Noam Chomsky

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Avram Noam Chomsky wurde 1928 in den USA geboren, studierte in Harvard und
lehrte dann Linguistik am MIT (Massachusetts Institute of Technology). Er wurde
zunächst im akademischen Umfeld für seine bahnbrechenden Arbeiten zu den
Sprachwissenschaften bekannt, indem er Algorithmen aus der Mathematik und
Informatik in die formale Linguistik einführte. Andererseits beeinflussen seine
sprachwissenschaftlichen Arbeiten auch die Informatik, insbesondere die
Entwicklung der künstlichen Intelligenz.
Allgemeinere Aufmerksamkeit erregte er allerdings mit seinem
gesellschaftspolitischen Engagement – zunächst als intellektueller Frontmann der
Antivietnamkriegsbewegung, später als engagierter und heftiger Kritiker der USamerikanischen Außen- und Innenpolitik sowie – ganz allgemein – als scharfsinniger
Analytiker der Entwicklung der modernen Gesellschaft. Spannend ist dabei seine
Kapitalismus- und Globalisierungskritik, in welcher Aspekte von Ökonomie, Politik
und Macht einfließen. Neben mehreren anderen akademischen Titeln und Preisen ist
Noam Chomsky Ehrendoktor an rund 30 namhaften Universitäten. Er hat über 50
Bücher und unzählige Artikel verfasst. In den 90er Jahren war er der am häufigsten
zitierte lebende Wissenschafter der Welt. Die New York Times handelt ihn als den
bedeutendsten Intellektuellen der Gegenwart.
Noam Chomsky bezeichnet sich selbst als Anarchist – verwurzelt in der Tradition der
Aufklärung und des Liberalismus. Er ist ein unglaublich radikaler und prinzipientreuer
Denker: Trotz seiner jüdischen Herkunft ist er ein schonungsloser Kritiker der
israelischen Außen- und Siedlungspolitik und verteidigt zudem bedingungslos das
Recht auf freie Meinungsäußerung, sogar dann, wenn es um das Leugnen der
Existenz von Gaskammern im Dritten Reich geht.
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Ich habe versucht, seine Noam Chomskys Analysen und Kommentare zur Situation
unserer Gesellschaft in zehn Thesen zusammenzufassen:
1. Reichtum verleiht Macht und Macht führt zu Reichtum.
2. Ungleichheit und Demokratie schließen einander aus.
3. Die Postdemokratie ist auf dem Weg in die Plutokratie. und politische
Einflussnahme der Eliten
4. Erklärtes Ziel der Eliten ist es, Das Propagandamodell
5. Sorge für Zustimmung und Zufriedenheit der Massen zu erzeugen.
6. Bei Unzufriedenheit werden Nebelbomben geworfen und Sündenböcke
erfunden.Wenn das nicht geht so lenke den Zorn unzufriedener Bürger auf
Randgruppen
7.
8. Die Medien werden von den Eliten beeinflusst und instrumentalisiert.
9. Der Neoliberalismus ist das neue akzeptierte Gesellschafts- und
Wirtschaftsmodell.
Die neue theoretische Basis: Neoliberalismus wurde zur Doktrin des
modernen Kapitalismus. Der klassische Liberalismus eines Adam Smith, eines
David Ricardo, eines John Stuart Mill kannte und diskutierte die
Wechselwirkung von Ungleichheit und Macht
Dementsprechend und zum Wohl der Eliten wurde die Ökonomie umgestaltet
10. Umgestaltung der Ökonomie 1: durch Finanzialisierung und Deregulierung.
11.  durch Umgestaltung der Ökonomie 2: Die Globalisierung.
12.  durch Umgestaltung der Ökonomie 3: Umverteilung von unten nach
oben.der Steuerlast. Die zunehmend Belastung der Armen und der
Mittelschicht und die zunehmende Entlastung der Reichsten
Das Propagandamodell
Sorge für Zustimmung und Zufriedenheit
Wenn das nicht geht so lenke den Zorn unzufriedener Bürger auf Randgruppen
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1. Reichtum verleiht Macht und Macht führt zu Reichtum. Dass Reichtum
Macht – und zwar politische Macht – verleiht, dürfte evident sein. Das war
immer so – in jeder Gesellschaft. Schon die Römer kannten den Kauf von
pPolitischen Ämtern. Im Feudalismus waren Adelige, Könige und Kaiser auf
die Zuwendungen und Kredite der finanzkräftigen Geldverleiher und
Handelsherren angewiesen und mussten entsprechende Zugeständnisse
machen. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass sich das in der modernen
Demokratie geändert hat. Andererseits wird und wurde politische Macht immer
auch zum eigenen Vorteil – also zur Vermehrung des Reichtums – verwendet.
