taz.die tageszeitung

Was soll ich bloß verschenken?
Nur das Beste vom Besten: AutorInnen der taz-Kultur-Redaktion küren die tollsten Bücher,
Musikalben und DVDs des Jahres 2016. Und den schönsten aller Ohrwürmer SEITE 14, 15
AUSGABE BERLIN | NR. 11190 | 48. WOCHE | 38. JAHRGANG
SONNABEND/SONNTAG, 3./4. DEZEMBER 2016 | WWW.TAZ.DE
Heute in der taz
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2017
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DEMO KRATI E
Rot-Rot-Grün
Kann das klappen?
Die unheimliche
Macht der Daten
Vorbild Estland: Die
Bundesregierung will
die Politik digitalisieren.
Das ist praktisch – und
gefährlich Gesellschaft SEITE 20–22
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ALLES –
außer
normal
NEU
im Handel
GR ENZE
3.145 Kilometer
Trump träumt von einer
Mauer zwischen den USA
und Mexiko. Keine ganz
neue Idee Sachkunde SEITE 26, 27
taz.berlin
VERSANDHANDEL
Auf einer langen Suche
nach dem gelieferten
Paket SEITE 41, 44, 45
ALTERNATIVE Wer linke Politik will, muss auf
ein Bündnis von SPD, Linkspartei und
Grünen setzen. Aber hat das im Bund
überhaupt eine Chance? Das große
Streitgespräch mit Cem Özdemir, Katarina
Barley und Sahra Wagenknecht SEITE 4–6
Grünen-Chef Cem Özdemir, SPD-Generalsekretärin Katarina Barley und Linke-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht (von links) auf dem taz-Dachgarten Foto: Wolfgang Borrs
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02
TAZ.AM WOCH EN EN DE
Kompass
SON NABEN D/SON NTAG, 3./4. DEZEM BER 2016
Aus dem Inhalt
Politik
Titel Kann Rot-Rot-Grün
klappen? Katarina Barley,
Sahra Wagenknecht und
Cem Özdemir im Streit­
gespräch Seite 4–6
Studie In Berlin betreuten Pädosexuelle Straßenkinder Seite 7
Einigung Warum die
Pkw-Maut nun doch
­kommen kann Seite 8
Argumente
Essay Wie die Energiewende in Bürgerhand die
Demokratie stärkt Seite 11
Kultur
Mexiko Juan Pablo Villa­
lobos über seinen neuen
Roman Seite 12
Jahresendabrechnung
Alben, Romane, DVDs:
Die Favoriten der taz-RedakteurInnen Seite 14, 15
Gesellschaft
Daten Wie die Digitalisierung der Politik unsere
Demokratie gefährdet
Protest in Weiß
Loretta Reddog schippt Schnee, ihr Hund Gurdee Bean schaut zu. Sie ist vor Monaten aus Kalifornien nach
North Dakota gekommen, um gegen den Bau einer Ölpipeline durch indigenes Gebiet zu protestieren. Ihr
Camp soll geräumt werden, deshalb wollen sie ihren Widerstand am Wochenende verstärken. Veteranen
der Kriege im Irak und in Afghanistan haben sich angekündigt, Priester und Rabbiner.
