Verband alleinerziehender Mütter und Väter L a n d e s ve r b a n d He s s e n e . V . Fachtagung „Kindgerechte Justiz“ der Deutschen Kinderhilfe e.V. am 13. September 2016, Haus der Bundespressekonferenz, Schiffbauerdamm 40, 10117 Berlin Einleitender Vortrag: Kindgerechte Justiz? Eine Bestandsaufnahme Prof. Dr. Ludwig Salgo, Goethe-Universität Frankfurt Kindschaftssachen werden durch Familienrecht geregelt. Die Justiz bereitet nicht auf Themen des Familienrechts und Kinderrechts vor. Insbesondere das Recht der Kinder ist wenig attraktiv für Studenten weil keine Erfolge im Berufsleben zu erwarten sind. Ähnliches gilt für das Familienrecht. Es gibt keine Qualifikation für Familienrichter. Es gibt keine Verpflichtung der Fortbildung für Familienrichter. (Im Gegensatz dazu müssen z.B. Insolvenzrichter eine Sonderqualifikation nachweisen). Schon 2016 hat der Rechtsausschuss des Bundestages auf die mangelnde Qualifikation der Familiengerichte hingewiesen. Richter und Anwälte sollten verpflichtet werden, sich insbesondere für den Umgang mit Kindern aus- und fortbilden zu lassen. Das Grundrecht auf Zugang zum Recht ist für Kinder nicht gewährleistet. Einleitende Podiumsdiskussion: Welche Barrieren sehen Kinder und Jugendliche bei Ihrem Zugang zum Recht? Prof. Dr. Ludwig Salgo, Goethe-Universität Frankfurt Dr. Natalie Ivanitis, RA Jürgen Rudolph, Familienrichter a.D., RA Mohammed Jouni, Jugenliche ohne Grenzen Kinder stehen oft bis zu 8 und mehr Personen gegenüber, sie können die verschiedenen Zuständigkeiten nicht verstehen. Es wird in der Regel nicht aus Sicht der Kinder verhandelt und gedacht. Die Räumlichkeiten, lange Flure kahle Wände ängstigen Kinder. Befragung in Gesprächen mit einer Person, die anderen Beteiligten können durch Übertragung in einem anderen Raum dem Gespräch folgen. Empfehlenswert ist das Cochemer Modell. Verfahrensbeistände werden von dem Gericht bestellt, das den Fall bearbeitet. Nicht genehme Stellungnahmen sind da eher nicht zu erwarten. Es gibt noch immer keinen Kinderbeauftragten in Deutschland. Kinder verstehen die verschiedenen Zuständigkeiten nicht. Es muss eine adäquate, niedrigschwellige Form der Kinderbeteiligung in der Justiz gefunden werden. (z.B. Ombudsstelle) Zur Anhörung und Befragung von Kindern müssen angemessene Rahmenbedingungen geschaffen werden. Empfehlung: Broschüre „Kinder vor Gericht“ Paritätischer Seite 1 Fachtagung „Kindgerechte Justiz“ 13.09.2016 der Deutschen Kinderhilfe e.V. am 13. September 2016, Haus der Bundespressekonferenz, Schiffbauerdamm 40, 10117 Berlin Erfahrungsbericht In Ergänzung der Tagesordnung wurden die Erfahrungen der beiden Kinder der Fachanwältin für Familienrecht Dr. Frauke … im Sorgerechtsverfahren und der damit verbundenen Belastungen vorgetragen. Victoria, heute 16 Jahre war zur Zeit der Trennung der Eltern 7 Jahre alt. (Stellungnahme wurde von der Mutter vorgetragen) Tassilo, heute 13 Jahre war zur Zeit der Trennung 4 Jahre alt. Fazit: Beide Kinder fühlten sich durch die immer wiederkehrenden Befragungen von verschiedenen Personen, an verschiedenen Orten stark verunsichert und bedrängt. Workshop I Verfahrensbeistand: Aufgaben, Position und Ausgestaltung Reinhard Prenzlow, Verfahrensbeistand (Lehrer) Nicht immer entspricht der Kindeswille auch dem Kindeswohl. Der Verfahrenspfleger muss die Kindesinteressen herausfinden und berücksichtigen. Die Interessen gehen über den Willen hinaus und müssen Neigungen, Sport, Freizeit, Schule, Familie etc. einbeziehen. Der Pfleger darf i.d.R. mit allen Beteiligten sprechen. Das Alter, der Entwicklungsstand (5 nicht gleich 5) und der