SWR2 Feature am Sonntag

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Feature am Sonntag
Das ist es, was mit mir geschieht
Warum man auf Russisch Gefühle leichter ausdrücken kann
Von Merle Hilbk
Sendung:
Sonntag, 4. Dezember 2016, 14.05 Uhr
Redaktion:
Walter Filz
Regie:
Maria Ohmer
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.
Service:
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2
Das ist es, was mit mir geschieht
Warum man auf Russisch Gefühle leichter ausdrücken kann
Künstlerisches Feature
SWR 2 Literatur und Feature
Autor:
Merle Hilbk Fassung 3, September 2016
Redakteur:
Walter Filz
Regisseurin:
Maria Ohmer
Sprecherin 1:
Margaritha Wiesner
Sprecher 2:
Vladislav Grakovsky
Wichtig:
Die Time Codes bei den russischsprachigen Passagen unbedingt einhalten – auch
die, wo der Text mit dem deutschen verschliffen wird!!!
O-Ton 1:
Ludmila Kliever rezitiert Gedichte (4:19 bis 5:02)
Russisch:
„Karol Imperator 5 govarit: „... ispanski jasik prilitschna govarit c bogam....“
Verschleifen mit Übersetzung ab „Italjanski jasik“)
3
(Deutsche Übersetzung):
„Kaiser Karl V. hat gesagt: Spanisch spricht man mit Gott. Französisch mit Freunden.
Deutsch mit Feinden. Italienisch mit Frauen. Aber wenn man Russisch kann, dann
findet man in der Sprache die Schönheit des Spanischen, die Lebhaftigkeit des
Französischen, die Stärke des Deutschen, die Zärtlichkeit der italienischen Sprache
– und den Reichtum und die Bildhaftigkeit der lateinischen und griechischen
Sprache.“
ab „italienaniski jasik“ leiser werdend, verschleifen mit:
1 Sprecherin 1:
„Ich war fünf, als ich zum ersten Mal diese Sprache hörte. Diese warme,
geheimnisvolle Sprache, die im ganzen Körper zu vibrieren schien.“
O-Ton 2:
Ludmila Kliever rezitiert: (4:30 bis 4: 34)
„Jesli on snal Russki jasik kto koneschno....“ ((Stimme wird schwingender, da
leise werden und dann ausblenden)
2 Sprecherin 1:
„Niemand sagte mir, dass es sich um Russisch handelte. Schließlich waren
wir mitten im Kalten Krieg. Und alles, was von hinter dem Eisernen Vorhang kam,
war suspekt.
Ja, die Erwachsenen taten so, als ob dahinter keine Welt existierte.
Die Welt – sie hörte am Rhein auf, oder spätestens an der Berliner Mauer. Die
zivilisierte Welt.“
Atmo 1:
Tarkowsky, Writers Monologue: (3: 40 bis 3: 46):
(Russisch ohne Übersetzung) „Ani gotowi dla etawa? Ani nitschewo ne jelaut snat...“
(„Sind Sie bereit für so etwas? Nein, sie wünschen nichts zu wissen. Sie wollen
nichts als schlingen.“)
4
3 Sprecherin 1:
„Die zivilisierte Welt:
Das war die mit den Autobahnen, den Ölheizungen und den
Grundbüchern, in denen festgehalten wird, wem/ was/ seit wann/ gehört.
Da steht auch das Haus drin, in dem diese Geschichte beginnt.
Das Haus in der Zechensiedlung, in das mein Großonkel Erich 1954 zurückkehrte,
aus dem Kriegsgefangenenlager in Sibirien. Das hatte ich heimlich aufgeschnappt,
denn offen geredet wurde darüber nicht.
Als ich 18 wurde und es mich in die Ferne zog, sagte er zu mir: „Schau dir die ganze
Welt an, Mädchen! Nur von Russland – da halt dich fern!“
4 Sprecherin 1:
Das ist es, was mit mir geschieht.
1 Sprecher 2:
Warum man auf Russisch Gefühle leichter ausdrücken kann.
Ein Feature von Merle Hilbk
Atmo 2:
Helena Kolb:
Wolgalied (0:01 bis 0:44)
Sanfte Frauenstimme und Gitarre:
„Издалека долго
Течёт река Волга,
Течёт река Волга —
Конца и края нет.
5
Среди хлебов спелых,
Среди снегов белых
Течёт моя Волга,
А мне семнадцать лет.
Сказала мать:
«Бывает всё, сынок,
Быть может, ты устанешь от дорог.
Когда домой придёшь в конце пути
Свои ладони в Волгу опусти».
(Es fließt ein langer Fluss von weither. Meine Wolga...“
(Letzte 10 bis 15 Sekunden leiser werdend, verschneiden mit O-Ton)
5 Sprecherin 1:
„So war dieses Land, war Russland lange Zeit für mich nicht mehr als ein
Klang.
Der Klang dieser Sprache, die ich an jenem Abend hörte. An jenem Abend in einer
Arbeitersiedlung in Dortmund-Aplerbeck; am Silvesterabend 1974, an dem meine
bewusste Erinnerung einsetzt.“
Atmo 3:
Megapolis:
Volga (1:22 bis 1:53)
6
Rauere Männerstimme und Akkordeon:
„Tечёт река Волга,
Течёт река Волга —
Конца и края нет.
Среди хлебов спелых,
Среди снегов белых
Течёт моя Волга,
А мне уж тридцать лет.“
(Letzte 10 Sekunden verschleifen mit Text)
6 Sprecherin 1:
„An jenem Abend, als ich fünf war und Alík singen hörte.
Alík, meinen Urgroßvater, Dreher im Werk von Hoesch, das sie später auseinander
genommen und in China wieder aufgebaut haben.
Als ich Alík singen hörte; in dieser weichen, märchenhaften Sprache, die – wie mir
erst Jahre später bewusst wurde – Russisch war.“
2 Sprecher 2:
„Russki Jasik.“ („Die russische Sprache“)
Atmo 4:
Tarkowsky:
Stalker Monologue, (0:52 bis 1:08):
„Kokda tschelowek raditza, on slab...“ (Übersetzung): „Wenn der Mensch geboren
wird, ist er weich und beweglich. Wenn er stirbt, ist er hart und unsensibel. Wenn ein
7
Baum wächst, ist er biegsam und geschmeidig. Wenn er hart und trocken ist, stirbt
er.“
7 Sprecherin 1:
„Alík ist ein Diminutiv, eine Verkleinerungsform von Alexej. Mit geringer Größe oder
gar Niedlichkeit hat diese Verkleinerung nichts zu tun.
In Russland nennt man Menschen, die einem nahe stehen, fast immer bei ihrem
Kurznamen.
Für jeden Namen existiert eine gewissermaßen offizielle Verkleinerungsform:
Wladmir. Wlad. Und eine Verkleinerung der Verkleinerungsform: Wlad. Wolodja.
Besser gesagt:
Koseform.
Die wird üblicherweise gebildet, indem man ein „scha“ anhängt.
Aber was heißt schon:
üblicherweise – in einer Sprache, die mehr Ausnahmen als Regeln kennt!“
3 Sprecher 2:
„Alexej. Alík. Aljoscha.
Aleksandr. Sascha. Schura.“
8 Sprecherin 1:
„Ein System der Verkleinerung, an dem man den Grad der Nähe ablesen kann, die
der Sprecher zum Angesprochenen hat.
(Pause)
Mein Urgroßvater hieß im Pass Aleksandr. Daher hätte er sich Sascha nennen
müssen. Aber „Sascha“ wurden damals im Ruhrgebiet gerne Mädchen genannt.
Und Wilhelmine, seine Frau, eine resolute Bergmannstochter, rief, wenn sie wütend
war:
„Alex! Alex, hör auf!“ (ältere Stimme nachahmen, mit Hall aufgenommen im Korridor)
8
(kurze Sprechpause)
Alex – das klang mehr wie das russische „Alík“. Der Rest der Familie nannte ihn
schlicht „A-le-xan-der“. Das sei ein alter deutscher Name, wie meine Mutter mir
erklärte. Wenn ich ein Junge geworden wäre, hätte sie mich wohl auch so genannt.
(Pause)
Ich habe ihn gar nicht beim Namen genannt. Nicht einmal „Uropa“ habe ich gesagt.
Ich glaube, ich hatte damals nicht einmal verstanden, wer er genau war, ich habe ihn
ja nur zu Sylvester und den Geburtstagen getroffen. Schließlich lebten wir ja
inzwischen weit weg von der Arbeitersiedlung.
(Pause)
Alík nenne ich ihn nur heute. In meiner Erinnerung.“
Atmo 5:
V Holoda (Wissotzky), Studioaufnahme Instrumental. (2:08 bis 2.15)
Akkordeon (0:
03 bis 0:10, dann leise, während Sprecher schon beginnt, im Hintergrund)
9 Sprecherin 1:
„Alík war ein Schweiger. Aber er sang, und spielte Akkordeon. Eine russische
Garmoschka mit einer weißen Raute auf den Falzen; Falzen, die sich wie ein Atem
anhörten, wenn er sie ausbreitete.“
Atmo 6:
Akkordeon Magnus:
(0:01 bis 0:08)
Blasebalg-Geräusch Akkordeon
9
10 Sprecherin 1:
„So, als ob jemand Luft holte nach einer Anstrengung. Tief durchatmete.
Dann hörte ich die ersten Töne durch den Raum schweben, eine Musik wie von
weither.“
Atmo 7:
Megapolis. Volga (2:
59 bis 3:30)
(zuerst leise im Hintergrund, dann anschwellend:.“Здесь мой причал и здесь мои
друзья —Всё, без чего на свете жить нельзя.)
