Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen/Aula
Gefühle statt Argumente
Erodiert die demokratische Diskussionskultur?
Von Felix Heidenreich
Sendung: Sonntag, 20. November 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2016
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MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: "Gefühle statt Argumente – erodiert die demokratische
Diskussionskultur?"
Was war das für ein Wahlkampf? Trump gegen Clinton, da flogen die Fetzen. Trump
setzte einzig und allein auf Gefühle, mit Argumenten konnte man ihm nicht kommen,
und er führte den Wahlkampf konsequent als Schlammschlacht.
Viele sehen darin eine große Gefahr, weil Emotionen die Politik dominieren? Haben
Gefühle im demokratischen Entscheidungsprozess überhaupt etwas zu suchen?
Sollte man sie nicht strikt ausblenden, sollten nicht vielmehr vernünftige Argumente
gelten? Antworten gibt der Politikwissenschaftler Felix Heidenreich von der
Universität Stuttgart.
Felix Heidenreich:
Als der deutsche Bundespräsident am 26. Juni 2016 zu Besuch des Deutschen
Wandertages im sächsischen Sebnitz eintraf, kam es zu verstörenden Szenen.
Joachim Gauck wurde von Demonstranten massiv beschimpft. Sein Gang über den
Marktplatz zum Rathaus wurde von Pfiffen und lautstarken „Hau ab“- und
„Volksverräter“-Rufen begleitet. Gegen eine Person musste sogar Reizgas eingesetzt
werden, um sie davon abzubringen, den Bundespräsidenten körperlich zu
bedrängen. Dem höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik war eine Woge aus
Wut und Hass entgegengeschlagen. Rund drei Monate später, am 3. Oktober 2016,
spielten sich dann in Dresden ähnliche Szenen ab. Im Rahmen der Feierlichkeiten
zum Tag der Deutschen Einheit wurden Bundeskanzlerin und Bundespräsident
erneut als „Volksverräter“ beschimpft.
Gehen wir zurück ans Ende der 1950er-Jahre. Wie sah damals eine Beleidigung des
Bundespräsidenten aus? Die Frage lässt sich anhand eines Fotos beantworten, das
1958 entstand, als Bundespräsident Theodor Heuss in Großbritannien auf
Staatsbesuch weilte und aus diesem Anlass auch Oxford besuchte. Das Bild zeigt
„Papa Heuss“ beim Gang durch die Altstadt – und im Hintergrund einige Studenten,
die dem Bundespräsidenten den gebührenden Respekt dadurch verweigern, dass
sie in seiner Anwesenheit ihre Hände nicht aus den Hosentaschen nehmen. Das Bild
wurde 1958 in der deutschen Presse heftig diskutiert; wie man in der spannenden
Biographie von Peter Merseburger erfahren kann, empfanden viele Deutsche das
Bild als Zeichen dafür, dass ihr Staatsoberhaupt von den arroganten Snobs aus
Oxford verhöhnt worden sei. Es hagelte empörte Leserbriefe.
Der Vergleich von Sebnitz 2016 und Oxford 1958 macht deutlich, so scheint mir, wie
sehr sich unsere Standards in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Stellen Sie
sich für eine Sekunde folgende Schlagzeile vor: „Bundespräsident in Sebnitz
beleidigt: Bürger nehmen in seiner Anwesenheit Hände nicht aus der Hosentasche!“
In unserer medialen Welt, in der ordinäre Sprache, obszöne Inhalte, Geschrei und
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Emotionalität zu einer ubiquitär verbreiteten Ware geworden sind, wäre eine solche
Schlagzeile schlicht undenkbar.
Irgendetwas ist geschehen und vollzieht sich womöglich, seit Beginn der
Flüchtlingskrise, in noch höherem Tempo. Mit Harald Welzer könnten wir hier von
„Shifting baselines“ sprechen, vom unmerklichen Wandel der Referenzgrößen, der
Standards dessen, was wir normal finden.
