taz. die tageszeitung vom 01.11.2016

Leonard Cohen: Vom Trümmerberg herab
Foto oben: laif
Das neue Album des 82-Jährigen und ein Gedankensprung zu Leberwurstbrot ▶ Seite 15
AUSGABE BERLIN | NR. 11162 | 44. WOCHE | 38. JAHRGANG
DIENSTAG, 1. NOVEMBER 2016 | WWW.TAZ.DE
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Rettet die Republik
„Cumhuriyet’i kurtarın“ lässt sich auf zwei Arten übersetzen: „Rettet die Cumhuriyet“, aber auch „Rettet die Republik“: MitarbeiterInnen der taz am Montag in der Redaktion Foto: Karsten Thielker
TÜRKEI Polizei nimmt Chefredakteur und weitere Mitarbeiter der Zeitung
„Cumhuriyet“ fest. Die taz zeigt sich solidarisch mit der Redaktion des
regierungskritischen Blattes ▶ SEITE 2, 3
KOMMENTAR VON GEORG LÖWISCH
Was Pressefreiheit bedeutet
W
ir kommen in Deutschland gerne mal auf
die Pressefreiheit zu sprechen. Auf Symposien und in Leitartikeln wird über sie
nachgedacht. Ob sie nicht tangiert wird, wenn Behörden mauern. Ob sie gefährdet ist, wenn immer
weniger Rechercheure immer mehr PR-Leuten gegenüberstehen. Ob sie nicht wackelt, die Pressefreiheit, wenn ein Teil des Publikums den Medien
pauschal die Glaubwürdigkeit abspricht. Wichtige
Fragen. Aber was Pressefreiheit wirklich bedeutet,
davon haben wir am Ende keine Ahnung.
Was Pressefreiheit wirklich bedeutet, erleben
jene, denen sie entrissen wird. So wie Akın Atalay, der Verlagschef von Cumhuriyet, in der Türkei die auflagenstärkste jener Zeitungen, die Recep
Tayyip Erdoğan noch kritisieren. Atalay hat am
Montagmorgen erfahren, dass sein Haus durchsucht wurde. Er ist auf Reisen im Ausland, seine
Familie befindet sich dagegen in Istanbul. Der
Cumhuriyet-Chefredakteur Murat Sabuncu: festgenommen. Dessen Vorgänger Can Dündar: Haftbefehl erlassen. Zwölf weitere Kollegen: in Haft.
Die Staatsanwaltschaft wirft Cumhuriyet vor, die
PKK und die Gülen-Bewegung zu unterstützen.
Anders gesagt: Erdoğan terrorisiert die Medien
unter dem Vorwand, den Terror zu bekämpfen.
Auch gegen Akın Atalay, den Cumhuriyet-Verlagschef, wurde Haftbefehl erlassen. Was Pressefreiheit bedeutet – er weiß es. Deshalb zitieren
wir, was er uns gesagt hat: „Die Anschuldigungen sind so absurd, dass wir nur sprachlos sind.
Jeder weiß, dass es sich um Lügen handelt. Das
einzige Ziel der Regierung ist, Cumhuriyet komplett zu schließen. Es geht darum, alle kritischen
Stimmen in der Gesellschaft zum Schweigen zu
bringen. Wir rufen die ganze Welt zur Solidarität
mit Cumhuriyet und zum Widerstand gegen diese
Ungerechtigkeit auf.“
Am Montagmorgen in der Redaktionskonferenz der taz ging es auch um andere wichtige
Themen – um Rentenpolitik, um Biolandwirtschaft und deutsche Investitionen in China. Jeden Tag sortiert eine Zeitung nach ihrer eigenen
Logik Themen und Ereignisse. Aber der Putsch
gegen eine Zeitung, der wir uns verbunden fühlen, sprengt diese Logik. Man erahnt, was Pressefreiheit wirklich bedeutet. Das geht uns nahe.
Und deshalb titeln wir in dieser Ausgabe mit einem Zeichen der Solidarität, deshalb berichten
wir auf Seite 2 und 3.
„Es geht darum, alle kritischen
Stimmen in der Gesellschaft
zum Schweigen zu bringen“
Zwar hat Erdoğan in der Türkei schon über 160
Medien lahmgelegt, mehr als 120 Journalisten sitzen in Haft. Hürriyet, die auflagenstärkste Zeitung,
berichtet schon lange nicht mehr kritisch über die
Regierung, sondern wurde zu deren Sprachrohr.
Im Staatsfernsehen werden Karten einer Türkei in
den Grenzen des späten Osmanischen Reichs präsentiert. Die Presse ist in der Türkei schon lange
nicht mehr frei – so wie es eine Demokratie zum
Leben bräuchte. Aber viele mutige JournalistInnen schreiben noch. Was sie sehen, was sie denken, was ist. Für sie ist die Cumhuriyet ein Wahrzeichen. Sie ist, 1924 gegründet, die älteste Zeitung
des Landes. Sie will die Trennung von Staat und
Religion. Erdoğan will den Islam als Staatsreligion.
Cumhuriyet heißt übersetzt „Republik“. Die Türkei noch als solche zu bezeichnen, als Republik,
fällt immer schwerer. Aber um diese Zeitung muss
man kämpfen.
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02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Schwerpunkt
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
Pressefreiheit
Der türkische Staat geht gegen das letzte Oppositionsblatt vor. Journalisten von „Cumhuriyet“ sitzen hinter Gittern oder werden gesucht
MURAT SABUNCU
TURHAN GÜNAY
H I KMET ÇETI N KAYA
AYDI N ENGI N
GÜRAY ÖZ
HAKAN KARA
N EBI L ÖZGENTÜRK
MUSA KART
Chefredakteur der Zeitung
seit diesem Jahr,
festgenommen
Leitender Redakteur der
Literaturbeilage,
festgenommen
Autor seit exakt 50 Jahren
bei der Zeitung, festgenommen
Exchefredakteur der
Zeitung und Autor,
festgenommen
Autor und Vorstandsmitglied, festgenommen
Autor und Ex-Umweltredakteur, festgenommen
Autor und Vorstandsmitglied, gesucht, z.Zt.
im Ausland
Langjähriger Karikaturist
der Zeitung, festgenommen
Schwarzer Montag
„CUMHURIYET“ Schwerer Schlag gegen die wichtigste Oppositions-
zeitung: Chefredakteur und zwölf Mitarbeiter inhaftiert
VON JÜRGEN GOTTSCHLICH
BERLIN taz | Mit einem Angriff
auf die wichtigste Oppositionszeitung der Türkei, Cumhuriyet,
hat das Regime von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gestern begonnen, eine der letzten
Bastionen des freien Wortes zu
zerschlagen: Dreizehn wichtige
Mitarbeiter der Zeitung, darunter der Chefredakteur Murat Sabuncu, sind verhaftet worden.
Der Geschäftsführer Akin Atalay und der frühere Chefredakteur Can Dündar entgingen ihrer Festnahme nur, weil sie sich
im Ausland aufhalten. Gegen
Can Dündar ist ein förmlicher
Haftbefehl erlassen worden.
Die Polizei kam in den frühen
Morgenstunden. Aydin Engin,
75 Jahre alt, einer der bekanntesten Menschenrechtler des
Landes und Kolumnist bei Cumhuriyet, wurde um 6 Uhr abgeführt. Frühestens in fünf Tagen
darf ihn – ebenso wie die anderen Festgenommenen – ein Anwalt besuchen. Die CumhuriyetMitarbeiter können insgesamt
30 Tage in Polizeihaft festgehalten werden, bevor ein Richter über ihre weitere Haft entscheidet.
Einen weiteren bekannten
Kolumnisten, Kadri Gürsel, der
auch Vorstandsmitglied des Internationalen Presseinstituts
(IPI) ist, trafen die Polizisten
am Morgen in seiner Wohnung
nicht an. Er wird nun ebenfalls
mit Haftbefehl gesucht.
Vor dem Verlagsgebäude beobachteten am Montag Hunderte Unterstützer der Zeitung,
wie immer neue Mitarbeiter von
Cumhuriyet abgeführt wurden.
Für den Abend riefen sämtliche
Journalistenorganisationen, der
linke Gewerkschaftsdachverband DISK und die Vorsitzen-
den der oppositionellen CHP
und HDP, zu einer Demonstration für Cumhuriyet auf.
„Wenn schon Cumhuriyet angegriffen wird“, sagte der altgediente türkische Journalist Oktay Ekci angesichts dieser Entwicklung, „kann sich niemand
mehr sicher fühlen.“ Hasan Cemal, ein früherer Chefredakteur der Cumhuriyet und weithin geachteter Publizist, schrieb
am Montag: „Man braucht nicht
mehr drum herumzureden. Das
Vorgehen gegen die Cumhuriyet
ist ein tödlicher Schlag gegen die
Freiheit. Das Wort ist am Ende.
Mit diesem Schritt Erdoğans
Derzeit sind etwa 130
Journalisten in Haft,
600 verloren ihre
Arbeitserlaubnis
sind Freiheit und Recht vernichtet worden. Der zivile Putsch
vertieft sich.“
Allein die Zahlen sprechen
dafür, dass er recht hat: Rund
200 Journalisten sind seit dem
Putsch am 15. Juli vorübergehend festgenommen worden,
rund 130 sitzen in Haft. Mehr
als 600 Journalisten wurde ihre
Pressekarte und damit ihre Arbeitsberechtigung entzogen.
Insgesamt 168 Medienorganisationen wurden per Notstandsdekret geschlossen.
Aber die Vernichtung der
Freiheit beschränkt sich längst
nicht auf Journalisten und die
freie Meinungsäußerung. Auch
eine oppositionelle politische
Tätigkeit ist kaum noch möglich.
Während die Mitarbeiter von
Cumhuriyet verhaftet wurden,
geriet die kurdische Oppositionspartei HDP ebenfalls ver-
stärkt unter Druck: Wie sie am
Montag bekannt gab, sind in den
letzten Tagen 700 wichtige Parteimitglieder verhaftet worden,
außerdem weitere 27 HDP-Bürgermeister.
Der Vizevorsitzende der Republikanischen
Volkspartei
CHP, Bülent Tezcan, überlebte
am Sonntag ein Attentat. Er
wurde durch Schüsse am Bein
verletzt. Wenige Tage zuvor waren die beiden Bürgermeister
der größten kurdischen Stadt,
Gültan Kisanak und Firat Anli,
verhaftet worden. Der Haftrichter hat der Untersuchungshaft
bereits zugestimmt.
Begründet werden all diese
Verhaftungen – egal ob bei der
Cumhuriyet oder in Diyarbakır
– mit der angeblichen Mitgliedschaft oder Unterstützung einer
Terrororganisation, wahlweise
der islamischen Gülen-Bewegung oder der kurdischen PKKGuerilla. Dabei spielt es längst
keine Rolle mehr, ob es tatsächlich eine Verbindung zu einer
dieser Organisationen gibt. Es
reicht völlig aus, als Kritiker der
AKP oder Präsident Erdoğans zu
gelten.
Nachdem der Chef der im
Parlament vertretenen rechtsradikal-nationalistischen MHP,
Devlet Bahceli, vor gut einer Woche bekannt gegeben hat, dass
er grundsätzlich eine Volksbefragung für ein neues Grundgesetz unterstützen würde, ist
das Ende der heutigen Türkei
absehbar.
Noch in diesem Jahr will die
AKP ihren Entwurf für eine autoritäre Präsidialverfassung im
Parlament einbringen. Das Referendum soll dann in den ersten
Monaten des kommenden Jahres stattfinden. Freiheit und Demokratie in der Türkei wären abgeschafft.
„Dieses Vorgehen ist nicht tolerabel“
REAKTIONEN
Europaweit sorgen die Festnahmen bei „Cumhuriyet“ für Empörung. EU-Präsident Martin Schulz: „Da ist die Demokratie am Ende“
BERLIN taz | Mit scharfen Wor-
ten reagierten am Montag zahlreiche Politiker und Verbände
auch außerhalb der Türkei auf
die Festnahme weiterer türkischer Journalisten. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD),
sagte der taz: „Das Vorgehen türkischer Behörden gegen Cumhuriyet und andere kritische Medien ist nicht tolerabel. Wo Pressefreiheit beschnitten wird und
Journalisten in Angst leben, da
ist die Demokratie am Ende.“
Auch der Generalsekretär des
Europarats, Thorbjørn Jagland,
kritisierte das Vorgehen der türkischen Behörden scharf. „Es ist
höchst fraglich, ob die Razzia gegen Cumhuriyet als angemessene Maßnahme gerechtfertigt
werden kann, selbst unter dem
Ausnahmezustand“, sagte Jagland. Er äußerte sich auch besorgt über die Schließung von
15 kurdischen Medien. Die Türkei riskiere eine Flut an Fällen
vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, wenn
der Ausnahmezustand, der nach
dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli verhängt wurde,
zu exzessiv genutzt werde, sagte
Jagland. Er verlangte eine sorgfältige Unterscheidung zwischen gewalttätigen oder terroristischen Handlungen und
starker Kritik an der Regierung.
Regierungssprecher
Steffen Seibert sagte am Montag in
Berlin: „Die Bundesregierung
hat wiederholt – und das will
ich hier auch noch einmal tun
– ihrer Sorge Ausdruck gege-
ben über das Vorgehen gegen
Presse in der Türkei und gegen
Journalisten in der Türkei.“ Die
Bundeskanzlerin sei der Auffassung, dass Pressefreiheit nicht
nur aus der Abwesenheit staatlicher Einflussnahme und Zensur
bestehe: „Pressefreiheit umfasst
auch die Freiheit, Missstände
aufdecken und über sie berichten zu können, ohne Nachteile
oder gar Gefahren befürchten
zu müssen.“
SPD-Generalsekretärin Katarina Barley sagte, sie mache sich
große Sorgen um die türkische
Demokratie. Die Festnahmen
bezeichnete sie als „Teil einer bewussten Aushöhlung des türkischen Rechtsstaats“, die schon
seit Monaten in Gang sei..
Zahlreiche Journalistenorga­
nisationen meldeten sich am
Montag ebenfalls zu Wort. Der
Geschäftsführer der Organisation Reporter ohne Grenzen,
Christian Mihr, sagte der taz:
„Mit den Maßnahmen will die
türkische Regierung ein klares Zeichen setzen: Sie hat kein
Interesse an einer freien und
unabhängigen Berichterstattung.“ Man merke in allen Gesprächen mit türkischen Kollegen, so Mihr, dass Journalisten
inzwischen dreimal überlegten,
was sie noch sagen könnten und
was nicht.
Der Türkeikorrespondent von
Reporter ohne Grenzen, Erol
Önderoğlu, war wegen angeblicher Propaganda bereits verhaftet worden. Der Prozess gegen ihn beginnt am 8. November.
MARTIN KAUL
Schwerpunkt
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
Pressefreiheit
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Die Cumhüriyet galt als letzte Bastion freier Presse in der Türkei. An
jedem Wort, das die Wahrheit zeigte, hat die Regierung sich gestört
AKI N ATALAY
BÜLENT UTKU
MUSTAFA KEMAL
GÜNGÖR
ÖN DER CELI K
BÜLENT YEN ER
ORHAN ERI NÇ
KADRI GÜRSEL
GÜNSELI ÖZALTAY
Vorstandsvorsitzender
und Ex-Justitiar, gesucht,
z. Zt. im Ausland
Vorstandsmitglied und
Justitiar der Zeitung,
festgenommen
Vorstandsmitglied und
Justitiar der Zeitung,
festgenommen
Vorstandsmitglied der
Zeitung, festgenommen
Ehemaliges Vorstands­
mitglied der Zeitung,
festgenommen
Chef der Genossenschaft,
aus Altersgründen nicht
in Haft
Berater der Chefredak­
tion, festgenommen
Prokuristin, festgenommen. Zudem gesucht:
Müslüm Özisik, Nail Inan
Alle Fotos: „Cumhuriyet“
„Lasst uns einfach unsere Arbeit machen“
DIE ZEITUNG Ein Journalist der „Cumhuriyet“
über die Situation in seiner Redaktion
nach dem Putschversuch vom Juli – und
über das Festhalten an der Wahrheit
VON ALI ÇELIKKAN
BERLIN taz | Als nach dem
Putschversuch im vergangenen
Juli der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, sind wir als die
jungen Mitarbeiter der Zeitung
bis zum letzten Druckschluss
in der Redaktion geblieben. Wir
haben Bier getrunken und über
unsere Zukunft nachgedacht.
„Nun haben Sie die Macht, alles
zu tun, was sie wollen. Sie können morgen kommen und die
Redaktion grundlos schließen“,
sagte einer von uns. „Ja, aber was
können wir schon tun? Wo wollen wir schon hin?“, sagte ein anderer.
Statt zu fragen, wie es der
Pressefreiheit in der Türkei gehen wird, falls diese Zeitung ge-
Sie alle wurden
am Montag wie
Terroristen behandelt, vor den Augen
ihrer Familien
schlossen wird, dachten wir –
vielleicht sehr egoistisch – darüber nach, was aus uns werden
sollte. Cumhuriyet war sowohl
für die freie Presse als auch für
uns die letzte Bastion in der Türkei. Wir waren uns alle einig: „Es
gibt in der Türkei keinen anderen Ort als diesen, an dem wir
arbeiten können.“
Und Aydin Engin, der
am Montag als einer von 13
Cumhuri­yet-Journalisten festgenommen wurde, hatte uns
damals ein bisschen Hoffnung
gemacht: „Ich habe vier Putsche
miterlebt, macht euch keine Sorgen. Lasst uns einfach unsere Arbeit machen.“
In den folgenden drei Monaten wurden Hunderte Medien
geschlossen, viele Journalisten haben ihre Arbeit verloren.