Der Teufelskreis aus Reichtum und Macht verursacht eine zunehmende
Konzentration von Macht und Reichtum Vermögen in den Händen von einigen
wenigen. Diese systematische Tendenz wurde nur durch Kriege, Revolutionen
oder durch große Wirtschaftskrisen unterbrochen. Recherchen von OXFAM
(Oxforder Kommitee zur Linderung von Hungersnot) hat vor kurzem Daten
publiziert, die eindrucksvoll das unglaubliche Ausmaß an Ungleichheit und
Konzentration des Reichtums illustrieren: zu Folge besitzen heuteDie 1%
Reichsten dieser Welt besitzen so viel wie die restlichen 99% der
Weltbevölkerung und oder die Hälfte des Weltgesamtvermögens gehört den
die 62 vermögendsten Personen. besitzen die halbe Welt.
2. Ungleichheit und Demokratie sind inkompatibel: Diese Weisheit ist so alt
wie die Idee der Demokratie selbst. Bereits Aristoteles meinte vor etwa 24000
Jahren, dass in einer Demokratie die Gefahr der Tyrannei der Mehrheit
besteht. Die besitzlosen Massen könnten die Reichen um die Früchte ihres
Reichtums, ja um ihren Reichtum selbst bringen. Aristoteles schlug vor, den
Widerspruch von Ungleichheit und Demokratie durch Abbau und Verringerung
der Ungleichheit zu beseitigen. Auch die Gründerväter der modernen
Demokratien erkannten dieses Dilemma – beseitigten den Widerspruch aber
nicht durch Reduktion der Ungleichheit, sondern durch Reduktion der
Demokratie. James Madison, der „Vater der Verfassung“ der USA, meinte,
dass es Aufgabe des Staatesr Verfassung sei, die Minderheit der
Wohlhabenden gegenüber der Mehrheit der Armen zu schützen. In der ersten
modernen Demokratie der Neuzeit – in den USA – gab es daher zunächst nur
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wenige Personen mit demokratischem Stimmrecht – es waren die 3% der
Grundbesitzer, die wählen durften. Ähnlich war es auch in Preußen. Hier war
das Stimmrecht entsprechend der personellen Steuerleistung auf drei Klassen
aufgeteilt, die je ein Drittel der Wahlmänner bestimmen konnten welche
ihrerseits wiederum die Volksvertreter wählten. In Essen führte dieses
Dreiklassenwahlrecht zu dem grotesken Ergebnis, dass eine einzige Person –
der Industrielle Alfred Krupp – ein Drittel der Wahlmänner bestimmen konnte.
Darüber hinaus wurde ein zweiter Schutzwall gegen unliebsame
Wahlergebnisse eingeführt: Jeder musste seine Stimme für alle sichtbar
öffentlich abgeben. Dadurch war es den Reichen möglich, Stimmen zu kaufen
und diesen Deal auch zu überprüfen. Obwohl sich noch heute immer wieder
Befürworter von Beschränkungen des Wahlrechts finden (wie z.B. die
neoliberalen Ökonomen Friedrich August von Hayek oder Roland Vaubel), gab
es ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts in den meisten Demokratien das
allgemeine und gleiche Wahlrecht mit geheimer Stimmabgabe. Ein schwerer
Schlag für die Eliten – allerdings können diese in einer repräsentativen
Demokratie weiterhin Macht ausüben und die Entscheidungen der
Repräsentanten in ihrem Sinn beeinflussen.