Nun könnte man diesen Wandel unter ästhetischen Vorzeichen als bloße „Häresie
der Formlosigkeit“ beschreiben, die Martin Mosebach im Kontext des Formwandels in
Gottesdiensten zu beobachten glaubt, als ein Verrutschen der rhetorischen
Standards, als unschöne Verrohung. Aber daraus allein würde sich womöglich nicht
automatisch ein demokratietheoretisches Problem ergeben. Demokratie mag von
höflichen Umgangsformen profitieren; aber sie muss auch möglich sein ohne
formvollendete Diplomatie. Das offene, ehrliche und direkte Wort mag die
Demokratie sogar bisweilen beleben.
Aber so einfach können wir es uns womöglich nicht machen. Schwerer wiegt nämlich
der Verdacht, dass die grobe Form den Inhalt nicht nur auf besondere Weise
darstellt, sondern mitprägt, ja in manchen Fällen regelrecht ersetzt. Was unserem
Bundespräsidenten in Sebnitz entgegenschlug, war ja nicht nur Unhöflichkeit,
sondern so etwas wie richtungslose Wut, reiner Affekt, ungehemmte Emotionalität
ohne Argument. Wer den Bundespräsidenten körperlich bedrängt, will ja keinen
Austausch von Argumenten. Vielleicht haben wir also allen Grund dazu, noch einmal
über das Verhältnis von Emotionen und Demokratie nachzudenken.
Ich möchte dies im Folgenden in drei Schritten tun. Zunächst werde ich kurz
erläutern, wie aktuell in der politischen Theorie über Demokratie und Emotionen
diskutiert wird. Ich werde einen Vorschlag unterbreiten, der den Emotionen eine
wichtige, aber wohldefinierte Rolle im demokratischen Prozess zuweist. Meine These
lautet, dass Gefühle in der Demokratie als Ausgangspunkt von Debatten nötig, als
Motivationsgrund hilfreich und als Gegenstand unvermeidlich sind – dass sie
zugleich aber nie dogmatisch als Ersatz für Argumente genommen werden sollten. In
einem zweiten Schritt will ich dann die Frage stellen, ob wir tatsächlich einen Prozess
beobachten können, in dem die demokratische Debatte durch Emotionalisierung
erodiert. Der dritte und letzte Schritt wird dann die Frage stellen, was wir gegen
Emotionalisierung tun können. Werden Figuren wie Donald Trump in Zukunft die
öffentliche Sphäre tatsächlich dominieren?
Es ist sinnvoll noch wenige Sätze zur begrifflichen Unterscheidung von Affekten,
Emotionen und Kognitionen zu sagen. Man unterscheidet hirnphysiologisch in der
Regel drei Ebenen der menschlichen Hirnanatomie, die auch
entwicklungsgeschichtlich aufeinander aufbauen. Das älteste System stellt die Ebene
von Rückenmark und Stammhirn dar; diese Ebene reagiert spontan und instinktiv auf
Reize. Hier bietet sich aus meiner Sicht der Begriff des Affekts an, weil er impliziert,
dass wir geradezu passiv affiziert werden, beispielswiese im Falle einer Panik. Auf
der nächsten Ebene bilden sich dann sprachlich und kulturelle vermittelte, länger
anhaltende Emotionen oder Gefühle aus; ein Beispiel hierfür wäre Angst; diese hat
bereits einen mehr oder weniger klaren Objektbezug; sie ist mehr als eine bloße
Affektreaktion. Und auf der dritten Ebene der Frontalhirns würden wir dann von
Kognition im engeren Sinne sprechen. Rationale, „kühle“ Risikoanalysen könnten
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dann so etwas wie realistische Befürchtungen oder Sorgen hervorbringen. Die drei
Ebenen und ihre Modi, als in unserem Beispiel Panik, Angst, Sorge interagieren
selbstverständlich, wobei die Wirkungen sowohl von „unten“ nach „oben“ als auch
umgekehrt laufen können.
Eine solche dreistufige Terminologie von Affekt/Emotion/Kognition unterläuft
wohlgemerkt die dualistische Gegenüberstellung von „bloßen Gefühlen“ einerseits
und „echter Rationalität“ andererseits. Bereits der Affekt und ganz bestimmt die
Emotion hat so etwas wie eine kognitive Dimension: Auch Gefühle haben uns etwas
zu sagen. Und selbst vermeintlich reine kognitive Inhalte sind nur dann für uns
bedeutsam, wenn sie irgendwie emotional eingerahmt sind.
