52 Millionen Stunden für Papierkram

POLITIK
Foto: Georg J. Lopata
353 Informationspflichten müssen
Ärzte und Psychotherapeuten allein
aufgrund von Vorgaben der Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen erfüllen.
BÜROKRATIE IN DER ARZTPRAXIS
52 Millionen Stunden für Papierkram
Vertragsärzte und -psychotherapeuten klagen in Umfragen regelmäßig
über die überbordende Bürokratie in ihren Praxen. Ein Bürokratieindex soll jetzt
von Jahr zu Jahr transparent machen, wie sich diese Belastung entwickelt.
berweisungen, Auskünfte an
Krankenkassen und deren
Medizinischen Dienst, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die Verordnung von Krankenbeförderung, Foto-, Video- und Bilddokumentation –
das sind die Top Fünf unter den aufwendigsten Informationspflichten,
die Vertragsärzte und -psychotherapeuten in ihren Praxen zuweilen täglich erfüllen müssen. 52 Millionen
Stunden verbringen sie mit diesen
und anderen Verwaltungstätigkeiten
im Jahr, wobei hier nur die Tätigkeiten erfasst sind, die auf Vorgaben der
gemeinsamen Selbstverwaltung auf
Bundesebene zurückgehen. Insgesamt müssen Ärzte und Psychotherapeuten 353 Informationspflichten der
Kassenärztlichen
Bundesvereinigung (KBV), des GKV-Spitzenverbandes und des Gemeinsamen Bundesausschusses erfüllen. Die Kosten
Ü
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 48 | 2. Dezember 2016
dafür belaufen sich auf rund 2,3 Milliarden Euro im Jahr.
Das sind Ergebnisse des Bürokratieindexes, den die KBV zusammen mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Westfalen-Lippe
und der Fachhochschule des Mittelstandes (FHM) am 22. November
in Berlin vorgestellt hat. Der Index
soll künftig jährlich berechnet werden, um transparent zu machen, wie
sich die Belastung der Ärzte und
Psychotherapeuten durch Bürokratie entwickelt. Grundlage des Bürokratieindexes ist eine Messung der
Bürokratiekosten für Vertragsärzte
und -psychotherapeuten durch das
Statistische Bundesamt im Jahr
2013. Damals beliefen sich die
Kosten auf rund 2,36 Milliarden
Euro, was in etwa 55 Millionen
Stunden entsprach, die Ärzte, Psychotherapeuten und deren Personal
für „Papierkram“ aufwenden mussten. Nicht berücksichtigt sind dabei
gesetzlich vorgeschriebene Informationspflichten.
Für verpflichtendes Abbauziel
„Der Bürokratieaufwand ist zwar im
vergangenen Jahr etwas gesunken.
Doch er tut das immer noch auf einem viel zu hohen Niveau“, kommentierte der KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. med. Andreas Gassen das
Ergebnis der aktuellen Bürokratiemessung. Die Selbstverwaltung
müsse deshalb ihre Anstrengungen
weiter intensivieren, die Belastung
für Ärzte und Psychotherapeuten
dramatisch zu verringern. Gassen
sprach sich dafür aus, dass sich
KBV, KVen und der GKV-Spitzenverband auf ein Abbauziel für Bürokratie verpflichten. „Das würde die
Intensität unserer Bemühungen noch
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steigern und uns dazu bringen, vernünftige und konsensorientierte Lösungen zu finden“, meinte der KBVChef. Denn die als überbordend
empfundene Bürokratie verursache
nach wie vor große Unzufriedenheit
bei den niedergelassenen Ärzten und
Psychotherapeuten und sei eines der
Hemmnisse für den ärztlichen Nachwuchs, sich mit eigener Praxis
selbstständig zu machen. Das belegten auch die Ergebnisse aus dem
Ärztemonitor 2016 von KBV und
NAV-Virchow-Bund. Danach erklärte mehr als die Hälfte der befragten
Ärzte, nicht ausreichend Zeit für die
Behandlung ihrer Patienten zu haben. Außerdem gaben sie an, durchschnittlich fast acht Stunden pro Woche für Verwaltungsarbeit aufzuwenden. Das sei Zeit, die Ärzte nicht
mit ihren Patienten verbringen könnten, kritisierte Gassen.
Der KBV-Vorsitzende räumte
zugleich ein, dass man in der Diskussion um einen Abbau von Bürokratie zwischen ärztlichem Tun,
wie dem Ausstellen eines Rezepts
oder einer Verordnung, und fachfremden Handlungen, die nichts mit
der Interaktion zwischen Arzt und
Patient zu tun hätten, unterscheiden
müsse. Ein Ärgernis seien bei-
spielsweise die häufigen freien Anfragen der Krankenkassen auf jeweils unterschiedlichen Formularen. „Hier ist Entschlackung nötig“,
forderte Gassen. Ob die erfolgreich
verlaufe oder nicht, könne man zukünftig mit dem Bürokratieindex
sichtbar machen.
Formularlabor fördert Dialog
Nach dem Index entsteht die höchste
zeitliche Belastung für Ärzte und
Psychotherapeuten durch das Ausstellen von Verordnungen und Bescheinigungen, wie Prof. Dr. rer. pol.
