Die Realos bündeln ihre Kräfte - lu

SCHWEIZ 17
Neuö Zürcör Zäitung
Donnerstag, 15. Dezember 2016
Die SP ist im Nationalrat deutlich nach links gerückt
Durchschnittliche Ausrichtung
Nationalrat 2016
Chantal Galladé
Median
SP
Median Nationalrat
2015
2011
2007
2003
1999
–10
links
–5
die Mitte
+5
rechts
+10
–10
Nationalrat 2006
Peter Vollmer
Median
–10
links
die Mitte
–5
+5
rechts
links
–5
die Mitte
+5
rechts
+10
hhs. Ein Vergleich der NZZ-Parlamentarier-Ratings zeigt: Die SP-Fraktion im Nationalrat ist in den
letzten zehn Jahren kompakter geworden – und auch deutlich nach links gerutscht. Im Jahr 2006
besetzten grüne Politiker die linke Flanke des Rates, heute sind sie bunt gemischt mit den Vertretern
der SP. Deren rechter Parteiflügel war einst stark bestückt mit Leuten wie Peter Vollmer, Jean-Noël Rey,
Paul Günter oder der heutigen Ständerätin Pascale Bruderer. Derzeit hingegen ist «Ausreisserin»
Chantal Galladé allein auf weiter Flur. Dies auch, weil zwei ihrer Gesinnungsgenossen seit den Wahlen
2015 nicht mehr dabei sind: Daniel Jositsch gelang der Sprung in den Ständerat, und Stéphane Rossini
trat nicht mehr an.
+10
NZZ-Infografik/jok.
QUELLE: SOTOMO/NZZ
Die Realos bündeln ihre Kräfte
Ständerätin Bruderer und Ständerat Jositsch wollen den rechten Parteiflügel stärken – und üben sich in Selbstkritik
Die «reformorientierten» Kräfte
wollen sich mehr Gehör in der
SP verschaffen und auch gegen
aussen sichtbarer werden. Dazu
haben sie vorerst eine Internetplattform geschaffen – konkrete
Inhalte sollen erst noch folgen.
HEIDI GMÜR, BERN
Gibt es bald ein Gurtenmanifest 2.0?
Die Frage bleibt offen. Am Mittwoch
beschränkten sich die Exponenten des
rechten Parteiflügels darauf, die Lancierung einer Internetplattform «für eine
reformorientierte SP» bekanntzugeben,
wo sich Gleichgesinnte online eintragen
können, um «diese Stimmen partei-
SP zwischen Wachstum und Spaltung
Seite 13
intern zu bündeln und zu stärken».
Wortführer dieser «gemässigten und
reformorientierten» Kräfte sind die
Aargauer Ständerätin Pascale Bruderer
und ihr Zürcher Ratskollege Daniel
Jositsch. Sie kündigten wenigstens an,
sich die Basler Finanzdirektorin Eva
Herzog, die sich aktiv für die Reform
engagiert, frontalen Angriffen von Parteifreunden ausgesetzt sah.
KEYSTONE
NZZ/PD
KEYSTONE
Zuwanderung kein Thema
Pascal Bruderer
Daniel Jositsch
Aargauer Ständerätin Zürcher Ständerat
Yvonne Beutler
Marcel Züger
Stadträtin Winterthur Sektionspräsident
Evi Allemann
Berner Nationalrätin
dass man derzeit an einem Papier
arbeite, das als Diskussionsgrundlage
einer Veranstaltung des reformorientierten Flügels im neuen Jahr dienen
soll. Das Papier wird sich laut Jositsch
«primär wirtschaftspolitischen Fragen»
widmen, wobei man sich auf Punkte
stützt, die Bruderer in ihrem Rückweisungsantrag des umstrittenen Wirtschaftspapiers am SP-Parteitag Anfang
Dezember erwähnt hatte. Statt zur
«Überwindung des Kapitalismus» bekannte sich der Realo-Flügel darin unter
anderem zur sozialen Marktwirtschaft,
zum Markt «als wirksamem Instrument
für eine effiziente und innovative Wirtschaftsordnung» und forderte zudem
eine Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Digitalisierung.
Der Rückweisungsantrag blieb am
Parteitag zwar chancenlos, er war aber
von 53 Parteimitgliedern mitunterzeich-
net worden, unter anderem auch von
den Ständeräten Hans Stöckli (Bern)
und Claude Janiak (Basel) sowie den
Nationalratsmitgliedern Evi Allemann
(Bern), Yvonne Feri (Aargau) und Tim
Guldimann (Zürich/Berlin). Bruderer
und Allemann verwiesen am Mittwoch
zudem auf zahlreiche Rückmeldungen
aus der Basis, die sie erhalten hätten.
