taz.die tageszeitung (10.12.2016)

Die Liberale
Bis zuletzt galt sie als große alte Dame der FDP, dabei war sie der Partei längst
abhanden gekommen. Ein Nachruf auf Hildegard Hamm-Brücher Seite 7
Foto: B. Friedrich/Ullstein Bild
AUSGABE BERLIN | NR. 11196 | 49. WOCHE | 38. JAHRGANG
SONNABEND/SONNTAG, 10./11. DEZEMBER 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 3,50 AUSLAND | € 3,20 DEUTSCHLAND
ANZEIGE
wir-mögens-öko.de
ZU
GESUND
Das neue
Krank
NEU
im Handel
Mann, 75, rege,
rechts, reaktionär,
sucht Macht für
den Lebensabend
ERNST GEMEINTE ZUSCHRIFTEN AN [email protected]
N ETZKAM PAGN E
Der tiefe Fall des
Jacob Appelbaum
Er war der Star
der Hackerszene,
dann wurde er mit
Vergewaltigungsvorwürfen abserviert.
Zu Recht? Gesellschaft SEITE 20–22
SELBST VER TEI DIGU NG
Bilqiss,
vom Tode bedroht
Die marokkanischfranzösische
Schriftstellerin Saphia
Azzeddine über die starke
Heldin ihres neuen
Romans Kultur SEITE 12, 13
DER STÄ R KSTE SATZ
Das Leben des AfD-Politikers
Alexander Gauland SEITE 8, 9
„Der
‚Populismus‘
ist kein Krisenphänomen,
sondern ein
Doppelgänger
moderner Demokratien“
ETHEL MATALA DE MAZZA und JOSEPH
VOGL im Essay Argumente SEITE 11
taz.berlin
60649
4 190254 803208
TAZ
MUSS
SEIN
Die tageszeitung wird ermöglicht
durch 16.432 GenossInnen,
die in die Pressevielfalt investieren.
Infos unter [email protected]
oder 030 | 25 90 22 13
Aboservice: 030 | 25 90 25 90
fax 030 | 25 90 26 80 [email protected]
Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90
fax 030 | 251 06 94 [email protected]
Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22
tazShop: 030 | 25 90 21 38
Redaktion: 030 | 259 02-0 | [email protected] | [email protected]
taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin
taz im Internet: www.taz.de | twitter.com/tazgezwitscher
facebook.com/taz.kommune
TEILHABE Herr Nickel
und der Münzprüfer:
Arbeit in Werk­stätten
für Behinderte SEITE 41, 44, 45
02
TAZ.AM WOCH EN EN DE
Kompass
SON NABEN D/SON NTAG, 10./1 1. DEZEM BER 2016
Aus dem Inhalt
Politik
Mord Freiburg in der
Woche nach dem Mord
an Maria L. Seite 5
Liberal Hildegard HammBrücher ist gestorben.
Ein Nachruf Seite 7
Reportage
Titel Alexander Gauland
vertritt den rechten
Flügel der AfD. Wie
kam er dazu? Seite 8, 9
Argumente
Essay Über Populismus:
Wer ist das Volk – und
wer entscheidet? Seite 11
Kultur
Seltener Gast in
Donald Trumps Tower
Gesellschaft
Sturz Hacker Jacob
Appelbaum muss sich
Vergewaltigungsvorwürfen stellen Seite 20–22
Sachkunde Mal dick, mal
dünn: Populäre Kinderserienfiguren im Wandel
der Zeit Seite 24, 25
Stadt Die Architektin
Marjetica Potrč über
die Zerstörung des öffentlichen Raums.
Ein Gespräch Seite 26, 27
E U ROPA N AC H H A LT IG E N T DE C K E N
NORD — Zügig nach Schottland — OST — Von Wien per Rad ins Burgenland —
SÜD — Sizilianische Radreise, Deutschlands grüner Süden — WEST — Pyrenäen:
Imker
Mit dem IIm
ker unterwegs, Burgund: Wie eine Kathedrale entsteht
Zweitausendsiebzehn — 5,90 € — 7,50 SFR. — Übrige EU-Länder 6,80 € — www.wirsindanderswo.de
neu
www.wirSindAnderswo.de
ANZEIGE
Verträglich Reisen
ist jetzt Anderswo!
