Linken nach »garantierter
Arbeit«, über Geldtheorie und den Kampf
des Madrider Stadtrats gegen das Kürzungsdiktat. Außerdem: Autokrat trifft
Automat. Schwarzer Kanal
ACHT SEITEN EXTRA
n Fortsetzung auf Seite zwei
GEGRÜNDET 1947 · SA./SO., 17./18. DEZEMBER 2016 · NR. 295 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT
WWW.JUNGEWELT.DE
Lügen der Herrschenden
Zoff um Tarifeinheit
Chance für Frieden
Freund der Wahrheit
3
5
6
12
Das Zeitalter der modernen Kriege auf
PR-Basis begann mit gigantischem Fake. Von Otto Köhler
Bei Eurowings eskaliert der Streit zwischen den Gewerkschaften UFO
und ver.di. Von Daniel Behruzi
Kolumbien: Trotz Rückschlägen gibt
es Hoffnung auf ein Ende des
Krieges. Ein Jahresrückblick
Ein kämpferischer Humanist: Zum Tod
des Publizisten und Gewerkschafters Eckart Spoo
Ostaleppo evakuiert
Tausende ziehen
aus den befreiten
Stadtvierteln ab.
Kleinere Gefechte
halten an.
Von Karin Leukefeld
Siehe Seite 16
EU will stärkere
militärische Kooperation
PICTURE ALLIANCE / ABACA
D
ie Kämpfe in Aleppo sind
weitgehend beendet. Der
syrische Präsident Baschar
Al-Assad verkündete am Donnerstag
abend die »Befreiung« der Stadt; Bilder und Berichte belegen den Abzug
von mehreren tausend Menschen aus
den östlichen Stadtvierteln, die bisher von bewaffneten Gruppen kontrolliert worden waren. Bis Freitag
vormittag verließen nach Schätzungen der syrischen Staatsmedien bis
zu 8.500 Menschen die Stadt in Richtung der Provinz Idlib. Im Osten Aleppos hielten einzelne Gefechte an.
Die Evakuierung, die am Donnerstag begonnen worden war, habe die
ganze Nacht angedauert, sagte Ingy
Sedky, Sprecherin des Internationalen
Komitees vom Roten Kreuz (IKRK),
am Freitag vormittag. Busse und
Krankenwagen seien ohne Pause zwischen den letzten besetzten Vierteln
in Ostaleppo und anderen Gebieten
der gleichnamigen Provinz gependelt.
Um die Sicherheit der Konvois zu
gewährleisten, war zwischen den verschiedenen Kriegsparteien ein 21 Kilometer langer »humanitärer Korridor« ausgehandelt worden. Beaufsichtigt wurde die Evakuierung vom
»Russischen Zentrum für die Versöhnung« in Kooperation mit der syrischen Armee und zivilen Behörden.
Der Abzug aus den östlichen
Vierteln Salah Al-Din, Al-Ansari,
Al-Maschhad und Al-Sibdija verlief
am Freitag indes nicht störungsfrei.
Vorläufig in Sicherheit: Zivilisten können über einen »humanitären Korridor« in den Westen abziehen
Wiederholt waren Schüsse zu hören.
Offenbar hatten mit der syrischen Armee verbündete Milizen versucht, bewaffnete Gruppen daran zu hindern,
»schwere Waffen aus Ostaleppo zu
schmuggeln und Geiseln zu nehmen«,
wie das syrische Staatsfernsehen
berichtete. Schließlich konnten die
Busse und die Fahrzeuge des IKRK
und des Syrischen Arabischen Roten
Halbmondes ihre Fahrt fortsetzen.
Die syrische Regierung erklärte die
Evakuierung daraufhin für ausgesetzt,
weil sich die Gegenseite sich nicht an
die Abmachungen hielte. Nach Angaben des russischen Militärs war die
Evakuierung indessen bereits beendet. Nötig sei nun eine »vollständige
Waffenruhe für ganz Syrien«, so der
russische Präsident Wladimir Putin.
Unklar ist die Situation der Bewohner von Al-Fua und Kafraja in der
Provinz Idlib. Die beiden Orte werden seit mehr als zwei Jahren von der
Nusra-Front (heute »Eroberungsfront
der Levante«) und der »Armee der
Eroberung« belagert. Die syrische
Regierung, die Armee sowie deren
Verbündete Russland, Iran und die
Hisbollah hatten gefordert, dass mit
dem Abzug der Kämpfer aus Ostaleppo auch die Belagerung von Al-Fua
und Kafraja aufgehoben werden sollte. Die islamistischen Milizen ließen
»die Menschen dort nicht hinaus«,
sagte der syrische Parlamentsabgeordnete Fares Schehabi am Freitag. Aus
den Reihen der Aufständischen hieß
es am Freitag, Kranke und Verwundete dürften die Orte verlassen. Bis
jW-Redaktionsschluss blieb die Lage
unklar.