Seite 20–22
Foto: David Goldman/ap
Seite 23
LEKTIONEN
Ostsee Wie auf dem
Fischkutter „Rerik“
Fiktion und Wirklichkeit
verschmelzen Seite 24, 25
Sachkunde Donald
Trump träumt von einer
Mauer zwischen den USA
und Mexiko. Auf welches
Fundament er bauen
kann Seite 26, 27
5 Dinge, die wir
diese Woche
gelernt haben
E U ROPA N AC H H A LT IG E N T DE C K E N
NORD — Zügig nach Schottland — OST — Von Wien per Rad ins Burgenland —
SÜD — Sizilianische Radreise, Deutschlands grüner Süden — WEST — Pyrenäen:
Imker
Mit dem IIm
ker unterwegs, Burgund: Wie eine Kathedrale entsteht
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Genuss Wie backt man
den besten Weihnachtsstollen? Seite 28
Medien
Österreich Warum der
FPÖ klassische Medien
egal sind Seite 33
Reise
Vertrauen Wenn Blinde
und Sehende gemeinsam
wandern Seite 34
Leibesübungen
Brasilien Was in Rio von
den Olympischen Spielen
geblieben ist Seite 39
LESERBRIEFE SEITE 37
TV-PROGRAMM SEITE 32
DIE WAHRHEIT SEITE 40
1. Die Bahn verstärkt die
Zweiklassengesellschaft
Die Deutsche Bahn geht online: Spätestens bis zum Jahresbeginn soll es in allen ICEs
kostenloses WLAN geben. Doch
ein ehrliches Like kann es dafür nicht geben. Denn die Bahn
zementiert die Zweiklassengesellschaft an Bord. Während die
Fahrgäste der 1. Klasse überallhin surfen dürfen, muss man
sich in der 2. Klasse einschränken. Nach läppischen 200 MB
am Tag wird die Bandbreite so
sehr gedrosselt, dass man kaum
noch Videos abspielen kann.
W
enn sie in meinem schwäbischen
Dorf vom Spazierengehen kommen,
dann sagen die Alteingesessenen: „Also, man kennt die Leut
ja gar nicht mehr.“
Man kennt sie nicht und läuft
dann wortlos aneinander vorbei. Wie in der Stadt. Bei dem Gedanken schütteln sie die Köpfe.
So was. Sind das Russlanddeutsche aus der Neubausiedlung?
Oder vielleicht sogar Flüchtlinge. Man weiß es nicht, heutzutage.
Zwar ist es schon so, dass das
alte Dorf sich häufig trifft. Aber
sobald der Sarg sich in das frische Loch gesenkt hat, ist man
wieder einer weniger. Wenn sie
den Friedhof dann mit schnellem Humpelschritt verlassen,
den Satz des Pfarrers aus dem
Ohr schütteln, dass man besonders für den Nächsten aus ihrer
Mitte bete, der dem Verstorbenen vor das Antlitz Gottes nachfolge, so können sie das vielleicht nicht formulieren. Aber in
dem Moment spüren es alle: Es
geht mehr zu Ende als ein Men-
2. Es gibt mehr Reichsbürger
als gedacht
3. Es gibt mehr Geld für
Journalismus
Sie leugnen die Existenz der
Bundesrepublik Deutschland
und halten deren Vertreter für
illegitim. Und weil manche
Reichsbürger ihre krude Weltsicht auch mit Waffengewalt
durchsetzen wollen, interessieren sich seit Kurzem auch die
Politik und die Sicherheitsbehörden verstärkt für sie. Eine
taz-Umfrage in den Ländern
ergab in dieser Woche, dass in
Deutschland mehr Reichsbürger leben als gedacht: Mindestens 5.500 sind es, etliche von
ihnen besitzen legal Waffen. In
manchen Bundesländern allerdings wissen die Behörden gar
nicht, wie viele Reichsbürger es
dort gibt. Aus Sachsen etwa gibt
es keine Zahlen. Der dortige Verfassungsschutz hat sich bislang
nicht für diese Menschen interessiert.
Wer in Zukunft die Olympischen
Spiele anschauen möchte, muss
Eurosport einschalten. Die öffentlich-rechtlichen
Sender
werden von 2018 bis 2024 die
Wettkämpfe nicht live übertragen. Der Grund? Sie wollen
nicht so viel Geld bezahlen, wie
der Rechteinhaber gerne haben
möchte. Dadurch sparen ARD
und ZDF eine Menge Geld, etwa
250 Millionen Euro. Die Rundfunkgebühren können nicht
einfach so gesenkt werden,
aber das Geld kann anderweitig ausgegeben werden. Für kritischen Sportjournalismus zum
Beispiel.