Während eine Regierung, die
Tag und Nacht von „Demokratie“ spricht, alles Demokratische
im Land zunichte gemacht hat,
ist die Türkei in eine Einbahnstraße geraten. Unsere Zeitung
hat jedes Wort gedruckt, das versucht hat, die Wahrheit zu erzählen – und an jedem Wort haben
sie sich gestört.
Das Regierungspresseorgan
Sabah beschrieb die Ereignisse
vom Montag so: „Es wurde bekannt, dass die Operation im Zusammenhang mit Ermittlungen
steht, die im August begannen
und dem Verdacht nachgehen,
dass die Tageszeitung Cumhuriyet sich im Namen der Terrororganisationen FETÖ (Anm. d. Red.:
Gülen-Bewegung) und PKK strafbar gemacht hat. Zu dem heißt
es, dass es belastendes Beweismaterial gibt.“
Soll das ein Witz sein? Wäre
diese Situation nicht so grausam, wir würden am liebsten
darüber lachen. Welches „belastende Beweismaterial“ kann
die Cumhuriyet sowohl mit FETÖ
als auch mit der PKK verbinden?
Natürlich gibt es die, die jetzt
lachen, die denken, wir seien
Volksverräter, die wollen, dass
wir hingerichtet werden. In dieser von Erdoğans Hand geteilten
Gesellschaft gibt es inzwischen
Gruppen, die völlig fern von der
Realität sind, die toben und in
sozialen Netzwerken zur Gewalt
aufrufen.
Gerade habe ich ein Bild vor
mir, das Menschen zeigt, die
ihr Leben der freien Presse gewidmet haben – jetzt sind sie
in Begleitung von Polizisten.
Murat Sabuncu etwa. In dieser
schwierigen Zeit ist er sehr stolz
auf seinem Posten als Chefredakteur der Cumhuriyet. Er ist
in Untersuchungshaft. Hikmet
Çetinkaya schreibt seit Jahrzehnten kritisch über die Gülenisten. Er ist Autor zahlreicher
Bücher über die Beziehungen
zwischen AKP-Regierung und
Fettullah Gülen. Nun ist er wegen des Verdachts auf Unterstützung der Gülen-Bewegung
in Untersuchungshaft.
Sie alle wurden am Montag
wie Terroristen behandelt, vor
den Augen ihrer Familien. Doch
die Welt schweigt nicht mehr im
Angesicht dieser mittelalterlichen Justiz. Eines der liebsten
Sprichwörter der Türken lautet: „Schweig nicht, je länger du
schweigst, desto schneller bist
du selbst dran.“ Viele schweigen
derzeit aus Furcht, doch Cumhuriyet war immer auf der Seite jener, denen ein Redeverbot erteilt wurde. Und erhält nun als
Dank sehr viel Solidarität. Den
gesamten Montag über standen
mehr als 500 Menschen, Familien, Kinder, vor dem Redaktionsbüro und riefen Slogans
wie: „Seite an Seite gegen die
Diktatur!“ Die Leitung der Zeitung sitzt zwar in Haft, aber die
­Zeitung wird für den Druck vorbereitet. Mit Texten, die zweifellos so frei sein werden wie gewohnt.
Journalisten beobachten die Situation am Montag vor dem Redaktionsgebäude der „Cumhuriyet“ in Istanbul Foto: Murad Sezer/reuters
Atatürks Wunschkind
ZEITUNG
Lange galt die „Cumhuriyet“ als einseitig, zuletzt aber nahm der Meinungspluralismus zu
BERLIN taz | Der Name der über-
regionalen türkischen Zeitung,
die so alt ist wie die Republik
selbst, bedeutet auf Deutsch:
„Republik“. Als eine der letzten
oppositionellen Zeitungen hat
die Cumhuriyet sich bis heute
ihren regierungskritischen Ton
bewahrt – trotz massenhafter
Schließungen zahlreicher Medien des Landes, Verfolgung und
Verhaftung von über hundert
Journalist*innen und direkter
Zensur durch Internetsperren.
Selbst ein neues Gesetz, das
die Anzeigeneinnahmen kritischer Medien unterbinden soll,
konnte das unter großem finanziellen Druck stehende Blatt
nicht zur Selbstzensur bewegen.
Nun folgte der Haftbefehl gegen
16 Cumhuriyet-Mitarbeiter, darunter auch Chefredakteur Murat Sabuncu. Der Vorwurf: Unterstützung terroristischer Vereinigungen.
Die linkskemalistisch ausgerichtete Tageszeitung, die derzeit eine Auflage von 50.000
Exemplaren hat, wurde 1924
auf expliziten Wunsch des türkischen Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk gegründet.
Yunus Nadi, der erste Cumhuriyet-Chefredakteur, wird gar
als direkter Untergebener Atatürks verstanden. Das heutige
Redaktionsstatut beginnt mit einem Zitat aus Nadis Artikel für
die allererste Ausgabe: „Cumhuriyet ist eine unabhängige Zeitung. […] Cumhuriyet wird gegen jede Kraft, die versucht, die
Ideen und Realitäten der Demokratie zu untergraben, Widerstand leisten. Cumhuriyet wird
stets den durch Atatürks Revolution erlangten Weg des Laizismus verteidigen und sich bemühen, ihn in der Gesellschaft zu
verankern.“
Mit diesem Bekenntnis steht
Cumhuriyet politisch der linkskemalistischen CHP nahe, die
nach der AKP zweitstärkste
Partei im türkischen Parlament
– und stand auch häufig in der
Kritik der jungen Linken, die
das Meinungsbild von Cumhuriyet für einseitig und überkommen hielt. Mit dem Anfang 2015
neu ernannten Chefredakteur
Can Dündar und dem Neuzugang vieler Autor*innen zeichnete sich zuletzt allerdings ein
zunehmender Meinungspluralismus ab, der bei sensiblen
Themen wie dem Kurdenkonflikt oder dem Armeniergenozid neue Töne zuließ. Die PKK
etwa wurde nicht mehr als „terroristische Vereinigung“ gelabelt, Solidaritätsbekundungen
erschienen in Form armenischer Schlagzeilen.
Empört war darüber nicht nur
der traditionelle Cumhuriyet-Leser, sondern vor allem auch die
Schlagzeilen auf
Armenisch, PKK
ohne „Terroristische
Vereinigung“-Label
AKP-Regierung. Letztere verklagte Ex-Chefredakteur Dündar (der inzwischen im Berliner
Exil lebt) und HauptstadtbüroLeiter Erdem Gül aufgrund eines
Berichts über illegale Waffenlieferungen der Regierung an syrische Islamisten. Zudem wurden im vergangenen Sommer
die Redakteur*innen Ceyda Karan und Hikmet Çetinkaya zu je
zwei Jahren Haft verurteilt, weil
sie eine Mohammed-Karikatur
von Charlie Hebdo abdruckten.
Die im September mit dem
als „alternativer Nobelpreis“ bekannten Right Livelihood Award
ausgezeichnete Zeitung soll die
kurdische Arbeiterpartei PKK
und die Gülen-Bewegung unterstützen – zwei Organisationen,
die unterschiedlicher nicht sein
könnten. Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass Cumhuriyet
seit über zehn Jahren kritisch
zur Gülen-Bewegung und auch
zu deren Verstrickungen mit der
AKP-Regierung berichtet.
FATMA AYDEMIR
04
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Schwerpunkt
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
Ernährung
Die Öko-Branche zieht Konsequenzen aus Tierquälerskandalen in
Bio-Ställen. Jetzt soll es mehr um die Gesundheit des Viehs gehen
Schweine streicheln, statt Akten fressen
INSPEKTIONEN Seit 2014 überprüfen Kontrolleure auf vielen Bio-Höfen, wie es dem Vieh geht. Jetzt arbeiten zwei
Bundesländer daran, dass künftig alle Betriebe überprüft werden. Unterwegs mit einer Bio-Inspektorin
AUS OSTBÜREN JOST MAURIN
Ann-Kathrin Schmidt macht etwas, was Kontrolleure auf deutschen Bauernhöfen nur selten
tun: Sie lässt sich von der Bäuerin ein Huhn aus jeder Herde
fangen, streicht mit den Fingern
durch sein Federkleid, guckt
sich die Kloake an, berührt die
Fußballen, achtet auf mögliche
Wunden.
Schmidt – 34 Jahre, diplomierte Agraringenieurin – ist
Bio-Kontrolleurin. Heute soll
sie prüfen, wie es den Tieren
auf dem Ökohof von Christine
Raffenberg im westfälischen
Dorf Ostbüren geht. Nach einem
Muster, das die Göttinger Öko-
Kontrollstelle „Gesellschaft für
Ressourcenschutz“ für die Agrarministerien von NordrheinWestfalen und Niedersachsen
entwickelt hat und das jetzt erprobt wird.
Eine ähnliche Inspektion bekommen bereits Höfe, die den
Ökobauernverbänden Bioland,
Biokreis, Demeter, Gäa oder Naturland angehören. Diese Organisationen schreiben ihren Mitgliedern höhere Haltungsstandards als die Bioverordnung der
Europäischen Union vor. Nur
wenige Kontrollstellen führen
Tierwohlchecks auch bei EUBio-Betrieben durch. Das neue
Projekt soll nun die schätzungsweise 40 Prozent der Öko-Vieh-
halter erfassen, die bislang
keine solche Überprüfung erhalten.
Auch diese etwa 6.000 BioHöfe müssen eigentlich wie
alle Nutztierhalter von den Veterinärbehörden
überwacht
werden. Aber die Ämter sind so
überlastet, dass sie lediglich wenige Ställe inspizieren. Die BioKontrollstellen kommen zwar
mindestens einmal im Jahr zu
jedem Öko-Betrieb. Doch sie
kümmern sich in erster Linie
darum, wie groß etwa die Ställe
sind, wie viele Luken nach draußen es für Geflügel gibt oder ob
ein Auslauf vorhanden ist. Wie
es den Tieren gehen soll, dazu
macht die maßgebliche EU-Öko-
landbau-Verordnung nur vage
Angaben, etwa dass „hohe Tierschutzstandards beachtet“ werden müssten.
Prompt wurde nach Skandalen vor allem in großen Bio-Legehennenfarmen Kontrolleuren vorgeworfen, zu wenig die
Hühner im Stall und fast ausschließlich die Akten im Büro
inspiziert zu haben. Viele Hennen in den betroffenen Betrieben waren völlig zerrupft und
teils verletzt, Kadaver lagen offenbar tagelang auf dem Boden. Und das, obwohl Verbraucher Umfragen zufolge sich vor
allem deshalb für Bio entscheiden, weil sie artgerechtere Haltungsbedingungen unterstüt-
zen wollen. Aus diesen Gründen
hat ihre Kontrollstelle Ann-Kathrin Schmidt heute zu dem Hof
in Ostbüren geschickt. Zuerst
hat sie anhand der Berichte aus
dem Schlachthof kontrolliert,
wie viele Schweine zum Beispiel
Lungenkrankheiten hatten. Da
war alles im grünen Bereich.
Jetzt streift sich Schmidt Plastiküberzieher über die Schuhe,
damit sie keine Keime in die
Ställe einschleppen kann. In
den Schweineställen des Hofs
geht sie von Abteil zu Abteil.
So langsam wie möglich, damit
die Tiere nicht zu schnell wegrennen. „Sonst kann man nicht
erkennen, dass eines lahmt“, erläutert Schmidt. „Falls die sich
jetzt alle da hinten in der Ecke
drängen, wenn Menschen reinkommen, könnte das bedeuten,
dass das Mensch-Tier-Verhältnis
nicht gut ist und mehr Betreuung nötig wäre.“
Die Schweine laufen zwar zunächst weg, nähern sich Schmidt
aber sofort wieder an. Ein Tier,
das erst nicht aufsteht, scheucht
sie auf. Nur wenige haben Kratzer oder husten. Keines hat einen angefressenen Schwanz.
Aber in einem Abteil mit 12 Tieren ist das Stroh auf dem Boden
sehr nass, die Schweine sind beschmiert mit Matsch. Es könnte
sein, dass sie das so wollen, um
sich abzukühlen an diesen 30
Grad heißen Sommertagen.
Aber vielleicht stimmt auch etwas nicht mit der Tränke. „Das
ist kein Verstoß gegen irgendetwas“, sagt Schmidt. Aber die Kontrollstelle wird den Bauern später diese Beobachtung mitteilen.
In der kalten Jahreszeit will sie
die Sache nochmals überprüfen.
Bei echten Mängeln verlangt
die Kontrollstelle, dass der Tierhalter einen Plan vorlegt, wie er
die Haltung verbessert. Dann
kommt eine zusätzliche Inspektion. Das tut auch finanziell
weh, denn alle Kontrollen muss
der Hof selbst bezahlen. Wenn
der Verdacht aufkommt, dass
die Haltungsbedingungen gegen das Tierschutzrecht verstoßen, müssen die Öko-Kontrolleure die Veterinäre einschalten.
„Prinzipiell halte ich die
Tierwohl-Kontrolle für nötig“,
sagt Bäuerin Raffenberg. Aber
dass das Ganze nun vier Stunden gedauert hat, „das ist schon
nervig“, vor allem heute, wo sie
ihre beiden Kinder betreuen
muss, der Trecker kaputt ist
und ihr Mann auf dem Feld arbeitet. „Bei einem kleinen Familienbetrieb, der bei der Regelkontrolle nie aufgefallen ist,
sollte eine Stunde reichen“, findet die 28-Jährige. Sie hat ja nur
250 Mastschweine und 650 Legehennen. Manche Biofarmen
haben beispielsweise Zehntausende Hühner.
Deshalb haben die Bioverbände bei mittleren Bestandsgrößen ihre Tierwohlchecks
auf rund 30 Minuten je Tierart
begrenzt. Das halten Schmidt
und ihre Kontrollstelle für zu
wenig. „Ich muss mir wirklich
alle ­
Herden anschauen“, sagt
Schmidt. „Sonst könnte es ausgerechnet dort ein Problem geben, wo ich nicht war.“ Dennoch macht sie der Bäuerin
Hoffnung: „Dieses Mal haben
wir keine Probleme gefunden.
Dann können wir in den nächsten Jahren voraussichtlich kürzer kontrollieren.“
Bio-Tierhaltung
Na, wie geht’s uns denn heute? Die meisten Bio-Konsumenten sorgen sich vor allem um das Tierwohl Foto: dpa/picture alliance
■■Vorschriften: Die EU schreibt
für Biotiere – anders als für konventionelle – einen Zugang ins
Freie und mehr Platz im Stall vor.
Schnabel- oder Schwanzteile dürfen nicht amputiert werden. Die
Tiere müssen fast ausschließlich
Futter aus ökologischer Landwirtschaft erhalten.
■■Gesundheit: Trotz der besseren
Bedingungen sind Biotiere im
Schnitt nicht gesünder – von Ausnahmen abgesehen. Das stellten
die Verbraucherorganisation
Foodwatch und der Öko-Tierhal-
tungforscher Albert Sundrum von
der Universität Kassel/Witzenhausen fest. Bei Milchkühen etwa
fanden sie ähnlich hohe Raten
von Euterentzündungen.
■■Skandale: 2013 veröffentlichten Tierrechtler Bilder von
Bio-Hennen, die kaum noch
Federn hatten. Vor Kurzem geriet
ein Öko-Schweinehalter in die
Kritik, weil er Sauen zeitweise in
engen Kastenständen hielt sowie
Antibiotika einsetzte, welche die
Richtlinien seines Bio-Verbandes
verbieten. (jma)
Demeter will weniger, aber genauer kontrollieren
Deutschlands drittgrößter Bioverband setzt in Zukunft mehr auf risikoorientierte Kontrollen bei der Tiergesundheit.
Die bisherige Praxis der flächendeckenden Überprüfung sei teuer und aufwendig. Nun sollen nur noch Spezialisten eingesetzt werden
NEUERUNG
BERLIN taz | Der Bioverband De-
meter will die Kontrollen auf
seinen Mitgliedsbetrieben künftig ändern. Ab Januar soll der
Gesundheitszustand von Tieren dort nicht mehr jedes Jahr
im Detail überprüft werden.
„Aber die Betriebe, die wir kontrollieren, überprüfen wir sehr
viel intensiver, als wir es bei einer flächendeckenden Kontrolle
machen würden“, sagte Vorstandssprecher Alexander Gerber der taz. Demeter, der nach
der Regeln der anthroposophischen Weltanschauung arbeitet, hatte die jährlichen „Tierwohl-Checks“ 2014 gemeinsam
mit den anderen großen Bioverbänden eingeführt.
Nun sagt Demeter-Chef Gerber aber: „Wir werden Tierwohlkontrollen risikoorientiert auf
einer begrenzten Anzahl von
Betrieben durchführen. Dazu
gehören alle mit Mängeln im
Kontrolldurchgang der zwei
Vorjahre, Bestände mit stark
erhöhtem Risiko, beispielsweise
mit mehr als 3.000 Legehennen,
und eine geringe Anzahl von Betrieben ermittelt aus einer Kombination von Zufallsprinzip und
von den Landesverbänden benannten Problembetrieben.“
Risikoorientiert
statt flächendeckend
Im Gegenzug sollen die Kon­
trollen gründlicher werden.