Eine solche Verabschiedung eines blanken Dualismus stellt gewissermaßen den
Grundkonsens in der aktuellen politiktheoretischen Diskussion über politische
Gefühle dar. Selbst wenn wir wollten: Wir werden die Gefühle nie ganz aus der Politik
ausschließen können. Die Hoffnung, man könne Gefühle in die Sphäre des privaten
verbannen und rein rationale Politik gestalten, ist schlicht naiv. Politik mag auf
wissenschaftliche Einsichten rekurrieren; sie kann mathematische Modelle beratend
hinzuziehen, aber sie ist eben selbst keine emotionslos zu betreibende Wissenschaft.
Bei Politik geht es immer auch um Gefühle. Die Frage ist nur, wie wir mit dieser
Einsicht umgehen.
Meine Ausgangsbeobachtung lautet nun, dass unsere demokratische Kultur ein sehr
ambivalentes Verhältnis zu politischen Emotionen hat. Ich will diese komplexe
Debatte ganz kurz referieren, indem ich zwischen republikanischen und liberalen
Demokratievorstellungen unterscheide. Diese Begriffe sind hier wohlgemerkt nicht
parteipolitisch gemeint: Vielmehr handelt es sich hier um zwei verschiedene Sets an
politischen Grundintuitionen, die sich idealtypisch gegenüberstellen lassen.
Eine erste demokratietheoretische Konzeption, der Republikanismus, geht mit
Aristoteles davon aus, dass der Mensch von Natur aus auf ein soziales Miteinander
angelegt ist. Aus dieser Sicht stellt die Politik nicht nur ein Mittel zum Zweck dar,
sondern so etwas wie einen Selbstzweck: Wir interessieren uns nicht nur für die
Fragen des Gemeinwohls, weil wir müssen, sondern weil wir uns als Bürgerinnen
und Bürger, als citoyens, in einem starken Sinne verstehen. Nicht erst seit JeanJacques Rousseau ist für diese Traditionslinie die Idee des Gemeinwohls und der res
publica entscheidend. Das Gemeinwesen kann viel vom Einzelnen verlangen, durch
Steuern, eine allgemeine Wehrpflicht, eine hohe Regelungsdichte – aber umgekehrt
kann auch der Bürger und die Bürgerin ein umfangreiches Recht auf politische
Mitbestimmung geltend machen. Dies bedeutet aber auch: Der oder die Einzelne
kann sich nicht einfach auf seine Privatsphäre zurückziehen. Hier wird sozusagen
der ganze Mensch gefordert – mit seinen Gefühlen.
Republikanisch geprägte Länder wie Frankreich oder die Schweiz zeigen, dass
politische Emotionen hier ganz selbstverständlich sind. Es geht, im Falle Frankreichs,
eben nicht nur um abstrakte liberté (Freiheit) oder rechtliche égalité (Gleichheit),
sondern auch um fraternité (Bürgerlichkeit). Und auch den Eidgenossen ist die
Staatsangehörigkeit nicht nur eine beliebige Mitgliedschaft in einem Service-Club,
sondern ein teures Privileg, verbunden mit emotional verteidigten Rechten und
Pflichten. Ein gewisser Hang zur ästhetischen Ausgestaltung von Politik ist nicht
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untypisch für diese Traditionslinie: In Märschen, unter Triumphbögen und Flaggen
werden hier politische Emotionen gepflegt.
Der liberalen Tradition hingegen ist diese republikanische Affinität zu politischen
Gefühlen nicht ganz geheuer. Aus liberaler Sicht stellt der Staat ein Mittel zum Zweck
dar; er soll unsere Rechte schützen und uns ansonsten nach Möglichkeit in Ruhe
lassen. Der Liberalismus betreibt daher eine systematische Privatisierung der Idee
des guten Lebens. Er schlägt damit zugleich vor, die Emotionen für die Sphäre der
Privatheit zu reservieren. Während der öffentliche Vernunftgebrauch die
konkurrierenden Interessen fair und klug aushandelt, sollten wir unsere
Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht unnötig mit Emotionen belästigen. Selbst zu
unserem Staat dürfen wir aus guten Gründen ein ganz rationales Verhältnis haben;
er legitimiert sich durch Leistungen und muss nicht geliebt werden. Aus liberaler
Sicht ist daher auch die Moralisierung von Politik gefährlich. Gerade unter
Bedingungen eines weltanschaulichen Pluralismus ist es aus liberaler Sicht am
besten, sich auf möglichst neutrale und emotionslos durchgesetzte Spielregeln zu
einigen und die Leidenschaften aus der Politik fernzuhalten.