Familienhintergrund (Sinti, Migrationsfamilien) der Kinder beeinflusst die Arbeit des Verfahrensbeistandes stark. Offenheit und Ehrlichkeit sind Voraussetzung für eine Arbeit mit den Kindern, man darf nicht lügen und Versprechungen machen, die nicht eingehalten werden können. Der Verfahrensbeistand muss sich zu anderen Professionen (Richter, Anwälte, Jugendamt etc) abgrenzen. Bei Umgang und Sorge kann durch den Verfahrensbeistand eine Befragung durch das Jugendamt entfallen. Wenn Kinder oder Jugendliche nicht reden wollen, kann man sie nicht dazu zwingen. Der Verfahrensbeistand muss sich auf jedes Kind einstellen; es muss ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden; die Kinder sollten die Möglichkeit haben, ihre Meinung und Sicht der Dinge zu schildern, ohne Angst haben zu müssen, dass sie ein Elternteil traurig machen. Workshop II Was Kinder und Jugendliche im strafrechtlichen Verfahren brauchen Sigrid Richter-Unger, Dipl.-Soziologin, Mitglied geschäftsführender Vorstand der DGfPl, Leiterin Beratungsstelle „Kind im Zentrum“ Vertrauenspersonen müssen dem Kind glauben und es ernst nehmen. Dem Kind Sicherheit vermitteln, bei allen Gesprächen immer wieder erklären, dass es nichts sagen muss, aber alles sagen darf. Es darf keine Schulzuweisungen geben. Es sollte immer eine Fachberatungsstelle eingeschaltet werden. (Wildwasser, Zartbitter) Vor Gesprächen mit der Polizei oder anderen Beteiligten immer wieder erklären, was dort vorgehen wird. Opferzeugenbegleitung bei der immer wieder erklärt wird, wie das Vorgehen und der Prozess ablaufen wird, ohne über das Geschehen zu sprechen. Gespräch mit der Staatsanwaltschaft mit der Zeugenbegleitung, vorher besprechen und auch besprechen, was passiert, wenn der Beschuldigte hinzukommt. Seite 2 Fachtagung „Kindgerechte Justiz“ 13.09.2016 der Deutschen Kinderhilfe e.V. am 13. September 2016, Haus der Bundespressekonferenz, Schiffbauerdamm 40, 10117 Berlin Besuch Kind und Zeugenbegleiter beim Richter. Es sollte bis zum Aufruf in den Gerichtssaal ein separates Zimmer für das Kind zur Verfügung stehen. Alles muss für das Kind altersgerecht aufbereitet sein. Die Verteidiger sollten darauf hinarbeiten, dass die Beschuldigten die Tat einräumen, damit das Kind nicht befragt werden muss. Das Kind muss immer erscheinen, auch wenn es nicht mehr befragt wird ?? Mit dem Kind über die Strafe reden und erklären. Nach dem Prozess evtl. eine kurze Therapie, oft ist eine lange Therapie für das Kind nicht notwendig, wenn der Prozess „kindgerecht“ geführt wurde. Wenn Kinder später den Kontakt zum Täter wünschen, dies nicht ausschließen aber begleiten, damit keine schwierigen Situationen entstehen. Buchempfehlung: Anna und Jan gehen vor Gericht Workshop III Was Fachkräfte der Justiz über das Befragen von (betroffenen) Kindern wissen sollten Ursula Enders, Zartbitter e.V. Kinder, die Opfer von Gewalt oder Missbrauch wurden, müssen immer das Gefühl haben, dass man ihnen glaubt. Sie brauchen das Signal, dass man zuhört und sie ernst nimmt. Täter/Innen manipulieren die Umwelt, machen dem Kind ein schlechtes Gewissen, intrigieren gegen die Opfer, stehen oft in engem Verhältnis zu dem Opfer. Die Opfer haben Angst vor Strafe und Gewalt, weil die Täter/innen das angedroht haben. Ein Schweigegebot von Täter/Innen wirkt lange nach. Opfer stehen im Konflikt, wenn Täter/Innen aus dem direkten Umfeld stammen. Sie haben eine emotionale Bindung – wollen aber, dass die Taten aufhören. Kinder, die Die Belastung für die Eltern ist nach Aufdeckung oft höher als für die betroffenen Kinder, für die damit das Ende des Leidens anfängt. Bei Befragungen