Mit expliziter Kritik an der Partei hielten sich die Exponenten allerdings zurück. Sie beschränkte sich letztlich auf
das Wirtschaftspapier, das «einen dirigistischen Geist atmet» (Jositsch), und
natürlich auf den impliziten Vorwurf,
dass die SP eben zu wenig reformorientiert, zu wenig gemässigt sei.
Stattdessen übten sie sich fast schon
demonstrativ in Selbstkritik: «Wir haben uns zu wenig eingebracht, und wir
wollen diesen Fehler korrigieren», sagte
etwa Jositsch. Auch Bruderer betonte,
der rechte Flügel sei «selber in der
Pflicht, besser wahrgenommen zu werden». Ohnehin war der Ton geradezu
versöhnlich. Kein Vergleich zu den Gehässigkeiten, die in den letzten Wochen
zwischen Genossen öffentlich ausgetauscht worden waren. Sei es rund um
das Wirtschaftspapier oder jüngst wegen
der Unternehmenssteuerreform III, als
Versöhnlicher Ton
Es gehe nicht um eine Richtungsdiskussion in der SP, sagte Jositsch, sondern um
eine bessere Vertretung des reformorientierten Flügels. Es sei wichtig, dass
dieser eine «Heimat» habe in der SP.
Bruderer sagte es so: Man wolle nach
innen stärker werden und nach aussen
sichtbarer – und damit nicht zuletzt auch
ein Potenzial an Wählern anzapfen, das
«bisher ungenügend abgeholt wurde».
Vorerst bleiben auch die Reaktionen auf
die Ankündigung der Plattform zurückhaltend bis wohlwollend. Es sei «höchste Zeit», meint frohgemut Parteivizepräsident Beat Jans (Basel), der sich selber
in der Mitte der SP positioniert; «mir ist
wichtig, dass die ganze Breite der Partei
zur Geltung kommt». Ganz so freudig
reagierte Parteipräsident Christian Levrat nicht. Er nehme «zur Kenntnis, dass
einige Kollegen eine Plattform lanciert»
hätten. Es sei «gut und richtig, dass sich
der ‹rechte› Parteiflügel einbringt» – ein
wenig Spott konnte er sich allerdings
nicht verkneifen und fügte an: «Irgendwann müssen auch die Inhalte folgen.»
Es sei aber «kein Zufall», dass seine Kollegen kein Programm vorgestellt hätten,
zumal auch dieser Flügel sich nicht in
allen Fragen einig sei.
Tatsächlich haben die selbsternannten Reformer zum Beispiel das Thema
Zuwanderung und Asyl «explizit ausgenommen», wie Jositsch sagte. Das war
2001 beim Gurtenmanifest von Rudolf
Strahm und der heutigen Bundesrätin
Simonetta Sommaruga noch anders.
Erstmals ein «Luzerner» Mit Kronzeugen gegen Mafiabosse
Der Ständerat geht trotz Bedenken auf eine Forderung der Bundesanwaltschaft ein
an der Spitze
Zwei SP-Schwergewichte mit
juristischem Hintergrund
lieferten sich im Ständerat
eine harte Debatte über die
Einführung einer Kronzeugenregelung in der Schweiz. Der
Befürworter obsiegte – vorläufig.
Ulrich Meyer ist von der
Vereinigten Bundesversammlung
zum neuen Präsidenten des
Bundesgerichts gewählt worden.
Er wird zwischen Luzern und
Lausanne pendeln.
KATHARINA FONTANA
Die Vereinigte Bundesversammlung hat
am Mittwoch Ulrich Meyer zum neuen
Bundesgerichtspräsidenten für die Jahre
2017 und 2018 gewählt. Die Wahl Meyers, bisher Vizepräsident, stellt insofern
eine Premiere dar, als erstmals ein Bundesrichter aus Luzern an der Spitze des
höchsten Gerichts stehen wird.
Der 63-jährige Meyer gehört der SP
an und ist seit dreissig Jahren in Luzern
tätig, wo sich die beiden sozialversicherungsrechtlichen Abteilungen des Bundesgerichts befinden (bis 2006 war dies
das Eidgenössische Versicherungsgericht). Er wird seine Arbeit künftig zwischen Luzern und Lausanne aufteilen,
wie er auf Anfrage bekanntgibt. Neue
KEYSTONE
Stabwechsel beim Bundesgerichtspräsidium
Ulrich Meyer
Neuer Bundesgerichtspräsident
Vizepräsidentin des Bundesgerichts ist
die 62-jährige Martha Niquille, die seit
2008 in Lausanne tätig ist und aus den
Reihen der CVP stammt.