Nun sind die westlichen Demokratien natürlich von beiden Traditionen geprägt. In
keinem Land hat sich eine der beiden ideengeschichtlichen Traditionen in Reinform
durchgesetzt. Auch und gerade in Deutschland sind beide Traditionen stark
verankert. Und dies zeigt sich auch in unserer Ambivalenz gegenüber Emotionen in
der Politik: Einerseits wünschen wir uns Politiker, die die Herzen ansprechen,
Gefühle zeigen und Gefühle mobilisieren können. In diesem Fall sprechen wir positiv
von politischer „Leidenschaft“ oder „emotionalen Reden“. Politikerinnen werden dann
dafür bewundert, dass sie „authentisch“ sind und auch mal eine öffentliche Träne
zeigen oder mal so richtig aus der Haut fahren. Nicht zufällig verbreiten sich ja auch
Wutreden von Politikern, ob sie tatsächlich spontan sind oder doch inszeniert muss
man offen lassen, oft schnell im Internet.
Andererseits kann aber gerade diese Emotionalität den Politikern auch schnell zum
Verhängnis werden. Zahllos sind in unserer politischen Öffentlichkeit die Appelle an
den klaren Verstand, den kühlen Kopf, die ruhige Hand oder die starken Nerven. Vor
allem Politikerinnen müssen gegen das Stereotyp der emotional unkontrollierten Frau
ankämpfen. Für sie sind politische Gefühle noch ambivalenter, ja gefährlicher als für
Männer.
Als beispielsweise Hilary Clinton bei einem Wahlkampfauftritt feuchte Augen bekam,
musste sie massiv dem Eindruck entgegenarbeiten, eine hysterische Heulsuse zu
sein, die man besser nicht mit dem weltweit größten Atomwaffenarsenal alleine
lassen sollte.
Der ideengeschichtliche Hintergrund macht folglich erklärbar, warum wir immer
wieder zwei sich eigentlich widersprechende Anforderungen an Politik stellen. Das
führt uns zu der Frage: Wann sind politische Gefühle demokratisch? Anders
formuliert: Lässt sich vor dem Hintergrund dieser Ambivalenz sinnvoll zwischen
demokratischen und nicht-demokratischen, demokratieförderlichen und
demokratieschädigenden politischen Emotionen unterscheiden?
Nach meinem Eindruck gibt es diesbezüglich im Wesentlichen hier drei Optionen.
Der erste Vorschlag lautet, es liege am Inhalt der Emotionen. Aus dieser Sicht wären
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Gefühle wie Liebe, Solidarität, Mitgefühl etc. demokratiefördernd, Neid, Wut, Hass
etc. hingegen demokratiegefährdend. Dieser Vorschlag scheint auf den ersten Blick
sehr plausibel: In der Tat lebten die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts in
erster Linie von der Produktion und Lenkung von Hass. Auch in Ländern wie
Russland, der Türkei oder dem Iran scheint uns ja die politische Förderung von Hass
problematisch: Hetzende Politiker können a priori nie demokratische Politiker sein.
Aber paradoxerweise – dies spricht wiederum gegen diesen Vorschlag – produzieren
diese Regime zugleich Liebe zu ihren Führern, zum Vaterland, zum eigenen Volk
oder zur Partei. Es stimmt leider nicht, dass Liebe a priori ein demokratisches Gefühl
ist. Selbst unser Mitgefühl kann missbraucht werden. Deutlich wird dies vielleicht,
wenn man die systematische Produktion von Selbstmitleid und Opferrollen in genuin
antidemokratischen Regimen analysiert: Alle Angriffskriege, Umsturzversuche,
Annexionen und Interventionen präsentieren sich dort als Resultate eines
fürsorgenden Mitleids mit wehrlosen Opfern. Selbst ein völlig plausibel erscheinender
Appell an das Mitgefühl kann sich als Versuch erweisen, kritisches Nachfragen durch
Moralisierung zu unterdrücken und jede abweichende Meinung als inhuman zu
disqualifizieren. An den Inhalten kann man folglich die demokratische Qualität von
Gefühlen nicht festmachen, auch wenn man sich vermutlich schnell darauf einigen
könnte, dass sich Demokratie und Hass (anders als Demokratie und Empörung oder
Wut) ausschließen.