Botschaft Angela Merkel
möchte, dass CDU-Kreisverbände Weihnachtslieder singen. Folgt die
Basis? Seite 29
Genuss Bhindhi Curry tut
der Seele gut Seite 30
Medien
Kolumbien Staatliche
Bodyguards spionieren
Journalisten aus Seite 33
Reise
Nacktfotos Hüllenlos
durch die Alpen Seite 35
Leibesübungen
Debatte Woher rührt der
Hass gegen das Fußballunternehmen RB Leipzig?
Seite 39
TV-PROGRAMM SEITE 32
LESERBRIEFE SEITE 37
DIE WAHRHEIT SEITE 40
LEKTIONEN
5 Dinge, die wir
diese Woche
gelernt haben
1. Die CDU und Merkel – es
wird kompliziert
Mal wieder – zum neunten Mal
– ist Angela Merkel zur CDUVorsitzenden gewählt worden, diesmal nur mit 89,5 Prozent. Das schlechteste Ergebnis, seitdem sie auch Kanzlerin
ist. Und schon am Tag danach
setzte es beim Parteitag in Essen den nächsten Dämpfer: Den
2014 mit der SPD ausgehandelten Kompromiss zur doppelten
Staatsbürgerschaft wollen die
Delegierten am liebsten rückgängig machen – gegen die
Empfehlung Merkels. Sie halte
A
ls der österreichische
Bundespräsidentenkandidat Alexander Van
der Bellen am Sonntagabend im Triumph in die Wiener Sofiensäle einzog, spielten
sie „We Are the Champions“ von
Queen. Und was sagt uns das? Es
sagt uns, dass er gewonnen hat.
Klar, ein Classic-Grüner hätte
mit kulturellem Distinktionsbewusstsein „Pata Pata“ von Miriam Makeba gewählt. Aber der
hätte halt nicht mal die Stichwahl erreicht.
Jetzt könnte man sagen: Van
der Bellen ist doch gar kein Grüner, sonst hätte er die Wahl ja
nicht gewonnen. Das wäre für
alle ideal, die nicht wollen, dass
Grüne jenseits von Baden-Württemberg als Orientierungspartei die zentralen Fragen der Gegenwart bearbeiten. Es hieße im
Umkehrschluss: Richtige Grüne
sind Verlierer, deren Erfüllung
es ist, wie im Land Berlin hinter der Linkspartei zu landen,
um als Nummer 3 in einer anachronistisch-sozialdemokratisch tickenden Koalition mitwurschteln zu dürfen. Die ent-
den Beschluss persönlich für
falsch, sagte sie – und will an der
Regelung auch in der laufenden
Legislatur nichts ändern.
2. Wenn Grönland eisfrei ist,
gehen wir unter
Und es könnte tatsächlich passieren, dass von ganz Grönland
das Eis komplett abschmilzt,
schreiben Forscher der Columbia University in New York im
Wissenschaftsmagazin Nature.
Das Grönlandeis scheine „sehr
instabil“ zu sein und sei schon
in natürlichen Warmphasen verschwunden, weshalb es auch
wegen der menschengemachten Erderwärmung verloren
zu gehen drohe. In den vergangenen 1,4 Millionen Jahren sei
Grönland mindestens 280.000
Jahre eisfrei gewesen. Passiert
das wieder, könnte der Meeresspiegel um sieben Meter steigen.
Dann saufen wir ab.