4. Die Bundeswehr kann
hip sein
Weil sie Nachwuchssorgen hat,
hat die Bundeswehr nach neuen
Möglichkeiten gesucht, junge
Leute zu erreichen. Das Ergebnis ist die Realityshow „Die Rekruten“ auf YouTube, eine Art
„Big Brother“ mit Waffen aus der
Kaserne. Am Anfang gab es viel
Spot und Kritik, weil Produktion und Bewerbung Millionen
an Steuergeldern kosten. Das
Format kommt aber an. Rund
eine Million Klicks gibt es am
Tag, und laut Spiegel wollen nun
auch vier TV-Sender das Format
gern ins Fernsehen bringen.
Das Zitat
„Die Grünen sind
kein bevorzugter
Partner“
BUNDESKANZLERIN ANGELA MERKEL AUF
EINER CDU-REGIONALKONFERENZ IN
MÜNSTER. SIE SCHLIESST EINE SCHWARZGRÜNE KOALITION ABER AUCH NICHT AUS
5. Hannelore Kraft ist eine
Geheimniskrämerin
Wer wird Kanzlerkandidat der
SPD? Offiziell wollen die Genossen die K-Frage erst im Januar beantworten, glaubt man
der NRW-Ministerpräsidentin
Hannelore Kraft, ist sie schon
entschieden: „Ich weiß, wer es
wird, aber ich sage es Ihnen
nicht“, sagte sie. Wichtigtuerisch
– und gemein. SEBASTIAN ERB
Foto: dpa
Hausbesuch Er ist wieder
da: Ladeneröffnung in einem Dorf in Mecklenburg
DI E EI N E FRAGE
Was ist Heimat?
ALS DER SARG SICH SEN KT, SPÜREN SI E: ES GEHT MEH R ZU EN DE ALS
EI N MENSCH EN LEBEN. ES IST DAS EN DE EI N ER EPOCH E
schenleben. Es ist das Ende einer
Epoche. Ihrer Epoche.
Jetzt schon?
Sie haben doch grad erst anfangen, die meisten selbst als
Kriegsflüchtlinge hier gestrandet und einquartiert. Da ist die
Straße noch nicht geteert und
die Dorfmitte ist voller Bauernhöfe. Sie haben dann ihre Neubausiedlung gebaut, mit den eigenen Händen, Zweifamilienhaus neben Zweifamilienhaus.
Die Dreizimmerwohnung unten
für sich selbst, die Dreizimmerwohnung oben erst mal vermietet oder für die Mutter, später
für die Kinder, bis die ihr eigenes Haus bauen.
Die Männer sind alle in die
eine Fabrik, die Bauern bald
auch. Und die Frauen sind irgendwann alle in die andere Fabrik. Halbtags. Um zwölf holen
sie die Kinder vom Kindergarten ab. Die Männer sind in den
PETER UNFRIED
IST TAZ-CHEFREPORTER
Gesangverein. Die Frauen sind
in den Kirchenchor.
Dann sitzt das erste Paar in
der Sonntagsmesse zusammen in der Kirchenbank und
nicht wie sich das gehört, also
die Männer rechts und die
Frauen links. Das ist vielleicht
ein Skandal. Kein Skandal ist
dagegen, dass der Herr Pfarrer
den Kindern im Religionsunter-
richt auf d’ Gosch haut, dass es
kracht. Wer sich beklagt, kriegt
zu Hause gleich noch eine rein.
Warum? Des isch halt so.
Eines Tages rufen irgendwelche durchgeknallten Kerle vom
Gymnasium im Amtlichen Mitteilungsblatt zur Wahl der Grünen auf. Ja, ist die Welt verrückt
geworden? Wir haben doch
schon eine Partei. Die Irren werden sofort aus dem Sportverein
ausgeschlossen.
Irgendwann werden die Kinder nicht mehr geschlagen,
Paare ziehen zusammen, obwohl sie nicht verheiratet sind,
in der Kirche wird der Leib
Christi von Kommunionshelfern verteilt, die einen sitzen,
wo sie wollen, die anderen kommen gar nicht mehr. Dann stellt
sich der allerfrömmste Kommunionshelfer auch noch offiziell als schwul raus, aber darauf kommt’s auch nicht mehr
an. Außerdem war das ja eh klar.