(„Dort ist mein Hafen, dort sind sind meine Freunde“):
überblenden, dann ausfaden
11 Sprecherin 1:
„Alík sang, ohne die anderen zu fragen, ob es ihnen recht wäre. Er knöpfte die
Garmoschka auf und begann zu singen, leise und melancholisch. Etwas, das sonst
niemand in der Familie gewagt hätte. Ein Mann sang nicht einfach so – vor allem
nicht so traurige Lieder.
Ich verstand nicht, wovon der Text handelte. Aber die Sprache, diese warme,
melodische Sprache, rührte etwas an in mir.
Rührte etwas an in mir, das ich erst später wahrnahm.
(Pause)
Ein Vierteljahrhundert später, als die Welt nicht mehr in zwei Hälften geteilt war und
ich diese Sprache plötzlich auf der Straße hörte. Plötzlich hörte im Sommer in
Almaty, wo die Straßen von Apfelbäumen gesäumt waren, unter denen die Männer
saßen und rauchten. Machorka rauchten und die Frauen die Schlager mitsummten,
die von den Straßenkiosken herüberwehten.“
Lied noch nicht geschnitten, bitte Start-Time-Code einhalten wegen Text
Atmo 8:
Obe dve, Tisyachi let (3:23 bis ca. 3:50, ggf. kürzer)
10
„Tuy dumajesch o mnje. A ja proschu otwet.....“ („Du denkst über mich nach. Ich bitte
den Himmel um Antwort....“ )
leise einsetzend bei „von den Straßenkiosken“. Überblenden in Fortsetzung
Sprechertext, leiser werdend.
12 Sprecherin 1:
Es war meine erste Reise in die ehemalige Sowjetunion, mit einem Team von „Ärzten
ohne Grenzen“, die die Tuberkulose dort ausrotten wollten, damit sie nicht eines
Tages von dort zu uns käme.
Als ich aus dem Flughafenbus stieg und die Männer unter den Apfelbäumen
sprechen hörte, fühlte ich eine plötzliche Nähe, eine Vertrautheit, wie ich sie selten
erlebt hatte.
(Pause)
Und diese Vertrautheit wurde, als ich Almaty wieder verließ, zu einer Sehnsucht.
Sehnsucht nach dieser Mischung aus Melancholie, trotzigem Stolz und plötzlich
aufbrechender Energie, wie ich sie in den Straßen sah und hörte.
(Pause)
Den Altstadtstraßen von Almaty, der alten Hauptstadt von Kasachstan, in denen
meine Erinnerungen an den Silvesterabend mit Alík zurückkehrte. An den Abend, als
ich diese Sprache mit den weichen Vokalen und den Zischlauten zum ersten Mal
gehört hatte.“
Atmo 9:
Megapolis:
Volga (Musik allein hörbar (3:20 bis ca. 4:14)
(Text auf deutsch und russisch zweistimmig übereinander gesungen:
„Wann lässt du mich los? „)
letzte Instrumentaltakte überblenden
11
13 Sprecherin 1:
„Zurück in Hörde, zurück ins Jahr 1974.
Alík spielt das Lied, dessen Text sich mir einprägte, ohne dass ich ihn verstand.“
4 Sprecher 2:
„Skazala mat':
"Byvaet vsjo, synok.
Byt' mozhet ty ustanesh' ot dorog,
Kogda domoj pridjosh' v konce puti,
Svoi ladoni v Volgu opusti."
14 Sprecherin 1:
„Als er schließlich die Garmoschka absetzte, begann er zu weinen.
Er sah uns nicht an. Er saß da und weinte, bis sein Sohn Erich – der, der als letzter
aus der Kriegsgefangenschaft in Russland zurückkehrte – ihn an der Schulter rüttelte
und aus dem Zimmer schob.“
5 Sprecher 2
( ggf. von Sprecher 3 sprechen lassen):
( tiefe Stimme:) streng:
„Vater, jetzt ist es genug! Wir wollen feiern!“
15 Sprecherin 1:
„Als Alík zurückkehrte, setzte er sich verlegen auf das Sofa – das bordeauxrote Sofa
unter der Dachschräge. Ich rückte an ihn heran und fragte:
,Was sind das für Lieder, die dich so traurig machen?`“
6 Sprecher 2:
„Merlotschka...“
16 Sprecherin 1:
„Merlotschka, hob er an. Das sind die Lieder aus...“
12
Atmo 10:
(übereinandergelegt):
Sylvester 1 und Sylvester 2: (0:00 bis ca. 0:20):
Raketen, Gläserklirren, Stimmengewirr
17 Sprecherin 1:
„Und dann wurde er von den anderen übertönt, die auf das neue Jahr anstießen,
während draußen die Raketen über dem Stahlwerk aufstiegen.
(kurze Sprechpause, im Hintergrund Raketenzischen)
7 Sprecher 2:
„Merlotschka! Mer-lotsch-ká, Mérlotschka.“
(leiser werdend)
18 Sprecherin 1:
„Kurz darauf starb er. Und mit ihm verschwanden die weichen Vokale, die ich gerade
erst kennen gelernt hatte, aus meinem Leben....“
Atmo 11:
Datei „Russische Vokale:
„A, je, i, ui“. Inogda.“
19 Sprecherin 1:
„Die Konsonanten:
Das rollende R...“
Atmo 12:
Datei „Russische Konsonanten 1“:
„el. en. pe. rrr. Grrramatno“
20 Sprecherin 1:
„Ach, und die Zischlaute, die wie ein Wasserkessel unter Dampf klangen.“
13
Atmo 13:
Datei „Russische Zischlaute: (Teil 1)
„Schtsch, Borschtsch. Dsch, Dschug, je, Juschdal. Tch, Tschai“
21 Sprecherin 1:
„Die zarten und die zischenden, die fließenden und rollenden Laute – sie
verschwanden aus meinem Bewusstsein. Jahrzehntelang. Brachen plötzlich ab.“
Atmo 14:
(wird nachgeliefert)
Datei „Russische Zischlaute: Teil 2
(verhallendes Zischen:
zzzzz. Konjezzzzzz (deutsch: Ende)“
22 Sprecherin 1:
„Wie eine Bewegung, die einfriert – und eine Spannung im Körper hinterlässt. Eine
Spannung: ein Derivat des Lebens, das war.
Pause
Das plötzlich wieder da war, als ich diese Sprache hörte, in Almaty.
Das Leben von Alík, seinen Eltern, Großeltern, Geschwistern, Tanten und Onkel,
seinen Cousinen und Cousins. Das Leben der Familie ohne Erinnerung. Ohne
Erinnerung an die Vergangenheit, an Russland, an die Schönheit und den
Schrecken.
Nur die Lieder, die Lieder in dieser Sprache, dieser märchenhaften Sprache... sind
geblieben.
Издалека долго (Isdaleko dólga)
Ein Derivat der Erinnerung.
(Pause, dann tiefes Einatmen)
Meiner Erinnerung.
14
An Alík, an die Melancholie, den trotzigen Stolz und die aufbrechende Energie an
diesen Abend im Jahr 1974 in Dortmund-Hörde.
Der Erinnerung, die 25 Jahre später zurückkehrte. In den Apfelalleen von Almaty, der
größten Stadt in Kasachstan, in der man noch überall Russisch hören konnte –
damals, zu Beginn der neuen Zeit, in der die Apfelbäume gefällt wurden und die
Sprache von den Straßen verschwand.
(Pause)
Meine Erinnerung, die aufschien in dieser Sprache, die mich mit der Vergangenheit
verband.
(Pause)
Die Sprache, die im Russischen Wurzelsprache heißt, weil im Russischen die Erde
das Eigentliche ist. Die heilige Erde.
Die Mutter. Der Ursprung, von dem alles andere ausgeht.“
8 Sprecher 2:
„Radnoi Jasik.“
23 Sprecherin 1:
„Ich verlief mich an diesem Tag am Stadtrand von Almaty. Denn ich konnte die
kyrillischen Schilder nicht lesen, konnte niemanden fragen, denn ich konnte sie nicht
sprechen, diese Sprache.
Und so blieb die Vergangenheit nicht mehr als eine Vorstellung im Kopf, ein Gefühl
im Körper. Eine Sehnsucht, den Graben in der Geschichte zu füllen.
(Pause)
Als ich zurückkam, machte ich mich auf, um diese Sprache zu lernen.
9 Sprecher 2:
„Russki Jasik.“
Atmo 15:
Metro Moskwy (0:
01 bis 0: 18)
15
Einfahrende Moskauer S-Bahn. Läutet, bremst, Türen gehen zischend auf. Stimme
aus Lautsprecher: „Ostoroschno, dweri sakrywajutsa!“
Leute steigen aus, Türen gehen zu, Bahn fährt an.
24 Sprecherin 1:
„Machte mich auf nach Bochum, an die Ruhruniversität, die eine SprachlehrInstitution beherbergt: das Russicum. Dort erwartete mich Ludmila, die, wie ich im
Nachhinein denke, mir mehr als die Sprache beibrachte.
Mehr als die Grammatik, die Vokabeln, die schrecklich komplizierten Deklinationen
und Konjugationen.“
O-Ton 4:
Ludmila Kliever 3, liest Gedichte ( 7:20 ff.) (Atmo entrauschen!!!!)
„Russisch:
„Samnoie wot sto prichodit / k mnje moi stari drug ne prichodit...“
(nach dieser Zeile verschleifen mit deutscher Übersetzung):
„Was noch interessant ist zum Thema Emigration, das ist zum Beispiel
Jewtuschenko:
Das ist es, was mit mir geschieht/
mein alter Freund kommt nicht zu mir./
Die allermöglichsten und nicht die wahren/
kommen/
in der Hast des Alltags.“
Atmo 16:
Uljanowsk, Juni (0:
01 bis 0:12):Junge Leute sprechen wild durcheinander, Musik im Hintergrund.