Ein zweiter Vorschlag zielt daher auf den Ursprung der Gefühle: Sind die politischen
Emotionen authentisch oder lediglich das Ergebnis manipulativer Emotionalisierung
durch Eliten? Dann wären die authentischen Gefühle, die von unten in den
politischen Prozess eingespeist werden, demokratisch; die inszenierten Gefühle von
oben hingegen anti-demokratisch. Auch dieser Vorschlag scheint zunächst plausibel:
Die Produktion von Gefühlen scheint irgendwie a priori manipulativ und
antidemokratisch. Dies gilt ganz besonders für das Schüren von Angst. Auch hier
bieten sich die totalitären Regime als Kontrastfolie an. Besonders der Antisemitismus
ist ja ein Wahnsystem, das von der Angst vor einer unsichtbaren Verschwörung lebt:
Dass man die jüdische Weltverschwörung nicht finden kann, belegt dann nur, wie
unglaublich hinterhältig sie organisiert ist. Auf solche absurden Ideen kann man aber
kaum spontan und einfach von sich aus kommen.
Aber lässt sich die manipulativ geschürte Angst von der authentischen Wut der
Bürger tatsächlich klar abgrenzen? Bei genauerer Betrachtung ist auch die Kategorie
des authentischen Gefühls fragwürdig, auch wenn aus subjektiver Sicht Gefühle
natürlich eine enorme Evidenz haben. Gefühle sind immer schon soziale
Phänomene. Der Mensch fühlt nie allein; er erlernt das fühlen, ahmt die Emotionen
der Eltern nach, bewegt sich immer in emotionalen Netzwerken. „Ursprüngliche“,
„authentische oder „echte“ Gefühle gibt es dann vielleicht so wenig wie es eine
private Sprache geben kann.
Es ist also keineswegs so, dass wir als Bürgerinnen und Bürger zunächst
authentische Gefühle haben und diese dann – in einem zweiten Schritt – von der
Gesellschaft oder der Politik manipuliert werden. Ein politischer Einfluss auf unsere
Gefühlswelt ist nie auszuschließen und in irgendeiner Form immer anzunehmen.
Bevölkerung und Eliten verhalten sich in diesem Spiel eher wie Tänzer zueinander,
die sich gegenseitig leiten und sehr sensibel aufeinander reagieren.
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Der dritte Vorschlag lautet daher – und dieser scheint mir am sinnvollsten – nach
dem Status der Gefühle im Prozess der demokratischen Auseinandersetzung zu
fragen. Entscheidend wäre dann, ob Gefühle hinterfragt und auf ihre Plausibilität hin
geprüft werden. Dogmatische Gefühle sind undemokratisch; hinterfragbare Gefühle
können indes einen wichtigen Ausgangspunkt für eine dann auch argumentative
demokratische Willensbildung darstellen. Wer sich auf den Standpunkt zurückzieht,
dass er Recht habe, nur weil er verletzte Gefühle hat, unterminiert die Demokratie.
Dann prallen nämlich nur noch Gefühle auf Gefühle. An die Stelle der Debatte tritt die
Schreierei.
Wer jedoch Gefühle artikuliert und bereit ist, über deren Angemessenheit Rede und
Antwort zu stehen, der kann die demokratische Auseinandersetzung durchaus
beleben. Er muss dann erklären aber, wovor genau er Angst hat, warum genau er
empört ist, was im Einzelnen die Quellen seiner Wut sind. Eine solche rationale
Prüfung der Gefühle ist nicht immer angenehm; sie darf auch nicht im
paternalistischen Ton einer pädagogisierenden Besserwisserei gefordert werden, die
insinuiert, alle Befürchtungen seien ohnehin infantil. Aber sie muss mit der
Möglichkeit rechnen, dass sich Gefühle als „falsch“ erweisen.