Die Fabrik macht ein zweites Werk im Osten auf, dann ein
drittes noch weiter hinten. Früher ist jeder untergekommen,
selbst wenn er nach der sechsten
Klasse Hauptschule abgeht. Jetzt
gibt es sogar Arbeitslose. Und
der Kindergarten hat Dienstag und Donnerstag durchgehend bis 16 Uhr geöffnet. Dafür gibt’s keinen Bäcker mehr
und keinen Metzger. Eine Wirtschaft hat auch fast keine mehr
auf. Und ständig kommt jemand
daher und sagt, sie sei jetzt „Vegetarierin“.
Was will man machen? Jetzt
isch’s nemme so, jetzt isch’s halt
anders, sagen sie.
Aber manchmal wird’s halt
doch ein bisschen viel. Man
kennt sich gar nemme aus. Sie
fragen: Wo sind denn da wir
noch? In dem Moment fangen
auch noch – mitten am Tag –
die Kirchenglocken an zu läuten. Schon wieder einer weniger.
Und da denken sie: Also,
wenn wir unseren Ministerpräsidenten nicht hätten, dann
könnte man fast Angst kriegen.
Die Drei
SON NABEN D/ SON NTAG, 3. /4. DEZEM BER 2016
TAZ.AM WOCH EN EN DE
03
„Fidel hat den
jungen Leuten nie
vertraut“
Menschen stehen mit ihren Smartphones am Straßenrand von Camagüey, während ein Wagen mit der Urne von Fidel Castro vorbeifährt Foto: Rodrigo Abd/ap
Santiago de Cuba, 29. 11. 2016
L
ieber B.,
gestern hast du mich gefragt, wie ich mich fühle.
Mir geht es sehr schlecht, aber
ich habe das nicht richtig ausdrücken können. Ich möchte dir
schreiben, welche entgegengesetzten Kräfte in meiner Seele
gerade aneinanderknallen. Ich
fühle mich fiebrig. Es ist nicht
der Tod von Fidel, der mich leiden lässt. Mir tut weh, dass er
diesen Tod übersteht, als ob er
jetzt noch lebendiger wäre. Und
ich fürchte, dass das Schlechteste von ihm bleiben wird.
Ich bin aus einer armen Familie. Fidel bedeutete für uns
eine Chance. Dank der Revolution, die er anführte, konnte
meine Mutter zwei Krebserkrankungen überleben. Dank seiner
Errungenschaften habe ich studiert, genau wie meine sechs
Geschwister. Ich bin ganz sicher, dass wir seinetwegen ein
Haus haben, ein Dach und einen
kleinen Hinterhof. Ich glaube an
seine Fähigkeit, einer großen
Masse Zuversicht zu geben, die
sonst einfach weitergeschlafen
hätte. Das ist die eine Kraft, die
mich dazu bringt, um ihn weinen zu wollen.
Aber da ist die andere Seite,
die mich nicht mit Fidel im Reinen sein lässt, und sie vergiftet
mir die Seele. Gerade eben ist
der Film „Santa Y Andrés“ des
Regisseurs Carlos Lechuga der
Zensur zum Opfer gefallen. Du
weißt, dass ich nicht nur Journalist bin, sondern auch Filmemacher. Und neben Journalist und
Filmemacher bin ich auch noch
ein Mensch, der scheißt, weint
und Kinder hat. Dieser Akt der
Zensur ging nicht nur gegen einen Kollegen, mit dem ich in
meinem Leben nicht einmal
20 Minuten gesprochen habe.
Er geht auch gegen mich.
Es regt mich auf, dass ein guter Teil Kubas um Fidel weint,
obwohl diese Dinge geschehen.
Unser
Autor verdankt
Fidel Castro
sein Studium,
sein Haus und
das Leben seiner
Mutter.
Dennoch kann
er nicht um ihn
weinen
REQUIEM
Und dass es diesem Teil nicht
möglich sein wird, mit Lechuga
und mir mitzufühlen. Während
diese kolossalen Trauerfeiern
laufen, fühlt ein Großteil der
kubanischen Filmemacher den
gleichen Schmerz wie ich. Jedes
Mal, wenn sie eine neue Heiligsprechung Fidels hören, gibt es
einen Stich. Auf allen Fernsehsendern. Alles erscheint wie ein
großer kafkaesker Zirkus. Ganz
ehrlich: Ich beneide jene, die
weinen können, weil er nicht
mehr da ist.