„Wir werden mit weniger, dafür besonders geschulten Kontrolleuren arbeiten“, so Gerber.
Wenn jeder Betrieb überprüft
werden muss, könne Demeter
nicht zu jedem einen Inspektor
schicken, „der auch Experte in
Tierwohlfragen ist“, ergänzt der
Vorstandssprecher. Spezialisten
könnten gezielter Probleme erkennen. „Unsere These ist, dass
uns bei Demeter mit einer sehr
guten risikoorientierten Kontrolle weniger Problembetriebe
durchrutschen als mit einer
Kontrolle, die im Qualitätsniveau nicht ganz so hoch ist.“
Allerdings: Es sei noch nicht
entschieden, wie sich die Demeter-Kontrolleure von denen der
anderen Verbände unterscheiden würden, sagte der Funktionär. Bioland etwa verlangt von
Tierwohl-Kontrolleuren mindestens eine eintägige Schulung im Stall.
Sicher ist aber, dass das neue
System für die meisten Betriebe
weniger aufwendig und damit
kostengünstiger ist. Bisher sind
laut Gerber nur etwa 5 Prozent
der rund 1.200 Demeter-Betriebe
mit Vieh bei den Tierwohlkon­
trollen negativ aufgefallen, meist
durch „Kleinigkeiten“. „Das heißt
aber auch im Umkehrschluss,
dass wir 95 bis 98 Prozent der
Betriebe umsonst kontrollieren“,
so der Vorstandssprecher. „Und
die Kontrollen belasten die Be-
triebe zusätzlich, sie verlängern
die normale Öko-Kontrolle. Das
kostet Geld, das wir jetzt in eine
gezieltere Kontrolle stecken werden.“
Das Vertrauen
der Verbraucher sichern
Fragt sich, warum Demeter
nicht alle Kontrolleure so weiterbildet, dass sie gut genug in
Sachen Tierwohl werden. „Wenn
wir jetzt flächendeckend in eine
Kontrolleursqualität investieren
würden, wie wir sie gern hätten,
wäre das unbezahlbar.“ Schon
bisher zahle Demeter jährlich
40.000 bis 50.000 Euro für
diese Inspektionen. „Das würde
exponentiell steigen.“
Deutschlands größter Ökobauernverband, Bioland, dagegen hält an den ausführlichen
Kontrollen in allen Betrieben
fest. Es sei sinnvoll, dass die Inspektionen alle Tierhalter für
das Thema Tierwohl sensibilisierten, sagt Pressesprecher Gerald Wehde.
Außerdem sicherten die flächendeckenden Kontrollen das
Vertrauen der Verbraucher.
Und Wehde führt auch ein politisches Argument an: Die Bioverbände würden sich ja bei der
Reform der EU-Ökoverordnung
gerade dafür einsetzen, dass die
normalen Bio-Kontrollen flächendeckend und nicht risikoorientiert blieben. JOST MAURIN
Reportage
Automatisierung
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
05
Der chinesische Gerätehersteller Midea schluckte die deutsche F­ irma
Kuka. Besuch bei einem Konzern, der Robotern das Lernen beibringt
Kooperation. Und Google lässt
Roboter bereits kollaborativ
neue Probleme lösen, indem
sie ihre Fähigkeiten jeweils ergänzen. Cloud-Robotics habe
einen „Katalysator-Effekt“, prognostiziert Gill Pratt. Der Mann
arbeitete lange für die führende
Forschungsbehörde des US-Militärs, die die Entwicklung künstlicher Intelligenz maßgeblich
anschob. Pratt arbeitet nun als
Chef beim Toyota Research Institute, das im Silicon Valley nun
ein Forschungslabor für Robotik
und künstliche Intelligenz aufbaut. Investitionsvolumen: eine
Milliarde US-Dollar.
Industrie 4.0
Mensch und Maschine freunden sich an: Kuka-Roboter im Einsatz bei der Eröffnung der Paralympics in Rio de Janeiro 2016 Foto: Jens Büttner/dpa
Die Roboterfabrik
Die Firma Kuka baut und entwickelt Roboter. Als Steuerungstechnologie dient künstliche Intelligenz.
Zunehmend arbeiten Menschen und Maschinen gemeinsam. „Das rettet Arbeitsplätze“, glaubt der Betriebsrat
AUS AUGSBURG KAI SCHLIETER
In einem Industriegebiet im Osten von Augsburg – schräg gegenüber von Netto und einem
„Hendl & Haxn-Grill“ – versuchte die Bundesregierung
vergeblich, die technologische
Zukunft Deutschlands zu retten. Ein Neubau mit einem weißen Atrium und einer Wendeltreppe, die so nahtlos aussieht,
als hätte sie ein 3-D-Drucker
ausgespuckt: der Hauptsitz von
Kuka Roboter.
Als der chinesische Haushaltsgerätehersteller
Midea
ver­
kündete, Kuka zu schlucken, drohte Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) mit Widerstand. Doch er überschätzte
sich, und kurz darauf übernahm
der chinesische Konzern die Zukunft Deutschlands per Kapitalgesellschaft auf den britischen
Jungferninseln. Für 4,5 Milliarden Euro hält Midea nun etwa
96 Prozent der Kuka-Aktien.
Hinter dem futuristischen
„Headquarter“ reihen sich die
Produktionshallen auf, und in
einer von ihnen kommt gerade
ein freundlicher Herr mit Poloshirt des Weges, der offensichtlich die meisten der Arbeiter
hier kennt. Grüß Gott, Armin
Kolb, Vorsitzender des Betriebsrats für rund 3.500 „Kukaner“
am Standort Augsburg.
Kolb ist ein kräftiger Mann,
graues Haar, einer, der oft lächelt und vor 39 Jahren hier
seine Lehre begann. Da stellte
Kuka noch Müllfahrzeuge her.
Er grüßt die Kollegen, hält ein
Schwätzchen, aber auf deutsche
Spitzenpolitiker sollte man ihn
besser nicht ansprechen, dann
verfinstert sich seine Laune.
Hinter ihm wuchten in einer
Reihe von Gitterkäfigen massige orange Roboterarme Bauteile. 4.600 Kilo schwer, 1.300
Kilogramm Traglast, über drei
Meter Reichweite: „Titan kann
sich selbst heben und deswegen auch bauen“, sagt Armin
Kolb zu dem Roboterkoloss. In
dieser Fabrik replizieren sich
die Maschinen, allerdings noch
mit menschlicher Unterstützung. Einsatzgebiet von Titan:
die Automobilindustrie.
Dieser Geschäftszweig macht
50 Prozent aus. Tendenz sinkend, denn Kuka verringert die
Abhängigkeit von der Industrie,
deren Krise Kuka 2008 selbst ins
Schlingern brachte. Seither erschließt der Konzern weitere
Märkte. Zunehmend verlassen
Roboter die Fabrikhallen und
erledigen Servicedienste, verteilen Medikamente in Kran-
Hier replizieren sich
die Maschinen – noch
mit menschlicher
Unterstützung
kenhäusern oder automatisierten Apotheken. Kuka kaufte mit
Swisslog Spezialisten für die Automatisierung großer Warenlager. Und hier in Augsburg bauen
sie die Roboterarmada, die dieser neuen Welt den Weg bereitet.
Mit 12.000 Mitarbeitern weltweit zählt Kuka zu den führenden Konzernen in dem Segment.
Werkstattgeräusche, Schrauben, Zischen, Fiepen. Hinter
dem Gitter der mächtige Arm
von Titan, der seine Schwerlast auf Millimeter mit Nachkommastelle exakt bewegt und
hebt. Immer und immer wieder.
In anderen Hallen werden Einzelteile gefräst und geschweißt:
ebenfalls von Robotern. Präzise,
optimiert und in Echtzeit überwacht.
Kolb schiebt Besucher manchmal sanft zur Seite, weil in der
etwa 200 Meter langen Werkshalle auf markierten Wegen Gabelstapler kreuzen. Nach dem
aktuellen Softwareupdate düst
hier demnächst der Leichtbauroboter „KMR iiwa“ herum. Batteriebetrieben und mit Industrie-WLAN. iiwa findet seinen Arbeitsort mit Laser, Sensorik und
Kamera. Das Kürzel steht für „intelligent industrial work assistant“. Er bringt den Mechatronikern Werkzeuge und Teile für
die Fertigung weiterer Roboter.
Kukas Q
Hinter einer Plexiglasscheibe
greifen Roboterarme in Ablagen und holen sich Zahnräder,
Schrauben oder Gummiringe.
„Die Plexiglasscheibe ist nur dafür da, falls mal ein Gummiring
abspringt“, sagt Johannes Kurth.
Der Head of Engineering Advanced Technology Solution ist so
etwas wie Kukas Q – der Techniktüftler, der James Bond mit
Hightech ausstattete. Johannes
Kurth fände diesen Vergleich
wohl unpassend. Er trägt ein
einfaches Sakko und faltet bei
Sprechpausen die Hände.
„Sie kennen sich aus mit Robotik? Roboter haben sechs
Achsen, um jeden Punkt zu erreichen. Unsere haben sieben
Achsen, wie ein Mensch mit
Ellenbogen.“ Kurth schwärmt
von seiner Arbeit, „denn das ist
die Zukunft“. Und um diese Zukunft zu bauen, muss er verstehen, wie Menschen funktionieren. Die feine Motorik, die Sensorik der fünf Finger erscheint
ihm mit wachsender Expertise
in Robotik immer wundersamer. Die Hand, sagt Johannes
Kurth entzückt, „ist ein Roboter
mit 20 Achsen“.
War der Entwickler zuvor
zehn Jahre in der Forschungs-
abteilung von Kuka verantwortlich, so kümmert er sich heute
um den „LBR“ – den Leichtbauroboter. Ein kleines Gefährt, das
an ein vergrößertes Raumfahrzeug erinnert. Bei der Entwicklung des LBR beteiligten sich
auch Robotikspezialisten des
Deutschen Zentrums für Luftund Raumfahrt (DLR). Vier Räder, die sich auf der Stelle drehen können. „Omnidirektionale
Bewegung“ garantiert maximale Wendigkeit, verkürzt Leerzeiten und schont bei der tonnenschweren Variante den Bodenbelag. Deutsche Perfektion.
Am Armende des Roboters
befindet sich der „Effektor“, wie
Kurth sagt. So heißen die Greifer, die je nach Einsatz aufgesetzt werden können. 1973 baute
Kuka „Famulus“ – den ersten Industrieroboter der Welt. Die Gitterkäfige von einst, die Menschen vor Robotern wie Titan
schützen, verschwinden heute.
Dafür soll auch der LBR sorgen. Kurth beschäftigt sich also
mit dem nächsten Schritt: der
Mensch-Roboter-Kooperation.
Die hat bereits ein eigenes Kürzel – „MRK“ – und ist seit Anfang des Jahres in der ISO-Norm
15066 geregelt. Biomechanische Grenzwerte definieren die
Schmerzschwelle im Kontakt
von Mensch und Maschine.
Beim LBR messen Momentsensoren diesen Kontakt. Es
lassen sich Freiheitsgrade festlegen, in denen sich der Roboterarm für bestimmte Arbeitsabläufe trainieren lässt. Man kann
den Arm bewegen, man spürt
dann auch einen Widerstand,
der nachgibt, als steckte ein eigener Wille in der Maschine. Der
Effektor lässt sich gezielt platzieren und nun wiederholt der Roboter das Gelernte. Er setzt Bewegung in Programmcode um.
Bis hin zu komplexen Abläufen.
Industrieroboter
■■Die Zahl der weltweit eingesetzten Industrieroboter wird
laut Prognose der International
Federation of Robotics (IFR) bis
2019 auf rund 2,6 Millionen
Einheiten steigen. Das sind rund
eine Million Einheiten mehr als
im Rekordjahr 2015.
■■Europaweit setzt Deutschland
die meisten Roboter ein: 301 auf
10.000 Arbeitnehmer. Weltweit
liegt Deutschland hinter Korea
(531), Singapur (395) und
Japan (305) auf Platz 4. In China
sind es 49 Roboter pro 10.000
Arbeitnehmer. Bis 2020 sollen es
150 Einheiten werden. In diesem
Zusammenhang steht wohl der
Kauf von Kuka. (kas)
Auch bei Kuka geht es neben
dem Bau der Roboter zunehmend um die Steuerungstechnologie: künstliche Intelligenz.
Hunderte Softwareentwickler
beschäftigt Kuka. „Deep Learning“ – selbstlernende Software,
die mathematisch die Funktion
und Anpassungsfähigkeit neuronaler Netze simuliert. Das gilt
als Durchbruch für künstliche
Intelligenz und erobert ständig
neue Einsatzbereiche.
Der japanische Weltmarktführer Farnuc arbeitet an Robotern,
die andere Roboter unterrichten.
Beispielsweise, um Objekte zu erkennen, Bewegungsabläufe zu
erlernen, bis hin zu komplexen
Produktionsschritten. Haben Roboter über Nacht mit Versuch
und Irrtum bestimmte Funktionen erlernt, können sie diese
„Erfahrungen“ künftig als Daten in einer digitalen Wolke ablegen und zur Verfügung stellen.
„Cloud-Robotics“ erforscht
auch Kuka. In Austin, Texas,
schloss der Konzern mit Huawei, einem chinesischen IT-Giganten, Anfang des Jahres eine
Damit auch Roboter von Kuka
schneller lernen, sind Erfahrungen nötig – also Daten. Kuka digitalisiert sämtliche Prozesse
der Fabrik, um sie immer weiter in Echtzeit zu messen und
optimieren zu können. „Industrie 4.0“ nennt sich das. Johannes Kurth weist darauf hin, dass
auch der LBR dazu praktische
Dienste leistet: „Roboter sind
hervorragende Datensammler.“ Kurth faltet seine beiden
20-achsigen Roboter vor seinem Sakko und sagt, er arbeite
an der „Marktdurchdringung
mit Leichtbaurobotern“. Man
glaubt es ihm sofort.
LBR-Arme sortieren Bauteile.
Ruckartige Bewegungen, hypnotisierend in der Genauigkeit ihrer Wiederholung, Präzision jenseits aller Natürlichkeit, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die
Woche. Leistung ohne Pausen
und Arbeitnehmerrechte: der
Traum aller Fabrikanten.
Angesichts der heutigen Automatisierung – selbst Juristen,
Investmentbanker und Nachrichtenjournalisten werden bereits von lernender Software
ersetzt – stellt sich die Frage,
was mit den Menschen geschehen soll. Die Universität Oxford
und McKinsey prognostizieren
unabhängig voneinander, dass
bis 2030 fünfzig Prozent der
Jobs durch Automatisierung
gefährdet seien. US-Präsident
Barack Obama warnte kürzlich,
dass in den USA bereits 2025 womöglich 60 Prozent der Jobs von
Robotern ersetzt werden könnten. Der Rechtsausschuss des
EU-Parlaments empfahl der EUKommission im Mai, die Kategorie der „elektronischen Person“
im Zivilrecht zu verankern. Eine
Revolution findet statt. Ethische
Fragen: völlig ungeklärt.
Als Betriebsratsvorsitzender
hat Armin Kolb deswegen einen
skurrilen Job: Arbeitnehmervertreter einer Aktiengesellschaft,
deren Kerngeschäft die Automatisierung, mithin also die
Vernichtung von Arbeitsplätzen bedeutet? Er lacht und sagt,
Roboter würden die Jobs seiner
Kollegen nicht zerstören. „Die
retten Arbeitsplätze.“ Sie würden die Produktivität und Konkurrenzfähigkeit Deutschlands
erst sichern angesichts der höheren Lohnkosten hierzulande.
Auf der Homepage verweist
Kuka darauf, vorgelesen von einem Softwareroboter, dass in
Deutschland bis 2025 vier Millionen Fachkräfte fehlen würden.
„Schauen sie sich mal die
Über-Kopf-Arbeit in der Automobilindustie an. Das macht
keinen Spaß“, sagt Kolb. Gesundheitsschädliche Arbeitsplätze zu ersetzen, sei eine Errungenschaft. Bei Ford montieren Werksarbeiter „kollaborativ“
mit dem LBR von Kuka die Stoßdämpfer. Das erfreut einen Betriebsrat der Automatisierungsindustrie.
06
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Inland
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
NACH RICHTEN
I NTERN ET-VERSAN DHÄN DLER AMAZON
ZWIST I N GRÜN EN-SPITZE
UNTERLASSEN E H I LFELEISTUNG
SERI EN-BRAN DSTI FTER
DAS WETTER
Beschäftigte streiken für Tarifvertrag
Peter über Özdemir:
„Verhältnis ist gut“
Polizei kennt Namen
der Bankkunden
Feuerwehrmann
unter Verdacht
Noch einmal 18 Grad
im Süden
BERLIN | Grünen-Chefin Simone
ESSEN | Im Fall der unterlassenen
Peter hat den Dauerstreit zwischen sich und ihrem Co-Vorsitzenden
heruntergespielt.