Damit komme ich zu meinem dritten Punkt: Erleben wir tatsächlich eine Zunahme der
Emotionalisierung, einen Prozess, in dem genau dies geschieht: Der Ersatz von
Argumenten durch Gefühlen? Die Zunahme von Hassmails scheint einen solchen
Trend zu belegen. Aber auch hier kann man fragen, ob hier womöglich lediglich ein
Effekt des Sichtbar-Werdens zu beobachten ist? Womöglich war an den
Stammtischen der 1950er-Jahre noch viel mehr rassistisches und sexistisches,
xenophobes und homophobes Geschwätz zu hören, das dann aber, zusammen mit
dem Zigarrenqualm, aus der Dorfschenke verschwand, sobald die Fenster geöffnet
wurden. Heute indes wird der mentale Müll digital verbreitet und gespeichert. Auch
ein Rückblick auf die emotionalisierten Jahre der Studentenbewegung könnte den
Eindruck erwecken, wir hätten die Hochzeiten der politischen Emotionalisierung
eigentlich hinter uns. Können wir also Entwarnung geben? Ich will Ihnen zwei
mögliche Gründe nennen, warum das aus meiner Sicht verfrüht wäre.
Erstens begünstigt der Medienwandel die Emotionalisierung. Es ist ja unstrittig, dass
sich der politische Diskurs von Texten und Briefen (man denke an die Federalist
Papers) zu Bildern und Tweets verschiebt. Im 18. Jahrhundert wurde in Manifesten,
Pamphleten, Programmen und langen Reden um Politik gerungen. Heute prägt eine
Bilderflut und die Verkürzung von Texten die politische Landschaft. Die
Parlamentsdebatten sind in Talk-Shows abgewandert. Die empirisch nachweisbaren
Prozesse der Boulevardisierung sind hier sowohl Motor als auch Resultat der
Entwicklung. Donald Trump ist daher kein bloßer Betriebsunfall, sondern Anzeichen
eines größeren Trends.
Zweitens ist die Emotionalisierung auch Ergebnis einer Überforderung mit
Komplexität. Wenn eine Situation beinahe unüberschaubar komplex wird, reagieren
wir zwangsläufig intuitiv und lassen uns dabei von Emotionen leiten. Ist die Stellung
im Schach beinahe unüberschaubar komplex und der Zeitdruck groß, werden wir
eventuell einen intuitiven Zug machen, der nicht mehr kognitiv, sondern eher
emotional begründet ist. Typisch für solche kognitiven Shortcuts sind auch Formen
des kognitiven Outsourcing: Man lässt dann echte oder imaginierte Andere für sich
entscheiden. So werden beispielsweise im Film „Ein Fisch namens Wanda“
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moralische Dilemmata stets mit der Frage beantwortet: Was würde Platon tun? Im
Moment der kognitiven Überlastung springt das Gehirn dann in eine Art
Automatikmodus und hält einfach jene Entscheidung für moralisch, die man einem
echten oder imaginierten Experten zuschreibt. De facto operiert man dann aber mit
einem Bauchgefühl, einer Intuition.
Da nun aber die Komplexität immer weiter zunimmt, ist mit immer mehr Shortcuts
und immer mehr emotional begründeten Entscheidungen zu rechnen. Angela
Merkels berühmter Satz aus dem Streitgespräch mit Peer Steinbrück lautete: „Sie
kennen mich.“ Dieser Satz bezeichnet exakt einen cognitive shortcut: Merkel sprach
die emotionale Ebene des Vertrauens an und schien den Wählern zu sagen: Die
Welt ist komplex, bei mir haben Sie ein gutes Gefühl, ich mache das für Sie, wählen
Sie den emotionalen cognitive shortcut und machen Sie sich keine Sorgen. Auch der
Satz „Wir schaffen das!“ sollte so funktionieren.
Die schnelle, emotionale Reduktion von Komplexität finden wir auch bei TrumpWählern, die gar nicht wissen wollen, wie genau Trump seine Versprechungen
einzulösen gedenkt. Und auch im Falle des BREXIT-Votums ließe sich zeigen, dass
hier im Angesicht der enormen Komplexität der Frage vor allem die emotionale
Ebene – entgegen vieler Fakten – ausschlaggebend war.