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3. Die Postdemokratie ist und politische Einflussnahme der Elitenauf dem
Weg in die Plutokratie: Aus praktischen Gründen ist eine direkte Demokratie
schwer vorstellbar – schon Jean-Jacques Rousseau hielt es für unmöglich,
„dass das Volk unaufhörlich versammelt bleibt, um öffentliche
Angelegenheiten zu besorgen“. Und John Stuart Mill plädierte dafür, dass
gebildete Repräsentanten für die Masse der in Staatsdingen Uungebildeten
bestimmen sollten. Alle modernen Demokratien sind daher mehr oder weniger
indirekte, d.h. repräsentative Demokratien. Das Volk überträgt seine Macht an
Volksvertreter bzw. an wahlwerbende Parteien, welche dann bis zu den
nächsten Wahlen unbeeinflusst ihr Mandat ausüben können. Damit ist der
Weg zur Postdemokratie offen und die Möglichkeit der politischen
Einflussnahme der Eliten gegeben. Nun müssen nicht mehr die Wähler selbst,
sondern nur mehr ihre gewählten Vertreter bzw. – was noch effizienter ist – die
bedeutendsten Player in den politischen Parteien überzeugt werden. Die
Instrumente der Überzeugung sind Lobbyismus, legale und illegale
Parteienfinanzierung bis hin zur Bestechung von politischen Mandataren. Die
dabei in Europa beliebteste Variante ist der fliegende Wechsel von Inhabern
von Regierungsämtern in gut dotierte Posten in der Privatwirtschaft.
Dabei ist es aber wichtig, dass die von den Repräsentanten getragenen
Entscheidungen die Bevölkerung nicht zu sehr verunsichern. Man will ja
wiedergewählt werden. Das funktioniert am besten mit zufriedenen und
lethargischen Wählern. Und damit bin ich bei der 4. These:
4. Wie wird Zustimmung und Zufriedenheit erzeugt? Ganz einfach: Durch
Brot und Spiele, durch Verdummen und Gleichgültigmachen und durch
Propaganda. Schon die Philosophen und Soziologen der Frankfurter Schule
wie Theodor Adorno oder Max Horkheimer sowie Herbert Marcuse kritisierten
die „shopping macht happy“-Mentalität und meinten, dass eingelullte
Konsumenten unkritisch wären und kaum Interesse für Gesellschaft oder
Politik aufbrächten.
Solchen Bürgern können Maßnahmen auch dann verkauft werden, wenn
diese ihre Situation verschlechtern. Das funktioniert, wenn die Betroffenen die
Nachteile nicht bemerken, die Konsequenzen der Maßnahme nicht verstehen
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oder sich nicht betroffen fühlen. Dafür sorgen in einer Postdemokratie eine
riesig aufgeblähte Werbe- und Public-Relations-Industrie, abhängige, am
Geldtropf hängende Thinktanks und natürlich die Medien. Dabei werden
Sachverhalte unrichtig, halbwahr oder verzerrt dargestellt und mit schönen
und flotten Begriffen versehen. Dazu ein paar Beispiele:
Jörg Haider hat versucht, uns eine „flat tax“ zu verkaufen – mit dem Argument,
sie sei ja so viel einfacher zu berechnen als eine progressive Steuer. Durch
diese Nebelbombe sind zwei kompliziertere, aber entscheidende Argumente
ausgebremst worden: (i) Jeder Steuerberater weiß, dass die Berechnung der
Steuer nicht durch den Tarif, sondern durch die Berechnung der
Bemessungsgrundlage kompliziert wird. (ii) Bei gleichem Steueraufkommen
würde eine „flat tax“ die unteren und mittleren Einkommen stärker belasten –
also die Masse der Bürger schlechter stellen als bei progressiver
Besteuerung.
Der schlanke Staat: Wer von uns möchte schon in einem ineffizienten,
aufgeblähten und teuren Staat leben – der schlanke Staat ist angesagt. Dass
in einem schlanken Staat jedoch viele heute für selbstverständlich
genommene Staatsleistungen wegfallen – das fällt dabei unter den Tisch.
Gefordert wird die Flexibilisierung der Arbeitswelt – weg mit den verkrusteten
Sozialpartnern und ineffizienten und überregulierten Arbeitsmärkten. Dass
dabei lange und hart erkämpfte Bestimmungen und Regeln zum Schutz der
Arbeitnehmer unter die Räder kommen – das wird dabei verschwiegen.
Zeigt eine von der Zentralbank in Auftrag gegebene Studie die unglaubliche
Konzentration des Reichtums und damit den Abstand zwischen den wenigen
Reichen und dem Rest der Gesellschaft auf, werden sofort Thinktanks in
Stellung gebracht, die Argumente gegen die Gültigkeit der Studie vorbringen.