„Das Vertrauensverhältnis zwischen Cem Özdemir und mir
ist gut“, sagte Peter am Montag
nach einer Bundesvorstandssitzung. Das Verhältnis zwischen
den beiden gilt bei den Grünen
als belastet, wenn nicht als zerrüttet. Im Spiegel lässt sich Peter
mit dem Satz zitieren: „Das Amt
der Bundesvorsitzenden beinhaltet, Kompromisslinien zu
finden und die Partei im Team
zu führen, nicht als Ich-AG.“ (us)
Hilfeleistung für einen hilflosen
Mann in einer Essener Bankfiliale hat die Polizei gestern von
der Bank Namen der Bankkunden erhalten, mit deren Karten
im betreffenden Zeitraum Geldgeschäfte erledigt wurden. Die
Polizei geht davon aus, dass alle
auf dem Video zu sehenden Personen mit ihren eigenen Karten
am Geldautomaten waren. Der
82-Jährige war im Bankvorraum
zusammengebrochen. Vier Kunden kümmerten sich anschließend nicht um den Mann und
riefen auch keine Hilfe. (dpa)
BÜCKEBURG | Erneut steht ein
niedersächsischer Feuerwehrmann als Serienbrandstifter
unter Verdacht. Der 23-Jährige
soll im Landkreis Schaumburg
rund ein Dutzend Brände gelegt haben. Gegen den Mann
wurde Haftbefehl erlassen. Der
Verdächtige hat mehrere Taten
gestanden. Die Ermittler werfen
dem 23-Jährigen vor, seit Anfang
September unter anderem mehrere Fahrzeuge in Brand gesetzt
zu haben. Sie waren dem Feuerwehrmann auch nach Hinweisen aus der Bevölkerung auf die
Spur gekommen. (dpa)
Es gibt noch einmal einen recht
schönen Herbsttag, bevor morgen der dicke Wetterumschwung kommt. Tief „Gisi“ erreicht heute schon den Norden,
aus einem bewölkten Himmel
kann es dort immer wieder regnen und der Wind weht frisch,
an den Küsten auch böig. In der
Mitte und im Süden wird es
aber freundlich mit auch längeren sonnigen Abschnit- ten.
Die Höchsttemperaturen erreichen von
Nordost
nach
Südwest 10 bis
18 Grad.
MÜNCHEN | Um Amazon zu Ver-
Macht hauseigene Löhne: Amazon
Foto: reuters
handlungen über einen Tarifvertrag zu bewegen, haben Mitarbeiter des weltgrößten Versandhändlers gestern an fünf
deutschen Standorten gestreikt.
Rund 1.000 Beschäftigte in Koblenz, Bad Hersfeld, Rheinberg
und Werne sowie in Graben ließen in der Frühschicht die Arbeit ruhen. „Die Beschäftigten
verlangen existenzsichernde
Löhne und gute Arbeitsbedingungen per Tarifvertrag“, sagte
Verdi-Vorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger. Amazon
lehnt Verhandlungen über einen Tarifvertrag ab. (dpa)
Bundespräsident fordert
mehr „Entängstigung“
Gauck warnt anlässlich des LutherJubiläums vor „Gnadenlosigkeit“ in Internetforen
REFORMATION
BERLIN taz | Zum Auftakt des Ge­
denkjahres für den Beginn der
Reformation vor 500 Jahren haben Papst Franziskus und Bundespräsident Joachim Gauck
die Bedeutung des Reformators
Martin Luther hervorgehoben –
ebenso wie den Wert der Freiheit
und der Gnade im Zusammenleben. Im schwedischen Lund feierte Franziskus als Oberhaupt
der katholischen Weltkirche einen Gottesdienst mit führenden Köpfen des Lutherischen
„Es macht sich ein
Ungeist der Selbstge­
rechtigkeit breit“
JOACHIM GAUCK, BUNDESPRÄSIDENT
Weltbundes – ein historisches
Ereignis. Gauck sprach auf einem staatlichen Festakt zur Eröffnung des Reformationsjubiläums im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin.
Der Expfarrer Gauck betonte
in seiner Rede: Das Verlangen
nach demokratischer Teilhabe
habe eine seiner Wurzeln im
reformatorischen Mündigwerden: „Es ist ein kostbares Erbe.“
Zum Drang nach Freiheit, einem
Kern der Reformation, gehöre
aber auch die Selbstbindung an
ein Gewissen – egal, ob jemand
gläubig sei oder nicht. „Diese
Bindung ans Gewissen macht
frei – frei zu einem selbständigen, verantwortlichen, gewissenhaften Leben.“
Das heutige Deutschland sei
„nicht denkbar ohne die Reformation“, so Gauck. Auch wegen des durch sie geförderten
Buchdrucks sei die Kultur Eu-
ropas „eine Kultur des Buches,
des Wortes, der Schrift“. So sei
eine wichtige Grundlage gelegt
worden „für Vernunft und rationale Durchdringung der Welt“.
Der Bundespräsident mahnte, die Gesellschaft solle den
für den Reformator so wichtigen Begriff der Gnade hochhalten. Es mache sich aber in der
deutschen Gesellschaft etwa
in Internetforen „ein Ungeist
der Gnadenlosigkeit breit, des
Niedermachens, der Selbstgerechtigkeit und Verachtung“,
„der für uns alle brandgefährlich ist“. So wie Luther durch die
Hoffnung auf die Gnade Gottes
seine Angst verloren habe, brauche auch die heutige Zeit voller
Ängste „Agenten der Entängstigung“. Auch der Berliner Bischof
Markus Dröge hatte zuvor in einem Festgottesdienst zum Jubiläum in Berlin dazu aufgerufen,
der „Voraus-Angst“, die manche
in der Gesellschaft verbreiteten, ein „Voraus-Vertrauen“ im
Sinne der Reformation entgegen zu stellen.
Papst Franziskus gedachte vor
dem Abflug nach Lund der „Ökumene des Blutes“: „Wenn Christen verfolgt und ermordet werden, werden sie ausgesucht, weil
sie Christen sind, nicht weil sie
Lutheraner, Calvinisten, Anglikaner, Katholiken oder Orthodoxe sind.“ Die Kirche sehe in
Luther keinen Häretiker mehr.
Er habe „einen großen Schritt
getan, indem er das Wort Gottes in die Hände der Menschen
legte“, so Franziskus.
Bis zum 31. Oktober 2017 erinnern Hunderte von Veranstaltungen weltweit an die Thesenveröffentlichung Luthers 1517 in
Wittenberg. PHILIPP GESSLER
Keine Sicherheit im Maghreb
ASYL Tunesien, Algerien und Marokko sind nicht so „sicher“, wie die Bundesregierung
vorgibt. Das zeigen Unterlagen, mit denen das Bundesamt für Migration arbeitet
Lebensentscheidend: Anhörung von Asylbewerbern im Bundesamt für Migration Foto: Frederik von Erichson/dpa
AUS BERLIN RALF PAULI
Die Kölner Silvesternacht lässt
den Innenminister nicht los.
Erst musste Thomas de Maizière (CDU) am Montag dem Untersuchungsausschuss des NRWLandtags Rede und Antwort zur
Rolle der Bundespolizei in jener
Nacht stehen. Und nun scheinen Akten des ihm unterstellten Bundesamts für Migration
und Flüchtlinge (Bamf) zu belegen, dass sich die Bundesregierung die Menschenrechtslage in
Nordafrika zurechtdichtet, um
Asylbewerber aus der Region
schneller abschieben zu können – was nach der Kölner Silvesternacht ihr erklärtes Ziel ist.
Als sich herausstellte, dass
vor allem Männer aus Nordafrika für die sexuellen Übergriffe
rund um den Hauptbahnhof
verantwortlich waren, hat die
Bundesregierung beschlossen,
Marokko, Tunesien und Algerien als „sichere Herkunftsstaaten“ einzustufen. Das entsprechende Gesetz verabschiedete
der Bundestag im Mai.
Nun kam heraus, dass BamfExperten bei den drei Maghrebstaaten zu einer ganz anderen Einschätzung kommen.
Marokko, Tunesien und Algerien sind für politisch Verfolgte, Frauen und Homosexuelle bei Weitem nicht so sicher
wie von der Bundesregierung
vorgegeben. Das berichtete am
Sonntag Zeit Online mit Verweis
auf die sogenannten Herkunftsländerleitlinien, die Aufschluss
über die politische Lage vor Ort
geben und den Bamf-Mitarbei-
„Das Gesetz ist
­eindeutig innen­
politisch motiviert“
MAXIMILIAN PICHL, PRO ASYL
terInnen bei Asylentscheidungen helfen sollen.
Wie weit Regierung und Bamf
in ihren Einschätzungen ausein­
anderliegen, zeigt sich, wenn
man die Leitlinien dem Gesetzestext gegenüberstellt. Dort
heißt es beispielsweise: „Staatliche Repressionen, die allein wegen Rasse, Religion, Nationalität
oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfolgen, sind in Algerien nicht
feststellbar.“ Deshalb stünde
einer „Einstufung Algeriens als
sicherer Herkunftsstaat nichts
entgegen.“ Das Bamf hingegen
stellt fest: „In Algerien ist die
Verfolgung von Seiten des Staats
[…] sowie anderer Akteure nicht
auszuschließen“.
Legt man diese Einschätzung
zugrunde, kann das Land nicht
als „sicher“ eingestuft werden,
sagt Maximilian Pichl von Pro
Asyl und fordert die Bundesregierung auf, den Gesetzgebungsprozess „zu beerdigen“.
Der Bundesrat muss dem Gesetz noch zustimmen. Wenn
die Bundesregierung wie im
Falle Tunesiens selbst einräumt,
über Fälle staatlicher Folter Bescheid zu wissen, und das Land
dennoch als „sicher“ einstuft,
geschehe dies eindeutig aus einer innenpolitischen Motivation heraus.
Dass die Bamf-Leitlinien so
sehr vom Gesetzestext abweichen, ist erstaunlich. Schließlich basiert die Bamf-Einschätzung weitgehend auf Informationen aus dem Auswärtigen Amt.
Dieselben Informationen haben
auch der Bundesregierung zur
Verfügung gestanden, bestätigt eine Sprecherin des Innenministeriums. Zur Diskrepanz
zwischen Gesetzestext und der
politischen Lage vor Ort will sie
sich nicht äußern.
Unklar ist auch, warum das
Bamf den Widerspruch nicht angesprochen hat. Bei der Anhörung im Innenausschusses im
April war auch eine Bamf-Mitarbeiterin geladen. Sie äußerte jedoch keine Bedenken am Gesetzesentwurf – sondern begrüßte
ihn. Von dem Gesetz werde ein
Signal ausgehen, das zu weniger
„unberechtigten Asylantragstellungen“ führen werde.
Nahles will Rentenschutzlücken schließen
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Mit rotem PanterAufdruck.
ministerin Andrea Nahles (SPD)
will neue Vorschläge gegen drohende Altersarmut von Geringverdienern und Selbstständigen vorlegen. Im Rentendialog
mit Verbänden, Gewerkschaften
und Arbeitgebern kündigte sie
laut Teilnehmern an, sich von
den bisherigen Konzepten für
eine Lebensleistungsrente zur
Aufwertung von kleinen Renten zu verabschieden.
Das Ziel, die Lebensleistung
auch von Geringverdienern
besser in der Rente zu würdigen
und Betroffene vor Altersarmut
zu schützen, lasse sich nicht gut
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Arbeitsministerin kündigt neue Vorschläge gegen drohende Altersarmut an
BERLIN dpa/taz | Bundessozial-
sicherung lösen. Laut Koalitionsvertrag sollen die Rentenpunkte
langjähriger Beitragszahler mit
niedrigen Rentenanwartschaften aufgewertet werden. Ein Problem dabei: Viele Kleinrentner
leben in Haushalten mit hohem
Einkommen und sind gar nicht
arm. Verbessern will sie auch die
Alterssicherung von Selbstständigen. Dort gebe es eine Schutzlücke, sagte Nahles nach dem
Treffen. Sie wolle die Absicherung für die Rente und für den
Krankheitsfall gemeinsam betrachten, sagten Teilnehmer eines internen Treffens.
Nahles strebe auch Verbesserungen für Erwerbsgeminderte
an. Derzeit müssen Erwerbsminderungsrentner Abschläge
von 10,8 Prozent hinnehmen.
Viele sind zusätzlich auf Grundsicherung angewiesen.
In einem internen Treffen
machte sich Nahles für eine
„doppelte Haltelinie“ stark. Das
Rentenniveau dürfe nicht zu tief
fallen, die Beiträge dürften nicht
zu stark steigen.
Der Sozialverband VdK forderte deutliche Schritte beim
Rentenniveau. „Wir können den
Rentnern schwer erklären, dass
Milliarden für die Bankenrettung zur Verfügung gestellt werden, aber wir uns eine Stabilisierung des Rentenniveaus nicht
leisten können“, so VdK-Präsidentin Ulrike Mascher.
Die Linkspartei forderte eine
Anhebung statt einer Absenkung des Rentenniveaus. „AlibiHaltelinien beim Rentenniveau,
wie von Andreas Nahles vorgeschlagen, führen in letzter
Konsequenz trotz steigender
Beiträge in Zukunft zu immer
niedrigeren Renten“, kritisierte
der rentenpolitische Sprecher
der Linksfraktion, Matthias W.
Birkwald. Nur wenn das Rentenniveau wieder deutlich angehoben werden würde, würde
die gesetzliche Rente auch in Zukunft den Lebensstandard im
Alter wieder sichern.
Inland
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Söder, Seehofer und der Weltuntergang
MACHT Auf dem Parteitag in München gibt sich die CSU ein neues Grundsatzprogramm. Am Rande des
Podiums wird man über Nachfolge oder Verbleib Horst Seehofers diskutieren, mit viel „Quatschi-Quatschi“
AUS MÜNCHEN DOMINIK BAUR
Es vergehen nur wenige Sekunden, bis Horst Seehofer selbst
den Weltuntergang relativiert
hat. Da müsse schon der Himmel über Bayern zusammenbrechen, dass er schon vor Ende
der Legislaturperiode im Herbst
2018 sein Amt als Ministerpräsident aufgebe, hat er eben noch
gesagt. Doch dann: „Das können
Sie als Politiker nie ausschließen.“ Und kurz zuvor wollte der
Politiker im ZDF noch nicht einmal eine Spitzenkandidatur für
den Bundestag im kommenden
Jahr ausschließen.
Solchermaßen von ihrem
Chef verwirrt geht die CSU in
ihren diesjährigen Parteitag am
kommenden Freitag und Samstag. Denn nicht wenige Christsoziale beschäftigt derzeit die
Frage, wer Partei und Land in
Zukunft führen wird. Offiziell ist das auf dem Parteitag jedoch kein Thema, um das neue
Grundsatzprogramm der Partei
soll es stattdessen gehen.
Ein Grundsatz kommt in dem
41 Seiten starken Entwurfspapier jedoch nicht vor: „Wir brauchen jetzt keine Personaldiskussion.“ Was fast schon erstaunlich
ist. Denn schließlich wird kein
Satz von CSU-Politikern derzeit
ähnlich häufig wiederholt – freilich nicht, ohne dem Spruch
dann immer gleich den neuesten Beitrag zu eben jener Diskussion folgen zu lassen. Auch
Parteichef Seehofer, der für solcherlei Geplänkel sogar das bayerische Politvokabular um den
Begriff des „Quatschi-Quatschi“
erweitert hat, beteiligt sich nur
allzu gerne daran.
Sicher ist zumindest schon
mal Folgendes: Im kommenden Jahr wird Markus Söder,
Finanzminister in Bayern, von
Horst Seehofer den Parteivorsitz übernehmen – es sei denn,
Seehofer bleibt im Amt oder
überlässt den Vorsitz jemand
anderem. Außerdem steht fest,
dass der neue (oder alte) Vorsitzende spätestens nach der Landtagswahl im Jahr 2018 auch das
Amt des Ministerpräsidenten
übernehmen (beziehungsweise
behalten) oder es jemand anderem überlassen wird. Alles, was
darüber hinaus geht, ist reine
Orakelei.
Das Problem: 2017 ist Bundestagswahl, und Horst Seehofer
möchte die CSU hierfür in Berlin gut aufgestellt wissen. Das ist
Markus Söder (links) und Horst Seehofer: Bayern ist klein für diese zwei Egos Foto:Sven Hoppe/dpa
Merkel kommt nicht
■■Angela Merkel kommt nicht
zum CSU-Parteitag. Dies teilte
Horst Seehofer seinem Parteivorstand offiziell mit. Er begründete
dies nach Teilnehmerangaben
damit, dass man kein Schauspiel
abgeben, sondern ehrlich mit
der Bevölkerung umgehen wolle.
Man wolle keine Gemeinsam-
keit inszenieren. Denn in der
Zuwanderungsfrage habe man
bei Weitem noch keine Einigung
erzielt. Nötig sei „ein in sich
schlüssiges Konzept, das wir noch
nicht haben“. Es ist das erste Mal
in Merkels Kanzlerschaft, dass
sie nicht zu einem CSU-Parteitag
kommt. Seehofer betonte, die
Entscheidung sei in Übereinstimmung erfolgt. Ob er selbst
zum CDU-Parteitag im Dezember fahren wird, ließ er offen.
Seehofer rief die Unionsparteien
ungeachtet ihrer Differenzen
zum gemeinsamen Kampf gegen
ein rot-rot-grünes Bündnis auf
Bundesebene auf. (dpa)
verständlich. Seehofer prophezeit einen knallharten Wahlkampf, bei dem die CSU sich nur
behaupten könne, wenn sie mit
einem „Alphatier“ in Berlin vertreten sei. Er könne schließlich
nicht „ewig den Libero machen“,
beklagte sich Seehofer jüngst
via Bild am Sonntag. „Einmal
Schachzug Seehofers, den ungeliebten Parteifreund loszuwerden. Denn zumindest als
Ministerpräsident käme Söder
dann wohl fürs Erste nicht infrage. Aber genau das will Söder
werden. So sehr die CSU ansonsten für schnelle Abschiebungen
eintritt, so sehr pocht Söder in
diesem Fall auf sein Bleiberecht.