Boris Johnson arbeitete virtuos mit historischen Analogien, die eine solche
emotionale Verkürzung leisteten. In seiner letzten Rede endete er mit dem
Versprechen, der Tag der Abstimmung könne zum britischen Independence Day
werden. Dass wir uns aber nicht mehr im Jahre 1776 befinden und die globale Welt
gerade durch Interdependenz geprägt ist, brauchte die Wähler dann nicht mehr zu
interessieren. Was die BREXIT-Wähler dann eigentlich wählten war wohl: weniger
Komplexität, das Versprechen, übersichtliche Verhältnisse, „Kontrolle“ herzustellen.
Die Konsequenz, die sich aus diesen beiden Beobachtungen ergibt, ist nicht schwer
zu ziehenGerade weil politische Eliten in expertokratischen Verfahren sehr komplexe
Entscheidungen treffen, besteht die Gefahr, dass der Input der Bürgerinnen und
Bürger in der Medienwelt eher in emotionalen, impulsiven Äußerungen bestehen
wird. Trump, BREXIT, auch die emotional geführte Migrationsdebatte – diese
Phänomene sind wohl eher Vorboten, und keine Ausnahmen.
Was kann man tun? Lässt sich die Erosion des demokratischen Diskurses, das
Umkippen der Debatte in einen Schreiwettbewerb, wie wir es derzeit in den USA
erleben, irgendwie aufhalten? Ich sehe im Wesentlichen drei Handlungsfelder. Das
erste ist wenig überraschend, das letzte vielleicht sehr.
Am naheliegensten ist natürlich der Ruf nach Bildung. Dass diese Idee so
einleuchtend ist, so trivial und wohlfeil erscheint, muss noch nicht gegen sie
sprechen. Mehr politische Bildung zu fordern ist natürlich a priori richtig: Würden Sie
politische Bildung nicht für wichtig erachten, würden Sie auch nicht zu den Hörern
der SWR 2 AULA gehören. Mir scheint es vor allem bedeutsam, über die Techniken
und Mechanismen der Emotionalisierung zu informieren.
Hierzu würde z.B. gehören: die Analysetechniken, die wir aus der sogenannten
Framing-Theorie kennen, im Unterricht thematisieren. Aus meiner Sicht sollte –
sofern dies nicht ohnehin geschieht – in Schulen über die Mittel der politischen
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Inszenierung informiert werden. Wie im Falle der Rhetorik gilt auch hier: Der beste
Schutz vor der Überrumpelung entsteht durch eine Kenntnis der Techniken der
Überrumpelung. Die Erkenntnisse der Hirn- und Emotionsforschung sollten
Schülerinnen und Schülern heute zumindest in Grundzügen bekannt sein. Wenn
man weiß, was physiologisch und mental geschieht, wenn das Rückenmark die
Steuerung übernimmt, kann man diese Effekte leichter kontrollieren.
Der zweite Punkt betrifft nun das institutionelle Gefüge der politischen Öffentlichkeit.
Wir wissen aus der Deliberationsforschung, also der Beteiligungsforschung, dass die
Rahmenbedingen von Debatten für die Produktivität dieser Debatten sehr wichtig
sind. Deutlich wird dies, wenn politische Talk-Sendungen im öffentlich-rechtlichen
Fernsehen mit Saalpublikum stattfinden. Dieses Setting führt in der Regel dazu, dass
die Gäste applausheischend die Phrasendresch-Maschine anwerfen. In der BBC und
im britisch-amerikanischen Format „Intelligence squared“ gibt es bessere Vorbilder.
Hier werden Argumente in festen Strukturen gegeneinandergehalten. Zur Diskussion
stehen explizite Behauptungen, für die – ungestört und ohne Unterbrechung –
plädiert werden kann. Diese wenigen Hinweise sollen nur andeuten, welche
Spielräume es hier gibt. Politische Emotionen ließen sich so in einer
versachlichenden Auseinandersetzung auf ihre Plausibilität hin prüfen.