25 Sprecherin 1:
„Als ich Ludmila das erste Mal sah, dachte ich: Wie die strengen Lehrerinnen aus
den Sowjet-Filmen!
16
Und sie war streng. Bis morgen lernt ihr das russische Alphabet! sagte sie mit
Kommandostimme zu den Schülern. Dawei! „
O-Ton 5:
Ludmila liest das russische Alphabet: (0:03 bis 0:41)
„Tak. A seitschas posluschatje russki Alfavit:
а б в г д е ё ж з и й к л м н о п р с т у ф х ц ч ш щ ъ ы ь э ю я.“
(„So. Und nun hören Sie das russische Alphabet: A, b,w, g, d, je, jo.....)
(Oder wahlweise:
Datei Haike 1
Russisches Alphabet gesungen, als Schülerreim: „M n o p r s t, das lernt sich
schnell..“)
26 Sprecherin 1:
„Ich dachte:
Warum tue ich mir das nur an? So viel Strenge! So viel Stoff!
Pause
Ach, das Russische hat nicht vier Fälle, sondern sechs.
Und die Verben... Die Verben sind eine Katastrophe! Denn jedes Verb gibt es in zwei
Varianten, die unterschiedlich konjugiert werden. Welche man gebraucht, hängt vom
Standpunkt des Betrachters ab.“
10 Sprecher 2:
„садиться. сесть.“
27 Sprecherin 1:
„Wenn ich sagte, ich setze mich hin, saß ich für sie bereits.
Pause
Dann die Uhrzeit... die russischen Uhren gehen anders!
Ihnen fehlen – nicht untypisch, wie ich dachte – die Minuten, die die deutschen
Uhren quasi im Vorrat haben.“
17
11 Sprecher 2:
„Без десяти два.“
28 Sprecherin 1:
„Zwei ohne zehn. Bei uns heißt das: zehn vor zwei.
Pause.
(Seufzend) Und das R wollte auch nicht rollen in meiner Kehle.“
Atmo 17:
Ausgehen mit Russen, rollendes R:
Wladi:
„Kannst du das R rollen?“
Merle:
„R R R.“
Lena:
„ So: Rrrrrrrr (lacht).“
Wladi:
„Rrrrrr Rrrrr Rrrrr.“
Merle:
„RR RR ERR.“
alle fallen ein:
„RRRRRR.“ Lachen.
29 Sprecherin 1:
„Diese Sprache! So komplex, so überbordend, so voller Ausnahmen! Da ist das
Chaos doch vorprogrammiert, dachte ich, und: Kein Wunder, man muss sich doch
nur das Land angucken!
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Dann saßen wir eines Tages im Sprachlabor und übten die üblichen AnfängerDialoge.“
O-Ton 6:
Sprachunterricht, über moderne Medien 2: (0:18 bis 1:08)
Lehrerin:
„Wie sagen wir: Ich bin der Meinung, dass...“
Schüler 1:
„Po moemu.“
Schüler 2:
„Ja dumaju sto.“
Lehrerin:
„Po moemu; ja dumaja sto..“
Schüler 2:
„Ja schitaju.“
Lehrerin:
„Ja schitaju!“
Schüler 1:
„Majo mneni... men...menje (stottert).“
Lehrerin:
„Majo menije.“
Schüler 2:
„Majo menije.“
19
Lehrerin:
„Mhmh.“ (zustimmendes Brummen)
Murmelt dann etwas Russisches vor sich hin. Blättert in einem Buch.
Lehrerin:
„Samo... äh, also: zusammen.“
Schüler erheben sich, trinken etwas. Stühlerücken. Hefte werden aufgeschlagen.
Schüler 2:
(mumelnd): „Also, ich fang mal...“
Schüler 3:
„Potschemu?“
Lehrerin:
„Potschemu (...)?“
Alle sprechen vor sich hin. Lachen.
30 Sprecherin 1:
„Ich dämmerte vor mich hin. Dann rückte Ludmila das Mikrofon zurecht, um uns
etwas zum Nachhören aufs Band zu sprechen, ein russisches Gedicht. Und ich hörte
dieses Wort:..“
O-Ton 7:
Ludmila Kliever liest Gedichte (9:11 bis 9:14)
„Ljubov.... Lju- bov.“
31 Sprecherin 1:
„Hörte dieses Wort, das russische Wort für Liebe, so weich und schwingend, dass
mir wieder bewusst wurde, warum ich mir das hier antat. Das hier, bei dem es am
Ende um mehr ging als um das Erlernen einer – komplizierten - Fremdsprache. Eine
Annäherung an die Vergangenheit. An eine verflossene, verratene Liebe.“
20
O-Ton 8:
Ludmila Kliever liest Gedichte (9:09 bis 9:30)
„А как первая любовь она сердце жжёт,
а вторая любовь она к первой льнёт,
ну, а третья любовь ключ дрожит в замке,
ключ дрожит в замке, чемодан в руке.“
32 Sprecherin 1:
„Mein Gehirn speicherte dieses Gedicht beim ersten Hören, obwohl ich den Text
nicht verstand – wie damals das Lied von Alík.
Diesen Text über die Vergänglichkeit der Liebe, geschrieben von Bulat Okoudshava,
einem berühmten russischen Barden, an dessen Lippen die Russen in den 70ern
hingen wie an denen eines Predigers.
(geflüstert, ab der dritten Teile leiser werdend und im Hintergrund von Sprechertext
Frage):
„Und die erste Liebe, sie verbrennt das Herz.
Und die zweite Liebe – sie schmiegt sich an die erste.
Aber die dritte Liebe – der Schlüssel zittert im Schloss,
der Schlüssel zittert im Schloss, der Koffer ist in der Hand.“
Als ich Jahre später die Übersetzung las, war ich überrascht: Ich hatte bereits
gewusst, wovon er handelte.
(Pause)
Gab es so etwas – ein intuitives Verstehen einer Sprache?“
O-Ton 9:
Ludmila Kliever über den Enkel: (0:05 bis 0:43)
„Also:
die Geschichte mit dem Enkel. Der ist drei Jahre alt, und wenn er bei
mir ist, sagt er:
Oma, kannst du mir bitte ein Lied vorsingen? Und wenn ich
,Kalinka’ vorsinge, und wenn die Zeile kommt:,Spat poloshite wy menja’,
21
dann legt er sich hin und ist ganz, ganz still. Und der Refrain, „Kalinka,
Kalinka, Kalinka moja“:
da fängt er an zu tanzen. Und wenn zu Hause das
Radio läuft und die Musik hört, dann sagt er zu seiner Mutter: Mach die
Musik aus, die ist traurig. Ich mag nur die traurigen Lieder von Oma.“
Atmo 18:
Kalinka
Helene Fischer live, 4:
18 bis 4: 28)
leise, dann anschwellend:
„Kalinka, kalinka, kalinka moja!
W sadu jagoda malinka, malinka moja! Hey!“
33 Sprecherin 1:
„Ich verstand – es ging nicht um die Übersetzung von Vokabeln.
Es ging um den Kontext, der in ihren Lauten, ihrer Melodie und ihrem Rhythmus
mitschwang.
Ein Kontext, der Sehnsucht weckte.
Sehnsüchte, die das Gegenteil von der deutschen Italien-Sehnsucht waren.
Denn die Russisch-Sehnsucht war ambivalent – so ambivalent wie das deutsche
Russland-Bild. Und so ambivalent wie die Beziehung zwischen Russland und
Deutschland, pendelnd zwischen Angst und Bewunderung, Nähe und Ablehnung.
Doch was ist die Wurzel, habe ich gefragt. Zuerst meine Russisch-Lehrer, RusslandExperten.
Die Wurzel dieser so ambivalenten Sehnsucht?
O-Ton 10:
Leo Weschmann 3 und 1, Lehrer und Leiter des Russicums (16:08 bis 17:47, 0:20
bis 2:49)
22
Weschmann:
„Bei mir ist ja auch diese starke emotionale Beziehung zur russischen Sprache im
Grunde ja aus einer Auflehnung gegen das, was an mich herangetragen wurde,
diese Abgrenzung vom Russischen, von Russland, von der Sowjetunion, mit
entstanden.(...)
Man fängt an, sich dafür zu interessieren, weil man sich abgrenzen will von diesem
Negativbild, dieser ganzen dunklen Darstellung von Russland hier. Und ich glaube,
es ist insofern Sehnsucht, als dass man das wahre Gesicht entdecken will. Dass man
in dem Moment, wo man anfängt, die Sprache zu lernen, Literatur zu lesen, Musik zu
hören, feststellt: da steckt doch noch etwas anderes dahinter. Nach Wahrheit zu
suchen, Brücken zu bauen.
Es hängt sehr eng mit meiner Familiengeschichte zusammen. (...) Meine Eltern
haben mir verboten, Russisch zu lernen. Ich musste Französisch als Schulfach
wählen.
Der Hintergrund ist natürlich ein in dieser Generations sehr typischer: Der älteste
Bruder meiner Mutter ist im zweiten Weltkrieg auf der Krim gefallen, und die beiden
älteren Brüder meines Vaters in Stalingrad.
Aber was macht man, wenn man 14, 15 ist? Und dann habe ich gewissermaßen im
Untergrund Russisch gelernt, mit den Freunden.“
34 Sprecherin 1:
„Leo Weschmann ist ein Kollege von Ludmila Kliever, ein deutscher Russischlehrer
am Russicum.
Das Russicum in Bochum wurde mitten im Kalten Krieg gegründet – eine Art
linguistische Entspannungspolitik.
