Das WOCHENENDE Neue Zürcher Zeitwng Samstag, 8, November 1958 Morgenausgabe .Vr. 3267 Blatt 5 Wochenende 15 f""-"^'j»v BLIND Das Schulheim des blinden Kindes Die Bcrnischc Privat-BlindenanstaltSpiez liegt oberhalb Faulensec, ist in einem früheren Hotel untergebracht und wird vom Staat mitunterstützt. In dem Heim lit-fiiulrn sich in der Regel 35 bis 45 Schüler, die aus der reformierten Schweiz stammen. Ihm ist auch eine Abteilung für Erwachsene angegliedert. Ein Kind entwickelt sich am natürlichsten, wenn es unter seinesgleichen aufwächst und sich einordnen lernt. Da Spiez etwas abgelegen ist, wird in /ollikofen ein Neubau erstellt werden, wohin dann die Anstalt übersiedeln wird. - &m»: A ufn ahmen Robert Gnnnt Die große Veranda dient als RolUchuhbahn. Mit einiger Sicherheit lewrijen ttith dir Läufer auf dem tönenden Steinboden, dessen Geräusche Kreuzung mit andern. Spielenden erkennen lassen. das Selbstvertrauen im Kinde su wecken. Kleine Mutproben, wie der Fureelbaum, Balancieren über eine Bank, Hindernislauf, helfen dem gestörte» Gleichgewichtsainn, ohne das Augenlicht auszukommen. In der Turnstunde versucht der Lehrer <;fte Nähe der Wand oder die Etwa die Hälfte der Kinder der Blindenschule Spics verfügt über einen kleinen Sehrest, der ihnen aestattet. Hell und Dunkel su unterscheiden, evtl. auch die Umrisse großer Gegenstände wahrzunehmen. Sie helfen den ganz Blinden, sich eurechtaufinden, hier '<;«* einem aus Turngeräten aufgebauten Hindernislauf. Neue Zürcher Zeitung vom 08.11.1958 Di« großen, weitläufigen Gebaute eines ehemaligen Kurhauses dienen der Blindenschule als Unterkunft. Nach kurzer Zeit hat sich die Geographie, der Umgebung dem Blinden eingeprägt. Schwierigkeiten bieten noch Fenster und Türen, die offen oder geschlossen sein können. Georges De la Tour 1S9S 165t / rD e blinde Leiermann (Ausschnitt) Wie und was sehen die Blinden lippt das Auf der Punktschrift SchreibmaschineAnfang Mädchen seine Hausaufgaben. In Kürze wird es gänzlich erblindet sein und wird daher von an wie ein VoUblinder ausgebildet. Mit seiner starken Brille kann es aus S Zentimeter Distanz noch die gewöhnliche Schrift entziffern. dem BeUefglobu» machen die Finger große Heiscn in andern Kontinenten. Mit Leichtigkeit finden sie auch das kleinste vom Lehrer gefragte Land, während der Photcpraph Peru nicht von Bolivien unterscheiden konnte. Auf «Als ob das nicht eine einfache Sache wäre, sich vorzustellen, wie und was die Blinden sehen! Muß man doch bloß die Augenlider schließen oder ins Dunkle gehen, um es zu wissen !>; So denken wohl die meisten Menschen, deren Ansicht bequem und rasch zurechtgezimmert ist. So erfaßt man ja nur die optischen, äußeren Erscheinungsformen: den Wegfall des Augenlichts und den Verlust der Außenschau, jedoch nicht die inneren Auswirkungen: die Gestaltung der Innensicht und der dadurch bedingten, besonderen Verhaltensweise. Diese Feststellung ist von Bedeutung. Denn zwischen einem hilflosen Menschen ohne Augen und einem Blinden, der sich zu helfen weiß, besteht der größte Unterschied. Zwischen beiden Extremen liegt der weite, beschwerliche Weg der Umstellung, der aus der Nacht der Verlorenheit in den neugewonnenen Tag hineinführt, der Weg des Umlernens, der Pfadsuche, der Irrgänge und der Bahnung, der Neuorientierung der Sinneswahrnehmungen und der Neuverankerung der Daseinsverhältnisse, der Nachfolge und der Selbsterziehung, des Eigenantriebs sowie des Mitgehens und -helfens der Umwelt. Ueber die Orientierung draußen auf der Straße, über das Sichzurechtfinden des Blinden, wenn er selbst oder die Gegenstände um ihn herum sich fortbewegen, über den Kompaß-, Gehörs- und Fernsinn einerseits sowie die für die Vorstellungswelt des Blinden, für sein Raumbild bedeutsamen Komponenten der Bewegung, der Richtung und des Ziels anderseits haben wir andernorts (vor allem in der Schrift («Einblicke in die Welt des Blinden») bereits berichtet. In den nachfolgenden Ausführungen möchten wir hervorkehren, wie sich die Vorstellungswelt des Blinden in Heim und Haushalt bildet, wie sich hieraus sein Bestreben erklärt, die Ordnung der Dinge und die Beziehung zu den Angehörigen einzurichten. Draußen im Freien, in der Stadt und der Landschaft, ist es vorwiegend das Gehör, das dem Blinden bewußt oder unbewußt bei der Erkundung der Oertlichkeit, des Geländes, des Weges, der Hindernisse eine plastische, visuell