5. Nicht immer gelingt es, die Menschen in Dummheit und Zufriedenheit zu
halten – manchmal sind sie zornig und unzufrieden. Da muss die
Propagandamaschinerie andere Register ziehen – dazu gehören das Werfen
von Nebelbomben und das Präsentieren von anderen Themen oder
Sündenböcken. Ich habe einmal einem Kollegen – einem Politologen der
Universität von Utah – die Frage gestellt, warum nahezu die Hälfte der
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Amerikaner eine Partei wählt, die objektiv gesehen nur das oberste Promille
der Amerikaner vertritt und bedient. Die Antwort war: So lange katholische und
evangelische Geistliche von der Kanzel predigen „Wollt ihr die Abtreibung,
dann wählt die Demokraten“, so lange werden Republikaner gewählt werden –
auch wenn das die Mehrzahl der Wähler objektiv schlechter stellt. Religiöse
Überzeugungen, Xenophobie und Rassismus sind überaus geeignete Hebel,
um sehr rasch von objektiv wichtigeren Problemen abzulenken. An deiner
misslichen Situation sind nur die arbeitslosen Sozialschmarotzer schuld – für
die und für die Flüchtlinge geht dein ganzes Steuergeld drauf – für uns
Österreicher bleibt da nichts mehr übrig. Eine Partei, welche verspricht, mit
aller Härte gegen Flüchtlinge oder Sozialschmarotzer vorzugehen, wird
Wahlen gewinnen, auch wenn ihre sonstigen politischen Konzepte entweder
nicht vorhanden oder aber auf Eliten zugeschnitten sind und die Kleinen, aber
Tüchtigen klar schlechter stellen. Nebelbomben werfen, vom Thema ablenken
und Sündenböcke ausmachen und benennen – dabei helfen die Medien
tatkräftig mit.
6. Medien sind grundsätzlich für die parlamentarische Demokratie von zentraler
Bedeutung. Medien sollten als Kommunikationsinstrument zwischen
Volksvertretern, Regierung und Bürgern fungieren. Medien sollten die Bürger
über politische Fragen, Entscheidungen und deren Konsequenzen informieren
sowie Missstände in Gesellschaft und Politik aufzeigen. Damit wird eine freie
und unabhängige Presse aber zu einer Gefahr für die Mächtigen. Am besten
kommt dies durch einen Bericht der Trilateralen Kommission – einem
Zusammenschluss von politischen und wirtschaftlichen Eliten aus
Nordamerika, Europa und Japan – zum Ausdruck. Die Trilaterale Kommission
sah in der Bürgerbewegung der 60er und 70er Jahre eine „Krise der
Demokratie“ und kommt zu dem Schluss, dass die Medien ein „beträchtlicher
Machtfaktor“ geworden sind. Die Medien seien mit schuld an den
„Auswüchsen der Demokratie“. Was liegt also näher als die Beeinflussung
bzw. Übernahme der Medien? Edward Herman und Noam Chomsky zeigen in
ihrem Propagandamodell auf, wie das geschieht. Dabei sind folgende fünf
Aspekte von Bedeutung:
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(i) Medien sind Unternehmen mit sinkenden Durchschnittskosten – d.h. je größer
sie sind, desto billiger bzw. desto profitabler können sie produzieren. Dies
zeigt sich ganz deutlich an der Medienkonzentration in den meisten Ländern.
In den USA wird der gesamte Medienmarkt von sechs hochintegrierten
multinationalen Unternehmen kontrolliert. In Deutschland sind die medialen
Platzhirsche Bertelsmann sowie Axel Springer und die Funke-Mediengruppe.
Die Kirch-Gruppe wurde von einem amerikanischen Investor übernommen. In
Österreich dominiert die Mediaprint mit Kronen Zeitung, Kurier, News und
Profil sowie die Styria Gruppe mit der Kleinen Zeitung und der Presse. Die
Mediaprint selbst ist wieder über die WAZ mit der Medienfamilie Funke
verbandelt. Bei einer derart massiven Konzentration ist eine
wettbewerbsfördernde Neugründung und Pluralität von Medien unmöglich.
(ii) Die Haupteinnahmequelle der Medien sind Inserate und Werbung. Durch
Entzug von Inseraten können Unternehmen Druck auf die Medien ausüben.