Fernsehkorrespondenten, Industriemanager, Studenten und Künstler entdeckten in
den Klassenzimmern und Sprachlabors des Russicum ihr Interesse für ein Russland
auch jenseits der offiziellen Bilder, jenseits von politischen Konflikten und
gesellschaftlichen Zuschreibungen.
Wenn jemand sagt:
Ach, du warst doch auch im Russicum! – dann ist das oft der Beginn eines
Gesprächs, in dem es um Familiengeschichte geht und den Versuch, einen eigenen
Platz darin, eine eigene Haltung dazu zu finden.“
23
O-Ton 11:
Klaus Waschik 3 über Feindbilder (2: 14 bis 9:35)
(O-Ton leider sehr räumlich, etwas hallig)
„Es gibt Thesen, das Russland das negative Unbewusste Deutschlands ist. Das
dahin alles projiziert wird, was Deutschland im Freudschen Sinne und im Sinne der
Psychoanalyse von sich abspalten will. Was dahinter steht, sind natürlich historische
Erfahrungen, die mit Angstvisionen zu tun haben.
Also, wenn Sie sehen:
wer hat also eine historisch nachweisbare Referenzstruktur für Feindbilder, dann hat
Russland die hundert Mal mehr als Deutschland. (...)
Die Frage ist:
Wie relevant sind konkrete historische Erfahrungen? Sind die wirklich wichtig zur
Existenz von Feindbildern? Oder ist nicht sozusagen der imaginäre Charakter viel
wichtiger?
Also die Angst vor dem eigentlich, ja, gar nicht Realen kann sehr viel größer sein als
die Angst vor dem Realen.
Russland hat natürlich die Angst vor der realen Bedrohung 1941 erlebt. Sie hat aber
nie die Angst vor etwas irreal Deutschem gehabt. Bei uns ist das eher andersrum.(...)
Und ich glaube, dass es zu tun hat mit einer Einstellung, einer Art Hybris. Einer
deutschen Hybris gegenüber der slavischen Welt – und Russland insbesondere – die
eine Verbindung ist aus Angst und Oberlehrer.
Der Oberlehrer hat einen unerzogenen, faulen Schüler, der seine Hoffnungen nicht
erfüllt. Der zwar zu extremen Leistungen fähig ist, der aber nicht so ist wie der
Deutsche. Wir reden ja sozusagen über ein wiederkehrendes
Wahrnehmungsstereotyp, nicht?.
Es ist immer die Sicht auf das Eigene und das Fremde, was in so einer
Wahrnehmungsschablone nun drin steckt.“
35 Sprecherin 1:
Klaus Waschik hat sich als promovierter Slavist mit sowjetischer und russischer
Kulturgeschichte auseinandergesetzt. Als Direktor des Landesspracheninstituts
24
Nordrhein-Westfalen, zu dem auch das Russicum gehört, beschäftigt ihn nun eher
der deutsche Blick auf Russland. (Pause).
Ein Blick, der zwar oft von der Politik vorgeprägt ist, aber meist durch persönliche
Begegnungen und Erlebnisse überlagert wird
oder geschärft – wie bei meinem Nachbarn Jan Uplegger, der während seines
Schauspielstudiums eine Zeit in Moskau verbrachte.
Atmo 19:
S-Bahn Berlin Marzahn (0:02 bis 0:12)
Geräusch einfahrender und bremsender Bahn. Türenöffnen.
O-Ton 12:
Jan Uplegger (Schauspieler und Sprecher) (0:06 bis: 2:16)
„Ich bin das erste Mal in Verbindung gekommen mit der russischen Sprache durch
meinen Onkel. Der war damals Slawistik-Student und hat uns besucht. Ich hatte eher
Neigung für Polnisch, und wir kamen in ein Streitgespräch, welche Sprache denn die
schönere sei.
(...). Und dann hörte ich noch von diesen unglaublichen Buchstaben: einem
Weichheitszeichen, einem Hartwerdungszeichen, und das hat mich dann doch zum
Grübeln gebracht, dass es diese Feinheit gibt, diese Nuancierung, und hat mich
dann immer mehr zum Russischen gebracht, mich mit Lyrik zu beschäftigen, wo ich
dann auch gemerkt habe: Diese Lyrik ist so einmalig, man kann diese Sprache, diese
Melodie nicht übertragen in unsere deutsche Sprache (...).
(Pause)
Ganz anders natürlich die offizielle Sprache, die wie eine ganz andere Sprache
funktioniert, mit einer Härte, die Inhalt eher verschleiert. (...) Und so gibt es, wie ich
dann später gemerkt habe, auch immer zwei Seiten der russischen Seele, oder der
russischen Verhaltensweisen.
Wenn man Russen zum ersten Mal begegnet, wirken sie oft abweisend kühl, fast
feindselig. Erst, wenn sie ihre private Seite zeigen, dann öffnen sie sich. Und die
Sprache entblättert sich und blüht dann auf; bekommt diese zärtliche Note, die ich
das erste Mal bei meinem Onkel gehört habe.“
25
Atmo 20:
S-Bahn Berlin Marzahn (1:19 bis 1:34)
Geräusch von Bahn auf der Strecke, Verlangsamung, Bremsen, Türen öffnen sich
(überblenden)
36 Sprecherin 1:
„Ein Klang, der Olaf Opitz dazu brachte, nicht wie geplant Punkmusiker zu werden,
sondern mit der Band Apparatschik russische Volksmusik tanzbar zu machen. Und
mit Haike Haarig, die ihn eigentlich nur für ein Festival buchen wollte, nun
gemeinsam aufzutreten.“
0-Ton 13:
Olaf Opitz 12, Sänger Band Apparatschik:
„Ich verstehe die russische Sprache nicht. Aber ich singe sie für mein Leben gern.“
O-Ton 14:
Haike Haarig 3, Sängerin:
(als Sprechgesang):
„Die russische Sprache/ schmeckt/ nach Wodka und Kaviar./ Die russische Sprache/
schmeckt ganz wundervoll/ sehnsuchtsvoll/ in Moll.“
Atmo 21:
S-Bahn Berlin-Marzahn (4:42 ff.)
Hallende Schritte auf dem Bahnsteig, Gruppe strebt mit klappenden Absätzen in
Unterführung, Zug fährt ab. Zwei Frauen streiten sich im Hintergrund auf Russisch:
„Panimajtje, eto...“ (Verstehen Sie doch, dass ist...)
„Ja prosto chatschu..“(„Ich will einfach...“)
„Nejtnjetnjet, ja skasala.“ („Neineinein, hab ich gesagt...“)
überblenden in
O-Ton 15:
Interview Russischschülerin Christina Fladder, Rentnerin (ab 0:20)
26
„Mein Interesse an der russischen Sprache wurde durch Zufall geweckt. Ich habe im
Radio einige Verse von Jewgeni Onegin gehört. Und ich dachte: Mein Gott, das
musst du verstehen können, beziehungsweise: das musst du lesen können im
Original.“
12 Sprecher 2:
„Онегин, добрый мой приятель,
Родился на бeрегах Невы,
Где, может быть, родились вы
Или блистали, мой читатель;
Там некогда гулял и я:
Но вреден север для меня.“
37 Sprecherin 1:
„Christina Fladder hat bis zu ihrer Rente bei der Lufthansa gearbeitet. Zu
Sowjetzeiten besuchte sie einen Sprachkurs im Russicum und lernte dort eine
Botschaftsmitarbeiterin kennen, die sie nach Moskau einlud. Das ist über 30 Jahre
her. Jetzt, als Rentnerin, sitzt sie wieder im Russicum.
In der Ost-Ukraine war ein Flugzeug unter mysteriösen Umständen abgestürzt, und
als im Fernsehen die Berichte über die Untersuchungen sah, dachte sie: Da stimmt
etwas nicht!“
Atmo 22:
Nachrichtenfilm Spiegel TV (ab 0:06)
Getragene Stimme, weihevolle Musik:
„Rückkehr in das Land, in dem die Tragödie ihren Anfang nahm. Auf einem Tieflader
erreichen Reste von MH-17 die Niederlande. Die Boeing war in Amsterdam gestartet,
2/3 der Opfer waren Holländer.“
O-Ton 16:
Fladder:
(ab 2:26)
27
„Den Ausschlag gegeben hat der Absturz dieser Maschine MH 17.
Ich weiß genau, aufgrund meiner bisherigen Berufstätigkeit, wie
Flugunfalluntersuchungen zu laufen haben. Und es fiel mir auf, dass von Anfang an,
wirklich von Anfang an nichts, aber auch rein gar nichts,according to the book nach
AKA-regulations` zu laufen hat.
Und da habe ich gedacht:
In diese Thema steige ich jetzt ein. Das macht aber nur Sinn, wenn ich nicht immer
nur eine Seite lese und höre, nämlich die westliche Seite. Sondern ich muss auch die
andere Seite dazu hören können, verstehen, deren Kommentare und Beiträge lesen
können, um mir selbst ein Bild machen zu können.
Seltsamerweise hatte ich das Gefühl, dass es damals, trotz anhaltenden Kalten
Krieges, fast leichter war, über russische Politik, über Russland überhaupt zu
sprechen.
Im Moment scheint die Lage so aufgeheizt, dass, also....Ich finde es
unverantwortlich, traurig, was da betrieben wird, das ist aus meiner Sicht die reinste
Kriegstreiberei.“
38 Sprecherin 1:
„So etwas sagen im Moment viele in Deutschland. Bei Lesungen, bei
Diskussionsveranstaltungen, wo es eigentlich um ganz andere Themen geht. Und
die, die es sagen, werden dann von anderen beschimpft: Kriegstreiberei, wen
meinen Sie? Sie haben sich wohl auch schon von der russischen Propaganda
einwickeln lassen. Die haben ja ihre Propagandaspezialisten jetzt auch in
Deutschland eingeschleust!`
Nicht wenige Freundschaften gingen dadurch zu Bruch. Auch in meinem
Freundeskreis.