Nanu, was ist denn das? Empfängt der künftige US-Präsident Donald Trump in seinem so stilsicher
designten Trump-Tower in New York City da etwa Hillary Clinton? Soll seine unterlegene Gegenkandidatin
Ministerin werden? Nein, es handelt sich um einen Aaron aus San Francisco, der, als Clinton verkleidet,
durch die Lobby stöckelt – sehr zur Freude der dort Versammelten
Foto: Andrew Harnik/ap
3. Kleiner Aufkleber hilft
Verirrten
Die Stadt Iruma in Japan hat ein
Hilfsmittel entwickelt, um verirrten Demenzkranken schnell
wieder nach Hause zu geleiten:
Miniaufkleber mit QR-Codes
für Finger- oder Fußnägel, in
denen eine individuelle Nummer eingespeichert ist. Mittels
dieser scanbaren Etiketten können Menschen, die sich verirrt
haben, einer Verwaltung zugeordnet werden. Diese hilft anschließend, die Angehörigen
zu finden. Die nur einen Zentimeter großen Codes halten etwa
zwei Wochen lang, auch wenn
sie nass werden.
4. Flensburg goes digital
Flensburg, hübsche Kleinstadt
im Norden mit zweifelhaftem
Ruf als „Stadt der Verkehrssünderdatei“, kommt den Unholden
ungebremsten Rasens, notori-
schen Falschparkens oder derben Nötigens näher: Sie können
ihre Punkte im Internet einsehen. Zur Abfrage auf der Seite
www.kba.de ist allerdings einiges vonnöten: ein Personalausweis mit Onlinefunktion, ein
Kartenlesegerät und eine Ausweis-App für den Computer.
5. Ein neues Wort: der
Steuer­patriot
Als so einer darf der in Diensten
Real Madrids stehende Fußballer Karim Benzema gelten. Wo
Kollegen wie Cristiano Ronaldo
oder Arsenals Mesut Özil laut
der Enthüllungsplattform Football Leaks massenhaft Steuern
hinterzogen haben sollen, hat
Benzema mehr gezahlt als nötig. Weil er sie in seine Heimat
Frankreich überwiesen hat, wo
der Steuersatz mit 33 Prozent höher ist als in Spanien, wo Benzema arbeitet. FELIX ZIMMERMANN
Das Zitat
„Berlin ist eben
nicht nur Currywurst und Techno,
sondern auch Babybrei und Bürgeramt,
darin werden wir
jetzt investieren“
WERNER GRAF, NEBEN NINA STAHR NEUER
LANDESVORSITZENDER DER BERLINER
GRÜNEN, IN SEINER BEWERBUNGSREDE
Foto: Rasmus Tank
Roman Saphia Azzeddines „Bilqiss“ vereint
kulturelle Konflikte mit
Humor Seite 12, 13
Sachbuch US-Philosophin
Seyla Benhabib verteidigt
die Globalisierung des
Rechts Seite 15
DI E EI N E FRAGE
Das neue grüne Wir
WAS KÖN N EN DI E DEUTSCH EN BUN DESGRÜN EN VON ÖSTERREICHS
BUN DESPRÄSI DENT ALEXAN DER VAN DER BELLEN LERN EN?
scheidende Frage für die Partei
vor der Bundestagswahl lautet
also: Wozu Grün im Jahr 2017?
Er setze auf die „Vernunft“,
sagte Alexander Van der Bellen
mir vor der Wahl.
Ich sagte: „Ja glauben Sie
denn, dass die Vernunft mehrheitsfähig ist?“ Worauf er antwortete: „Ja. Noch.“
Und tatsächlich hat er mit einem fast perfekten Wahlkampf
und einem Gespür für die Grenzen von anderen eine Mehrheit der Vernunft zusammengebracht: Pro EU und für die
offene Gesellschaft. Und auch
wenn das im Wahlkampf keine
Rolle gespielt hat, so steht dieser Bundespräsident jetzt auch
für die sozialökologische Transformation als zentralen Kern einer gerechteren gemeinsamen
Zukunft.
Man kann über Österreichs
Grüne sagen, was man will, aber
PETER UNFRIED
IST TAZ-CHEFREPORTER
sie haben die historische Chance
genutzt. Und nicht vorbeiziehen
lassen. Sie haben sich untergeordnet unter ein größeres Ziel,
sich einen ewigen Wahlkampf
lang die moralischen Opposi­
tionsausrufezeichen verkniffen,
auch wenn es richtig hart war,
etwa bei der Schließung der Balkanroute.
Ja, aber: Wozu dann noch
Grün?
