AO-Kiassifikation für Frakturen im Kindesalter I

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I
Th. Slongo und L. Audige
AO-Kiassifikation für Frakturen
im Kindesalter
Epiphyse
E
proximal l
TH. SLONGO
und L.
AuDIGE
Metaphyse M
Die vorliegende Klassifikation wurde von der
AG Paediatric Expert Group (PAEG) in Zusammenarbeit mit der AG Investigation und Documentation (AGCID) sowie der International
Working-Group for Paediatric Traumatology
(IAGKT) entwickelt. Sie wurde mit Hilfe des AG
Classification Supervisory Committee einem
strikten Validierungsprozess unterzogen und befindet sich momentan noch in einer breit angelegten Validierungsstudie.
Die vorgeschlagene Klassifikation basiert auf
der AG-Klassifikation von Müller für Erwachsene
und berücksichtigt kinderspezifische Frakturbesonderheiten (Abb. 3.9). Die Beurteilung erfolgt anhand der konventionellen anterior-posterioren und lateralen Unfallbilder.
Schaft 2
Diaphyse
D
Metaphyse M
distal 3
Diagnosis
Epiphyse
Location
Morphology
a
Abb. 3.9. Prinzip der Frakturklassifikation im Kindesalter.
I Knochen und Segment
Gemäß der AG-Klassifikation von Müller für Erwachsene werden die einzelnen Knochen durchnummeriert: 1 = Humerus, 2 =Radius/Ulna, 3 =
Femur, 4 = Tibia/Fibula. Ausgenommen die
Monteggia- und Galeazzi-Verletzung werden
paarige Knochen mit gleichem Verletzungsmuster (Kindercode) durch einen Frakturcode klassifiziert, wobei die schwerwiegendere Fraktur
angegeben wird. Ist nur ein Knochen betroffen,
erfolgt ein entsprechender Zusatz (r, u, t, f) hinter dem Segmentcode (22u beschreibt z. B. eine
isolierte Ulnaschaftfraktur). Sind beide Knochen
mit unterschiedlichem Verletzungsmuster betroffen (z. B. komplette Radiusfraktur und Bowingfraktur der Ulna), muss jeder Knochen separat mit dem entsprechenden Buchstabenzusatz klassifiziert werden.
Abb. 3.10. a Die Metaphyse wird identifiziert durch ein
Quadrat mit der Kantenlänge der weitesten Strecke der Epiphysenfugen in der a.-p. Röntgenaufnahme. Für paarige Knochen müssen beide Knochen eingeschlossen werden.
b Eine transparente Vorlage mit Quadraten kann zur genaueren und zuverlässigeren Diagnose über das entsprechende
Röntgenbild gelegt werden.
3 Frakturklassifikationen im Kindesa lter
E/1 Salter- Harris I
E/2 Salter- Harris II
E/ 3 Salter- Harris 111
E/4 Salter- Harris IV
E/5 Übergangsfraktur
(two plane)
E/6 Übergangsfraktur
(tri plane)
E/7 epiphysäre
Bandausrisse
E/ 8 Flake fract ures
I
E/9 andere epiphysäre
Frakturen
Abb. 3.11. Einteilung epiphysärer Frakturen.
Die Knochensegmente werden nach 1 = proximal, 2 = diaphysär und 3 =distal unterschieden, wobei die Definition sich vom Erwachsenen unterscheidet. Die Metaphyse wird begrenzt
durch ein Quadrat über der gesamten Länge der
Epiphysenfugen (Abb. 3.10). Für die paarigen
Knochen Ulna/Radius und Tibia/Fibula müssen
dabei beide Epiphysenfugen in dieses Quadrat
eingeschlossen werden. Somit können folgende
drei Segmente unterschieden werden:
Segment 1: proximale Epiphyse und Metaphyse (Quadrat),
Segment 2: Diaphyse,
Segment 3: distale Epiphyse und Metaphyse
(Quadrat).
Malleolarfrakturen bei Kindern werden als distale Tibiafrakturen klassifiziert (z. B. ist die mediale Mallealusfraktur eine typische Fraktur Salter-Harris III oder IV der distalen Tibia, klassifiziert als 43).
I Frakturtypcode
Die Schweregradeinteilung A-B-C der Erwachsenenklassifikation wurde durch eine Frakturklassifikation jeweils für Diaphyse (D), Metaphyse
(M) sowie Epiphyse (E) ersetzt. Die häufigsten
Verletzungen im Kindesalter sind die Schaftfrakt uren (Segment 2) sowie die epi-/metaphysären Frak turen (Segment 1 und 3). Die Einteilung in E-M-D unterscheidet klar zwischen intra- und extraartikulären Frakturen, da epiphysäre Frakturen definitionsgemäß intraartikulär
liegen. Metaphysäre Verletzungen werden durch
Lage zu dem Quadrat identifiziert (das Zentrum
der Fraktur muss dabei innerhalb des Quadrats
liegen) (Abb. 3. 10). Eine Ausnahme bildet das
proximale Femur, bei dem die Metaphyse zwischen dem Femurkopf und der intertroch antären Linie liegt. Bei Anwendung dieser Quadratdefinition kann eine Fehlklassifikation durch
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I
Th. Slongo und L. Audige
I Kindercode
M/2 inkomplette Fraktur
M/3 vollständige Fraktur
Spezielle kindliche Besonderh eiten wurden in
einen Kindercode übertragen. Sie sind spezifisch für die unterschiedlichen Frakturtypen E,
M, D und werden dementsprech end für jeden
einzelnen Frakturtyp klassifiziert.