sollen keine Vertrauenspersonen anwesend sein, die Opfer trauen sich sonst nicht, offen zu reden oder sich zu öffnen, weil sie der Bezugsperson nicht „wehtun“ möchten. Die Befragungen sollten, insbesondere bei sexueller Gewalt, nicht im vertrauten Umfeld stattfinden, weil die Opfer diesen Ort sonst immer mit dem „Gesagten“ und den unangenehmen Empfindungen der Tat in Verbindung bringen. Es sollte keine Gegenüberstellung mit dem Täter erfolgen. Den Kindern muss der Ablauf einer Verhandlung, die Aufgabe aller Beteiligten erläutert und erklärt werden. Insbesondere sollen die Kinder darüber informiert sein, was es bedeutet ins Gefängnis zu müssen (dass es dort normales Essen gibt und man Sport treiben und TV sehen kann). Der Richter muss das Urteil so erklären, dass auch das Kind es verstehen kann. Reaktionen auf eine falsche Befragung zeigen sich mit einer Verzögerung von 3-5 Monaten. Eine gute Befragung und ein gut geführter Prozess können eine therapeutische Wirkung haben. Seite 3 Fachtagung „Kindgerechte Justiz“ 13.09.2016 der Deutschen Kinderhilfe e.V. am 13. September 2016, Haus der Bundespressekonferenz, Schiffbauerdamm 40, 10117 Berlin Abschließende Podiumsdiskussion: Kindgerechte Justiz – wie schaffen wir das? Prof. Anna Holzscheiter, Freie Universität Berlin Kerstin Kubisch-Piesk, Regionalleiterin des RSD, Region Gesundbrunnen, JA Berlin Reinhard Prenzlow, Verfahrensbeistand (Lehrer) Johannes Hildebrandt, RA Hans Christian Prestien, Familienrichter a.D. Die Kinderrechte müssen implementiert werden. Fachausbildung im Familienrecht und Kindesrecht der Justiz muss gefordert werden. Hierzu müssen Standards festgelegt werden. Die Befragung der Kinder muss kindgerecht erfolgen. Verfahrensbeistand darf nicht von dem Richter bestellt werden, der den Prozess führt. Alle beteiligten Professionen sollen ausreichend und gut kommunizieren. Auch Verfahrensbeistände müssen ausreichend qualifiziert und vorgebildet sein. Abschlussvortrag: Recht(e) haben, Recht bekommen – Kinder in der Justiz Franziska Breitfeld, Volljuristin, Deutsche Kinderhilfe e.V. Die Umwelt darf sich nicht länger mehr mit den Tätern, als mit den Opfern beschäftigen. Man muss den Kindern mit Fairness und Respekt begegnen und ihre Schwächen stärken. Weg mit dem Roben und kahlen Räumen und Fluren. Kinder brauchen einen Ansprechpartner, zu dem sie eine Vertrauensbasis aufbauen können. Alle Beteiligten müssen sich Zeit nehmen für die betroffenen Kinder. Die Art der Informationsweitergabe vor der Verhandlung und nach dem Urteil ist für das Kind wichtig für die Bewältigung der Tat. In anderen Ländern gibt es längst andere Modelle, in denen sich die Kinder nicht mehrfach unangenehmen Befragungen unterziehen müssen. Fazit: Kindeswohl und Kindeswille sind nicht ausreichend in den Vordergrund gerückt, es um Familien- nicht um Kindesrecht geht. Das Kindesrecht muss in die Verfassung aufgenommen werden. Die Justiz muss besser aus- und fortgebildet werden. Kinder dürfen nur von einer Person befragt und begleitet werden, um ihnen ständiges Wiederholen und Durchleben zu ersparen. Kinder dürfen nicht in beängstigenden Gerichtssälen befragt werden und auf kahlen langen Gängen warten müssen. Die Räume und die Umgebung müssen kindgerecht ausgestattet sein (Spielsachen, Tiere), der Richter darf keine Robe tragen, die das Kind ängstigen kann. Die Öffentlichkeit muss besser informiert werden, der Druck auf Legislative und Judikative etwas zu ändern muss aus der Bevölkerung kommen. Das Kind muss im Mittelpunkt stehen. Ulrike Peschelt-Elflein Seite 4
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