Überdiagnostik - Deutsches Ärzteblatt

SCHLUSSPUNKT
VON SCHRÄG UNTEN
Überdiagnostik
Dr. med. Thomas Böhmeke
n den raren Momenten, in denen man mal ehrlich ist, muss
man sich eingestehen, dass unsere Schutzbefohlenen die Nase
von uns voll haben, und zwar von unserer Überdiagnostik. Ich als
hyperaktiver Apparatemediziner muss mich in vorderster Front anklagen, eingedenk der vielen Hausärzte, die schon den Kopf über
mich geschüttelt haben, weil ich jeden offensichtlich vertebragenen
Thoraxschmerz sofort invasiv koronarkontrollieren will. Aber ist es
nicht auch jeder Kater, der kranial computertomographiert wird,
jede Blähung, der endoskopisch nachgeforscht wird? Sicher, seit
uns die Juristen zunehmend im Nacken sitzen, sind wir maximal
auf Absicherung bedacht, traut sich kaum noch jemand, eine Diagnose eingedenk des klinischen Bildes zu stellen. Das will ich ab
heute ändern, heute traue ich mir etwas zu!
Zu mir kommt eine junge Patientin, bei der ich eine Echokardiographie durchführen soll. Sie bringt einen Bericht aus einer Klinik
mit, in der echokardiographisch ein ASD II ausgewiesen ist. Mehr
steht in dem Befund nicht drin. Verunsichert ist die Patientin, nervös, hat sicher schon alle Kardiochirurgen unserer schönen Republik gegoogelt. Ich gucke mir also ihr Vorhofseptum an, bis
sich meine Conjunctiva auf die Gleitsichtgläser quetscht, sehe
aber keinen ASD. Vielleicht ein persistierendes Foramen ovale,
höchstens zwei Millimeter breit, viel mehr aber nicht. Was mache ich
jetzt? Soll ich sie zur kompletten Untersuchung, also zur transösophagealen Echokardiographie und zum Herzkatheter in die Klinik schicken?
Aber ich hatte mir doch heute morgen geschworen, mutig zu sein!
Hatte mir fest vorgenommen, nicht immer alle Patienten zur Ganzkörper-Elektronenmikroskopie zu scheuchen! Was mache ich nur,
was mache ich nur . . . „Und, Herr Doktor, was soll ich jetzt machen?“ fragt mich meine Patientin. Ich gebe mir einen Ruck. Ich
schicke sie in die Klinik zur ausführlichen Diagnostik! „Aber
warum? Sie haben doch eben gesagt, dass Sie kein großes
Loch im Herzen sehen, nur einen kleinen Spalt, der mein
Herz nicht belastet?“ Doch! Es gibt gute Gründe, die Sache
höchstmöglich von berufener Stelle zu präzisieren! „Was
sind denn das für Gründe?“
Ärztliche Berichte, so ist es leider heutzutage, diffundieren
in alle möglichen Hände, und wenn dieser Bericht, in dem ein
ASD II angegeben ist, anderen Ortes gelesen wird, kann das bösartige Konsequenzen haben! „Und die wären?“ Falls sie eine
zusätzliche, gar private Krankenversicherung abschließen
möchte, so kann sie sich auf den zigfachen Satz gefasst
machen. Falls Sie als aktive Sportlerin dies studieren
möchte, so kann sie mit dieser Diagnose sich gleich wieder
exmatrikulieren. Falls Sie in den Staatsdienst eintreten will,
würde man sie in der Reihe der Bewerber ganz hinten anstellen. Falls Sie . . . „Es reicht! Ich bin einverstanden! Bitte
machen Sie mir schnellstmöglich einen Termin in der Klinik aus!“
I
Dr. med.Thomas Böhmeke
ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.
[68]
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 48 | 2. Dezember 2016