Medien und Politik leben in enger Symbiose: Berichtest du freundlich über
mich, dann gibt es Inserate von politischen Parteien oder abhängigen
Unternehmen. Gelernte Österreicher wissen, wovon die Rede ist.
(iii) Medien sind auf Nachrichtenquellen angewiesen. Die Informationen
bekommen sie nur selten durch teure eigenständige Recherchen ihrer
Redakteure, sondern sie müssen auf Verlautbarungen von Ministerien,
Wirtschaftsunternehmen, Interessenvertretern, Handelsgruppen,
Gewerkschaften u.Ä. vertrauen. Diese auf Richtigkeit oder Vollständigkeit zu
überprüfen ist teuer.
(iv) Medien und Redakteure haben in der Regel eine panische Angst vor Flak, d.h.
vor negativen Reaktionen auf unliebsame Berichterstattung – also Ohrfeigen
in Form von Gegendarstellungen, Leserbriefen, Telefonanrufen des großen
Bruders und vor allem vor teuren Gerichtsverfahren.
(v) Die herrschende Doktrin: Sakrosankte Überzeugungen werden sehr selten –
auch von noch so mutigen Journalisten – in Frage gestellt. In den USA hat
sich der Antisozialismus oder heute der Antiterrorismus derart als
quasireligiöse Überzeugung etabliert, dass eine Verletzung dieser Tabus nur
sehr schwer möglich ist. Dies wäre antiamerikanisch und würde sofort
geächtet und sanktioniert werden.
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7. Die derzeit mehr oder weniger unangefochtene Doktrin für Wirtschaft und
Gesellschaft ist der Neoliberalismus. Dieser hat kaum mehr etwas mit dem
klassischen Liberalismus eines Adam Smith, eines David Ricardo oder eines
John Stuart Mill zu tun. Die alten Klassiker diskutierten Ökonomie immer im
Kontext von politischer und gesellschaftlicher Macht und warnten vor der
Macht und dem Egoismus der „masters of mankind“ – der Herren der Welt.
Auch mit dem Ordoliberalismus – dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft –
hat der Neoliberalismus nichts zu tun. Ordoliberale warnten zu Recht vor dem
Versagen einer entfesselten Marktwirtschaft und schlugen daher
ordnungspolitische Regulierungsmaßnahmen vor. Der Neoliberalismus
hingegen glaubt mit nahezu religiöser Inbrunst an die allheilenden Marktkräfte
und braucht den Staat vor allem zur Absicherung der Eigentumsrechte – ja
und natürlich auch zur Rettung maroder Banken.
8. Eine Deregulierung aller Märkte wird daher gefordert – also das
Zurücknehmen aller ordnungspolitischen Regeln, welche dazu beigetragen
haben, dass die soziale Marktwirtschaft so erfolgreich geworden ist. Die Folge
von ungezügelten Märkten sind prekäre Arbeitsverhältnisse, Arbeitslosigkeit,
niedrige Wachstumsraten und wiederkehrende Wirtschaftskrisen.
Deregulierung der Arbeitsmärkte: Am Arbeitsmarkt stehen viele
Arbeitnehmer einer wesentlich geringeren Zahl von Arbeitgebern
gegenüber. Insbesondere hohe Arbeitslosigkeit und der Druck, seinen
Lebensunterhalt verdienen zu müssen, bringen Arbeitnehmer in eine
deutlich schlechtere Verhandlungsposition – das wird bei Adam Smith
ausführlich diskutiert. Im Laufe der Entwicklung der Marktwirtschaft haben
sich daher Regelwerke und Mechanismen zum Schutz der Arbeitnehmer
entwickelt. Dazu zählen Gewerkschaften, kollektive Lohnverhandlungen,
Mindestlöhne sowie gesetzliche Beschränkungen der Vertragsfreiheit. An
vielen dieser Institutionen oder Bestimmungen ist in der letzten Zeit
durchaus erfolgreich gesägt worden. Der Ruf nach mehr Flexibilität brachte
auch eine Entgrenzung der Arbeitszeit – also eine Lockerung der
Arbeitszeitgrenzen von 8 Std./Tag bzw. 40 Std. in der Woche. Es soll doch
bitte dann gearbeitet werden, wenn Arbeit benötigt wird – aber
selbstverständlich ohne Bezahlung von Überstunden. Auch die solidarische
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Lohnpolitik wird in Frage gestellt. Warum kollektive Tarifverhandlungen?
