Deutscher AnwaltSpiegel

9 // Arbeitsrecht/AÜG
Deutscher AnwaltSpiegel
Ausgabe 25 // 14. Dezember 2016
Nicht zu Ende gedacht?
Im Blickpunkt: Nachteilige Praxisfolgen eines Streiks im Rahmen der neuen Leiharbeitsregelungen
Von Hans Georg Helwig
Nun ist es amtlich. Am 01.04.2017 tritt das Gesetz in Kraft,
mit dem die Bundesarbeitsministerin den Missbrauch
von Werkverträgen zur Umgehung der Arbeitnehmerüberlassung abschaffen wollte. Ob das gelingt, werden
wir sehen. Über die grundsätzlichen Schwächen des Gesetzes wurde viel geschrieben, über zwei besondere Aspekte, die Streiksituationen betreffen, allerdings wenig.
Hier geht es darum, welche Folgen das Gesetz wegen des
Verbots der Beschäftigung von Leiharbeitnehmern im
bestreikten Betrieb für Verleihunternehmen haben kann,
sowie darum, welche Folgen sich ergeben, wenn an dem
Arbeitsvertrag mit dem Verleiher festgehalten wird.
Fehlende hinreichende Differenzierung
Der Reihe nach: Nach dem (noch) geltenden § 11 Abs. 5 des
Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) ist ein Leiharbeitnehmer nicht verpflichtet, in einem bestreikten
Betrieb zu arbeiten, und der Verleiher, sein Arbeitgeber,
muss ihn darauf hinweisen. Der Leiharbeitnehmer hat
es also (noch) selbst in der Hand, über seine Tätigkeit zu
entscheiden. In der ab April 2017 geltenden Fassung des
Gesetzes (AÜG neu) wird der Leiharbeitnehmer entmündigt. Der Passus dazu in der Neufassung des § 11 Abs. 5
AÜG: „Der Entleiher darf Leiharbeitnehmer nicht tätig
werden lassen, wenn sein Betrieb unmittelbar durch einen Arbeitskampf betroffen ist.“ Die Vorschrift besagt
© seanfboggs/iStock/Thinkstock/Getty Images
Einführung
Auch ausgeliehene Flugkapitäne dürfen nach dem neuen AÜG
während eines Pilotenstreiks nicht fliegen.
aber auch, dieses gelte nicht, wenn der Entleiher sicherstellt, dass Leiharbeitnehmer keine Tätigkeiten übernehmen, die bislang von nun streikenden Arbeitnehmern
ausgeübt wurden. Was folgt daraus?
Wohlwollend ausgelegt, hat der Gesetzgeber nicht
ausreichend differenziert – weniger gutmütig bewertet, hat der Gesetzgeber nicht zu Ende gedacht, was
das Gesetz für die Praxis bedeutet. Hier sei nur ein hypothetisches Beispiel in Anlehnung an den noch schwelenden Arbeitskampf bei der Lufthansa angedacht. Wir
unterstellen, eine Fluggesellschaft verfüge seit jeher
nicht über ausreichend eigene Piloten, um ihr Flugnetz
zu bedienen. Sie beschäftigt deshalb ständig 50 „LeihPiloten“ als Leiharbeitnehmer. Diese Piloten fliegen nie
dieselbe Strecke, eigene Piloten und Leih-Piloten wechseln die Routen und die Flugzeuge, je nach Bedarf und
Planung der Fluggesellschaft. Wird nun der Flugbetrieb
durch die eigenen Piloten bestreikt, dürften nach dem
Wortlaut des zitierten § 11 Abs. 5 AÜG neu die Leih-Piloten nicht mehr eingesetzt werden. Zum einen, weil der
Betrieb bestreikt wird und zum anderen, weil die Fluggesellschaft nicht sicherstellen kann, dass die Leih-Piloten
nicht Tätigkeiten übernehmen, die von bei der Fluglinie
angestellten Piloten ausgeführt werden. Nichts anderes
gilt übrigens für Betriebe, die etwa bei saisonal abhängigen Auftragslagen Leiharbeitnehmer neben eigenen
Beschäftigten als Fließbandarbeiter einsetzen.
Diese an den Wortlaut angelehnte Auslegung des
Gesetzes kann nicht gewollt sein. Es sieht so aus, als wolle der Gesetzgeber mit dieser Neuregelung verhindern,
dass Leiharbeitnehmer als sogenannte „Streikbrecher“
eingesetzt werden. Es soll vermieden werden, dass Unternehmen ihre Betroffenheit durch einen Streik umgehen, indem sie statt der eigenen Belegschaft Leiharbeitskräfte einkaufen. Nach der noch geltenden Rechtslage
ist das zulässig. Der Gesetzgeber wollte bislang keinen
möglicherweise gesetzeswidrigen Eingriff in die Organisationsstruktur der Unternehmen von außen 
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oktroyieren. Tatsächlich umgeht der bestreikte Betrieb
im genannten Beispiel aber keinen Streik seiner eigenen
Arbeitnehmer. Die Produktion oder der Flugbetrieb wird
nur in demselben anteiligen Umfang wie bisher durch
die Leiharbeitnehmer weiterbetrieben.