Bleibt er aber, könnte ihm das
den Vorwurf einbringen, er habe
die Interessen der Partei den eigenen hintangestellt.
Geht es also wieder mal nur
um die Befindlichkeiten zwischen den beiden CSU-Schwergewichten? Dass Seehofer und
Söder sich nicht wirklich leiden
können, ist in Bayern Allgemeingut, wird von beiden auch eher
pflichtschuldig als überzeugend
bestritten. Immer wieder heißt
es, Seehofer glaube, Söder habe
der Bild 2007 erzählt, dass er,
Seehofer, eine außereheliche
Affäre habe, und so seinen ersten Anlauf auf den Parteivorsitz
torpediert. Doch das sind recht
viele Konjunktive für einen Satz.
Vielleicht ist es schlicht so, dass
die CSU-Spitze nicht genug Platz
für zwei derart große Egos bietet. Zudem entstammen die
beiden Zweimetermänner völlig unterschiedlichen politischen Kulturen. Während Seehofer durchaus von – vor allem
sozialpolitischen – Grundsätzen getrieben ist, unterstellen
Beobachter seinem Kontrahenten allenfalls karrierepolitische
Grundsätze.
Beim letzten Parteitag hat
Seehofer sein schwieriges Verhältnis zu Söder schon einmal
direkt angesprochen – und heruntergespielt. „Ich mach Fehler“, sagte er, „Markus Söder
macht Fehler.“ Es werde immer
mal wieder „gewisse Vorkommnisse mit einem gewissen Unterhaltungswert“ geben, bei allen
Scharmützeln werde aber immer das Parteiwohl an erster
Stelle stehen.
Soll tatsächlich ein neuer Parteichef der CSU in Berlin stärkeres Gewicht verleihen, bleibt
nicht mehr viel Zeit. Turnus-
„Ich mach Fehler.
Markus Söder
macht Fehler“
HORST SEEHOFER
soll ich die absolute Mehrheit
in München holen und dann die
bayerischen Interessen in Berlin
durchsetzen.“ Damit die Partei
sich „personell verbreitere“, so
lockte Seehofer, wäre er auch
bereit, den Parteivorsitz abzugeben.
Viele wollten darin eine Aufforderung an Markus Söder sehen, nach Berlin zu gehen – und
gleichzeitig einen geschickten
mäßig wird der Vorstand erst
im nächsten Herbst wieder gewählt. Dann ist die Bundestagswahl gelaufen. Am wahrscheinlichsten wäre daher ein Sonderparteitag im Frühjahr. Seehofer
selbst kündigte an, die Personalentscheidungen würden im ersten Quartal 2017 fallen.
Heiß wird in der CSU auch die
Grundsatzfrage diskutiert, ob
eine Trennung der beiden Ämter der Partei mehr oder weniger Durchschlagskraft verleihen
würde. Söder ist natürlich dafür,
beides in einer Person zu vereinen, in seiner. Seehofer sieht das
neuerdings anders. Ein Blick auf
die Parteigeschichte zeigt, dass
es in der CSU bisher durchaus
gängige Praxis war, das Ministerpräsidentenamt vom CSUVorsitz zu trennen. Und dass jemand beide Ämter gleichzeitig
antrat, hat es vor Seehofer noch
nie gegeben.
Aber wer außer Söder käme
überhaupt für die SeehoferNachfolge in Frage? Parteivize
Manfred Weber? Regierungsvize
Ilse Aigner? Innenminister Joachim Herrmann? Oder gar ein
Überraschungskandidat, den
momentan noch niemand auf
der Rechnung hat?
Die „bayerische Staatskanzlei“ jedenfalls hat vergangene
Woche schon mal eine Stellenanzeige aufgegeben. Ein „Bundespräsident (m/m)“ wurde
darin gesucht. Das gewünschte
Profil: „Zwischen 48 und 50,
tier- und frauenlieb, stattliche
Erscheinung, Erfahrung in der
Leitung heimatbezogener Ministerien …“ Als Aufgaben wurden unter anderem „viele Reisen außerhalb Bayerns“ und
das „Ausmischen aus dem poli-
Die beiden Schwer­
gewichte kommen
aus unterschied­
lichen Kulturen
tischen Tagesgeschäft“ genannt.
Um irrtümliche Bewerbungen
vollends auszuschließen, folgte
noch der Hinweis: „Bei gleicher
oder höherer Qualifikation wird
Markus Söder bevorzugt.“ Gut,
verbreitet wurde die Anzeige via
Twitter vom BR-Satiremagazin
Quer, ihre Authentizität ist daher nicht zweifelsfrei gesichert.
Horst Seehofer jedenfalls dürfte
sie gefallen haben.
07
Saar-AfD
macht weiter
Schiedsgericht
stoppt Auflösung
WAHL
BERLIN taz | Nach den vergan-
genen Landtagswahlen war die
Reaktion der AfD-Bundesspitze
stets so: Frauke Petry und Jörg
Meuthen traten in Berlin vor
die Presse, freuten sich über den
neuen Erfolg und verkündeten
das Ziel, im September 2017 in
den Bundestag einzuziehen. Im
März, wenn das Saarland einen
neuen Landtag wählt, könnte es
anders kommen. In einer Mail
an die Mitglieder haben Petry
und Meuthen im Namen des
Bundesvorstands den saarländischen Landesvorstand aufgefordert, nicht an der Wahl teilzunehmen und die Kandidatenlisten zurückzuziehen: „Dieser
Schritt sollte mit Rücksicht auf
die Gesamtpartei im wichtigen
Wahljahr 2017 erfolgen.“
Die AfD-Spitze reagiert damit auf eine Entscheidung des
Bundesschiedsgerichts
der
Partei vom Wochenende. Dieses hatte entschieden, den Landesverband Saar nicht aufzulösen, obwohl der Bundesvorstand
dies „aufgrund schwerwiegender Verstöße gegen die politische Zielsetzung und die innere
Ordnung der Partei“ beschlossen hatte. Der Bundesparteitag
war Ende April dieser Auffassung mehrheitlich gefolgt. Der
Grund: Kontakte zu Rechtsextremisten von Landeschef Josef
Dörr und auch von seinem Vize
Lutz Hecker. Diese riefen das
Schiedsgericht der Partei an –
mit Erfolg.
Zwar habe das Gericht den
Anschuldigungen gegen Dörr
und Hecker geglaubt, sagte Bundesvorstandsmitglied Dirk Driesang der taz. Die Auflösung des
Landesverbands sei aber als „unverhältnismäßig“ eingestuft
worden, weil sonst der ganze
Landesverband für die Vorsitzenden in Mithaftung genommen worden wäre. „Aber im gesamten Landesvorstand gab es
einen Mangel an Selbstreflexion“, so Driesang. Gegen Dörr
und Hecker laufen nun noch
Parteiausschlussverfahren.
„Natürlich werden wir zur
Wahl antreten“, sagt Landessprecher Rudolf Müller. Ganz vorn
unten den Kandidaten: Dörr,
Hecker und auch Müller selbst.
Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft Saarbrücken, weil
er in seinem Geschäft Hakenkreuzorden verkauft hatte. Alle
drei haben gute Chancen, im
Frühjahr in den Landtag einzuziehen. SABINE AM ORDE
08
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Wirtschaft + Umwelt
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
NACH RICHTEN
SCHADSTOFFE
REGIONALES SCH I EN EN N ETZ
DATEN BAN K GI BT ÜBERBLICK
ZAH L DES TAGES
Jedes siebte Kind weltweit atmet giftige Luft
Umweltschützer
wollen mehr Geld
Macht der Roboter
bald meinen Job?
Werbefuzzis wollen
über den Kanal
BERLIN | Bei den geplanten Mil-
NÜRNBERG | „Macht ein Robo-
liardeninvestitionen in Straßen,
Schienen und Wasserwege kommen aus Sicht von Umweltschützern vor allem regionale Bahnprojekte zu kurz. „Die Bahn als
alternativer Verkehrsträger ist
auf der Strecke geblieben“, kritisierte der Vorsitzende des Bunds
für Umwelt und Naturschutz,
Hubert Weiger, den neuen Bundesverkehrswegeplan. Das Konzept sieht bis 2030 Investitionen
von fast 270 Milliarden Euro in
die Verkehrswege vor. 42 Prozent davon fließen in Schienenprojekte. (dpa)
ter künftig meinen Job?“ – einen Überblick über die Ersetzbarkeit menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen, Roboter
und Computerprogramme liefert seit dieser Woche eine Internetdatenbank. Interessierte
können dort ihren Beruf eingeben – der „Job-Futuromat“ liefert dann Angaben zur „Automatisierbarkeit“ ihrer Arbeit als
Prozentzahl. Initiiert hat die Datenbank die ARD im Rahmen ihrer Themenwoche zur „Zukunft
der Arbeit“. Hier ist sie: https://
job-futuromat.ard.de. (dpa)
For heaven’s sake! Der Brexit
wird nun auch für uns Kontinentaleuropäer immer ungemütlicher: Nicht nur, dass erbsenzählende Banker aus London rübermachen, jetzt droht
uns auch noch der Umzug dieser total überflüssigen Werbefuzzis: Weil die Umsätze „nur“
noch um 2,8 Prozent stiegen,
will die weltgrößte Werbeagentur WPP sich nun
stärker jenseits
des Kanals engagieren
–
vor allem in
Deutschland.
NEW YORK | Das Kinderhilfswerk
Unicef schlägt Alarm: 300 Millionen Kinder weltweit füllen
ihre Lungen mit extrem giftiger Luft. Konkret ist jedes siebte
Kind einer Luftverschmutzung
ausgesetzt, die das Sechsfache
oder mehr des von der Weltgesundheitsorganisation gesetzten Richtwerts überschreitet.
Unicef veröffentlichte die auf
Satellitendaten basierende Studie am Montag in New York.
Demnach sind Kinder in Südasien, im Mittleren Osten und
in Afrika sowie in der ostasiatischen und der Pazifikregion am
stärksten gefährdet. Zu den am
schlimmsten luftverseuchten
Städten der Welt gehören demnach Onitsha (Nigeria), Zabol in
Iran, das indische Gwallor, Riad
in Saudi-Arabien sowie Peschawar im Nordwesten von Pakistan. Europa und Nordamerika
sind auf der Unicef-Liste nicht
zu finden. Der Bericht erscheint
eine Woche vor Beginn der Klimakonferenz COP 22 in Marrakesch. Er appelliert an deren
Teilnehmer, dem Gesundheitsrisiko für Kinder durch toxische
Stoffe in der Luft mehr Beachtung zu schenken und die Belastung in ihren Ländern dringend
abzubauen. (dpa)
Stürmische Zeit für
Windanlagenbauer Enercon
Die Vorstands-Vizechefin muss gehen.
Auslöser ist wohl ein Konflikt um die Strategie
ENERGIE
BERLIN taz | Deutschlands größ-
ter
Windkraftanlagenbauer
Ener­con steckt in Turbulenzen.
Nach Konflikten um die Geschäftsstrategie hat die bisherige Vizevorsitzende des Vorstands, Nicole Fritsch-Nehring,
aufgegeben. Enercon ist nach
wie vor Marktführer in Deutschland, aber der Vorsprung zur
Konkurrenz nimmt ab.
„Auf eigenen Wunsch“ lege
Fritsch-Nehring ihre Funktion
bei Enercon zum 31. Oktober nie-
Im deutschen Markt
ist Enercon vor allem
der Konkurrent
Vestas auf den Fersen
der, heißt es in einer Mitteilung
des Unternehmens. Die Managerin war bisher Vizechefin der
Aloys-Wobben-Stiftung, in der
der Gründer seine Gesellschaftanteile gebündelt hat.
Zugleich leitete sie als Geschäftsführerin die Konzerngesellschaft, die das operative
Geschäft führt. Vorstandschef
Hans-Dieter Kettwig und Simon-Hermann Wobben, ein
Neffe des Gründers, werden
Fritsch-Nehrings Aufgaben nun
übernehmen.
Zu den Gründen des Abgangs
machte die Firma keine Anga-
über, welche Aktivitäten Enercon selbst durchführen und welche man an externe Dienstleister auslagern solle. Beschäftigte
berichten, dass im Vergleich zu
früher mehr Logistik- und Wartungsaufträge an Fremdfirmen
vergeben würden. Ein Unternehmenssprecher sagte dagegen, die Einbindung von Dienstleistern sei „nichts Neues“.
Heute macht Enercon fast alles selbst. Das reicht von der Produktion der Türme für die Windanlagen, der Generatoren und
Rotorblätter bis zu Aufbau und
Wartung der Kraftwerke. Die Fertigungstiefe soll 80 Prozent betragen.
Die Firma lebt von hochentwickelten, dafür aber auch relativ teuren Anlagen. Die rund
20.000 Beschäftigten erwirtschafteten 2014 einen Umsatz
von rund 5 Milliarden Euro, wobei 500 Millionen Euro als Gewinn übrig blieben. Derart hohe
Umsatzrenditen erzielen nicht
viele Firmen.
Allerdings schmilzt der Vorsprung. Im deutschen Markt
ist Enercon vor allem der Konkurrent Vestas auf den Fersen.
Im weltweiten Geschäft sank
Enercons Marktanteil von fast
10 Prozent 2013 auf 5 Prozent
in 2015. Dabei mag eine Rolle
spielen, dass teure Anlagen weniger Abnehmer finden, weil
unter anderem Deutschland
Nix da mit sauberer Luft Foto: ap
2,8
Rettung für Kaiser’s in Sicht
HANDEL Durchbruch bei Schlichtung im Supermarktstreit: 15.000 Beschäftigte können
aufatmen, verspricht Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Verdi freut sich
VON RICHARD ROTHER
Neue Hoffnung für die 15.000
Beschäftigten der Supermarktkette Kaiser’s Tengelmann. „Die
Schlichtung ist heute erfolgreich abgeschlossen worden“,
sagte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) am
Montag. Großen Anteil daran
hatte wohl auch Exbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), der
die Schlichtungsgespräche zwischen den verfeindeten Supermarktketten leitete. „Ich gehe
nicht davon aus, dass es noch irgendeinen Stolperstein für den
Vollzug der Schlichtungsvereinbarung geben kann“, zeigte sich
Gabriel optimistisch. Grundlage bilde ein durch die Schlichter verhandelter Interessenausgleich, über den Stillschweigen
vereinbart worden sei.
Bis zum 11. November solle die
Klage von Rewe gegen eine Sondererlaubnis des Bundeswirtschaftsministeriums zurückgezogen werden, so Gabriel. Der
Discounter Norma und die internationale Handelkooperation Markant hatten ihre Klagen gegen eine Übernahme der
Kaiser’s-Filialen durch den Branchenführer Edeka bereits zurückgezogen, obwohl diese juristisch erfolgversprechend waren.
Allerdings müssten noch finanzielle Aspekte für den Interessenausgleich der beteiligten
Unternehmen geklärt werden,
so Gabriel. Dies sei ein technischer Prozess, er könne bis Freitag dieser Woche abgeschlossen werden. Die Arbeitsplätze
der betroffenen Arbeitnehmer
seien nun für sieben Jahre gesichert. „Verkäuferinnen, Fleischer, Lagerarbeiter, Fahrer,
Gilt für Waren, nicht für Verkäuferinnen Foto: Wolfram Kastl/dpa
Verwaltungsmitarbeiter und
alle anderen Mitarbeiter von
Kaiser’s Tengelmann können
Weihnachten ohne Angst um
ihren Arbeitsplatz feiern.“
„Nun ist klar, dass die Einigung komplett auf der Basis
der Ministererlaubnis vollzogen
wird“, sagte Verdi-Chef Frank
Bsirske. Der Tag der Einigung sei
ein guter Tag für die Beschäftigten. Ausdrücklich wolle er sich
bei Gabriel für dessen beharrlichen Einsatz für den Erhalt der
Arbeitsplätze bedanken.
Andere mahnten zur Vorsicht. „Wir waren schon einmal
euphorisch“, sagte der Betriebsratsvorsitzende von Kaiser’s
Tengelmann, Volker Bohne,
„Ich gehe nicht
davon aus, dass es
noch irgendeinen
Stolperstein für den
Vollzug der Schlichtungsvereinbarung
geben kann“
BUNDESWIRTSCHAFTSMINISTER GABRIEL
dem Berliner Tagesspiegel. Es
seien „viele Fragen noch offen“,
so Bohne. „Die Berliner Filialen
sind erst dann gerettet, wenn es
eine Einigung für das gesamte
Unternehmen gibt.“
Für die Dauer des Schlichtungsverfahrens war vereinbart worden, keine Kaiser’sTengelmann-Filiale an Dritte zu
verkaufen. Damit wurde die bereits eingeleitete Zerschlagung
der Supermarktkette vorerst
gestoppt. Kaiser’s Tengelmann
schreibt seit 17 Jahren Verluste.
Die Tengelmann-Gruppe als Eigentümer möchte sich deshalb
von der Kette trennen. Vor zwei
Jahren sollte sie an Edeka verkauft werden.