Van der Bellen hat eine Antwort gegeben, indem er liberale
Europäer vor einem antieuropäischen, antiliberalen, antisozialökologischen österreichischen Bundespräsidenten bewahrt hat. Diesen Job müssen
nicht die Grünen übernehmen.
Es böte sich halt an.
In Österreich kann man auch
sehen: Wer rechts schlagen will,
muss von halb rechts Wähler
holen und darf nicht die Mitte
nach rechts verschieben, so wie
das moralische Linkspopulisten,
kurz: Mopulisten, wie der Journalist Jakob Augstein mit dem
Kampfbegriff „rechte Grüne“
versuchen.
Van der Bellen hat sich einen Janker gekauft und ist darin über die Dorffeste gezogen.
Das war ein Zeichen der Wertschätzung der Kultur der anderen. So baute er Vertrauen auf –
gegen diesen Habitus, von ande-
ren immer nur das Schlimmste
anzunehmen. Der zentrale teilgesellschaftliche Paradigmenwechsel, für den Van der Bellen steht, ist sein Patriotismus.
Dies ist unsere Gesellschaft, unsere Verfassung, unsere Demokratie, unser Europa. Und nun
müssen wir nach den gemütlichen Jahren im gefühlten Widerstand zum ersten Mal kämpfen
– und zwar dafür und mit möglichst vielen zusammen. Nicht
gegen möglichst viele.
Mit dieser Haltung hat Ale­
xander Van der Bellen eine neue
Mehrheit gewonnen und damit
auch die überkommenen Zuordnungen rechts und links überwunden. Es sind Grüne, Liberale,
Linke und Konservative, die ihn
gewählt haben, um als Allianz
gegen rechts die offene Gesellschaft und die Möglichkeit einer guten Zukunft zu verteidigen. Die Kraft eines progressiven Spitzenpolitikers bemisst
sich nicht an der Radikalität seiner Positionen. Sie bemisst sich
­daran, ein Wir schaffen zu können, das über die Partei hinausweist.
Die Drei
SON NABEN D/SON NTAG, 10./1 1. DEZEM BER 2016
TAZ.AM WOCH EN EN DE
03
„Böller wie Splitterbomben“, schreibt die Bundesanwaltschaft. Die Asylunterkunft in Freital nach dem letzten Anschlag im November 2015 Foto: Roland Halkasch/ZB/dpa/picture alliance
Der Schatten
VON KONRAD LITSCHKO
D
er Vorwurf dürfte Peter Frank ärgern, sehr
sogar. Es geht um den
Fall Freital, eine Serie rechter Straftaten in Sachsen. Der Generalbundesanwalt
hat ihn übernommen und angeklagt: als Rechtsterrorismus.
Nun heißt es, ein Polizist habe
die Gruppe vor Einsätzen seiner
Kollegen gewarnt, habe mitgeteilt, wann sie besser verschwinden sollten.
Ja, sagt Franks Sprecherin,
dem Verdacht werde nachgegangen. Die zuständige Staatsanwaltschaft in Dresden ermittele. Mehr könne sie nicht sagen. Die Probleme sind damit
aber nicht am Ende.
Im November hatte die Bundesanwaltschaft Anklage gegen
sieben Männer und eine Frau
der Freitaler Gruppe erhoben:
Über Monate sollen sie in der
Kleinstadt vor Dresden Straftaten verübt haben. Zwei Asylunterkünfte wurden mit Sprengsätzen angegriffen, das Auto
eines Linkspartei-Politikers abgebrannt, das Büro seiner Partei
demoliert, ein linkes Wohnprojekt in Dresden attackiert.
Die Dresdner Generalstaatsanwaltschaft ermittelte und sah
darin keinen Terror. Peter Frank,
oberster Ankläger der Republik,
tat es – und übernahm. Es war
ein Signal der Härte gegen die
bundesweit immer weiter ausufernde Gewalt gegen Flüchtlinge. Nun aber droht das Verfahren von einer anderen Frage
überlagert zu werden: Bringen
Sachsens Sicherheitsbehörden
den Prozess in Gefahr?