Drittens aber, und dieser Vorschlag mag überraschen, scheint es wichtig, dass der
demokratische Rechtstaat auch versteht, dass er gewisse Bereiche politischer
Emotionalisierung nicht einfach der Ökonomie überlassen darf. Denn neben den
politischen Emotionen gibt es auch die ökonomischen Emotionen, hervorgerufen
beispielsweise durch die Angst vor dem sozialen Abstieg. Es scheint mir schlicht
abwegig davon auszugehen, die Bürgerinnen und Bürger könnten durch andere
Player beliebig emotionalisiert werden und dann in der Sphäre der Politik plötzlich zu
rationalen Akteuren werden, die besonnen nach der besten Lösung suchen. Auch in
dieser Hinsicht scheinen mir das BREXIT-Votum und der Erfolg Donald Trumps
lehrreich: In beiden Fällen ist die Quelle der Wut nämlich auch (und vielleicht vor
allem) die ökonomische und soziale Verunsicherung. Es ist oft eine ökonomische
Verängstigung, die den kognitiven Shortcut in der Politik auslöst.
Dieser Konflikt zwischen Politik und Ökonomie lässt sich auch in der
Auseinandersetzung zwischen der Bundesrepublik und Facebook beobachten. Die
Verbreitung von Hassbotschaften und Gewaltaufrufen via Facebook nahm seit dem
Herbst 2015 ein solches Ausmaß an, dass – und dies allein schon bemerkenswert –
eine gemeinsame Arbeitsgruppe gebildet wurde. Dass Justizminister Heiko Maas im
Juli 2016 beim Internetgiganten schriftlich um die Umsetzung von Zusagen bitten
musste statt einfach die Einhaltung von geltenden Gesetzen zu erzwingen, deutet
auf eine fragwürdige Verschiebung der Gewichte hin. Ein emotionspolitisch
selbstbewusster Staat sollte sich nicht scheuen, als Verteidiger zivilisatorischer
Mindeststandards aufzutreten und die Grenzen der Meinungsfreiheit klar zu
markieren: Emotionen legitimieren keine Verleumdung, keine Beleidigung und auch
keine üble Nachrede.
In eine Zeit, in der, wie in Oxford 1958, eine Hand in der Hosentasche als
Präsidentenbeleidigung aufgefasst wurde, kommen wir wohl nicht zurück. Doch
momentan scheint alles hilfreich, was der Erosion des demokratischen Diskurses
durch Emotionalisierung zumindest bremsend entgegenwirkt.
9
*****
Der Vortrag wurde am 17. Juli 2016 auf Einladung der Landeszentrale für politische
Bildung in Bad Urach gehalten. Er basiert auf Überlegungen, die in folgenden
Publikationen ausführlicher begründet werden:
„Politische Gefühle – Katalysator des Diskurses oder Ergebnis postdemokratischer
Emotionalisierung? Die Perspektive des dynamischen Republikanismus“, in: Korte,
Karl, Rudolf (Hrsg.), Emotionen und Politik: Begründungen, Konzeptionen und
Praxisfelder einer politikwissenschaftlichen Emotionsforschung, Baden-Baden
(Nomos) 2015, S. 49-65.
„Gefühle ins Recht setzen: Wann sind politische Emotionen (noch) demokratisch?“,
in: ZPol, Bd. 23 (2013)/ 4, S. 575-583.
„Politik der Gefühle: Zur Rolle von Emotionen in der Demokratie“, in: APuZ 3233/2013, S. 3-11. (mit Gary S. Schaal),
*****
Felix Heidenreich studierte Philosophie, Politikwissenschaft und mittleren und
neueren Geschichte in Heidelberg, Paris und Berlin und war anschließend an der
Universitäten Paris/Nanterre und an der Sorbonne tätig. Von 2001 bis 2003 arbeitete
er am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg, seit 2004 ist er
Lehrbeauftragter an der Universität Stuttgart. Seine Arbeitsschwerpunkte sind:
Politische Theorie, Kulturphilosophie, Kulturpolitik und Wirtschaftsethik.
Bücher:
– Einführung in die Politischen Theorien der Moderne (zus. Mit Gary S. Schall) 3.
vollst. überarb. und erw. Auflage, Opladen (UTB), 2016.
– Wirtschaftsethik zur Einführung, Junius-Verlag. 2012.
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