Warum nicht flexiblere Vereinbarungen auf Betriebsebene? Den
Arbeitnehmern lässt sich auf Betriebsebene ja auch viel leichter erklären,
dass nur Lohnzurückhaltung ihren Arbeitsplatz garantiert. Wie erpressbar
Arbeitnehmer auf Betriebsebene sind, konnten wir vor kurzem sehen, als
die Belegschaft von Servus TV die Frechheit besaß, Betriebsräte zu
verlangen.
Deregulierung und Privatisierung von Versorgungsunternehmen:
Natürliche Monopole und die Tendenz zu Zusammenschlüssen wurden
bereits von den alten Klassikern als Versagen der Märkte empfunden.
Konzentrationstendenzen sollen von der Wettbewerbsaufsicht verhindert
werden, jedoch geht die „merger mania“ – die Zusammenschlüsse zu noch
größeren marktbeherrschenden Unternehmen – munter weiter. Bei
manchen Unternehmen macht Wettbewerb auch keinen Sinn.
Insbesondere Versorgungsunternehmen wie die Energieversorgung oder
der Schienenverkehr wurden von gemeinwirtschaftlichen Monopolisten
betrieben. Als diese staatlichen Versorgungsunternehmen immer mehr
Finanzierungsmittel benötigten, waren die Politiker sehr gerne bereit, dem
neoliberalen Drängen nachzugeben. Die britische Premierministerin
Margaret Thatcher war die Erste, die diesen Weg beschritt, und die
britischen Eisenbahnen wurden ab 1993 verstaatlicht – nur acht Jahre
später ging die privatisierte Railtrack pleite und musste wieder verstaatlicht
werden. Als erster Bundesstaat hat Kalifornien bereits Mitte der 90er Jahre
den Strommarkt vollkommen liberalisiert. Argumentiert wurde dies mit mehr
Effizienz und sinkenden Preisen. Eingetreten ist das Gegenteil: Die Preise
sind exorbitant gestiegen. Investitionen in die Netzsicherheit und den
Kraftwerksneubau unterblieben. Die Folgen davon waren flächendeckende
Stromausfälle und monatelange Stromknappheit im Hochtechnologieland
Kalifornien. Beispiele von missglückten Privatisierungen gäbe es noch
genug.
Deregulierung der Finanzmärkte: Den Anfang machte Ronald Reagan,
der 1982 die regionalen Sparkassen von staatlichen Vorschriften befreite
und Banken erstmals erlaubte, Darlehen mit variablen Zinsen zu vergeben.
Bill Clinton deregulierte 1994 die US-Bankenlandschaft weiter. Fünf Jahre
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später wurde auch die gesetzliche Trennung zwischen Geschäfts- und
Investmentbanken, die aus guten Gründen nach der großen Depression in
den 30er Jahren eingeführt worden war, abgeschafft. Unter dem
Präsidenten George W. Bush gestattete die US-Wertpapieraufsicht im Jahr
2004 Investmentbanken zudem, ihre Geschäfte unbegrenzt auf Pump zu
finanzieren. Dem spekulativen Handel sind nun keine Grenzen mehr
gesetzt. Die Folge waren Blasen auf den Finanzmärkten sowie Finanz- und
Wirtschaftskrisen. Die meisten Ökonomen stimmen heute darin überein,
dass diese Entfesselung der Finanzmärkte ein großer Fehler war und die
Finanzkrise 2008 zumindest mitverursacht hat. Die geforderte WiederRegulierung der Finanzmärkte ist bis heute nicht erfolgt. Eine
Finanztransaktionssteuer würde den spekulativen Handel verringern, ohne
die Allokation des Kapitals zu behindern. Nahezu alle Ökonomen sind da
einer Meinung – doch die Finanztransaktionssteuer konnte bis heute von
der EU nicht umgesetzt werden. Recht reibungslos und schnell gelang
dagegen eine andere Maßnahme – der Allgemeinheit die Kosten der
Deregulierung der Finanzmärkte umzuhängen. Wenn es ums Zahlen geht,
ist der Staat plötzlich wieder gefragt. Auf der ganzen Welt müssen
machtlose Steuerzahler den Bankrott von Finanzinstituten, die angeblich
too big to fail sind, finanzieren.