Widerspruch, wo keiner möglich ist
NETZ
Enercon zum Anfassen: Teil einer alten Anlage Foto: Paul Langrock/Zenit
ben. Offenbar war es aber zu Differenzen über den weiteren Weg
des Unternehmens gekommen.
Über Fritsch-Nehring wird berichtet, dass sie internationales
Personal in die Führungsebenen
nach Aurich holte. Dies haben
manche wohl als Bedrohung
und Abweichung vom gewohnten Kurs empfunden. Bisher ist
Enercon ein oftmals patriarchal
geführtes Unternehmen, in dem
das Wort des Gründers und seiner Vertrauten Gesetz war.
Zudem gab es möglicherweise
Auseinandersetzungen
dar­
die Finanzierung der erneuerbaren Energien von festen Fördersätzen auf Ausschreibungen
umstellt. Billigere Kraftwerke
bekommen dann eher den Zuschlag als teure.
In der Vergangenheit ist die
Firma nicht nur als Vorzeigeunternehmen der Energiewende
aufgefallen.
Gewerkschafter
und manche Betriebsräte beschwerten sich, dass sie im Reich
der Wobbens nicht ihrer normalen Tätigkeit als Arbeitnehmervertreter nachgehen könnten.
HANNES KOCH
EU-Datenschützer fordern einen Stopp des Datenaustauschs zwischen WhatsApp und Facebook
BERLIN taz | WhatsApp und der
Mutterkonzern Facebook geraten in das Visier von Datenschützern der EU. Den Mitarbeitern der Artikel-29-Arbeitsgruppe, die die EU-Kommission
in Datenschutzfragen berät,
geht es dabei um die Weitergabe
von Nutzerdaten an Facebook
durch WhatsApp. Die letzte Änderung der Nutzungsbedingungen, die das erlaubt, habe „eine
große Unsicherheit bei Nutzern
und Nichtnutzern“ des Dienstes ausgelöst, heißt es in einem
Brief an WhatsApp-Mitgründer
und -Chef Jan Koum.
Facebook hatte den Messenger-Dienst WhatsApp vor zwei
Jahren übernommen. Damals
betonte Facebook noch, dass
WhatsApp unabhängig bleiben solle. Im August dann die
Wende: WhatsApp kündigte an,
dass unter anderem dem Konto
zugeordnete Handynummern
an Facebook übermittelt werden. Widerspruch gegen die
Übermittlung ist nicht möglich.
Die Änderung betrifft nach
dem Verständnis von Verbraucherschützern auch Nutzer, die
Facebook und/oder WhatsApp
nicht verwenden. Denn zum einen erfolge die Übermittlung
unabhängig davon, ob die Nutzer einen Facebook-Account haben. Zum anderen würden auch
Telefonnummern von Menschen ohne WhatsApp-Konto
übermittelt. Denn das Unternehmen räumt sich laut dem
Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) das Recht ein,
das gesamte Telefonbuch an
Face­book zu übertragen.
Die Arbeitsgruppe fordert
Koun nun unter anderem dazu
auf, eine Liste der Datenkategorien, die zwischen den Unternehmen ausgetauscht werden, bereitzustellen und anzugeben, aus welcher Quelle diese
Daten jeweils stammen. Bis entschieden sei, ob der Datenaustausch zwischen den Unternehmen rechtens ist, fordere man
WhatsApp auf, die Übermittlung
zu stoppen.
Ob WhatsApp dieser Bitte
nachkommen wird, ließ das
Unternehmen auf Anfrage offen. Wahrscheinlich ist es allerdings nicht – denn auf bisherige Versuche, den Datenaustausch zu stoppen, hat es wenig
kooperativ reagiert. Der Hamburger Datenschutzbeauftragte
untersagte die Praxis bereits im
September – doch das Unternehmen wehrt sich dagegen vor Gericht. Der vzbv hat WhatsApp abgemahnt. Da das Unternehmen
nicht reagiert habe, prüfe man
nun eine Klage. SVENJA BERGT
Meinung + Diskussion SEITE 12
Wirtschaft + Umwelt
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
Knacks in der Beziehung
in Peking ansprechen – und wird bereits vor seiner Reise ins Reich der Mitte düpiert
Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzen von Leserbriefen vor.
Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
■■betr.: „Jazz. Der Klang der Felsen“, taz vom 29. 10. 16
Die Provinz zieht mit Berlin gleich. Auch das Würzburger Jazzfestival vom Wochenende hatte in seinem richtig guten und
abwechslungsreichen Programm genauso viele Gruppierungen
unter weiblicher wie unter männlicher Leitung. Ganz so schlecht
sieht es mit dem männlichen Überhang beim Jazz also nicht
mehr aus. Auch im Publikum überwiegen die männlichen Zuhörer kaum noch. Das ist doch eine erfreuliche Entwicklung!
DORIS WÖRLER,Rödelsee
Folgen der Globalisierung
■■betr.: „Europäer, hört die Signale“, taz vom 31. 10. 16
Auf Einkaufstour: Chinesische Investoren wollen auch die Osram-Sparte Levance übernehmen Foto:Jörg Koch/ddp
„Für einige Branchen
ist der Markt vollständig verschlossen“
JÖRG WUTTKE, EU-HANDELSKAMMER
Beispiel ist die Übernahme des
Augsburger Roboter-Herstellers
Kuka durch den chinesischen
Elektrohersteller Midea.
Haben deutsche Unternehmen in den letzten beiden Jahrzehnten kräftig in der Volksrepublik investiert, hat sich der
Trend zuletzt umgekehrt. China
ist nun fleißig in Deutschland
und Europa auf Einkaufstour.
2015 haben chinesische Firmen
nach Angaben der Europäischen
Handelskammer in Peking für
22 Milliarden Euro in Europa
investiert, umgekehrt waren
es nur 10 Milliarden. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
Ernst & Young hat errechnet,
dass China die Investitionen allein in Deutschland im ersten
Halbjahr bei rund 10 Milliarden Dollar lagen.
Während es chinesischen Firmen leicht gemacht werde, in
Deutschland oder anderen europäischen Ländern Fuß zu fassen, stünden die hiesigen Investoren umgekehrt vor einer Chinesischen Mauer, beklagt Jörg
Wuttke, Präsident der EU-Handelskammer in Peking. „Für einige Branchen ist der Markt vollständig verschlossen.“
Vor allem seine Finanzwirtschaft und die Bauindustrie
schottet China seit Jahrzehnten
ab. Doch selbst die deutsche Autoindustrie, die zuvor gute Geschäfte im Reich der Mitte gemacht hatte, sieht sich Protektionismus ausgesetzt. Westliche
Hersteller durften schon bislang
nur im Verbund mit chinesischen Partnerfirmen in China
produzieren. Zugleich mussten
sie sämtliche technischen Pläne
offenlegen.
Neue Gesetzespläne fordern,
dass die Herstellung von Elekt-
roantrieben für Fahrzeuge künftig nur noch in Gemeinschaftsunternehmen möglich sind,
bei denen die chinesische Seite
die Mehrheit hat. „Wenn das geplante Gesetz so kommt, liefe
das auf einen erzwungenen,
kompletten Technologietransfer hinaus“, sagt ein Branchenkenner.
Zugleich sorgt ein weiteres
Thema unter deutschen Autobauern für schlechte Stimmung. Die chinesische Führung
plant eine Quote für Elektroautos. Nach einem noch nicht im
Detail genannten Punktesystem sollen ausländische Hersteller bereits ab 2018 einen
bestimmten Anteil an Elektround Hybridautos bauen und
verkaufen. Erreichen sie dieses
Ziel nicht, müssen sie ihre Produktion drosseln oder Konkurrenten Punkte abkaufen. Sollte
dieser Plan umgesetzt werden,
würden sie über solche Strafzahlungen quasi ihre lokalen Wettbewerber mitfinanzieren.
Günther-Gate belastet Juncker
„Schlitzaugen“-Causa von Kommissar Oettinger wird zum Problem für EU-Kommissionschef
BRÜSSEL taz | Wenige Tage nach
seiner überraschenden Nominierung zum Haushaltskommissar wird Günther Oettinger (CDU) zur Belastung für die
Brüsseler EU-Behörde und ihren
Chef, Jean-Claude Juncker. Denn
Oettingers „saloppe“ Bemerkungen zu Chinesen, Homosexuellen und Wallonen haben ein
peinliches Nachspiel.
Fast eine Stunde lange musste
sich Junckers Sprecher Margaritis Schinas am Montag bohrenden Fragen von Journalisten
stellen, die auf Oettingers umstrittene Äußerungen abzielten.
Es war das erste Mal in Junckers
zweijähriger Amtszeit, dass er
derart ins Kreuzfeuer geriet.
Bei einem Vortrag in Hamburg hatte Oettinger mit Blick
auf die wirtschaftliche Konkurrenz aus China von „Schlitzohren und Schlitzaugen“ gesprochen. Zudem hatte er sich über
eine angeblich geplante „PflichtHomo-Ehe“ lustig gemacht und
behauptet, die belgische Region
Wallonien werde von Kommunisten regiert.
Rassistisch, homophob und
eines Kommissars unwürdig,
empfanden viele Korrespondenten. Ob Juncker von Oettinger
eine Entschuldigung gefordert
habe, wollten die Journalisten
taz.die tageszeitung | Rudi-Dutschke-Str. 23 | 10969 Berlin
[email protected] | www.taz.de/zeitung
Erfreuliche Entwicklung
AUS PEKING FELIX LEE
EUROPA
09
LESERI N N EN BRI EFE
INVESTITION Deutsche Firmen haben es in China immer schwerer. Gabriel will das
Schwere Verstimmungen – das
hat es angesichts der guten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und China
schon lange nicht mehr gegeben. Einen Tag vor dem Besuch
von Wirtschaftsminister Sigmar
Gabriel (SPD) in Peking hat das
chinesische Außenministerium
am Montag den deutschen Gesandten einbestellt und ihm
eine Protestnote übergeben.
Zuvor hatte bereits der Minister
der einflussreichen Nationalen
Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC) ein Treffen mit
Gabriel abgesagt.
Über den genauen Inhalt der
Protestnote wollte die Deutsche
Botschaft am Montag keine Auskunft geben. Nur so viel: Die Einbestellung steht im Zusammenhang mit einer Ankündigung
Gabriels aus der vergangenen
Woche. Da hatte Gabriel bekannt
gegeben, die Übernahme des
deutschen Spezialmaschinenherstellers Aixtron als auch die
der Osram-Sparte Levance durch
chinesische Investoren überprüfen zu wollen.
Das Wirtschaftsministerium
begründet diesen Schritt damit,
„sicherheitsrelevante Technologien“ vor staatlich gelenkten Unternehmen besser schützen zu
wollen. Gabriel hatte die Wirtschaftspolitik Chinas schon vor
seiner Reise mit ungewöhnlich
harschen Worten kritisiert und
angemahnt, den Spielregeln der
Marktwirtschaft zu folgen.
Bei den meisten chinesischen
Investoren, die in Deutschland
derzeit auf Einkaufstour sind,
handelt es sich um staatsgetriebene Unternehmen, die unmittelbar der chinesischen Führung unterstehen oder kräftig
von ihr unterstützt und damit
kontrolliert werden. Was dabei auffällt: Die Zukäufe finden
vor allem in Branchen statt, die
für Chinas Regierung von strategischer Bedeutung sind. Ein
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
wissen. Doch Schinas wiegelte
ab. Oettinger habe doch alles
klargestellt. Per Interview hatte
dieser die Vorwürfe zurückgewiesen.
Für Juncker sei der Fall damit
erledigt, erklärte sein Sprecher.
Für das EU-Parlament allerdings
noch nicht. Dort muss Oettinger
noch eine Anhörung über sich
ergehen lassen, die klären soll,
ob er für sein neues Amt geeignet ist. Danach soll auch eine Abstimmung stattfinden. Und die
könnte zum Debakel werden.
Denn nach einer – nicht repräsentativen – Umfrage des
Brüsseler Online-Magazins Politic“ sprechen sich 73 Prozent
der Abgeordneten für eine Entlassung des deutschen Kommissars aus. Die könnte zwar
nur Juncker durchsetzen – nur
der Kommissionschef hat das
Recht, Kommissare zu nominieren und zu feuern. Doch wenn er
73 Prozent der Abgeordneten sprechen
sich für eine Entlassung Oettingers aus
Des isch d‘ Günder, dr noie Haushaldskommissar Foto: Rolf Vennenbernd/dpa
darauf verzichtet, wird das Oettinger- zum Juncker-Problem.
Längst ist der Luxemburger
in Bedrängnis. Er kann nämlich nicht erklären, warum er
Oettinger im Eilverfahren vom
Digital- zum Haushaltskommissar befördert hat. Amtsinhaberin Kristalina Georgiewa wechselt erst Anfang 2017 zur Weltbank. Juncker hätte also noch
genug Zeit gehabt, mit Oettinger zu sprechen oder einen anderen Nachfolger zu suchen.
Doch offenbar stand er unter
Druck. In Brüssel wird vermutet, dass Juncker mit seiner Eilentscheidung vor allem seinen
Kabinettschef Martin Selmayr
schützen wollte, der Georgiewa
das Leben schwergemacht haben soll. Außerdem steht Juncker unter Druck aus Berlin, in
der Budgetpolitik weniger „politisch“ und mehr in deutschem
Sinne zu entscheiden.
So oder so will Juncker an Oettinger festhalten. Auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) stellte
sich hinter ihn: Sie habe „selbstverständlich“ volles Vertrauen
in Oettinger, ließ sie ihren
Sprecher in Berlin erklären. Allerdings: Schon einige Politiker
mussten gehen, nachdem Merkel ihnen das Vertrauen ausgesprochen hatte.
Ich verstehe die jetzt weitergeführte Europadebatte als Teil einer
Auseinandersetzung mit den Folgen der Globalisierung:
Es ist doch bemerkenswert, dass der ökonomische Riese Deutschland zirka 20 Prozent seines Außenhandelsüberschusses einfach
verbrennen lassen muss, weil die „Partnerländer“ keine adäquaten Gegenleistungen erbringen können und vom Rest auch noch
erhebliche Beträge zur Weiterverwendung bei der EZB geparkt
wird. Da sind Ceta und insbesondere TTIP auch zur Absicherung
weiterer Exporterlöse, weil diese Märkte eventuell noch ertragreicher sein könnten als die maroden Länder am Rande Europas.
Gleichzeitig sind diese Abkommen auch Bollwerke gegen das
weitere Vordringen Chinas, das ja schon Südostasien und den
afrikanischen „Markt“ beherrscht.
Der Widerspruch der Wallonen mitten in Europa ist Beispiel für
die Kehrseite der Expansion des Kapitals weg aus inzwischen
geschwächten Regionen in Märkte, die noch Chancen bieten.
Niemand behandelt ernsthaft das Thema Südosteuropa, wo vor
dem Zusammenbruch der Warschauer-Pakt-Staaten zumindest
niemand hungerte und ihre Bewohner als Gegenleistung fürs
Stillhalten sozial besser abgesichert waren. Vor dem Eindringen
von Lidl konnte zumindest die Landwirtschaft dafür sorgen, dass
Menschen in Lohn und Brot bleiben. VW, Audi und Mercedes
konnten sich wenige gut qualifizierte und billigere Fachkräfte
für eine noch weiter automatisierte Produktion suchen und
dafür sogar noch Subventionen einstreichen!
Die Regionen Europas müssen sich dem ökonomischen Diktat
der Globalisierung widersetzen. Es muss sichergestellt werden,
dass mindestens Ernährung, Energie, Gesundheitswesen und
Verkehr vor Ort gesichert bleiben und vor multinationalen
Trends geschützt bleiben. Nur demokratisch selbstbestimmte Regionen garantieren ein friedliches Zusammenwirken der Völker.
DIETMAR RAUTER, Kronshagen
Bezüge zu Carl Schmitt
■■betr.: „Das Unbehagen an der Ausgezeichneten“,
taz vom 29. 10.16
Vielen Dank an Martin Reichert für seine parteiliche Positionierung für die humanistische Preisträgerin Carolin Emcke und
gegen ein diffus raunendes Feuilleton, welches (auch schon in
der taz) ein gewisses Unbehagen nicht unbeschrieben lassen
möchte. Das der exlinke Welt-Mann Thomas Schmid, der mit seinem Springer-Chef Döpfner schon „1968“ neu ausdeuten wollte,
sich durch moralische Unbedingtheit unangenehm berührt
fühlen kann: geschenkt. Dass die Zeit, deren Chef Di Lorenzo
unlängst den eleganten Nachweis führte, die kulturpolitische
„Hegemonie“ der Grünen habe die AfD hervorgebracht, Emcke
unterkomplex findet: so what?
Mein Eindruck ist, dass die rasante deutsche und europäische
Rechtsentwicklung ihre Spuren in redaktionellen Köpfen und
Medien hinterlässt. „Links“ ist schon lange nicht mehr chic, und
„linksliberal“ ist weithin auch nicht mehr cool. Wer sich berühren lässt von dem, was leider ist, steht unter dem Verdacht mangelnder Professionalität und analytischer Distanz. Philosophische Köpfe wie Foucault und Sartre konnten sich böse streiten,
um sich dann aber bei denselben Pariser Demos wiederzufinden.