Ich fragte mich:
Sind das die Nachwirkungen des Kalten Krieges? Doch woher kommt dieser
Positionierungsdrang?“
28
Atmo 23:
Sting:
Russians (0:18 bis 0:34)
Ab „Kalter Krieg“ im Sprechertext im Hintergrund laufen lassen, dann allein:
In Europe and America there's a growing feeling of hysteria
Conditioned to respond to all the threats
In the rhetorical speeches of the Soviets.“
39 Sprecherin 1:
„Mit dieser Frage im Kopf fuhr ich zu der Schriftstellerin Irina Liebmann, die in ihrem
Buch „Drei Schritte nach Russland“, beschrieben hat, wie sie sich nach Russland, in
das Land ihrer Mutter und ihrer eigenen Kindheit, zurückgetastet hat.
Liebmanns Vater, Rudolf Herrnstadt, war ein deutscher Kommunist, der nach
Russland floh. Als Funktionär kam er später in die DDR, wo er den Arbeiteraufstand
1953 verteidigte. Darauf wurde er aus Zentralkomitee und Partei ausgeschlossen,
und mit der Familie ins chemiegraue Merseburg geschickt.
Vielleicht sind es diese Wirrungen, die plötzlich wechselnden Fraktionen, dieses „Du
gehörst nicht mehr zu uns“, das sie so nach dem „anderen Russland“ suchen lässt –
dem jenseits von Politik und Propagandabildern. Nach den Feinheiten, der
besonderen Differenzierung des Gefühlsausdruck in der russischen Sprache. Eine
Wiederaneignung eines Teils der Identität; einer inneren Heimat, die in den
Schützengräben der Ideologie zurückgeblieben war.“
O-Ton noch nicht perfekt geschnitten, siehe Time-Codes
O-Ton 17:
Irina Liebmann II über Fühlen auf Russisch:
(0:17- 0:56)
Die russische Sprache... also, das ist wie ein Persönlichkeitsaustausch. Jedenfalls
war das sehr lange für mich so, und ich glaube, in der Zeit, in der ich das für mich
abgelehnt habe, russisch zu sein. Ich habe ja nur als Säugling in Moskau zwei Jahre
gerade mal verbracht, und später jahrelang auch in einer Umgebung, die dem
Russischen gegenüber sehr feindlich oder ziemlich feindlich oder misstrauisch oder
herablassend gegenüber eingestellt war (...).
29
(1:10 -1:25) )Vor zehn Jahren musste ich so etwas wie die Luft anhalten, und dann
war es wie... Kopfsprung ins Wasser. Und dann habe ich mich in diesem
wunderbaren Wasser sehr wohl gefühlt. (lacht) (...).
(2:05-2:34 )Es ist aber interessant beim Russischen, dass ich immer oft jetzt am
Anfang (zögert) solche Schamgefühle habe. Und die kommen daher, dass Russisch
eine so besonders zärtliche Sprache ist. Und dass ich dabei sofort, wenn ich hier in
der deutschen Umgebung bin, mich irgendwie zu entblößen, ja!“ (lacht verlegen).
40 Sprecherin 1:
„So, schien es mir, ging es auch meinem Urgroßvater an jenem Abend. Er war
verlegen, während er sang. Sang von dem Land, auf und von dem sie lebten. Denn
die Familie – sie waren Bauern, die das Land hinter der Wolga urbar gemacht hatten.
Die Steppe, flach und grün und unendlich weit.“
Atmo 24:
Lied, unplugged gesungen:
Russkoje pole (Russisches Feld....Der Mond scheint...)
0:17 bis 0:42
Darunter gelegt, ab dem zweiten „polje“:
„Road to Berlin“.
Sound einer zusammengetriebenen Menge, Pferde, Stiefel:
(1:42 bis 2: 17)
(Auch Anfang des Sprechertextes mit dem Sound unterlegen)
41 Sprecherin 1:
„Dann kam die Revolution, und plötzlich hieß es, die Leute im Dorf – sie seien
Kulaken:
Bauern, die fremde Arbeitskraft nutzten, um den eigenen Ertrag zu steigern.
Sie seien Volksschädlinge, die es auszumerzen gelte.
Dann kamen die Verhaftungen. Säuberungen, wie es hieß. Die Felder blieben
unbestellt.
30
Und dann der Hunger. Und wieder Verhaftungen. Die Bauern konnten die
Abgabemengen auf den mittlerweile kollektivierten Flächen nicht mehr erfüllen.
So habe ich es in einem Tagebuch gelesen, das ich in einem Kreisarchiv in Russland
entdeckt habe.
Pause)
Ich weiß nicht, wann und wie Alík das Dorf verlassen hat. Das Land.
Wie er nach Deutschland kam.
Ich weiß nur, dass er nicht über die Vergangenheit gesprochen hat.
Und dass von seinen Eltern und Geschwistern, von der Familie in Russland
jede Spur fehlte.
(Pause)
Und dass er immer abwesend war. Nie ganz da.
Außer, wenn er sang.
(Pause)
Wenn jemand Russisch sang.“
Atmo 25:
Helena und Chor (ab 13:00)
V Holoda – Die Kälte
---Musik im Hintergrund wird lauter, eine Oktave tiefer mit vehementer Stimme:
„Будто там веселей, Неспроста, неспроста...
(Mag es dort fröhlicher sein...)“
bis 13.28, Klavier verhallt
weiter mit ---- (ab 15.00 bis 15:29)
Stimme wird lauter und höher („Где же наша звезда? Может - здесь, может – там.“
Wo nur ist unser Stern. Vielleicht – hier, vielleicht – dort.“)
nach Klavier ausblenden.
42 Sprecherin 1:
„Helena Kolb hat klassischen Gesang in Augsburg studiert. Kennen gelernt habe ich
sie bei einem Vortrag in Berlin: Die Integration von russischen Zuwandern.
Als ich Sie sprechen hörte, mit diesem rollenden R, fragte ich: Sind Sie aus
Russland?“
31
O-Ton 18:
Helena Kolb über Singen auf Russisch I (0:18 bis 1:48 )
„Also, das Komische ist:
Obwohl die deutsche Sprache ja jetzt meine Muttersprache ist, seit ich sechs Jahre
bin, also mit sechs angefangen habe, deutsch zu sprechen, und mir auch
eingetrichtert wurde aufgrund meiner Geschichte – die Großeltern haben auch
Deutsch als Muttersprache gelernt, aber eben so ein 200 Jahre altes, konserviertes
Deutsch.... Also, für mich war Russisch eigentlich die Muttersprache in der
Sowjetunion, in Kasachstan. Und tatsächlich ist Russisch die Sprache, die ich sehr
mit meiner Mutter verbinde. Sie hat immer gesungen, Melodien der russischen, äh,
Sowjet-Popmusik, ich bin damit aufgewachsen. Die ersten sechs Jahre hat mich das
auf jeden Fall sehr umgeben.
Und ich habe erst später, also interessanterweise im Studium (...),, als ich dann die
Klassik studiert habe, den klassischen Gesang,,habe ich gemerkt, dass... also, es
kamen dann natürlich auch Lieder von Rachmaninow vor,. Da habe ich vor allem von
außen die Rückmeldung bekommen, dass ich ja mit dieser Musik am meisten
berühre, dass diese Musik am meisten authentisch von mir kommt. Und da gab es
dann auch am wenigsten zu bemängeln, was die ganze klassische Gesangstechnik
anging. „
Atmo 26
Helena Kolb über Singen auf Russisch I, (50:42 bis 51: 29 und 50:09 ff.)
Helena singt:
an: „Ne poy, krasavitsa, pri mne tï pesen Gruzii pechal’noy.“ Sagt: „Von
Rrrrrachmaninow, (lacht laut). „Aber Puschkin, der Text ist von Puschkin!“ Singt
weiter: „Ne poy krasavitsa pri mne/tï pesen Gruzii pechal’noy.“
Sagt:
„Also, o Gott: (Stimme wird leise und melancholisch) Oh sing mir nicht, du Schöne,
die Lieder Grusiniens! Sie erinnern mich an die große Trauer, an die große Weite der
Trauer. (schluckt). „Es ist ein unglaublich schönes Lied.“ Singt: „ Ne poy, krasavitsa,
pri mne/ Tï pesen Gruzii pechal’noy../Napominayut mne one Druguyu zhizn’, i bereg
32
dal’niy. / Uvï, napominayut mne/ Tvoi zhestokiye napevï/ I step’, i noch’, i pri lune/
Chertï dalyokoy, bednoy devï! / Ya prizrak milïy, rokovoy, Tebya uvidev, zabïvayu.“
O-Ton 19:
Helena Kolb über Singen auf Russisch I (ab 1:59):
„Und da wurde ich erst wieder aufmerksam auf meine Wurzeln, die ja nicht von
meinen Großeltern herrühren, sondern von meinen Eltern, und die sind ja beide in
Russland geboren.“
43 Sprecherin 1:
„Als ich sie russisch singen hörte – so ganz anders, als sie sprach – so viel inniger,
melancholischer – habe ich sie das gefragt, was ich Alik gerne gefragt hätte.