empfundene Anschauung vermittelt. Erst in zweiter Linie helfen ihm auch Geruchs- und mit dem Stock aufgenommene Tasteindrücke weiter. In der Wohnung, im Zimmer jedoch hantiert der Blinde vornehmlich unter Zuhilfenahme des Getasts. Nur beim Herumlaufen, beim Ansteuern offener Türen und großer Möbelstücke tritt der letztlich akustisch bedingte Fernsinn bis zu einem gewissen Grad in Funktion, insoweit die Vertrautheit mit den Dingen und Räumlichkeiten, die Gewöhnung an die Entfernungsund Beschaffenheitsverhältnisse der Lokalität und der Einrichtung dies nicht erübrigen. Im Gegensatz nämlich zum dynamischen Sichdrehen und -wenden unterwegs ist die häusliche Betätigung, das Stubendasein eher von beharrender, statischer Art. Hier geht es nicht mehr vorweg um Bewegung, Richtung und Ziel, sondern um Länge und Breite, Höhe und Tiefe, um das Eines-neben-dem-andern, um das Hierund-da an diesem oder jenem genau bestimmten und gekannten Platz. Die kleineren Gebrauchsobjekte erkennt der Blinde, indem er sie ganz einfach in die Hand nimmt: die Geldmünze, die Armband- oder Taschcnuhrzcigcr. Bei größeren Gegen- Neue Zürcher Zeitung vom 08.11.1958 ständen müssen das Ausmaß und die Beschaffenheit durch Nachfahren der Ecken, Kanten und Flaches mit den Fingerspitzen ermittelt werden. Die gani großen müssen mit den Armen umspannt oder -abgeschritten, werden, damit sie. in ihren vollen Dimensionen ganz oder in ihren n T e i l e erfaßt, möglicherweise im Geist dann noch zusammengesetzt werden können. Der laufende Hahn allerdings zeigt sich durch sein charakteristisches, gleichbleibendes, da« Steigen der Flüssigkeit beim Eingießen in ein Gefäß durch ein veränderliches Geräusch an. Während der Sehende mit einem einzigen, mehr oder weniger flüchtigen Ueberblick den gesamten Stubenbereich mit allem, was darinnen ist, fast gleichzeitig zu umspannen und festzuhalten vermag, muß der Blinde allmählich sein Daheim nicht nur in der Wirklichkeit, sondern auch in der Vorstellung Stück für Stück begreifen, anordnen und sich einprägen. Die <;Vergegenwärtigung>; ist beim Blinden nicht die Sache eines gerafften Augenblicks. Bei ihm wächst sie aus einem in mitunter reichlich entfernte Vergangenheit zurückreichenden Zusammentragen und heraus. Ist es da verwunderlich, wenn er alles tut, um eine Veränderung der oft so mühsam nnd langwierig aufgebauten Umwelt zu vermeiden und zu verhindern! Denn jede, auch die kleinste Umstellung und Abwandlung, bedeutet für ihn zumindest ein Sich-neu-merken-Müssen, ein Umlernen. Und die Möglichkeit, die Gefahr, daß von irgend einem Wohnungsbenützer irgend etwas verstellt und verändert sein könnte, zwingt ihn zu ständiger, Nervenkraft beanspruchender Wachsamkeit und Vorsicht. Denn die Folgen, die ihm oder andern aus einer vielleicht bloß augenblicklichen Unachtsamkeit erwachsen können, sind nicht immer bloß ein Flecken auf dem Kleid, ein zerbrochenes Glas, eine Beule am Kopf. Sie können weit schlimmerer Natur sein und in einem schweren Unfall bestehen. Es darf dem Blinden darum nicht als Pedanterie und Nörgelei, als Eigenbrötelei und Schikane angerechnet werden, wenn er selbst darauf achtet und die andern dazu anhält, alles stets aufzuräumen und am angestammten Platz zu belassen. Den Blinden hat die Unerbitt lichkeit seines Geschicks zu strengster Ordnung erzogen. Denn wie sollte er seine persönlichen Utensilien und die gemeinsam verwendeten Geräte de* Alltags wiederfinden, wenn die wenig ordnungsliebenden sehenden Mitbewohner sie die längste Zeit vergeblich suchen müssen! Hier dürfte es dem Sehenden wahrhaftig nicht zum Schaden gereichen, sondern in seinem eigenen Interesse liegen, wenn er sich nach dem Wunsch und Gehaben des blinden Angehörigen oder Freundes richtet. Auf Grund häufiger, schmerzlicher Erfahrungen weiß der Blinde nur zu gut, zu was voreiliges, hastiges Agieren führt. Es wird nicht immer nur mit dem Schrecken bezahlt und mit einer Schramme gesühnt. Die Vernunft sagt et an sich auch den Sehenden, daß dem so sei. Aber es hat leider den Anschein, als ob die Sehenden erst blind werden müßten, um es in Tat und Wahrheit zu begreifen. Kein Mensch hat dem andern unbefugterweise Vorschriften zu machen. Aber aufeinander hören sollten sie doch beide und sich dementsprechend aufeinander einstellen: die Sehenden und die Blinden, Heinz Appenzellet
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