faulheit & arbeit Sonnabend/Sonntag, 26./27. November 2016, Nr. 277 n Drucksachen n Schwarzer Kanal n Reportage n ABC-Waffen Hegemoniekrise. Antonio Gramsci in seinen »Gefängnisheften« über Umbrüche bürgerlicher Herrschaft. Marxisten Flackerdemokratie. Peter Sloterdijk kennt die Ursachen für Trumps Wahlsieg. Und die Lösung des Problems. Von Arnold Schölzel In der Grauzone. Das »Geisterbataillon« – Ausharren zwischen Krieg und Frieden in der Ostukraine. Von Susann Witt-Stahl Du nimmst dir doch, was du brauchst, mehr als du brauchst. Gespräche mit Daddy. Von Charlotte Krafft REUTERS/CHRISTIAN HARTMANN »Wir müssen aus diesem System ausbrechen« Gespräch Mit Philippe Martinez. Über den Widerstand gegen das neue Arbeitsgesetz in Frankreich und die Diskriminierung seiner Gewerkschaft CGT durch die Regierung EPA/IAN LANGSDON/ DPA - BILDFUNK D ie sozialdemokratisch geführte Regierung des Präsidenten François Hollande und des rechtslastigen Ministerpräsidenten Manuel Valls hat ein Arbeitsrecht durchgesetzt, das vor allem Unternehmerinteressen bedient und den französischen Arbeitsmarkt für den Billiglohnsektor zurichtet. Ihre Gewerkschaft CGT hat es, zusammen mit den Kollegen von der Gewerkschaft Force Ouvrière, fast neun Monate lang auf der Straße bekämpft. Bei der vorerst letzten Demonstration Anfang September – nach mehr als 20 Kundgebungen – haben Sie immerhin noch einmal 170.000 Menschen in ganz Frankreich gegen das nach der Arbeitsministerin Myriam El Khomri benannte Gesetzeswerk auf die Beine gebracht. Können Sie ein Resümee für uns ziehen? Wir haben nicht nur die Betriebe mobi- Philippe Martinez … ist Generalsekretär der französischen Gewerkschaft CGT (Confédération générale du travail). Sie ist mit rund 700.000 Mitgliedern die zweitgrößte, sicher aber mächtigste und politisch einflussreichste Organisation der französischen Beschäftigten. Seit 1982 arbeitete Martinez als Ingenieur in den Renault-Werken in BoulogneBillancourt, seit 1984 ist er Gewerkschafter. lisiert, nicht nur die von diesem Gesetz unmittelbar betroffenen Arbeiter, sondern wir haben in nur acht Monaten viele Millionen Franzosen aus allen Schichten und Berufen dazu gebracht, mit uns gegen das Vorhaben der Regierung und der Unternehmer zu demonstrieren. Streiks und Kundgebungen im ganzen Land haben uns darin bestärkt, nicht nachzugeben. Den Höhepunkt haben wir mit dem Aktionstag im Juni erlebt, als wir mindestens 1,2 Millionen Franzosen auf die Straße brachten. Was hat das alles nun bewirkt? War die Mobilisierung ein Erfolg oder eine Niederlage? Es ging zunächst darum, das Gesetz zu erklären. Dann wollten wir das Ziel der Regierung benennen und die Absicht der Unternehmer, die dahintersteckt. Hätten wir nicht zum Widerstand aufgerufen, dann hätte die Regierung Valls ihre Novelle viel früher durchgesetzt – und zwar ohne jede größere Debatte. Wir haben deutlich gemacht, dass es höhere kollektive Rechte als ein falsches Gesetz gibt. Wir haben aktiv daran erinnert, dass die »Hiérarchie des normes« zu respektieren ist (die verfassungsmäßigen Rechte des Bürgers wie Meinungsfreiheit, Streik- und Demonstrationsrecht stehen über dem Recht der Regierung, Gesetze »in Ruhe und Ordnung« zu verabschieden, jW). Die Arbeiter hatten dieses Prinzip schon fast vergessen. Wir haben dafür gesorgt, dass Rechte des Arbeiters wiederentdeckt und zum Teil auch durchgesetzt wurden. Dazu gehört sicher auch die »Wiederbelebung« der Solidarität. Richtig. Es ging in all diesen Monaten auch darum, zur Solidarität zurückzufinden. Nicht nur zwischen den Lohnabhängigen und Citoyens, den Bürgern, die uns während der Streiks finanziell unterstützt haben (in Frankreich gibt es kein Streikgeld, jW), sondern auch zwischen den Werktätigen in den verschiedenen Betrie- Französische Gewerk schafter und Gewerk schafterinnen prote stieren in Paris gegen das neue Arbeitsgesetz (9. März 2016). Der Spruch auf dem Auf kleber lautet übersetzt in etwa »Das Gesetz El Khomri führt zu einem verdorbenen Leben« Ausbrechen Ein Gespräch mit Philippe Martinez über den Widerstand gegen das neue Arbeitsgesetz in Frankreich und die Diskriminierung seiner Gewerkschaft CGT durch die Regierung. Außerdem: In der Grauzone. Reportage aus der Ostukraine. Von Susann