Wird man, wenn man Russisch singt, jemand anderes? Fühlt man sich anders in
seinem Körper?“
O-Ton 20:
Helena Kolb über Singen auf Russisch I ( 3:54 -4:47)
„Definitiv! (lacht). Dieses Schwelgerische – das ist in der Sprache irgendwie ganz
natürlich drin. Obwohl manche meinen, dass die russische Sprache sich so gut fürs
Schimpfen eignet, (kichert), ist es (ernste Stimme) eine unglaublich lyrische,
poetische Sprache, die auch so durch Rudolf Steiner... dass weiß man ja, dass er
versucht hat, auch in diese Waldorflehre die russische Sprache mit zu integrieren,
anzubieten als ein Fach, um, ja: zu beseelen. Also, den Menschen damit zu
beseelen.
(Pause)
Ich habe einen kleinen Chor, den Goldkehlchen-Chor, und wir haben mit einem
russischen Lied begonnen, und dann weitergemacht mit anderen Musiken der
Welt:...“
Atmo 27:
Helena Goldt und Chor (ca. 25 sec., zwischen 1:18 und 2:05)
(sehr leise im Hintergrund) Helena.: „Achtung, und!“
(Chor setzt ein) „Toni veter...“
33
(nach 15-20 Sekunden verschleifen mit folgendem O-Ton)
O-Ton 21:
Helena Kolb über Singen auf Russisch I:
„Und sie kommen jede Woche und sagen: Wollen wir nicht „Toni veter“ noch einmal
singen! Also, ein russisches Volkslied! Weil es, ich weiß nicht, einen zu sich selbst
zurückführt., eigentlich eine Verbindung schafft zu Mutter Erde.
Das ist für mich die russische Sprache: Sie schafft eine Verbindung zu etwas ganz
Archaischem.“
Atmo 28:
(Atmo Milaja wurde ungeschnitten gelassen!)
Teil I:
Milaja (0: 02 bis 0:16)
Hela singt, nur Stimme mit Hall:
„A kak petschalna sjerdze vidno twajo sdradanje.“
leise werden, überblenden
O-Ton 22:
Helena über Singen auf Russisch I:
„So, wenn ich mit dem Kopf an der Brust meiner Mutter lehne und ihrem Herzschlag
lausche und eine Art von Geborgenheit fühle, (...) etwas süß-melancholisches: mit
dem einen Auge weinend, mit dem anderen schmunzelnd.“
Atmo 29:
Milaja (1:
08 bis 2:22)
Helena singt unplugged in großem, leeren Saal:
sehr hoch:
„O maja Mama. Kak lublu jejo. Ana te milaja. ana grusnaja. Ana petschlanaja.
Ich will sie retten. Werd’ ich das schaffen? Ich bin ja selbst ein Kind. (Atmen)
34
Wo gehöre ich denn hin? Ich kann es nicht sehn. Wo werde ich hingehn’? Ich kann
es nicht sehn.
tief, kratzige Stimme:
Maja Mamuschka, ich will sie retten. Mama milaja. Maja grusnaja. sehr hoch: Ne buyt
grusno!“ (Sei nicht traurig).
44 Sprecherin 1:
„Diese Stimmung, von der Helena singt, ist mir vertraut. Von Alík, seinen Liedern.
Von seinem Sohn, meinem Großvater, der immer geweint hat, wenn er etwas
Schönes erlebt hat.
Von Erich, seinem jüngeren Sohn, der mit der Wehrmacht in Russland einrückte und
nie ein Wort über dieses Land verlor.
Von meiner Mutter, die nie gefragt hat.
Von mir.
Eine Gefühlslage, die man in Deutschland wohl ambivalent nennen würde.
In Russland sagt man:
Toská.
Ein Wort, das die gegensätzliche Gefühle beschreibt: Sehnsucht, Schmerz, Trauer,
eine stille, fröhliche Melancholie.
Toská....Ein Wort, das mit zwei Silben einen ganzen Gefühlskosmos
heraufbeschwört. Ein Kosmos, der mir lebensnäher erscheint als die deutlich
abgegrenzten, den Kosmos in Teile zerpflückenden deutschen Wörter.
Denn sind Gefühle, unabhängig von ihrer Stärke, nicht meistens genau das:
Uneindeutig und flüchtig? Ein Sowohl-als auch, dessen Ränder sich ständig
verschieben?
(Pause)
Toská.
Im Russischen muss man Gefühle nicht umständlich und wortreich beschreiben.
Denn Russisch ist eine Kontextsprache. In ihren Wörtern – besonders in denen, die
mit dem Ausdruck von Gefühlen zu tun haben – schwingt eine ganze Lebenswelt
mit.“
35
Atmo 30:
Johanna Uljanowsk 2, Juni und Johanna Uljanowsk 1,1:
(über-, hintereinander geschnitten,. 15 – 20 Sekunden)
Russische Gespräch im Zug über russischen Stolz und Dissidententum.
Beleidigte Frauenstimmen auf dem Amt.
(Verschleifen mit Textbeginn Reiser)
O-Ton 23:
Alexander Reiser I ( (8:53 ff. )
„Was an der russischen Sprache interessant ist, ist, dass man für ein und denselben
Begriff mehrere Wörter hat, ja! Das kommt davon, dass Russland so traditionell
dieser Mehrvölkerstaat ist und die russische Sprache diese Begriffe von allen
anderen Sprachen in sich aufgenommen hat. Und dann hast du einen türkischen
Begriff, oder ein Wort, das aus den kaukasischen Sprachen kommt., oder der
georgischen(...) Es gibt auch viele Wörter, die aus der deutschen Sprache
genommen wurden. Das erlaubt in der russischen Sprache dieses Wörtererspiel.
Man muss schon in diesem Sprachraum, dieser Sprache groß geworden sein, um
dieses Feinfühlige für bestimmte Wortwendungen zu entwickeln. Vieles ist ja auch
situationsbedingt, mit der Vergangenheit dieses Landes verbunden.“
45 Sprecherin 1:
Alexander Reiser, aufgewachsen in einem Dorf in Sibirien, musste nach der
Übersiedlung nach Deutschland seinen Beruf aufgeben. Den Beruf, den er zunächst
in Russland nicht ausüben durfte, und für den er später, im Nachwende-Wladiwostok,
sein Leben riskierte.
Journalistisch schreiben könne man nur sehr schwer in einer Fremdsprache, wie er
meint, weil man mit der Alltagssprache nicht vertraut sei.“
Atmo 31:
Johanna Uljanowsk 1, Schlussdatei
Smalltalk, beginnend mit „Berlin, eto....“ (Berlin, das ist...) Andere fallen ein. Alle
lachen.
36
O-Ton 24:
Alexander Reiser I:
„Ein Russe kann einen Witz machen, wo ein Ausländer nie dahinter kommen wird,
was dahinter steckt.
Das hat damit zu tun, dass die Herrscher immer brutal waren, und einem sofort der
Kopf abgeschlagen wurde. Und damit musste das Volk eine Sprache entwickeln, wo
es das sagen konnte, was es sagen wollte, aber nicht seinen Kopf riskieren würde.
(...)
Besonders war das in der Sowjetunion, das man so stellvertretend Wörter benutzt
hat. Man über das und das geredet, aber jeder wusste, worum es geht. Dass es um
was ganz Anderes geht, nicht?!“
O-Ton 25:
Ludmila über avos und ihr sowjetisches Aufwachsen: (0:02 bis 1:02)
„Und daher kommt das Wort avos: Vielleicht habe ich Glück, und es gibt Milch oder
Zucker.Weil damals gab es ja nichts zu kaufen, und das waren NetzEinkaufstaschen, diese durchsichtbaren, da sah man alles, was in dieser avos-ka
drin war. (...) Und das kann man mit vielleicht übersetzen. Vielleicht gibt es
Weintrauben oder Bananen. Avos: Mojet buyt.“
Atmo 32:
Johanna Uljanowsk I.2 (ab ca. 0:10, 5-10 sec.)
( verschleifen mit Textbeginn Katja, bis „Aussprache“)
Russischer Swing aus Café-Lautsprecher, dazu reden Leute laut und hitzig
durcheinander.)
O-Ton 26:
Katja Fedulova, Filmemacherin 1 (bis 5:02)
„Russische Sprache isr natürlich meines Erachtens sehr temperamentvoll, also hat
für mich im Gegensatz zum Deutschen ein hohes Temperament. Auch, wenn
Russland im Norden liegt, ist es viel wärmer von der Aussprache. (...)
Es gibt auch so Einzelwörter im Russischen, die ich persönlich sehr liebe, weil allein
die Aussprache so schön ist. Also, dass musst du nicht übersetzen, weil: das ist so
schön (...) Miliiii, Lubimiiii – diese i sind so lang und weich... man könnte mit diesen i
37
etwas Trauriges verbinden oder etwas fröhliches, beides in einem. Und das macht
diese Sprache so besonders, dass zwei Pole von Gefühlen in einem
zusammenkommen.
Sprachen bilden sich ja auf bestimmten Ereignissen und Hintergründen, und
dementsprechend ist Moll, also diese gewisse Schwere, mehr präsenter als in
anderen Sprachen.“
46 Sprecherin 1:
Katja Fedulova ist in den 90ern aus Petersburg nach Berlin übergesiedelt, weil ihre
Mutter Angst um ihre Sicherheit hatte. Denn auf den Straßen herrschte Anarchie,
Frauen und insbesondere Mädchen lebten äußerst unsicher. In Berlin begann sie,
Filme über ihre alte Heimat zu drehen. Filme, die sich vor allem mit der russischen
Gefühlswelt auseinandersetzen. Mit dem Tonfall, dem Klang des Russischen.
(Pause)
Ein Klang, der Gefühle erzeugt, die mit diesen Ereignissen verbunden sind.
Gefühle, die – noch bevor ich richtig Russisch sprach – in mir waren, aber die ich
verstandesmäßig nicht erfassen konnte. Mein Körper reagierte auf etwas, das ich
nicht aus meinem eigenen Leben kannte.