Im Kuba von heute herrscht
eine große Ignoranz gegenüber
persönlichen Projekten und Unternehmungen. Über so lange
Zeit kamen alle großen Initiativen von Fidel – nicht weil er der
Intelligenteste gewesen wäre,
sondern weil er die Macht hatte,
sie umzusetzen. Die Energierevolution zum Beispiel mit den
dezentralen Stromnetzen war
ihm irgendwann eingefallen,
aber so etwas gab es woanders
schon seit Jahrzehnten. Mit Si-
cherheit hätte ein anderer Kubaner, wenn er gedurft hätte,
diese Idee viel früher umsetzen können.
Die Liste solcher Projekte
ist lang, und die Liste kolossaler Fehlschläge auch. So wie Fidel alle Macht auf sich konzentrierte, so riesig waren natürlich
auch seine Misserfolge
Ich fühle mich nicht wohl damit, gerade in diesem Moment
Teile des Erbes von Fidel infrage
zu stellen. Ich will sein riesiges
Vermächtnis gar nicht in den
Schmutz ziehen, denn ich habe
davon profitiert. Aber ich will,
dass du weißt, dass es in Kuba
eine noch kaum entwickelte Vorstellung davon gibt, was ein Einzelner für die Gesellschaft leisten kann. Sicher, man kennt die
Geschichten vom einfachen Arbeiter, der eine geniale Lösung
findet, um ein Teil zu ersetzen,
das wegen der US-Blockade
nicht im Ausland gekauft werden kann. Und der deswegen
eine Prämie erhält, mit der er
sich kaum ein Paar Schuhe kaufen kann, was die Prämie in meinen Augen noch schöner macht.
Ein Dichter verlangt ja auch kein
Geld dafür, dass er Dichter wird.
Es geht um Befriedigung. Ein
Trieb. Eine Geisteshaltung ähnlich der, die Fidel in die Politik
getrieben hat.
Aber von den individuellen
Beiträgen von Leuten wie Lechuga und Claudia Calviño, seiner Produzentin, weiß man wenig. Sie wollen kein Filminstitut
haben, das die nationale Filmproduktion monopolisiert, sondern einen Film machen. Einen
Film! Einen Film, in dem sie ihre
kleine Meinung ausdrücken
können. Denn sie wollen etwas
beitragen. Dank dieses Erbes
von Fidel ist das nicht möglich.
Viele hat er eingesperrt. Er hat
ihnen nicht nur die Freiheit genommen, ihre Meinung zu sagen, sondern auch die, ihre Kinder zu küssen, sie wachsen und
lernen zu sehen. Ich finde das
schrecklich, denn darunter lei-
den auch sämtliche Prinzipien
der Linken. Als ob der linken
Idee von Emanzipation und Befreiung immer schon ihr Gegenteil innewohne, der Keim von
Unterdrückung der Meinungsäußerungen und der Freiheit.
Die kubanischen Filmemacher würden gerne sehen, dass
dieser Film auf dem Filmfestival von Havanna im Wettbewerb läuft. Aber die Geisteshaltung, die mein geliebter, widersprüchlicher Fidel installiert
hat, lässt es nicht zu, dass die
Führung diesen Film das Licht
der Welt erblicken lässt. Sie sind
auserwählt, zu wissen, was das
Volk sehen will, sie müssen für
das Volk denken, denn das Volk
ist unfähig, selbst darüber zu
entscheiden, was das Beste ist.
Nur die Avantgarde ist erleuchtet genug, um das zu wissen.
Der Fall von Lechuga und
Claudia Calviño ist nicht der einzige. Da gibt es Leute wie Elaine
Díaz, die mit Periodismo de Barrio ihr eigenes Medium geschaffen hat (das bislang dem Gegenwind standgehalten hat). Eine
mutige Frau, von der man nie in
der Zeitschrift Mujeres oder der
TV-Sendung Cuando una mujer … hören wird. Auch nicht in
Granma oder Juventud Rebelde.