Konsequenzen in der Praxis
Sollte sich indes die Auffassung durchsetzen, während
eines Arbeitskampfes sei die Beschäftigung jeglicher
Leiharbeitnehmer verboten, wären die Konsequenzen
fatal. Die Fluggesellschaft, die nach ihrer Unternehmensstruktur ständig im laufenden Flugbetrieb Leih-Piloten
beschäftigt, dürfte so nach der neuen Gesetzesregelung
nicht mehr verfahren. Der Betrieb wird bestreikt, und der
Inhalt ihrer Aufgaben ist nicht trennbar von denen eigener Arbeitnehmer. Kurzum, die Fluggesellschaft ist für die
Dauer des Streiks faktisch gezwungen, den eigenen Betrieb einzustellen. Es wird dem Unternehmen, das unabhängig von einem Streik schon immer Leiharbeitnehmer
eingesetzt hat, verboten, diese weiter zu beschäftigen. In
der Konsequenz stellte eine solche gesetzliche Folge einen
staatlichen Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb dar. Die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes wird somit zu Recht gestellt. Auf
den Unternehmer kommen unvorhersehbare wirtschaftliche Folgen zu. Da wird er die Androhung eines Bußgelds
bis 500.000 Euro, die das AÜG für einen Verstoß gegen § 11
Abs. 5 vorsieht, vielleicht eher in Kauf nehmen.
Bauernopfer:
Nachteilige Folgen für den Verleiher …
Weitere Folgen kommen hinzu, die durch das Gesetz
nicht gewollt sein können: Darf das bestreikte Unterneh-
men Leiharbeitnehmer nicht mehr einsetzen, schickt es
diese zurück an den Verleiher. Der Verleiher muss sie weitervergüten. Er erzielt aber nun ohne Vorwarnung keine
äquivalenten Einnahmen mehr. Gleichzeitig wird der Verleiher nicht umgehend eine neue Beschäftigungsmöglichkeit für die betroffenen Arbeitnehmer zur Verfügung
stellen können. Dies vor allem dann, wenn es sich um
ganze Personengruppen und nicht nur Einzelpersonen
handelt, die wegen des Streiks an den Verleiher „zurückfallen“. Dieser kann den Arbeitnehmern nicht sofort betriebsbedingt kündigen, da ihm nach der Rechtsprechung
des Bundesarbeitsgerichts (BAG) eine gewisse „Aushaltefrist“ auferlegt wird. Im Fall eines Streiks wird es immer
heißen, eine Kündigung sei unzulässig, da ein Streik nicht
länger als einige Tage andauert und dann wieder mit einem Einsatz gerechnet werden könne. Das ist richtig, der
Verleiher aber bleibt in der Zeit auf sich gestellt. Er wird
zum Bauernopfer der gesetzlichen Regelung.
… und den Leiharbeitnehmer
Ebenso leiden die Leiharbeitnehmer: Sie erhalten für
die Zeit, in der sie der Verleiher „zurücknehmen“ muss,
in der Regel eine geringere Vergütung. Der Verleiher ist
nicht an das Equal-Pay-Gebot gebunden. Dieses Gebot,
das sich das AÜG neu auf die Fahne schreibt, gilt nur in
dem Entleihbetrieb und im Vergleich zu den dort tätigen
Arbeitnehmern. Die Verleiher haben meistens Entgelttarifverträge, die unterhalb jener der Entleiher liegen, oder
sie sind gar nicht tarifgebunden und zahlen den Mindestlohn. Während des Streiks bekommen somit auch
Leiharbeitnehmer unverschuldet weniger Lohn.
Auf eine ähnliche Folge werden sich die Verleiher einstellen können, wenn ihre Arbeitnehmer von der nun in § 9
Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AÜG neu geschaffenen sogenannten
„Festhaltenserklärung“ Gebrauch machen. Das AÜG sieht
bisher als Folge einer unwirksamen Arbeitnehmerüberlassung vor, dass „automatisch“ ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Leiharbeitnehmer und dem Entleiher zustande kommt. Das ändert sich nun. Der Leiharbeitnehmer
kann nun erklären, dass er an seinem Arbeitsverhältnis zu
dem Verleiher, seinem Arbeitgeber, festhalten möchte.
Unabhängig davon, wie realistisch dieses ist, da die
formalen Anforderungen an eine solche Erklärung ein
unüberwindbares bürokratisches Ungetüm darstellen
dürften, bleibt der Arbeitnehmer bei einer unwirksamen
Arbeitnehmerüberlassung Arbeitnehmer des Verleihers.
Hier entsteht also ebenfalls ein neues Risiko für die Verleiher. Früher entband die Unwirksamkeit des Leihvertrags – gleich aus welchen Gründen – die Verleiher von
ihrer Vergütungsverpflichtung. Heute kann ihnen die
Unwirksamkeit ihre eigenen Arbeitnehmer „zurückspülen“, ohne dass für Folgeaufträge gesorgt ist oder eine
Kündigung wegen fehlender Aufträge leicht möglich
wäre. Reduzieren lässt sich das Risiko höchstens durch
eine gestalterische juristische Vorsorge.
F
Hinweis der Redaktion:
Zum neuen AÜG-Recht siehe auch den Gastbeitrag
von Dr. Thilo Mahnhold, HIER. (tw)
Hans Georg Helwig,
Rechtsanwalt, Partner, Arnecke Sibeth,
Berlin
[email protected]
www.arneckesibeth.com