Wer den Festakt der Preisverleihung als „Feldgottesdienst“ insinuiert und deren Teilnehmer als „linksliberale Sekte“ (T. Schmid)
ausmacht, verrät höchstens Bezüge zu Carl Schmitt und dass er
dieser „Sekte“ nicht zugehören will. Ich aber schon.
ALBERT LANGE, Detmold
Mainstream hinterfragen
■■betr.: „Berlin grüßt Köln – die nächste Sparrunde betrifft die Domstadt“, taz vom 28. 10. 16
Nicht nur in Berlin, Köln oder bei der derzeit ebenfalls noch
aus dem Hause Dumont stammenden Hamburger Morgenpost:
Auch anderswo in der Republik werden die Auflagen gedruckter
Tageszeitungen regionaler sowie überregionaler Art zukünftig
weiter abnehmen – und das keineswegs nur wegen der Konkurrenz des kostenfreien Internets. Sogar selbst ernannte „Qualitätszeitungen“ verkommen immer mehr zu einem ungefilterten
und unkritischen Sprachrohr des neoliberalen Mainstreams.
Dass sogar die ehemals linke Frankfurter Rundschau aktuell
diejenigen belgischen Regionen kritisiert, die den Mut haben,
das Ceta-Abkommen mit Kanada ernsthaft infrage zu stellen,
spricht in diesem Zusammenhang Bände. Um die neoliberalen
Internet- und Fernsehschlagzeiten lediglich ungefiltert sowie
unkritisch schwarz auf weiß bestätigt zu bekommen, brauche ich
kein Zeitungsabonnement. Stattdessen erwarte ich von einer Tageszeitung, diese Mainstream-Inhalte ernsthaft zu hinterfragen
und dabei auch die Kehrseite(n) der jeweiligen Medaillen „beim
Namen zu nennen“, denn nur so ist heutzutage noch eine allseitig umfassende Information und Meinungsbildung möglich.
ELGIN FISCHBACH, Leimen
10
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Ausland
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
NACH RICHTEN
BRASI LI EN
KEN IA/SUDAN
GEORGI EN
VEREI N IGTE STAATEN
SCHWEDEN
Sektenbischof wird Bürgermeister von Rio
Zwei Präsidenten
gegen Den Haag
Durchmarsch für
Regierungspartei
Rennen um das
Weiße Haus offener
Papst am 500.
Jahrestag in Malmö
BERLIN | Die Präsidenten Kenias
TIFLIS | Die regierende Partei Ge-
WASHINGTON | Eine Woche vor
und Sudans haben gemeinsam
ihre Ablehnung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH)
bekräftigt. Der Sudanese Omar
Hassan al-Bashir, der vom IStGH
mit Haftbefehl gesucht wird,
habe den Kenianer Uhuru Kenyatta bei dessen zweitägigem
Sudanbesuch über die Schritte
zum Austritt aus dem Weltgericht gebrieft, erklärte Sudans
Regierungssprecher
Ahmed
Bilal zum Abschluss des Staatsbesuches am Sonntagabend.
„Wir glauben, dass Kenia jetzt
austreten will“, so Bilal. (taz)
orgischer Traum hat sich nach
der zweiten Runde der Parlamentswahlen in der Südkaukasusrepublik Georgien eine verfassungsändernde Mehrheit
gesichert. Die linksliberale Partei erhalte 115 von 150 Mandaten, teilte die Wahlkommission
in Tiflis am Montag mit. Zweitstärkste Kraft wird die oppositionelle Vereinte Nationale Bewegung (UNM) mit 27 Sitzen.
Zudem ist die als prorussisch
geltende Partei Allianz der Patrioten mit sechs Mandaten vertreten. (dpa)
der Präsidentschaftswahl ist
das Rennen um das Weiße Haus
wieder offen. Nachdem Hillary Clinton erneut von ihrer EMail-Affäre eingeholt worden
ist, konnte Donald Trump seine
schon zuvor begonnene Aufholjagd fortsetzen. Meinungsumfragen vom Montag sehen Hillary Clinton nun nur noch mit
ein bis zwei Prozentpunkten in
Front. Trump konnte auch in einigen Staaten wie Florida aufholen. Clinton führt noch deutlich,
wenn es um die Zählung der
Wahlmänner geht. (dpa)
LUND | Papst Franziskus hat das
Gedenken an die Reformation
als neue Chance für die Annäherung von Katholiken und Lutheranern bezeichnet. „Wir dürfen uns nicht mit der Spaltung
und der Entfremdung abfinden“,
sagte der Pontifex am Montag
im südschwedischen Lund, wo
er mit lutherischen Geistlichen
einen gemeinsamen Gottesdienst feierte. Am Montag begannen offiziell die Feierlichkeiten zum 500. Jahrestag der
Reformation 2017. Aus diesem
Anlass ist der Papst für zwei Tage
nach Schweden gereist. (dpa)
RIO DE JANEIRO | Der frühere Sek-
Gewählt: Marcelo Crivella Foto: ap
tenbischof Marcelo Crivella (59)
regiert künftig Brasiliens Metropole Rio de Janeiro. Der für Attacken auf Schwarze und Schwule
berüchtigte Senator von der
rechten Republikanischen Partei PRB gewann am Sonntag mit
59,36 Prozent der Stimmen die
Stichwahl gegen Marcelo Freixo
von der Partei Sozialismus und
Freiheit. Crivella hatte in der
Vergangenheit mit drastischen
Aussagen für Wirbel gesorgt.
Über Schwule sagte er: „Sie sind
Opfer eines schrecklichen Übels
und leben ohne Frieden.“ (dpa)
Fast absolute Mehrheit für
prorussischen Kandidaten
Der Sozialist Igor Dodon trifft in
Präsidentenstichwahl auf die Liberale Maia Sandu
REPUBLIK MOLDAU
BERLIN taz | Über das nächste
Staatsoberhaupt der Republik Moldau werden die Wähler
in einer Stichwahl am 13. November entscheiden. Bei der
ersten Runde der Präsidentenwahlen am vergangenen Sonntag erreichte der Kandidat der
Sozialisten, Igor Dodon, 48,5
Prozent der Stimmen. Seine liberale Konkurrentin, die ehemalige
Bildungsministerin
Maia Sandu, kam auf 38,2 Prozent. Die Ergebnisse der übrigen
sieben Kandidaten lagen im einstelligen Bereich. Die Wahlbeteiligung betrug knapp 49 Prozent.
Die Abstimmung war die
erste direkte Präsidentenwahl
seit 20 Jahren. Ab 2000 wurde
der Präsident vom Parlament
gewählt – eine Regelung, die das
Verfassungsgericht im vergangenen März kippte. Vor allem
ging es um die Frage des künftigen außenpolitischen Kurses
des zwischen Rumänien und
der Ukraine gelegenen 3,5-Millionen-Einwohner-Staates.
Igor Dodon, der am Sonntag
seinen Sieg als „unausweichlich“
bezeichnete, strebt eine stärkere Hinwendung der Republik
Moldau zu Russland an. Nur mit
dem Modell Putin könnten die
Ordnung in Moldau wieder hergestellt und traditionelle Werte
verteidigt werden, sagte er ge-
genüber der französischen Tageszeitung Le Monde am Wahlabend. Im Falle eines Wahlsieges
hat er bereits eine Volksbefragung zur geopolitischen Ausrichtung des Landes angekündigt. Beobachter schließen auch
nicht aus, dass er das 2014 mit
der EU abgeschlossene Assoziierungsabkommen zur Disposition stellen könnte.
Demgegenüber steht Maia
Sandu, die auch gute Kontakte
zu Washington unterhält, für
eine stärkere Integration Moldaus in Europa. Doch diese Option ist immer weniger Moldauern zu vermitteln. Dafür
zeichnet eine prowestliche Regierungskoalition verantwortlich. Diese ist seit 2009 an der
Macht, hat im Kampf gegen Korruption keine nennenswerten
Erfolge vorzuweisen. Im Gegenteil: Vorläufiger Höhepunkt war
ein Korruptionsskandal, der im
Frühjahr 2015 öffentlich wurde.
Von drei Banken war umgerechnet eine Milliarde Euro illegal
ins Ausland transferiert worden.
„Die politische Klasse ist außer Atem“, sagt der moldauische
Politologe Dionis Cenusa. „Angesicht dessen hat der Präsident
genügend Hebel, den Prozess
der europäischen Integration
zu behindern.“ BARBARA OERTEL
Meinung + Diskussion SEITE 12
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Wilders verändert den Diskurs
NIEDERLANDE Geert Wilders steht vor Gericht. Anstiftung zu Diskriminierung und Hass
wirft die Anklage ihm vor. Politisch wird der Rechtspopulist keinen Schaden erleiden
Zum Prozess ist der politische Brandstifter Geert Wilders erst gar nicht erschienen Foto: Remko De Waal/dpa
AUS AMSTERDAM FABIAN BUSCH
Ein fensterloser Raum im Justizkomplex, einem grauen Klotz
neben dem Amsterdamer Flughafen. Es herrschen hohe Sicherheitsvorkehrungen, auch wenn
der angeblich gefährdetste
Mann des Landes gar nicht gekommen ist. Per Videobotschaft
hatte der Rechtspopulist Geert
Wilders seine Absage in der vergangenen Woche übermittelt:
„Das ist ein politischer Prozess,
und ich weigere mich, daran
mitzuwirken.“ Wenn das, was er
gesagt habe, strafbar sei, „dann
sind die Niederlande keine Demokratie mehr, sondern eine
Diktatur“.
Verhandlungsgegenstand ist
der Abend des 19. März 2014.
Wilders’ „Partei für die Freiheit“
war bei den Kommunalwahlen
in Den Haag auf dem zweiten
Platz gelandet. Bei der Wahlparty rief der Populist seinen
Anhängern zu: „Wollt ihr mehr
„Wollt ihr mehr oder
weniger Marokkaner
in dieser Stadt und in
den Niederlanden?“
GEERT WILDERS
oder weniger Marokkaner in
dieser Stadt und in den Niederlanden?“ Die Menge reagierte
mit einem vielstimmigen „Weniger, weniger!“. Und Wilders
antwortete süffisant grinsend:
„Dann werden wir das regeln.“
Anstiftung zu Diskriminierung und Hass, so lautet die
Anklage. Der Prozess beginnt
mit Aussagen von Mitarbeitern der Partei und ehemaligen
Weggefährten. Daraus geht hervor, dass Wilders und sein engster Kreis das Schauspiel geplant
haben. Er wollte in die Medien,
seine Leute sollten die „Weniger, weniger“-Rufe vom Publikum aus anheizen.
Wilders hat Anfang des Jahres
das zehnjährige Bestehen seiner Partei gefeiert, dessen einziges Mitglied er selbst ist. Der
53-Jährige hat die Niederlande
auch ohne ein Regierungsamt
verändert. Der Ton ist rauer geworden, es wird ausgeteilt und
beleidigt. Der Angeklagte hatte
das im Vorfeld des Prozesses zu
seiner Verteidigungsstrategie
gemacht: Wenn er vor Gericht
stehe, dann gehörten dort auch
andere Politiker hin, erklärte er.
Wilders habe den politischen
Diskurs beeinflusst, erklärt
Matthijs Rooduijn, Politikwissenschaftler an der Universität
Utrecht. „Andere Parteien haben
ihre Standpunkte angepasst. Die
meisten sind in Integrationsfragen nach rechts gerückt.“
Stimmung gegen die rund
380.000 marokkanischen Einwanderer im Land zu schüren,
ist für einige Politiker eine erfolgversprechende Strategie.
Viele Niederländer beäugen sie
kritisch, manche hasserfüllt.
Marokkaner gelten bei vielen
als kriminell, außerdem bezieht
verglichen mit dem niederländischen Durchschnitt ein höherer Prozentsatz unter ihnen Sozialleistungen. Wilders selbst zitiert immer wieder genüsslich
eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts De Hond
vom April 2014. Demnach sind
43 Prozent der Niederländer seiner Meinung: Das Land brauche
weniger Marokkaner.
Wilders hat den Prozess zu einer Entscheidung über die freie
Meinungsäußerung stilisiert.
Wohl wissend, dass die Meinungsfreiheit für viele Niederländer ein fundamentales Gut
ist. Im Falle einer Verurteilung
droht ihm eine Geldstrafe von
bis zu 20.000 Euro. Aber politischen Schaden wird er wohl
kaum davontragen. „Auch ein
Schuldspruch könnte ihm noch
nützen“, sagt Wissenschaftler
Rooduijn. „Dann kann er sagen:
Seht her, wir dürfen nicht sagen,
was wir denken.“
Michel Aoun heißt der neue Präsident
LIBANON
Ein politisches Chamäleon tritt das höchste Amt im Staate an. Ein Erfolg für die Hisbollah
BEIRUT dpa/taz | Der Libanon
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hat nach mehr als zwei Jahren
wieder ein Staatsoberhaupt.
Das Parlament des Mittelmeerstaates wählte am Montag den
christlichen Politiker und Exgeneral Michel Aoun zum Präsidenten. Aoun erhielt allerdings erst im vierten Versuch
und nach chaotischen Szenen
die erforderliche Mehrheit.
Die Wahl des neuen Präsidenten war zuvor seit Mai 2014
bereits 45 Mal gescheitert, weil
sich die Parteien nicht auf einen Kandidaten einigen konnten. Mitte Oktober gab jedoch
der sunnitische Expremier Saad
Hariri seinen Widerstand gegen
Aoun auf. „Meine Entscheidung
ist ein großes politisches Risiko“,
sagte Hariri. Es soll dabei Teil der
Abmachung sein, dass Hariri erneut Ministerpräsident wird.
Aoun leistete unmittelbar
nach seiner Wahl den Amtseid.
In seiner Rede versprach er, für
die nationale Einheit des Landes
einzutreten. Sie sei die Basis für
die Stabilität und Sicherheit des
Libanons.
Ohne Staatsoberhaupt war
die Politik des Landes in den
vergangenen zweieinhalb Jahren weitestgehend gelähmt.
Gleichzeitig leidet der Libanon
unter den Auswirkungen des
Bürgerkriegs im Nachbarland
Syrien. Mitglieder der Hisbollah kämpfen an der Seite des
syrischen Regimes. Nach UNAngaben leben zudem im Libanon mehr als eine Million syrische Flüchtlinge.
Die Amtszeit von Aouns
Vorgänger Michel Suleiman
war im Mai 2014 ausgelaufen.
Tiefe Gräben zwischen christlichen und muslimischen Politikern verhinderten die Wahl eines neuen Präsidenten. In dem
multikonfessionellen
Land
muss das Staatsoberhaupt immer ein Christ sein, der Premier ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit. Der
81 oder 83 Jahre alte Aoun ge-
hörte zwischen 1975 und 1990
zu den Hauptakteuren des libanesischen Bürgerkriegs. Damals
leistete er Widerstand gegen die
syrischen Truppen im Land.
1989 begann Syrien eine Militäroperation gegen sein Hauptquartier in Beirut, die Aoun zur
Flucht nach Paris zwang.
Erst nach dem Abzug der syrischen Truppen konnte der
maronitische Christ 2005 wieder ins Land zurückkehren. Danach wechselte er die Seiten und
verbündete sich mit der Hisbollah, einem der wichtigsten Partner des syrischen Regimes. Unter Christen wurde dieser Schritt
Aouns scharf kritisiert.
Ausland
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
„Hier zerquetscht man Menschen“
MAROKKO Tod eines Fischverkäufers in einem Müllwagen löst landesweit Empörung aus.
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Vatikan auf Mediationskurs,
Rechte uneins über den Weg
Aber anders als einst in Tunesien bleibt der Staat besonnen und der Protest friedlich
Opposition stimmt Dialog mit
Regierung zu, will aber weiter demonstrieren
AL-HOCEIMA afp/taz | Der Tod
BUENOS AIRES taz | In Venezuela
eines Fischverkäufers, den ein
Müllwagen zu Tode quetschte,
hat in Marokko eine Welle der
Empörung hervorgerufen. Der
30-jährige Mouhcine Fikri starb
am Freitagabend in der Stadt alHoceima in der nordmarokkanischen Rif-Region am Mittelmeer bei einer Polizeikontrolle.
Er führte Schwertfische mit sich,
aber die Beamten sagten, diese
seien um diese Jahreszeit geschützt und dürften nicht verkauft werden. Die Beamten beschlagnahmten seine Ware und
warfen sie in einen Müllwagen.
Mouhcine Fikri sprang hinterher und wurde zermalmt.
Die schrecklichen Todesumstände wurden auf einem
Handy-Video festgehalten und
im Internet verbreitet. Ganz Marokko war schockiert. Auf sozialen Netzwerken verbreiteten
sich umgehend Protestaufrufe.
Tausende nahmen am Sonntag an der Beerdigung des Toten
teil. Stundenlang marschierten
sie aus al-Hoceima in das Dorf
Imzouren, wo Mouhcine Fikri
beigesetzt wurde. In Sprechchören war vom „Märtyrer Mouhcine“ die Rede.
Die Trauerkundgebung blieb
friedlich, ebenso eine gigantische Demonstration am gleichen Abend im Zentrum von
al-Hoceima. „Verbrecher, Mörder“, riefen die Protestierenden,
„Stoppt die Schande“ und „Königshof, hör zu, die Menschen
des Rif erniedrigt man nicht!“.
Die Kundgebung, stark geprägt
von der Berber-Identität der RifBevölkerung, ging gegen 21.30
Uhr ohne Zwischenfälle zu Ende.