Wenn ich beispielsweise das Wort semlja hörte – die Erde, der Boden – wurde ich
innerlich ganz weich. Dabei hatte ich mit Heimat, mit Grundstücken, Eigenheimen
und Sesshaftigkeit bislang wenig am Hut.
Und wenn ich jemanden „Wolga“ sagen hörte, überkam mich ein unerklärliches
Freiheitsgefühl. Dabei war ich ein ausgesprochener Berg-Mensch.“
Atmo 33:
Helena Goldt, Wolgalied: (0:12 bis 0:18)
Leise. Dann noch leiser werdend und verschneiden mit Sprechertext, bis 0:22:
„Течёт река Волга,/ Течёт река Волга./ Конца и края нет.)
(Es fließt die Wolga, ohne Begrenzung und ohne Ende)
47 Sprecherin 1:
„Das, so dachte ich, war die Gefühlserbschaft von Alík.
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Von meinem Urgroßvater, der, wie ich nun weiß, im Samarskaya Oblast aufwuchs. In
einem Dorf, einem russlanddeutschen Dorf nahe der Wolga, die für ihn mehr war als
ein Fluss.
Das hörte ich an der Art, wie er diesen Namen aussprach.“
13 Sprecher 2:
„Matuschka Volga.“
O-Ton 27:
Historischer O-Ton, ungeschnitten
Swetlana Geier 1:
„Und dann sagt die Legende, dass eine Abordnung der Slawen zu den
Normannenfürsten gegangen sei und gesagt haben soll: Unser Land ist reich, aber
Ordnung ist keine. Kommt und regiert uns! Und man sagt, dass das berittene Gefolge
der normannischen Fürsten Rus hieß. Und das Land, das sie dann regierten, hieß
Rus.
Und eines Tages hat Fürst Wladimir verstanden, er muss international werden, und
er hat sich bemüht um Beziehungen zu Byzanz. Da hat der Kaiser von Byzanz
gesagt: Du kannst meine Schwester haben, wenn du Christ wirst. Und Wladimir hat
sich und die ganze Bevölkerung in den Strom getrieben. Gestern haben sie noch ihre
Götzen angebetet, und dann mussten sie ihre Götzen in den Strom werfen. (...) Und
deswegen hat das Christentum zum Glück sehr viele heidnische Züge.
Die Bedeutung der Erde – das ist heidnisch. Und deswegen hat zum Beispiel die
Erde ihre Mutterfunktion beibehalten und wird mit der Jungfrau Maria gleichgesetzt.
Die feuchte Mutter Erde. Weil eben bei der Taufe Christus in die russischen Flüsse
eingezogen ist. So, wie die Blutadern durch den menschlichen Körper strömen, so
durchströmen die Flüsse die Erde und bringen sozusagen das Jordanwasser in die
russische Erde.“
Atmo 34:
Bachrauschen (ab ca. 0:15, ca. 10 Sekunden)
Wasserrauschen, später Vogelzwitschern, dann gleichmäßiges Strömen.
39
nach 5 Sekunden verschneiden mit Sprechertext
48 Sprecherin 1:
„Die Welt, von der Svetlana Geier, die berühmteste Russisch-Übersetzerin, spricht,
ist in Russland kein Abstraktum, nicht die Summe ihrer Einzelteile.
Die russische Welt ist verbunden.
Alles in dieser Welt steht nicht nur für sich, alles ist mit einer Bedeutung aufgeladen.“
O-Ton 28:
Ludmila über avos (2:
38 bis 4:05)
Ludmila:
„Im Russischen gibt es sehr viele Wortstämme, die eine Bedeutung haben. Wenn ich
an Wladimir denke – das ist ja so ein Beispiel: Wladi heißt beherrschen, mir die Welt.
Die Welt beherrschen, das ist ja sehr aussagekräftig. Oder auch mein Name; viele,
viele Namen, ja! Ludi: die Leute, mila: lieb, nett; nett zu den Leuten.
(...)Fast in jedem Wort findet man etwas. (...) Gorbatschow kommt von gorb: n’
Buckel, der Bucklige. Mhmh.
Medwedew ist bekannt? Medwed, der Bär.
Putin? Das kommt von put. Der zeigt den Weg. Put heißt Weg. Das ist ja auch im
Wort Sputnik drin.
Und die Russen habe für jede Bewegung, jede Tätigkeit zwei Verben.“
Atmo 35:
Unterrichtsstunde Mittelstufe I (0: 54 bis ca. 1:13)
Lehrerin:
„Viresat, viresit: das ist ausschneiden.“ Schüler: „Ach so!“ (...) Lehrerin: Jescho jest
para: petschatat, raspetschatat. Und raspetschatat ist: kopieren. Text.“
0-Ton 29:
Ludmila über avos:
„Das heißt, dass die Russen bildlich denken. Zum Beispiel: sich hinsetzen. Saditza.
sjest. Ich denke, dass das mit dem Gefühl zusammenhängt. (...) Ich sehe Bilder,
wenn ich sage... (...) ich nehme mal ein sehr, sehr krasses Beispiel: Das Sterben.
40
Auch das Sterben ist im Russischen nicht endgültig. Wenn ich sage: on umiral und
on umir – da fühlt ein Deutscher wahrscheinlich gar nichts, aber ein Russe sofort.“
49 Sprecherin 1:
„Eine Bild- und Symbolhaftigkeit, die man in Westeuropa gern als altertümlich
bezeichnet. Besonders in der Kunst: Im Ballett. In der Fotografie. Da heißt es: Die
Russen seien stehen geblieben, verweigern sich der Moderne. So hat es der
Fotograf Andrey Sósnin an der Fachhochschule Bielefeld gehört.“
Atmo 36:
Kamera Andrey (ca. 10 Sekunden).
Kameraauslöser. Blitz. Zoom. Auslöser.
verschneiden mit:
O-Ton 30:
Andrey Sosnin, Fotograf (18:22 ff.)
„Die russische Fotografie – (...) die ist nicht aktuell in Deutschland. Die ist viel zu
malerisch. (...) Diese Landschaften, die Weite, die Flüsse. (...)Da ist das
Schönheitsideal ein bisschen anders. Und das kommt hier nicht an, und es dauert,
bis man versteht warum. (...) Warum? Es wird als naiv betrachtet. (...)Die
europäische Fotografie ist voll mit Konzepten. Ich sage nicht, dass das verkehrt ist,
aber (holt tief Luft)... es fehlt diese Emotionalität, die ich hier nicht ausdrücken kann
in Deutschland..“
O-Ton 31:
(O-Ton noch nicht fertig geschnitten, Time-Codes hier beziffert)
Irina Liebmann II (ab 2:30)
„Jedes Volk, das eine Sprache überhaupt ausbildet, eine eigene Sprache, bildet sie
nach den eigenen Bedürfnissen. (...). Manche haben 26 Fälle, Deklinationen; das
sind die, die Wörte, die Gegenstände besonders betrachten, den Gegenstand in
seinem Zustand beobachten können. Andere wieder für Verben, das heißt: denen ist
die Tätigkeit wichtiger, ja? (...)
41
(ab 3:30)
Und das Russische hat ganz bestimmt einen Schwerpunkt auf den
Zärtlichkeitsformen und Verkleinerungsformen. Und das geht so tief in die Sprache,
dass die Namen der Menschen – die werden ja fast nur genannt in ihrer
Zärtlichkeitsform. (...).
(4:23) Zu Menschen hat man ein nahes Verhältnis, ja, und das vermittelt die Sprache
an ganz vielen Stellen, so viel Zärtlichkeit. (...)
(13:12 – 13:23)
Also, ich habe mir auch überlegt; wie kommt das? Und dann denke ich erstens Mal:
das ist die Kälte und der Norden und der lange Winter, wo die Menschen wirklich
zusammen sitzen müssen. (13.49-)Dann müssen die Menschen sich helfen über
diese Entfernungen, die sind darauf angewiesen, und sie müssen irgendwie ein
Verständnis füreinander entwickeln.
(14:01-14:34 )
Also, ich denke: das Klima. Diese lange Zeit der Vereinzelung der Menschen, von
Menschengruppen in einem riesigen Raum.
Dann muss es auch die Orthodoxie sein., in deren Zentrum der Gluabe steht; Glaube
als Verbindung zum Heiligen (...)
(14.45) Da wird die Mutter mit dem Kind angebetet und nicht der tote Christus.(...)
(15:06): Ich denke, diese Art des christlichen Glaubens, in dem der Mensch im
Mittelpunkt steht, die Liebe.
Wir leben in der römisch-katholischen Welt, das heißt: wichtig war den römischen
Christen das Recht, und natürlich auch, als Nachfolger des römischen Reiches, eine
schöne, perfekte Umgebung, eine, lebenswerte Welt., das ist ja wirklich nicht wenig,
wir leben darin. (..) Auf der anderen Seite kommt die Welt an zweiter Stelle, zuerst
kommt die Seele.“ (bis 16:15)
Atmo 37:
Rachmaninov, Requiem (0:01 bis ca. 0:12)
leiser orthodoxer Gesang, von weit her, dann setzt Sängerstimme ein (russisch, Text
über die Beziehung zu Gott).
überblenden in:
O-Ton noch nicht geschnitten, s.o. /Time-Codes beziffert
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O-Ton 32:
Irina Liebmann II (16:16 und 16:42)
„Und wie kriege ich das hin, dass ich als Mensch rein dastehe, ja, göttlich werde. Das
ist ja die orthodoxe Auslegung.