Witt-Stahl ACHT SEITEN EXTRA n Fortsetzung auf Seite zwei GEGRÜNDET 1947 · SA./SO., 26./27. NOVEMBER 2016 · NR. 277 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT WWW.JUNGEWELT.DE Machtrausch Mathetest Markstein Märchenmann 3 5 6 12 Unter Führung Berlins forciert die EU Pünktlich zur Lohnrunde rechnen Kolumbiens Regierung und die FARCnach der Trump-Wahl ihre Militasich die Unternehmen der PapierGuerilla unterzeichnen eine neue risierung. Von Jörg Kronauer verarbeitung schlecht Fassung des Friedensvertrages Der Zeichner, Geschichtenerzähler und Kosmos-Polit Tomi Ungerer wird 85. Von Wiglaf Droste Die Armutsrente ist sicher chtsabo Dein Weihna eit. zur rechten Z Bestellcoupon auf Seite 16 Arbeitsministerium will Altersbezüge bei 46 Prozent des Nettoeinkommens halten, Ostrenten sollen auf Kosten der Jüngeren steigen. Von Jana Frielinghaus E ins war lange vor Verkündung der Ergebnisse des Koalitionsgipfels zur Rente am Freitag klar: Das Niveau der gesetzlichen Rente wird weiter absinken, zugleich werden die Beiträge auch künftig nach oben gehen. Ein Ende der fortgesetzten Enteignung der Bürger durch immer neue Rentenkürzungen war nicht zu erwarten. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) stellte am Freitag in Berlin das in ihrem Haus gemeinsam mit Vertretern von Wirtschaft, Gewerkschaften und Sozialverbänden erarbeitete Rentenkonzept vor, obwohl es beim Treffen der Spitzen der Regierungsparteien nicht komplett akzeptiert worden war. Dem Plan zufolge soll erstens das Rentenniveau bis zum Jahr 2045 nicht unter 46 Prozent sinken. Das Rentenniveau beschreibt, wie hoch eine »Standardrente« nach 45 Beitragsjahren im Verhältnis zum Durchschnitts- einkommen der Erwerbstätigen im selben Jahr ist. Zweitens dürfen die Beiträge zur Rentenkasse dem Konzept zufolge nicht 25 Prozent des Einkommens überschreiten. Derzeit liegt das Rentenniveau bei knapp 48 und der Beitragssatz bei 18,7 Prozent. Ein Stopp des Sinkflugs beim Rentenniveau sei aber nicht zum »Nulltarif« zu haben, sagte Nahles. Daher will sie ab 2030 einen »Demographiezuschuss« einführen, der aus Steuermitteln gezahlt werden und bis 2040 auf 2,5 Prozent der Rentenausgaben anwachsen soll. Für Geringverdiener will Nahles eine »gesetzliche Solidarrente« schaffen, die anstelle der von der Koalition ursprünglich geplanten »Lebensleistungsrente« treten soll. Wer 35 Jahre lang Beiträge gezahlt habe, solle eine Rente bekommen, die um zehn Prozent höher ist als die Grundsicherung im Alter, so die Ministerin. Ab dem Jahr 2023 sind allerdings schon 40 Beitragsjahre nötig, um den Miniaufschlag zu bekommen. Die Grundsicherung für über 65jährige entspricht in der Höhe dem Arbeitslosengeld II – inklusive der Kosten für die Unterkunft liegt sie derzeit im Bundesdurchschnitt bei 769 Euro pro Monat. Für die Solidarrente bekam Nahles auf dem Koalitionstreffen jedoch keine Mehrheit. Die ostdeutschen Renten sollen, darauf einigten sich Union und SPD, bis 2025 an das Westniveau angeglichen werden. Klar ist nun auch, dass die Rentenangleichung Ost zu Lasten der Beschäftigten in den neuen Bundesländern geht: Sie soll teilweise dadurch finanziert werden, dass die sogenannte Höherwertung der ostdeutschen Löhne bei der Rentenberechnung im gleichen Zeitraum heruntergefahren wird. Seit dem Anschluss der DDR werden die Ostlöhne rechnerisch höher bewertet. Dadurch erhält ein Beschäftigter im Osten bei gleichem Lohn einige Prozente mehr Rente als im Westen. Weitere Kosten sollen nach Vorstellung von Ministerin Nahles aus Steuern beglichen werden. Dem widerspricht Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Er verlangt, das Geld müsse aus »dem System der Rentenversicherung« kommen. Etwas besser sollen auch Menschen gestellt werden, die wegen einer Erkrankung früher aus dem Job aussteigen müssen und deshalb Rente wegen geminderter Erwerbsfähigkeit, im Fachjargon Erwerbsminderungsrente, beziehen. Diese soll künftig so berechnet werden, als ob die Betroffenen bis zum Alter von 65 Jahren gearbeitet hätten. Bislang bekommen sie nur die Summe, die einer Berufstätigkeit bis zum 62. Geburtstag entspricht. Diese Neuregelung soll stufenweise ab 2018 zum Tragen kommen, in voller Höhe erst ab 2024. Siehe Kommentar Seite 8 Erdogan