9. Die Idee, dass Arbeitsteilung effizient ist – dass doch jene Länder jene
Produkte erzeugen sollen, welche sie vergleichsweise am kostengünstigsten
herstellen können –, diese Idee geht auf Adam Smith und vor allem auf David
Ricardo zurück. Beide haben mit dem Argument der Kostenvorteile den
damals vorherrschenden Merkantilismus mit seinen protektionistischen Zöllen
bekämpft. Warum soll England seine Getreideproduktion durch hohe Zölle
schützen? Sollen doch Spanien und Frankreich Getreide produzieren – die
können das viel billiger. England produziert und tauscht dafür Wolle und Tuch.
Diese Idee des freien und unbeschränkten Außenhandels ist bestechend und
hat sich durchgesetzt. In den Lehrbüchern wie auch in der politischen Praxis.
Von 1948 bis 1994 wurden durch GATT (Allgemeine Vereinbarung über Zölle
und Außenhandel) die liberalen Regeln für einen Großteil des Welthandels
festgelegt. In dieser Zeit gab es acht mehrjährige Verhandlungsrunden. Zuletzt
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führte die Uruguay-Runde zur Gründung der WTO (Welthandelsorganisation),
welche den Abbau von Zöllen sowie nichttarifären Handelshemmnissen weiter
betreibt. Ziel ist der möglichst unbeschränkte liberale Welthandel mit Gütern
und Dienstleistungen – ganz im Sinne von Smith und Ricardo. Dagegen wären
folgende Kritikpunkte vorzubringen:
•
Die WTO ist nicht demokratisch kontrolliert – die Verhandlungen finden
meistens im Geheimen statt – der Einflussnahme von mächtigen
Konzernen ist Tür und Tor geöffnet.
•
Protektionismus zum Aufbau einer wettbewerbsfähigen Industrie macht
Sinn – das hat Japan mit seiner Autoindustrie sehr erfolgreich
bewiesen.
•
Das wichtigste Argument ist jedoch, dass Wettbewerb fair sein sollte. In
der Landwirtschaft konkurrieren Kleinbauern ohne Kapital mit Parzellen
von weniger als einem Hektar mit agroindustriell erzeugenden
Großunternehmen. Oder was passiert wohl, wenn Länder mit
ausgebautem Sozialsystem wie Österreich oder andere EU-Länder mit
Ländern konkurrieren, deren Arbeiter gnadenlos ausgebeutet werden
dürfen (wie z.B. China oder Indien). Dann kommt es zur Abwanderung
der Betriebe in die Billiglohnländer, zu Arbeitslosigkeit, zu
Sozialdumping und zur Reduktion der Löhne in Europa. Solch eine
unfaire Konkurrenz muss zu einer Nivellierung der Löhne nach unten
und zum Abbau des Sozialsystems führen – und das ist auch so
geschehen. Über die Erosion des Sozialsystems habe ich schon
gesprochen – der Druck auf die Reallöhne zeigt sich in allen OECDStaaten – die Lohnquoten sind während der letzten 40 Jahre
permanent gesunken – die Arbeitslosenraten sind gestiegen. Das ist die
Erfolgsbilanz der Globalisierung.
10. Und zuletzt ist es den Eliten auch noch gelungen, die Steuerlast für sich selbst
zu reduzieren und die Lasten der Mittelschicht umzuhängen. Bis zur Mitte der
80er Jahre lagen die Spitzensteuersätze bei der Erbschaftssteuer in den USA
und in Großbritannien noch bei 80% – heute liegen sie in diesen Ländern
unter 40%. In Österreich wurde die Erbschaftssteuer im Jahre 2008 gänzlich
abgeschafft und ihre Wiedereinführung erfolgreich verhindert. Lagen die
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Grenzsteuersätze bei der Einkommensbesteuerung in der Mitte des letzten
Jahrhunderts in Deutschland, den USA und in Großbritannien noch über 90%,
so senkten elitenfreundliche Regierungen diese auf unter 50%.
Es ist nicht auszuschließen, dass Donald Trump morgen zum Präsidenten der
USA gewählt wird – trotz seines Versprechens, die Steuern der Reichen noch
weiter zu senken.