Der bisherige Bundesgerichtspräsident Gilbert Kolly wird sein Amt nach
der Maximaldauer von vier Jahren Ende
Monat abgeben und auf diesen Zeitpunkt hin auch aus dem Bundesgericht
ausscheiden. Der 65-Jährige, der 1998
nach Lausanne berufen wurde, hat sich
während seiner Zeit an der Spitze des
höchsten Gerichts namentlich für die
laufende Revision des Bundesgerichtsgesetzes engagiert. Diese soll die Richter entlasten und es ihnen ermöglichen,
sich vermehrt auf wichtige Rechtsfragen
zu konzentrieren.
DANIEL GERNY
Der kleine Fisch landet in Freiheit, weil
er im Verhör auspackt und damit den
grossen Paten im Hintergrund ans Messer liefert: Solche Szenen sind hierzulande hauptsächlich aus dem Kino bekannt – in der realen Welt der schweizerischen Strafverfolgung gibt es solche
Deals zwischen Beschuldigten und
Staatsanwaltschaft nicht. Seit Jahrzehnten wird in der Schweiz immer wieder
über die Einführung einer Kronzeugenregelung diskutiert.
Schon Bundesanwältin Carla Del
Ponte stellte Mitte der 1990er Jahre
diese Forderung auf. Sie biss bei der
Politik auf Granit. Auch der gegenwärtige Bundesanwalt Michael Lauber
wünscht sich ein solches Instrument:
«Beispiele im Ausland, namentlich in
Italien und den USA, belegen eindrücklich die Wirksamkeit einer Kronzeugenregelung», heisst es im jüngsten Tätigkeitsbericht der Bundesanwaltschaft.
Jetzt zeichnet sich im Parlament ein zaghaftes Umdenken ab.
«Die Strafjustiz kommt langsam an
die Grenze ihrer Wirksamkeit», erklärte
der Baselbieter Ständerat und Anwalt
Claude Janiak (sp.) am Mittwoch zur Begründung seiner Motion für eine Kronzeugenregelung. Die rasante Entwicklung der Kommunikationstechnologie
mache es den Ermittlern immer schwerer, Menschenhändlern, Kinderpornoringen und anderen verbrecherischen
Organisationen mit herkömmlichen Mitteln auf die Spur zu kommen. Selbst Abhörmöglichkeiten, wie sie das revidierte
Gesetz zur Überwachung des Post- und
Fernmeldeverkehrs (Büpf) erlaubt, änderten wenig daran. Wenn jetzt nichts geschehe, so warnte Janiak, seien in dreissig
Jahren italienische Verhältnisse in der
Schweiz nicht ausgeschlossen.
Der Ständerat überwies Janiaks Motion mit 23 zu 11 Stimmen bei 4 Enthaltungen mit deutlicher Mehrheit. Doch
damit ist noch nichts entschieden. Die
schwerwiegenden rechtsstaatlichen Bedenken bleiben bestehen. Janiaks Par-
tei- und Fachkollege Daniel Jositsch
(Zürich) plädierte dezidiert gegen die
Einführung einer Kronzeugenregelung,
weil damit «eine rote Linie überschritten wird, die der Gesetzgeber nicht
überschreiten darf». Für Ermittler seien
eben nicht die kleinen Fische interessant, weil diese wenig wüssten. Von
einer Kronzeugenregelung profitierten
das mittlere Kader oder die Bosse mit
den wertvollen Informationen, die aber
auch erheblich Schuld auf sich geladen
hätten. Diese dürften im Rechtsstaat
nicht von Tätern zu Instrumenten der
Anklage gemacht werden.
Die Debatte lässt vermuten, dass
einige Ratsmitglieder für Janiaks Vorstoss gestimmt haben, weil sie sich der
Kronzeugenregelung nicht vorschnell
verschliessen möchten. Justizministerin
Simonetta Sommaruga sagte, der Bundesrat werde im Rahmen der Revision
der Terror- und Mafia-Strafnormen eine
Ausweitung der bisherigen Möglichkeiten zur Strafmilderung für geständige
Täter prüfen. Eine solche eingeschränkte Kronzeugenregelung ist aus rechtsstaatlicher Sicht weniger problematisch.
Gut möglich, dass sich die Politik der
Forderung der Staatsanwälte auch dieses Mal nicht kompromisslos anschliesst.