eHealth im klinischen Alltag, mit Blick aus der Neuen Welt

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FMH Editorial
eHealth im klinischen Alltag,
mit Blick aus der Neuen Welt
Yvonne Gilli
Dr. med., Mitglied des FMH-Zentralvorstandes, Departementsverantwortliche Digitalisierung / eHealth
Nur wenige Tage nach der Wahl des 45. Präsidenten von
Informatiker kennt den Wert von Standards für die
Amerika begann in Chicago das 40. AMIA-Sym­posium1.
Verwendung von Daten, Interoperabilität, Systemsta-
AMIA steht für «American Medical Informatics Asso­
bilität und Werkzeuge für die Entscheidungsunterstüt-
cia­tion». Das Symposium bietet eine unabhängige wis-
zung. Der Kliniker kennt seine eigenen Praxisabläufe
senschaftliche Plattform für den internationalen und
und Bedürfnisse. In der Zusammenarbeit erreichen
interprofessionellen Erfahrungsaustausch zu Medizin-
beide ihre Ziele.»3 Dies ist die Schlussfolgerung eines
informatik, Computertechnologie und Gesundheits-
Forschungsprojekts am Vanderbilt Hospital: Über
versorgung.
fünfzig Pflegeverantwortliche auf Akutstationen in-
Mit dem elektronischen Patientendossier will die
klusiv Pädiatrie stellten sich erfolgreich der Herausfor-
Schweiz einen Impuls setzen für die Digitalisierung im
derung, das elektronische Dokumentationssystem so
Gesundheitswesen. Die Politik hofft gar auf eine Effi­
zu reorganisieren, dass die administrative Belastung
zienzsteigerung mit Kostenreduktion. Dieses Ziel ist
sinkt. Wichtige Probleme erkannten sie in redundanter
unter den gegebenen Rahmenbedingungen kaum zu
oder unnötiger Dokumentation und in den Kommuni-
erreichen: Zu klein sind die finanziellen Anreize, um
kationsabläufen innerhalb des Betreuungsteams. Mit
die klinikeigenen Informatiksysteme und individuel-
Hilfe von interdepartementalen Arbeitsgruppen konn-
len Praxislösungen zukunftsfähig zusammenzufüh-
ten sie die Dokumentationszeit pro Pflegeperson um
ren. Zu gross ist der Wissens- und Ausbildungsrück-
eine halbe Stunde pro Tag senken und das Dokumenta-
stand im Bereich der Medizininformatik, heute bereits
tionsvolumen pro Patient um ein Drittel reduzieren.
ein Trend- und Mangelberuf in den USA.
Ich gehe davon aus, dass für Ärztinnen und Ärzte das
gleiche Potential brach liegt und für mehr Zufrieden-
Den Erfahrungsvorsprung anderer Länder
gilt es bei der Ausgestaltung des elektronischen
Patientendossiers zu nutzen.
heit und Zeit für direkten Patientenkontakt zu nutzen
wäre.
Dies ist ein einfaches Beispiel der Herausforderungen
im klinischen Alltag. Die Referate des AMIA-Symposi-
Auf Initiative der FMH nahm eine Delegation der Inter-
ums umfassen ein Volumen von über zweitausend Sei-
professionellen Arbeitsgruppe elektronisches Patien-
ten und berühren praktisch jedes Thema, das auch uns
tendossier (IPAG EPD) am AMIA-Kongress teil. Dominik
unter den Nägeln brennt, von der eMedikation bis zu
Aronsky ermöglichte uns zwei Besuche in führenden
Big Data. Für exzellente Lösungen «folgt» die Informa-
Kliniken, dem Vanderbilt University Medical Center in
tik den komplexen klinischen Abläufen und nicht um-
2
1www.amia.org
Nashville und bei Partners HealthCare in Boston.
2 Prof. Dominik Aronsky,
Praxisbezogene Impulsreferate und der Besuch ei-
MD, PhD, FAC, studierte
Medizin an der Universität
ner grossen Notfallstation sensibilisierten uns für
Bern und Medizininfor-
das Potential, das in der Schweiz noch brach liegt.
matik an der University of
Für exzellente Lösungen folgt die Informatik
den komplexen klinischen Abläufen und nicht
umgekehrt.
Utah, Vanderbilt Univer-
Meine wichtigste Take-Home Message ist einfach:
sity, Nashville. Mandatiert
Wir dürfen profitieren vom Erfahrungsvorsprung in
gekehrt. Die Brücke zwischen den beiden Disziplinen
den USA und einigen europäischen Ländern, sofern
schlagen unter anderen die Medizininformatikerin-
wir ihre Erkenntnisse in unsere Prozesse integrieren.
nen. Die Förderung von Ausbildung, Forschung und
von der FMH als Experte
der IPAG EPD.
3 A Terminology Framework for Nursing Docu-
Was die elektronische Erfassung, Bewirtschaftung und
Anwendung ist möglich mit geeigneten politischen
Deborah Ariosto, PhD,
den Austausch von Patientendaten betrifft, sind wir
Rahmenbedingungen. Sie kosten etwas mehr, als die
MSN, RN. Vanderbilt
mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert.
Schweiz bis jetzt noch zu investieren bereit ist in eine
Software- und Hardwarelösungen müssen benutzer-
Zukunft, die unsere Gesundheitsversorgung grund­
freundlich sein und einen Mehrwert generieren. «Der
legend verändern wird.
mentation Redesign,
­University Medical Center,
Nashville, TN. AMIA
­Symposium 2016.
SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG – BULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI 2016;97(49–50):1707