Nur auf dieser Grundlage konnte der Kommunismus in Russland überhaupt zu einer
so großen Überzeugungskraft kommen – weil davor die Frage der Gottwerdung des
Menschen steht.“
einsetzend im Hintergrund ab „Kommunismus“:
Atmo 38:
Lied noch nicht geschnitten, bitte Time-Code einhalten wegen Text
Nationalhymne UdSSR,
Einspielung Chor der Schwarzmeerflotte (leise im Vordergrund, 0:03 bis 0:10,
danach, wie Echo, im Hintergrund von O-Ton und folgendem Sprecher-Text).
Text:
„Союз нерушимый республик свободных
Сплотила навеки Великая Русь.
Да здравствует, созданный волей народов,
Единый, могучий Советский Союз!“
O-Ton noch nicht geschnitten, s.o. /Time-Codes beziffert
O-Ton 33:
Irina Liebmann II: (16:47 bis 17:14)
„Und wenn man sich die sowjetische Kultur anschaut, dieses „Wir fliegen in den
Himmel“, das kosmische Denken, und auch die Rolle der Gemeinschaft, ähnlich wie
im Urchristentum: Wir erreichen das Paradies hier auf der Erde, und zwar zwar
zusammen – das ist etwas anderes als die Verschiebung des Paradieses ins
Jenseits, und der Einzelne muss sich bewähren.“
50 Sprecherin 1:
„Das Sein, das über der materiellen Existenz steht – es hat sich in der Sprache
niedergeschlagen:
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Im Russischen gibt es kein Haben. Im Russischen sagt man: Bei mir ist.“
13 Sprecher 2:
„У меня дом. У меня пять сынове. У меня болит голова.„
51 Sprecherin 1:
„Bei mir ist ein Haus. Sind fünf Söhne. Kopfschmerzen.
Die Dinge gehören einem nicht, nicht die Menschen, nicht die Gefühle.
Sie sind ein Teil der Welt.
Nichts lässt sich in dieser Welt festhalten.
Wir sind sterbliche Wesen.
Pause.
Vielleicht ist es diese sprachliche Konstruktion, diese Haltung, die mir am besten am
Russischen gefällt. Sie wirkt so lebendig, so lebensbejahend, trotz – oder vielleicht
gerade – wegen der Geschichte. Der leidvollen russischen Geschichte.“
O-Ton 34:
Ludmila Kliever über Nemetz und Slaven: (0:15 bis 1:29)
„Es ist ja bekannt, dass das Wort Nemetz,Der Stumme’ heißt. (...) Und wenn Sie
sagen: Ja nem, das heißt: Ich kann nicht reden, ich bin stumm. Die Slaven kommen
vom Wort,Slovo’, das Wort. Also die Gesprächigen. Ja.
Man sagt, dass früher, wenn die Deutschen auf dem Feld gearbeitet haben, sie das
leise gemacht haben,, und sie haben dabei nicht geredet. Und die Russen haben
gearbeitet und trotzdem kommuniziert. Oder auch gesungen. Die Slaven singen ja
sehr gerne. Die Deutschen vielleicht auch, aber … im Feld, bei der Arbeit, sangen die
Slaven.
Und vielleicht ist das auch daher, dass die Slaven sagten: Ach, die sind ja immer still!
Das sind die Stummen, das sind die Nemzi.
Und die anderen waren dann... ja, die von Slovo: Slavi.“
52 Sprecherin 1:
„Wie gerne wäre er wohl einer gewesen: ein Slave. Wie gerne hätte er offiziell
dazugehört – einfach, weil er sich in dieser Sprache, dieser Mentalität zu Hause
fühlte. Weil er in Russland aufgewachsen war.
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(Pause)
Aber Alík war kein Russe. Er war Russlanddeutscher. Russland war die Heimat, die
sich ihm verweigerte.
So, wie sie sich auch Ludmila Kliever verweigerte, meiner Russischlehrerin. Das hat
sie mir eines Tages erzählt. Deswegen sei sie ausgewandert.
So wie die Großeltern von Helena Kolb.
Und wie der Großvater von Andrey Sósnin, der immer ein Deutscher blieb, obwohl er
nur Russisch sprach.
(Pause)
Und wie Alexander Reiser, der in dem Dorf in Sibirien aufwuchs, in das seine Eltern
verbannt wurden. Das war 1941, als Stalin nach dem Überfall der deutschen Armee
die Deportation aller Russlanddeutschen anordnete. Das es nie eine Entschuldigung
gegeben habe, nie eine Wiedergutmachung – das habe ihn schließlich dazu
bewogen, das Land zu verlassen.“
O-Ton nicht ganz fertig geschnitten, letzte zwei Absätze fehlen, Time-Condes sind
angegeben
O-Ton 35
Alexander Reiser I, (ab 46:49.)
„In Russland ist das so, dass die Nationalität eine große Rolle spielt, nit’ so wie hier
in Deutschland. (...) Georgier ist stolz, ein Georgier zu sein, ein Tartar ist stolz, ein
Tatare zu sein. Und dann gab es so ein paar Parien-Völker, wo man nicht stolz sein
sollte. Zum Beispiel ein Deutscher zu sein, ja! (..).
(57:50 – 58:16)
Man hat im Innenpass drin stehen die Nationalität, bei mir stand drin: Nemetz, das
heißt: Deutscher. Und überall, wo ich meinen Pass vorgelegt habe – und den musste
man überall vorlegen, egal wo, auf Arbeit und so weiter... überall musste man seinen
Pass vorlegen, und gleich hat man rausgelesen: Aha, das ist ein Nemetz, ein
Deutscher, ein Fritz, ein Faschist (...)
(58:21 – 59:
Man muss auch wissen, dass nach dem Krieg und während des Krieges
jahrzehntelang eine mächtige antideutsche Propaganda gemacht wurde.
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Die Deutschen in den russischen Spielfilmen - die sahen immer hässlich aus, die
waren unheimlich grob, irgendwie brutal. Die hatten keine Seele net, (...) das heißt:
die waren entmenschlicht bis zu: geht net.
Das hat man selbstverständlich auf uns übertragen. (...) Und...so Russen haben mich
manchmal gefragt: Wie ist es mit euch Deutschen? Könnt ihr überhaupt lieben (lacht)
mit eurem kalten Herz? (ggf. weglassen:) Die haben sogar abgesprochen, dass wir
menschliche Gefühle haben so wie Liebe und haben sich vorgestellt, wir sind solche
Kampfmaschinen, die nur rumbrüllen: Matka! Jaikam leka! (lacht) Erschießen! Hitler!
(Lacht laut) )
(...) Als junger Mann kommst’ in diese Gesellschaft und wirst immer wieder
stigmatisiert als was ganz Böses und Schlechtes. Aber du siehst, wie andere
Nationen hochgejubelt werden, gelobt werden, und gesagt wird: Ja, die Russen, die
haben so eine glorreiche Geschichte, und die haben so ein großes Herz, und eine so
große Seele, und eine große Literatur, und so tolle Musik, und die haben die Raketen
gebaut und so!
Und da denkst du:
Verdammt noch mal, warum habe ich das Pech, in so eine Scheiß-Nation geboren zu
sein?
Ich will auch bei den Glorreichen dabei sein, ich will auch der Gute sein, weißt du,
der so eine tolle Geschichte hat, ein so tolles Herz, und die Raketen gebaut hat. (...)
(ggf. noch Satz lassen:
„Das war auch so nicht einfach bei der Brautsuche: Da haben viele russischen
Mädchen (....)gesagt: Mit einem Deutschen wollen wir nichts zu tun haben. Wir sind
doch kein’ Vaterlandsverräterin. Dann habe ich das auch aufgegeben.(...) )
(1:10:35 bis 1:10:59)
Wir hatten ja mit Deutschland nichts zu tunMit Hitlerdeutschland hatten wir nu’ ja
nichts zu tun. Wir mussten stellvertretend gradestehen für Deutschland insgesamt
und für Hitlerdeutschland.“
53 Sprecherin 1:
„Russland:
das war, wie Alík sagte, die Heimat.
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Die Heimat, in der die Familie enteignet wurde, verbannt und getötet: Der Vater, die
Mutter, Geschwister, Cousinen und Cousins.
Die ihn zur Flucht nach Deutschland trieb – und ihm dort zu einem Sehnsuchtsort
wurde.
Pause
14 Sprecher 2:
„Matuschka Wolga.“
54 Sprecherin 1:
„Das Dorf – das es nicht mehr gibt.
Der Boden. Die feuchte Erde, am Fluss, den die Russen Mutter nennen.
Der Ort einer unerfüllten, einer unerfüllbaren Sehnsucht, die er mir mit diesen
Liedern, mit dieser Sprache übertrug.
Pause
Meine Sehnsuchtssprache.
Pause
Russki jasik.“
15 Sprecher 2:
(sehr leise, geflüstert:) „Merlotschka.
(etwas lauter). Merlotschka, ты меня слышишь? (hörst du mich?)
(leiser werdend). Merlotschka!....Merlotschka....
Merlotschka.“
Atmo 39:
Akkordeonfalzen
Falzen werden zusammengezogen. Geräusch wie ein langes Ausatmen.
Abmoderation:
„Das ist es, was mit mir geschieht.
Warum man auf Russisch Gefühle leichter ausdrücken kann.
Ein Feature von Merle Hilbk
Regie: Günter Maurer
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Ton:
nn
Sprecher:
nn und nn
Redaktion:
Walter Filz
Eine Produktion von SWR 2, Redaktion Literatur und Feature.“
überblenden in
Atmo 40:
Wolga-Lied Megapolis (3:55 bis 4:13)
Schluss des Songs, leise aus dem Hintergrund:
„Издалека долго
Течёт река Волга,
Течёт река Волга —
Конца и края нет.
Среди хлебов спелых,
Среди снегов белых
Течёт моя Волга,
А мне семнадцать лет.“
(„Es fließt ein Fluss von weither. Und ich bin 70 Jahre alt.“)
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