droht mit Grenzöffnung Brüssel und Berlin wollen Dialog, um das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei zu retten N ach der Forderung des Europaparlaments vom Donnerstag, die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei vorläufig einzufrieren, hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan der EU mit der Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge gedroht. »Wenn Sie noch weiter gehen, werden die Grenzen geöffnet, merken Sie sich das«, sagte Erdogan am Freitag in Istanbul. Brüssel und Ankara hatten im März ein Abkommen geschlossen, um Geflüchtete daran zu hindern, nach Europa zu gelangen. Die EU hatte Ankara im Gegenzug eine beschleunigte Aufhebung der Visumpflicht für türkische Bürger in Aussicht gestellt. Diese ist noch nicht erfolgt, mit der Begründung, dass die Türkei sich geweigert habe, ihre Antiterrorgesetze zu ändern. Erdogan hatte schon mehrfach gedroht, das Flüchtlingsabkommen ohne die Visumfreiheit platzen zu lassen. Nachdem das Europaparlament am Donnerstag wegen der »unverhältnismäßigen Repressionen«, mit denen die türkische Regierung gegen Oppositionelle vorgeht, den vorläufigen Stopp der EU-Beitrittsgespräche verlangt hat, verschärft Erdogan nun den Ton. In Brüssel hieß es am Freitag indes, dass man am Flüchtlingsabkommen festhalte und alles tun werde, »damit es ein Erfolg wird«, wie ein Sprecher der EU-Kommission sagte. Das Votum des Europaparlaments vom Donnerstag nehme die Kommission »zur Kenntnis«. Es sei nun »eine umfassendere Diskussion zwischen allen Institutionen« nötig. So soll in der kommenden Woche in Brüssel ein Treffen mit dem türkischen Europaminister Ömer Celik stattfinden, um über die EU-Beitrittsverhandlungen zu beraten. Auch die deutsche Bundesregierung rief umgehend zur Zusammenarbeit auf. Wo es Schwierigkeiten gebe, müsse miteinander geredet werden, sagte Vizeregierungssprecherin Ulrike Demmer. Berlin sehe das Flüchtlingsabkommen mit Ankara als »gemeinsamen Erfolg«: »Die Fortsetzung liegt im Interesse aller Beteiligten.« Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes verwies zudem auf das »große Interesse« Deutschlands an einem »europäischen Weg« der Türkei. Es liege aber letztlich an Ankara, darüber zu entscheiden, ob dieser Weg fortgesetzt werde. (AFP/dpa/jW) STEFAN BONESS/IPON Das Rentenkonzept der Bundesregierung geht abermals zu Lasten der Beschäftigten im Osten. Dennoch scheint Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) mit sich zufrieden zu sein Türkei: Grup Yorum im Hungerstreik Istanbul. Die von der türkischen Polizei festgenommenen Mitglieder der linken Musikformation Grup Yorum sind nach Informationen des Anadolu Newsblog in den Hungerstreik getreten. Mit dieser Aktion wehren sich die Künstler gegen die Misshandlungen, die sie in der Haft erleiden müssen. Für den Freitag hatten die Gefangenen angedroht, auch die Aufnahme von Trinkwasser zu verweigern, wenn sie nicht vor Gericht gestellt würden. In Deutschland solidarisierte sich der DKP-Vorsitzende Patrik Köbele mit den Mitgliedern der Gruppe. »Wir weisen darauf hin, dass die deutsche Regierung immer noch mit dem AKP-Regime zusammenarbeitet. Wir fordern, die deutschen Truppen aus Incirlik abzuziehen, die Verfolgung von türkischen und kurdischen Aktivisten in Deutschland zu beenden und den Flüchtlingsdeal zu stoppen«, so Köbele. (jW) Rüstungskontrolle für Europa gefordert Berlin. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) fordert gemeinsam mit zahlreichen europäischen Kollegen einen Neubeginn bei der europäischen Rüstungskontrolle. Sie seien »zutiefst besorgt über die anhaltende Aushöhlung der auf Regeln beruhenden europäischen Sicherheitsordnung«, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der 14 Außenminister am Freitag in Berlin. Angesichts der aktuellen Krisen sei »viel Vertrauen zerstört worden und eine neue Rüstungsspirale droht«, sagte Steinmeiers Sprecherin. Wichtig sei daher ein Neubeginn, um wieder strategische Stabilität und Berechenbarkeit herzustellen und militärische Risiken zu vermeiden, forderten die Minister. (AFP/jW) wird herausgegeben von 1.941 Genossinnen und Genossen (Stand 23.11.2016) n www.jungewelt.de/lpg
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