Bei den epiphysären Frakturen erhalten die
Frakturen nach Salter und Harris entsprechend
den Code E/1 bis E/4. E/5 bis E/9 bezeichnen
andere kindliche Frakturen wie die TillauxFraktur (E/5), die Triplane-Fraktur (E/6), die intraartikuläre Avulsionsfraktur (E/7), die "flake
fracture" (E/8) und andere Frakturen, die unter
E/9 zusammengefasst werden (Abb. 3.11 ).
An der Metaphyse werden drei Frakturarten
unterschieden: die Wulst-, Spiral- und Grünholzfraktur (M/2), die komplette Fraktur (M/3)
und die metaphysäre osteoligamentäre, muskuloligamentäre Avulsion und einfache Avulsionsverletzungen (M/7) (Abb. 3.12).
Der Kindercode für diaphysäre Frakturen
(Segment 2) ist in Abb. 3.13 dargestellt. Er umfasst Bowingfrakturen (D/ 1), Grünholzfrakturen
(D/2), "Toddler's Fractures" (D/3), komplette
Querfrakturen (Winkel <30°-D/4), komplette
Schräg- und Spiralfrakturen (Winkel >30°- D/5),
Monteggia-Verletzungen (D/6) und GaleazziVerletzungen (D/7). Ein 30°-Winkel sollte in
den Röntgenbildern verwendet werden für eine
zuverlässigere Klassifikation. D/9 fasst alle übrigen Frakturen zusammen, die keiner der genannten Kategorien zugeordnet werden können.
I Frakturschweregradcode
Eine Unterteilung der Schweregrade ist notwendig im Hinblick auf die Indikation verschiedener
Osteosynthesemethoden. Dieser Code unterscheidet zwischen einfachen Frakturen, Keilfrakturen (partiell instabile Frakturen mit drei Fragmenten einschließlich eines vollständig dislozierten Fragments) und komplexen Frakturen (vollständig instabile Frakturen mit mehr als dre i
Fragmenten).
M/ 7 metaphysäre Avulsionsverletzung
Abb. 3.12. Festlegung metaphysärer Frakturen (M).
nicht korrekte a.-p.-Aufnahmen bzw. durch Angulation des Knochens in der fron talen Ebene
entstehen.
I Ausnahme- und Zusatzcodes
Da nicht alle Kinderfrakturen nach o.g. Schema
klassifiziert werden können wurden folgende
zusätzliche Definitionen und Regeln aufgestellt:
3 Frakturklassifikationen im Kindesalter
D/1
D/2
D/3
g
fCJ
n
Abb. 3.13. Einteilung diaphysärer
Frakturen (D 1-7; D/9=andere
diaphysäre Frakturen).
D/6
Apophysenfrakturen werden den metaphysären Frakturen zugerechnet.
Übergangsfrakturen mit oder ohne metaphysären Keil zählen zu den epiphysären Frakturen.
Intra- bzw. extraartikuläre knöcherne Bandausrisse werden den epiphysären bzw. metaphysären Frakturen zugeordnet.
Suprakondyläre Humerusfrakturen (Code
13-M/3) werden zusätzlich nach dem Dislokationsausmaß in vier Grade (I-IV) nach von
Laer eingeteilt: keine Dislokation (I), Dislokation in einer Ebene (II), Rotation des dis talen
Fragments mit Dislokation in zwei Ebenen
(III) sowie Ro tation und Dislokation in drei
Ebenen oder vollständige Dislokation ohne
knöchernen Kontakt (IV).
Radiusköpfchenfrakturen (21-M/2 oder /3;
oder 21-E/1 oder /2) werden zusätzlich nach
der axialen Abweichung und dem Ausmaß
D/4
I
D/5
CJ
D/7
der Dislokation klassifizier t: keine Angulation
und keine Dislokation (I), Angulation mit
Dislokation weniger als eine halbe Schaftbreite (II) sowie Angulation mit Dislokation
mehr als eine halbe Schaftbreite (III).
Schenkelhalsfrakturen. Epiphysenlösungen ohne und mit metaphysärem Keil werden entsprechend den Typ-E-Frakturen nach Salter und
Harris in E/ 1 und E/2 unterteilt. Frakturen
des Schenkelhalses werden als metaphysäre
Typ-M-Frakturen klassifiziert: transzervikal
(I), basezervikal (II) und per trochantär (III).
Die intertrochantäre Linie b egrenzt die Metaphyse.
Der vollständige Frakturcode setzt sich somit
aus fünf bzw. sechs Codes zusammen, je nachdem ob ein Ausnahmecode angewendet wird.
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INGO MARZI
(Hrsg.)
Kindertraumatologie
Unter Mitarbeit von
DORIEN SCHNEIDMÜLLER
Mit Beiträgen von
L.
AUDIGE, V. BÜHREN,
c.
CASTELLANI,
H.-G.
DIETZ,
J. FRANK, R. KRAUS, A. A. KURTH, L. VON LAER,
w. E . LINHART, M. MAI ER, I. MARZI, c. PLOSS, s. ROSE,
W. SCHLICKEWEI, P. P. SCHMITTENBECHER, F. J. SCHNEIDER,
D. ScHNEIDMÜLLER,
C.
SEEBACH, M. SEIF EL NASR,
TH. SLONGO, A. THANNHEIMER, TH.
L. M.
J.
VOGL, A. WEINBERG,
WESSEL, A. WETTER, A. M. WOREL
MIT 570 ZUM TEIL 2 - FARBIGEN ABBI LD UNGEN
1000 EINZELDARSTEL LUNGEN UND 43 TABELLEN
IN
STEINKOPFF
Prof. Dr. med. I NGO MARZI
Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie
Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt
Theodor-Stern-Kai 7, 60596 Frankfurt am Main
ISBN 3-7985-1512-3 Steinkopff Verlag, Darmstadt
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