Fidel hat die Vorstellung davon, dass ein Individuum eine
Idee bei null beginnen und mit
anderen weiterentwickeln kann,
aus dem kollektiven Bewusstsein gelöscht. Ich bin ehrlich
stolz auf Kubaner, die im Land
bleiben und solche Dinge machen. Ich bin stolz, Zeuge der
Revolution zu werden, die sich
jetzt in Kuba ereignet. Die Bürger brauchen keine Genehmigung mehr, um einen Computer
zu besitzen. Das Internet breitet
sich aus, wenn auch zu horrenden Preisen. Ich kann für Medien schreiben, die nicht vom
Staat kontrolliert werden. All
das sind enorme Fortschritte in
Sachen Meinungsfreiheit.
Ich weiß nicht, ob Fidel an
der Macht das alles zugelassen
Trauer um Fidel Castro
■■Am vergangenen Freitag
gegen Mitternacht Ortszeit
verkündete Kubas Präsident
Raúl Castro, der jüngere Bruder
des Verstorbenen, den Tod des
Revolutionsführers.
■■Zwei Tage lang defilierten
Zehntausende Kubaner*innen
an der Plaza de la Revolución
in Havanna an einem Ehrenmal
für Castro. Am Dienstagabend
kam rund eine Million Menschen
zu einer Trauerkundgebung
zusammen.
■■Bis Sonntag ist eine Karawane
mit der Asche Fidels quer über
die Insel unterwegs – auf dem
umgekehrten Weg der siegreichen Rebellen, die Anfang 1959
aus der Sierra Maestra in die
Hauptstadt zogen. Dann soll
die Urne in Santiago de Cuba
beigesetzt werden.
Carlos Melián
■■37, lebt als Journalist in
Santiago de Cuba. Einige Jahre
arbeitete er für den staatlichen
lokalen Rundfunk, jetzt schreibt
er hauptsächlich
für Progreso
Semanal.
Im Juni
nahm er
am taz
Panter
Workshop in
Foto: privat
Berlin teil.
hätte. Er hat es jedenfalls nie erlaubt. Fidel hat den jungen Leuten niemals vertraut, auch nicht
den Studenten – vielleicht weil
er sich erinnert hat, wie er selbst
als Student war.
Ich bin stolz, in einem Land zu
leben, in dem meine Tochter zur
Universität gehen und sich kostenlos im Krankenhaus behandeln lassen kann, zwei enorme
Errungenschaften, die leider
auf dem Rückzug sind (weil Fidel nie kreative Lösungen gefunden hat, um dauerhafte materielle und moralische Anreize zu
schaffen). Aber vor allem bin ich
stolz darauf, dass ich ein Land
mit aufbauen kann, das Unternehmungen gegenüber toleranter ist, die die Lebensqualität der Kubaner um den Faktor
100 steigern könnten, mit ehrgeizigen Ideen, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern, die
Bezahlung, das Leben, und es ermöglichen, uns von der erniedrigenden Unterstützung der Verwandten und Freunde im Ausland unabhängig zu machen.
Für jemanden wie mich, der
mit der Heiligsprechung Fidels
nicht klarkommt (ich wünschte,
ich könnte), ist der Comandante
ein Macher, der mich genauso
inspiriert wie Elaine und Claudia Calviño. Ich frage mich, ob
es für sie und für mich in dieser neuen Gesellschaft, die wir
entwickeln werden, einen Platz
geben wird. Ich glaube, ja. Ich
glaube, dass wir das erreichen,
dank der Willensstärke des Comandante, die wir uns selbst zu
eigen machen müssen.
Es hat gutgetan, dir das zu
schreiben. Jetzt bin ich optimistisch, auch wenn mein Ziel am
Anfang dieses Briefes eigentlich war, dir zu zeigen, warum
ich gestern solche Angst und solche Beklemmung verspürt habe.
CARLOS MELIÁN MORENO
Diese Mail schrieb Moreno unserem Auslandsredakteur Bernd
Pickert. Er übersetzte sie für uns
aus dem Spanischen