Denn da ist nicht nur der Polizeispitzel, noch ein weiterer Fall
ist ungeklärt: Was hatte es mit
dem Kontakt des Verfassungsschutzes zu einem Gruppenmitglied auf sich? Diese Frage
treibt vor allem Endrik Wilhelm
um. Er ist Verteidiger von Maria
K., einer der Angeklagten. „Ich
möchte, dass dieses Verfahren
so rechtsstaatlich läuft, wie es
laufen sollte. Und da stellt sich
gerade schon die Frage der Mitverantwortung der Ermittlungs-
Im
Verfahren gegen
die Gruppe
Freital wird es
für die Ermittler
heikel. Wie sehr
mischten Polizei
und Ver­fassungs­­schutz
mit? Hätte der
letzte Anschlag
verhindert
werden können?
RECHTER TERROR
behörden“, sagt der Dresdner
Anwalt. Wilhelm reichte inzwischen Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft ein: wegen Beihilfe durch Unterlassen.
Im Juli 2015 hatte die Freitaler Gruppe mit ihrer Gewalt­se­
rie begonnen. Ihre Anschläge
verabredeten sie über eine geheime Gruppe in einem Messengerdienst, den „Schwarzen
Kanal“. Aus Tschechien besorgten sie Hunderte illegale Böller.
Einige, so stellten die Ermittler
fest, hatten eine 130-fach stärkere Wirkung als Silvesterfeuerwerk. Damit schlugen die Neonazis nachts zu.
Drei Monate nach der ersten
Tat, im Oktober 2015, meldete
sich schließlich eines der Mitglieder bei der Polizei. Er wolle
auspacken, sagte er, aber dafür
Vertraulichkeit zugesichert bekommen. Die Polizei verwies
ihn zunächst an den Verfassungsschutz. Später bekommt
der Mann seine Vertraulichkeit,
wird von der Polizei vernommen – und liefert die geheimen
Chatprotokolle. So bestätigten
es Vertreter von Verfassungsschutz und Generalstaatsanwaltschaft im Rechtsausschuss
des Sächsischen Landtags.
Allerdings: Wenige Tage nach
Auftauchen des Informanten
begeht die Gruppe ihren letzten und schwersten Anschlag –
eine weitere Sprengstoffattacke
auf eine Asylunterkunft in Freital. Die Gruppe platziert die Böller direkt vor den Fensterscheiben. Der Syrer Ibrahim R. wird
von umherfliegenden Glassplittern an der Stirn und am Auge
verletzt, drei andere Bewohner
flüchten im letzten Moment aus
dem Raum. Die Bundesanwaltschaft wertet die Tat als versuchten Mord.
Hätte der Anschlag verhindert werden können? Denn es
gab ja nun den Informanten.
Zudem schnitt die Polizei bereits über Wochen die Telefongespräche einiger Verdächtiger
mit. „Man muss schon fragen,
warum diese Erkenntnisse nicht
genutzt wurden, um Schlimmeres zu verhindern“, sagt Endrik Wilhelm. Er ist mit der Kritik nicht allein. Der sächsische
Grünen-Innenpolitiker Valentin Lippmann findet: „Die wesentlichen Informationen lagen
auf dem Silbertablett.“ Der Eindruck, dass die Polizei den Anschlag hätte verhindern können,
dränge sich auf.
Die Behörden weisen den Vorwurf zurück. Man habe dazu ein
Prüfverfahren eingeleitet, sagt
die Sprecherin der Bundes­an­
waltschaft. Der Verdacht habe
sich „bislang nicht erhärtet“.
Auch der sächsische Verfassungsschutz widerspricht, von
dem Anschlag auf die Flüchtlingsunterkunft gewusst zu haben. Nur ein einziges Treffen
habe es mit dem Informanten
gegeben: eine „Nullnummer“.
Nichts habe man dabei über die
Gruppe erfahren.