In Brüssel wandte sich am Donnerstag der »Bürgermeister« von
Ostaleppo, Brita Hadschi Hassan, an
die Staatschefs der Europäischen Union. Am Rande des EU-Außenministertreffens appellierte er, Beobachter
in die syrische Stadt zu schicken, wo
nach seinen Angaben »50.000 Zivilisten kurz davor« seien, »massakriert
zu werden«. Die Administration,
der Hasan nach eigenen Angaben
vorsteht, war ursprünglich von oppositionellen lokalen Koordinationskomitees gegründet worden, wurde
aber zunehmend von islamistischen
Kampfgruppen dominiert. Heute vertritt Hasan die Auslandsopposition,
die in Istanbul ansässig ist.
Länder gegen weitere Ausgrenzung
Asylbewerberleistungsgesetz scheitert im Bundesrat. Vorerst bleibt alles beim alten
D
er Bundesrat hat das vielfach
kritisierte Asylbewerberleistungsgesetz vorerst gestoppt. Die Änderungen hätten nach
dem Willen von Bundesregierung und
der Mehrheit des Bundestags zum 1.
Januar greifen sollen. Die Neuregelung, die etwa Einschnitte für Flüchtlinge in Sammelunterkünften vorsah,
verfehlte am Freitag in der Länderkammer die erforderliche Mehrheit.
Asylbewerber, die beengt mit vielen anderen leben müssen, sollten der
Vorlage zufolge zehn Prozent weniger
Geld bekommen als einzeln Unter-
Dein Abo
Zeit.
zur rechten
gebrachte. Ausgaben für Haushaltsenergie und Wohnungsinstandhaltung aus den Bedarfssätzen sollten
ausgegliedert werden, weil diese bei
Gemeinschaftsunterbringung durch
Sachleistungen gedeckt würden. Zudem sollte mit dem neuen Gesetz ein
Anreiz für die Aufnahme ehrenamtlicher Tätigkeiten geschaffen werden.
Hierzu wurde eine Freibetragsregelung für steuerbefreite Einnahmen
aus derartigem Engagement in den
Gesetzentwurf aufgenommen. An den
Leistungseinschränkungen für Asylbewerber hatte es von Grünen und
Linken Kritik gegeben, die in vielen Ländern mitregieren. Bundesregierung und Bundestag können nun
den Vermittlungsausschuss anrufen,
um eine Einigung zwischen Bund und
Ländern zu erzielen. Bis dahin bleibt
es bei der alten Rechtslage.
Das Bundessozialministerium bedauerte die Entscheidung des Bundesrates. Noch am Freitag werde eine
technische Mitteilung für die Verwaltung herausgegeben, wie die Auszahlung der Leistungen jetzt zu erfolgen
habe, sagte eine Sprecherin. Außerdem sollten zügig Gespräche geführt
werden, »wie wir eine neue gesetzliche Grundlage schaffen können.«
Der Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, Günter
Burkhardt, begrüßte die Entscheidung
des Bundesrats. Das Gesetz sei diskriminierend. »Eine immer weitere
Ausgrenzung der Betroffenen schadet
nicht nur ihnen, sondern der gesamten Gesellschaft. Wir appellieren an
Bundesregierung und Bundestag, diese Entscheidung zu akzeptieren und
nicht den Vermittlungsausschuss anzurufen«, erklärte Burkhardt weiter.
(AFP/jW)
Brüssel. Der in der Nacht zu Freitag
zu Ende gegangene EU-Gipfel hat
die Mitgliedsstaaten zur verstärkten
Zusammenarbeit im Bereich Verteidigung aufgerufen. Die Europäer
müssten »ausreichende zusätzliche
Ressourcen« zur Verfügung zu
stellen, hieß es aus Brüssel. Dies
sei notwendig, »um die Sicherheit
und Verteidigung Europas in einem
komplizierten geopolitischen Umfeld zu stärken und die Bürgerinnen
und Bürger besser zu schützen«.
Die EU-Außenbeauftragte Federica
Mogherini wurde beauftragt, in den
kommenden Monaten Projekte innerhalb der bisher noch nicht genutzten »ständigen strukturierten Zusammenarbeit« des EU-Vertrages vorzuschlagen. Bekräftigt wurde auch der
Beschluss der Verteidigungsminister
vom November, ein Planungs- und
Führungszentrum für zivile und militärische Auslandsmissionen der EU
aufzubauen.
(AFP/jW)
Bundestag stimmt gegen
Abschiebestopp
Berlin. Der Bundestag hat am Freitag
einen Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Afghanistan abgelehnt. Zwei
entsprechende Anträge von Grünen
und Linken scheiterten an den Stimmen von Union und SPD. Hintergrund der Debatte ist die Sammelabschiebung abgelehnter afghanischer
Asylbewerber vom Mittwoch. Linke
und Grüne forderten das Kabinett
auf, sich gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung der
Vollstreckung der Ausreisepflicht
einzusetzen. Die Linke-Innenpolitikerin Ulla Jelpke sprach von einer
»brutalen und menschenfeindlichen
Abschiebeaktion«. Es sei eine
»Lüge«, dass es sichere Gebiete in
Afghanistan gebe. Die Verlängerung
des Bundeswehr-Einsatzes am Hindukusch sei »Beweis dafür, dass die
Lage keineswegs sicher ist«. Das
Bundesinnenministerium hingegen
will künftig deutlich mehr Flüchtlinge abschieben.
(AFP/jW)
wird herausgegeben von
1.974 Genossinnen und
Genossen (Stand 16.12.2016)
n www.jungewelt.de/lpg