Volker Wittberg von der FHM ausführte. Das sei in erster Linie auf die
hohen jährlichen Fallzahlen zurückzuführen. Denn gemessen am Einzelfall sei die Informationspflicht
aus dem Bundesmantelvertrag zum
Ausstellen von Überweisungen nicht
besonders zeitaufwendig. Umgekehrt befinden sich Wittberg zufolge
unter den Top-25-Informationspflichten auch solche, die zwar eine
relativ geringe jährliche Fallzahl haben, aber im Einzelfall sehr zeitaufwendig sind und deshalb eine hohe
Belastung darstellen. Hierzu zähle
beispielsweise der Antrag auf eine
Langzeittherapie, der vor einer entsprechenden psychotherapeutischen
3 FRAGEN AN . . .
Herr Dr. Kriedel, in welchen
Fällen ist das Ausfüllen von
Formularen sinnvoll und
wann ist es überflüssig?
Kriedel: Das Ausfüllen von Formularen ist sinnvoll, wenn die
geforderten Informationen für
eine konkrete Leistung, wie
zum Beispiel für eine Verordnung, notwendig sind. Redundante Abfragen von Informationen – es gibt Anträge für Anträge – sind unnötig und zeitraubend. Auch viele formfreie Anfragen sind überflüssig.
Westfalen-Lippe gilt mit
seinen Formularlabors als
Vorreiter in Sachen Büro-
kratieabbau. Was haben Sie
bisher erreicht?
Kriedel: Das Thema Entbürokratisierung wurde durch das
Formularlabor Westfalen-Lippe
bei Verantwortlichen in den
Gremien der Bundesebene
noch stärker in den Fokus gerückt. Auf erste Erfolge können
wir beispielsweise bei der Bescheinigung zur Arbeitsunfähigkeit verweisen. Auch der RehaAntrag ist vereinfacht worden
sowie die Chronikerbescheinigung. Die Praxisebene muss
zukünftig stärker in die Formularentwicklung einbezogen werden. Wir erhielten bereits eine
positive Aussage vom Vorsit-
Foto: KVWL
Dr. rer. soc. Thomas Kriedel, Vorstand der KV Westfalen-Lippe
zenden des Gemeinsamen Bundesausschusses, Josef Hecken,
über eine zukünftige Einbindung des Formularlabors bei
Formularanpassungen.
Wie können Ärzte sich selbst
entlasten?
Kriedel: Das E-Health-Gesetz
verlangt von KBV und Kassen
bis Ende 2016 die Prüfung aller
bislang papiergebundenen Verfahren auf Digitalisierungsmöglichkeiten und elektronische
Kommunikation. Hier sehen wir
eine große Chance, viele Altlasten zu überprüfen, um frühzeitig
Umsetzungsfehler von analog
zu digital zu vermeiden.
Behandlung gestellt werden müsse,
für den insbesondere Psychotherapeuten im Schnitt 221 Minuten aufwenden müssten.
Im Vergleich zu 2013 hat es Wittberg zufolge neben Entlastungen in
einigen Bereichen neue Belastungen
in anderen gegeben. Steigende Fallzahlen unter anderem bedingt durch
eine alternde Gesellschaft hätten auf
der einen Seite beispielsweise zu einem Anstieg bei den Verordnungen
von Krankentransporten oder Heilmitteln sowie bei der Ausstellung
von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen geführt. Auf der anderen
Seite sei es durch den Wegfall der
Praxisgebühr zu Entlastungen bei
den Überweisungen gekommen.
Auch die Zusammenlegung der
Muster 1 und 17 bei der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sowie geänderte Dokumentationsvorgaben für
das Qualitätsmanagement hätten für
weniger bürokratischen Aufwand in
den Praxen gesorgt.
Nur Formulare zu vereinfachen,
reicht jedoch nach Ansicht von Dr.
rer. soc. Thomas Kriedel nicht aus.
„Bürokratie darf gar nicht erst entstehen und muss bereits vor Einführung verhindert werden“, erklärte
der KV-Vorstand aus WestfalenLippe. Allein dort beliefen sich die
zeitlichen Bürokratielasten auf gut
fünf Millionen Stunden. Das entspreche 57 Arbeitstagen im Jahr,
die jede Praxis für Büroarbeiten
aufwenden müsse.
Die KV Westfalen-Lippe setzt
beim Bürokratieabbau auf ihre Formularlabors, die sie seit fünf Jahren
betreibt. Dort diskutieren Vertreter
von Ärzten, Krankenkassen und
Medizinischem Dienst gemeinsam
über die Praxistauglichkeit von Formularen und Richtlinien und deren
– oft mühsame und langwierige –
Anpassung. In den Formularlabors
gehe man sehr offen miteinander
um und entwickele ein Verständnis
für die Sicht des jeweils anderen,
erklärte Kriedel: „Den Kassen entstehen durch Bürokratie ja auch
Kosten.“ Sein Wunsch wäre, dass
geänderte Richtlinien und Formulare künftig vor ihrer Einführung in
diesen Formularlabors echten Pra▄
xistests unterzogen werden.
Heike Korzilius
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Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 48 | 2. Dezember 2016