Nicht nur die Verteidiger,
auch Anwälte der Nebenklagebleiben skeptisch. „Warum hatte
der Verfassungsschutz überhaupt Kontakt zu dem Mann?“,
fragt Kristin Pietrzyk, die Ibrahim R. vertritt. „Der hat da
nichts zu suchen. Das ist doch
eine klare Sache der Strafverfolgungsbehörden.“
Tatsächlich war der Informant aus der Freital-Gruppe
nicht nur Mitläufer. Schon im
Juni griff er mit Timo S., heute
angeklagt als Rädelsführer,
und einem dritten Komplizen
Flüchtlingsunterstützer an. Mit
dem Auto versuchten sie, deren
Wagen von der Straße zu drängen. Als die Verfolgungsjagd
schließlich zum Halten kam,
zerschlug der dritte Angreifer
die Autoscheiben mit einem
Baseballschläger. Auch bei dem
Angriff der Freitaler auf ein linkes Wohnprojekt in Dresden war
der Informant dabei. Er gehörte
zur Gruppe, die mit Böllern und
Steinen die Vorderseite des Hauses attackierten. Die zweite Fraktion griff mit Buttersäure von
der Hinterseite an.
Kurz nach der Attacke meldete sich der Mann bei der Polizei. Dass er, trotz der Straftaten, Vertraulichkeit zugesichert
bekam, ist für Verteidiger Endrik Wilhelm ein Unding. „So etwas geht bei einem Beschuldigten nicht.“
Erst im Juli dieses Jahres
wurde die Vertraulichkeit aufgehoben – ein dreiviertel Jahr
nach den ersten Festnahmen.
Das zeigen Ermittlungsakten,
die die taz einsehen konnte.
Zu den acht heute Angeklagten
gehört der Informant dennoch
nicht. Gegen ihn wird gesondert
ermittelt.
Es bleibt nicht die einzige Ungereimtheit. Ungeklärt ist auch
die Sache mit dem Polizisten.
In einer Vernehmung hatte der
mutmaßliche Anführer, Timo
S., behauptet, der Mitangeklagte Patrick F. habe einen Bekannten bei der Bereitschaftspolizei, der sie über Polizeieinsätze
informiert habe – und darüber,
wann sie sich besser aus dem
Staub machen sollten. So berichtete es die Zeit. Patrick F. soll den
Ermittlern auch den Namen des
Beamten genannt haben.
Ein Polizist als Tippgeber für
Terroristen? Dieser Vorwurf
wiegt schwer. Die Dresdner
Staatsanwaltschaft geht ihm
nach. Sie ermittelt seit Donnerstag konkret gegen einen Beamten. Der Vorwurf: Verletzung von
Dienstgeheimnissen. Die Grünen haben beantragt, dass sich
der Sächsische Landtag bereits
am Dienstag mit den Vorwür-
fen befasst. „Durch pures Behördenversagen wird einer der
wichtigsten Prozesse der jüngsten Zeit ins Wanken gebracht“,
kritisiert Innenexperte Lippmann. Für Nebenklageanwältin
Pietrzyk ist klar, dass die Rolle
von Polizei und Verfassungsschutz auch im Prozess thematisiert werden muss. „Dass hier
eigenartig agiert wurde, ist offensichtlich.“
Dass der Prozess, der im
Frühjahr 2017 beginnen soll,
noch platzt, glaubt Pietrzyk allerdings nicht. „Dafür sind die
Beweise der Anklage zu stark.“
Der Bundesanwaltschaft liegen neben den Chatprotokollen inzwischen auch Geständnisse einiger Beschuldigter vor.
Der Gruppe ging es darum, ein
„Klima der Angst“ zu schaffen,
heißt es in der Anklage. Sie sei
hierarchisch organisiert gewesen, verhielt sich konspirativ,
plante ihre Taten genau. Und
sie nahm die Tötung von Menschen „billigend in Kauf“. Ihre
Böller hätten wie Splitterbomben gewirkt. All das spreche für
Terrorismus.
ANZEIGE
Wir retten weiter.
Auch im Winter.
Gemeinsam gegen das Sterben im Mittelmeer !
Spendenkonto: IBAN: DE04 1005 0000 0190 4184 51 • BIC: BELADEBEXXX
SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V. • Organisation zur Rettung Schiffbrüchiger im Mittelmeer
www.sosmediterranee.org • [email protected]