Weitere, kleinere Demonstrationen gab es in anderen Städten des Rif und auch in Marokkos größten Städten Casablanca,
Marrakesch und Rabat, wo über
starten Regierung und Opposition eine neue Dialogrunde. Bereits am Sonntag traf sich eine
vierköpfige Delegation um Präsident Nicolás Maduro mit vier
Vertretern der Opposition an
einem quasi neutralen Ort. Im
Museum Alejandro Otero in Caracas gab sich Präsident Maduro
versöhnlich und offen: „Ich reiche dem MUD die Hand, wir
sind gekommen, um zuzuhören,“ sagte er.
Unter der Vermittlung des Vatikans einigten sich beide Seiten auf eine 4-Punkte-Agenda.
Die im Mesa de la Unidad Democrática (MUD) vereinigte
rechte Opposition geht allerdings nicht geschlossen in die
neue Gesprächsrunde. Mindestens 14 der gut 30 im MUD zusammengeschlossenen Parteien
und Gruppierungen misstrauen
der Gesprächsbereitschaft der
Regierung. Kein Wunder, schon
mehrfach waren Dialogrunden groß angekündigt worden,
die dann ergebnislos im Sand
verliefen, zuletzt eine von der
südamerikanischen Staatengemeinschaft Unasur angestoßenen Runde. Die jetzt vereinbarten inhaltlichen Gespräche sollen am 11. November beginnen.
Dann geht es um vier verschiedene Themen. Ein Arbeitstisch soll sich mit Frieden,
Rechtsstaatlichkeit und Souveränität befassen. Der zweite
Tisch soll sich mit Gerechtigkeit, Menschenrechten, Opfer­
entschädigung und Aussöhnung auseinandersetzen. Am
dritten Arbeitstisch soll es um
wirtschaftliche und soziale Fragen gehen und an einem vierten
soll über vertrauensbildende
Maßnahmen und ein Zeitplan
für die Unterschriftensammlung zum Abwahlreferendum
des Präsidenten und die eigentlich für Dezember vorgesehenen, aber verschobenen Gouverneurs- und Kommunalwahlen gesprochen werden.
Der inhaftierte Oppositionspolitiker Leopoldo López hat
seine Partei Voluntad Popular
dazu aufgerufen, nicht an der
Trauernde in al-Hoceima tragen den Toten zu Grabe, Sonntag Foto: reuters
1.000 Menschen mit dem Ruf
„Wir sind alle Mouhcine!“ durch
die Straßen zogen.
Marokkos König Mohammed
VI., der sich in Tansania aufhielt,
entsandte Innenminister Mohammed Hassad nach al-Ho-
„Niemand hatte
das Recht, ihn so
zu behandeln“
MAROKKOS INNENMINISTER
ceima und ordnete eine „genaue
und vertiefte Untersuchung“ an.
Der Minister hatte bereits am
Samstag staatsanwaltschaftliche Ermittlungen angekündigt.
Gegenüber AFP sagte der Minister, das Opfer habe sich einer Polizeikontrolle widersetzt,
weil er in seinem Auto eine „erhebliche Menge“ illegal gefischter Schwertfische transportierte.
„Es wurde beschlossen, die illegale Ware zu vernichten. Was danach geschah, ist die Frage“, so
der Minister und erklärte: „Niemand hatte das Recht, ihn so zu
behandeln. Es ist nicht hinzunehmen, dass Verantwortungsträger übereilt oder wütend
handeln oder in menschenrechtswidrigen Umständen.“
Die Küstenstadt al-Hoceima
mit rund 55.000 Einwohnen war
in den 1920er Jahren der Kern
des bewaffneten Widerstandes
gegen spanische Kolonisatoren.
Jahrzehntelang vernachlässigt,
hat der Rif in Marokko einen
widerborstigen Ruf. Als 2011 im
Zuge des Arabischen Frühlings
auch in Marokko demonstriert
wurde, war al-Hoceima ein Zent-
rum der sogenannten Bewegung
des 20. Februar.
Der Tod des marokkanischen
Fischhändlers wird von manchen mit dem Freitod des tunesischen Obsthändlers Mohammed Bouazizi Ende 2010
verglichen, Auslöser der Massenproteste gegen die damalige
tunesische Diktatur. Marokkos
Staat hatte die Demonstrationen durch eine neue Verfassung
und eine Stärkung der gewählten Regierung gegenüber dem
König abgefangen; die Regierung wird seit Wahlen 2011 von
gemäßigten Islamisten gestellt.
Am Montag blieb Marokko
ruhig. Ab 7. November tagt in
Marrakesch die Weltklimakonferenz COP 22. Auf einem Transparent dort stand: „Willkommen
zur COP 22. Hier zerquetscht
man Menschen.“
Die nächsten Beben sind unausweichlich
ITALIEN
Die Zerstörungen belasten den Haushalt des Landes in Milliardenhöhe. Und der Winter naht
Die Plattenverschiebung führt zur Dauerbedrohung Foto: Massimo Percossi/ap
AUS ROM MICHAEL BRAUN
Mit einer Stärke von 6,5 war das
Beben, das am Sonntagmorgen
um 7.40 Uhr Mittelitalien erschütterte, so schwer wie keines
in Italien seit 1980. Vor diesem
Hintergrund grenzt es an ein
Wunder, dass es keine Toten und
nur wenige Verletzte gab. Mehr
als 300 Tote hatte dagegen das
Beben in L’Aquila im Jahr 2009
gefordert, das nur eine Stärke
von 6,1 erreicht hatte, und auch
das Beben in Amatrice mit einer Stärke von 6,0 kostete 298
Menschen das Leben. Zum Glück
im Unglück wurde diesmal die
Abfolge der Beben, die die Zone
an der Grenze der beiden Regionen Umbrien in den letzten Tagen erschütterte.
Vielleicht muss die
wunderschöne Re­
gion sogar auf Dauer
aufgegeben werden
Ein erster schwerer Erdstoß
mit einem Wert von 5,4 war am
vergangenen Mittwoch, dem
26. Oktober, kurz nach 19 Uhr zu
verzeichnen gewesen. Das Gros
der Menschen hatte daraufhin
die Wohnungen verlassen und
hielt sich im Freien auf, als zwei
Stunden später ein weiterer Erdstoß, diesmal schon mit einer
Stärke von 5,9, zu verzeichnen
war. Nur ein Mensch starb an
einem Herzinfarkt. Im Gefolge
dieser beiden Beben hatten die
Kommunalverwaltungen und
der Zivilschutz wiederum zahlreiche Ortskerne zu abgesperrten „roten Zonen“ erklärt.
Das Beben vom Sonntag
brachte deshalb zahlreiche Häuser zum Einsturz, die anders als
in Amatrice vor zwei Monaten schon verlassen waren. So
wurde zwar eine Tragödie vermieden, der materielle Schaden aber geht in die Milliarden.
Dutzende mittelalterliche Weiler wurden komplett zerstört.
Im Städtchen Norcia, in dem die
Kathedrale aus dem 14. Jahrhundert zusammenstürzte, müssen
voraussichtlich auch viele Häuser noch abgerissen werden.
In den Marken werden etwa
25.000 und in Umbrien 15.000
Obdachlose gezählt. Bisher werden sie notdürftig in Sporthallen untergebracht, viele schlafen in ihren Autos.
Die Errichtung von Zeltstädten kommt angesichts der Tatsache, dass die Temperaturen in
der Gebirgsregion mittlerweile
nachts auf unter null Grad fallen, nicht infrage. Stattdessen
werden die Menschen jetzt in
Hotels an der Adriaküste oder
auch am Trasimener See untergebracht. Wie schon nach dem
Beben vom August verkündet Ministerpräsident Matteo
Renzi, dass „alles wieder aufgebaut“ wird. Die Regierung veranschlagt Kosten von acht Milliarden Euro, für die Soforthilfe in
den Erdbebengemeinden wur-
den bisher 375 Millionen Euro
bereitgestellt. Renzi machte erneut deutlich, dass er die erforderlichen Mittel aus dem EUStabilitätspakt herausrechnen
will. Unterstützung erhält er hier
auch von Beppe Grillos 5-SterneBewegung, die dem Regierungschef Kooperation anbot.
Jenseits der unmittelbaren
materiellen Schäden trifft das
Beben die Ökonomie der betroffenen Dörfer und Städte heftig.
Sie zogen Tausende Besucher an,
die in die Gegend mit ihren mittelalterlichen Ortskernen, mit
ihrer oft unberührten Natur, mit
ihren kulinarischen Traditionen
von Trüffeln zu den berühmten
Wurstwaren und Schinken aus
Norcia kamen. In Norcia hatte
es Jahre gedauert, die Schäden
des letzten Bebens von 1997 zu
beheben.
Nachbeben in der betroffenen Region schließen die Geologen nicht aus. Das Beben
vom Sonntag sehen sie als direkte Konsequenz des Erdbebens von Amatrice am 24. August: Die tektonische Plattenverschiebung habe zur Verstärkung
der Spannungen in der nördlich
von Amatrice gelegenen Zone
geführt. Schon nach dem Augustbeben hatte das Nationale
Institut für Geophysik und Vulkanologie vor einem weiteren
Erdstoß mit einer Stärke von bis
zu 7 gewarnt. Nicht auszuschließen ist, dass sich diese Kettenreaktion über Wochen fortsetzt.
11
VENEZUELA
neuen Runde teilzunehmen.
„Wir gehen davon aus, dass sich
die Bedingungen für einen wirklichen Dialog nicht verbessert
haben“, heißt es in einer Erklärung seiner Partei. Oppositionsführer Henrique Capriles von
der Partei Primero Justicia zeigte
sich zwar dialogbereit, rief aber
ebenfalls zum Marsch auf Miraflores auf.
Die Frage, ob mit dieser Regierung eigentlich noch verhandelt
werden kann oder sollte, ist innerhalb der Opposition durchaus sehr umstritten. Damit das
Bündnis über der Teilnahme am
Dialog nicht zerbricht, kündigte
MUD-Generalsekretär Jesús de
Torrealba nach dem Treffen an,
dass die Proteste auf der Straße
unbeirrt weitergehen werden.
Aus der Haft ruft
Leopoldo López seine
Partei auf, den Dia­
log zu boykottieren
„In der Nationalversammlung,
auf der Straße und über internationalen Druck, das sind auch
weiterhin unsere drei Wege“, so
Torrealba.
An dem für Donnerstag angekündigten Marsch zum Präsidentenpalast Miraflores will
die Opposition ausdrücklich
festhalten.
Nícmer Evans von der linken
Marea Socialista setzt noch einen ganz anderen Akzent. Die
unter der Vermittlung des Vatikans installierte Dialogrunde
setze auf den Ausschluss der
linken Opposition in Venezuela, kritisiert er. „Wir sind nicht
gegen den Dialog, aber wir sagen, dass er gegenwärtig nichts
garantiert, wenn er weiter nur
polarisiert und ausschließt.“
In diesem Dialog habe die
Mehrheit der Venezolaner keine
Fürsprecher, so Evans. Man
werde aber auch nicht mit dem
MUD auf der Straße marschieren, da nicht erkennbar sei, was
die rechte Opposition wirklich
wolle. JÜRGEN VOGT
12
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
SVENJA BERGT ÜBER
Meinung + Diskussion
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
WHATSAPP UND WAS MAN DAGEGEN TUN KANN
Die Macht aufbrechen
M
arktmacht ist super. Zumindest für Unternehmen, die sie
haben. WhatsApp schickt persönliche Nutzerdaten an Konzernmutter Facebook weiter? Kein Problem –
dass massenhaft Nutzer abwandern,
ist eher unwahrscheinlich. Sind doch
alle auf WhatsApp. Freunde, Kollegen, der Fußballverein. Ob zweifelhafter Umgang mit Händlern bei Amazon, Klarnamenpflicht bei Facebook
oder die Rechte, die sich Snapchat herausnimmt, um Nutzerinhalte weiterzuverarbeiten – das alles sind Symptome desselben Problems.
Denn Marktmacht ist nicht nur super für Unternehmen. Sondern – erst
einmal – auch für die Nutzer. Deshalb
gibt es den Netzwerkeffekt, der dazu
führt, dass alle dort hingehen, wo alle
sind. Und das ist einer der wesentlichen Gründe dafür, dass Unternehmen wie Facebook, WhatsApp oder
auch Instagram so erfolgreich sein
können. Etwas aufgefallen? Genau:
Die drei gehören längst zusammen.
Eine Entwicklung, die noch lange nicht
am Ende ist, denn die Menge der sam-
ULRICH SCHULTE ÜBER
melbaren Daten steigt. Ob über Virtual-Reality-Brillen, selbst fahrende
Autos oder medizinische Hilfsmittel.
Die Nutzer selbst bekommen davon
wenig mit, und das sollte sich ändern.
Dabei kann die Lösung nicht sein, dass
jeder knapp 20 Seiten Nutzungsbedingungen von WhatsApp lesen und
verstehen können muss – mündiger
Verbraucher hin oder her. Die Formulierungen sind meist derart verklausuliert, dass sich kaum jemand vorstellen kann, was genau mit den Daten passiert.
Vielversprechender wäre: Transparenz. Wenn jede Nutzerin und jeder
Nutzer, etwa jährlich, eine Datei zugeschickt bekommt, in der sämtliche
Daten aufgelistet sind, die ein Konzern
über ihn hat, und in der erklärt ist, was
mit diesen Daten gemacht wurde – das
dürfte sicher einige zum Wechseln bewegen. Die gute Nachricht: Das muss
nicht das Ende des digitalen Daseins
bedeuten. Alternative, nutzerfreundlichere Anbieter gibt es für viele Bereiche. Zumindest noch.
Wirtschaft + Umwelt SEITE 8
DEN DAUERSTREIT ZWISCHEN CDU UND CSU
Zeit für Kontingente
Im Abklingbecken
AUFNAHME Immer weniger Flüchtlinge schaffen den Weg nach Deutschland.
an wolle keine Gemeinsamkeit inszenieren, kommentiert CSU-Chef Seehofer Angela Merkels Entschluss, dem CSUParteitag fernzubleiben. Hinter der
Entscheidung steckt aber keineswegs
eine plötzlich entdeckte Abneigung
gegen Inszenierungen, sondern die
Furcht vor einem Debakel. Was, wenn
die erboste CSU-Basis die Kanzlerin
vor laufenden Kameras ausbuhte? Für
symbolische Harmonie ist es schlicht
noch zu früh. CDU und CSU befinden
sich in der Abklingphase. Sie köcheln
vor sich hin wie zwei ausgelaugte
Brennstäbe, nicht mehr tödlich heiß,
aber immer noch gefährlich.
Seehofer, stets die absolute Mehrheit in Bayern im Blick, hat den Streit
in der Flüchtlingspolitik in den vergangenen Monaten in einer Weise eskaliert, die für die Konservativen geschäftsschädigend zu werden droht.
Doch die politische Konkurrenz, also
SPD, Grüne und Linke, sollten sich
nicht zu früh freuen. Der abgesagte
Merkel-Besuch bedeutet nicht, dass
der Dauerzwist weitergeht. Konser-
VON CHRISTIAN RATH
M
vative haben Routine darin, Differenzen zurückzustellen, wenn es um den
Machterhalt geht.
Unüberwindbar sind die Unterschiede zwischen CDU und CSU nämlich schon lange nicht mehr. Merkel
hat mit dem Türkei-Deal die Absicherung der EU-Außengrenzen vollzogen,
es kommen kaum noch Flüchtlinge
nach Deutschland, die von Seehofer
gewünschte, fragwürdige Obergrenze
ist also überflüssig. Aber der CSU-Chef
braucht einen Erfolg, mit dem er seine
Leute von den Bäumen holen kann,
auf die er sie selbst getrieben hat.
Hinter den Kulissen werkeln Gesandte aus den verfeindeten Lagern
längst an einem Kompromiss, den
Merkel und Seehofer mit großer Geste
irgendwann verkünden werden. Sie
werden nicht mehr von einer Obergrenze, sondern von einem Richtwert,
einer Orientierungsgrenze oder etwas
anderem sprechen. Um dann gemeinsam vor dem zu warnen, das die Macht
der Union wirklich bedroht – einem
rot-rot-grünen Linksbündnis.
Inland SEITE 7
Irgendwann werden Merkel und Seehofer mit
großer Geste einen Kompromiss verkünden
BARBARA OERTEL ÜBER
DEN WAHLAUSGANG IN DER REPUBLIK MOLDAU
Von Europa enttäuscht
D
eutlicher kann eine Gesellschaft
ihre Zerrissenheit nicht zum
Ausdruck bringen, als es die
Moldauer am Sonntag an den Urnen
getan haben. Mit knapp über 48 Prozent stimmte fast die Hälfte der Wähler für den Sozialisten Igor Dodon,
seine schärfste Konkurrentin, die Liberale Maia Sandu, kam immerhin noch
auf 38 Prozent. Dabei stand bei dem
Votum vor allem die Frage im Vordergrund, wohin die Reise des Landes außenpolitisch künftig gehen soll.
Heißt der nächste Präsident Igor
Dodon, ist die Antwort eindeutig:
Richtung Moskau, geradewegs in den
Kreml. Denn es war und ist ein erklärtes Credo Dodons, sich wieder stärker
an Russland annähern zu wollen.
Warum sich ein Großteil der Moldauer enttäuscht von Europa abgewandt hat, liegt auf der Hand: Der proeuropäische Kurs der Koalitionsregierung, die seit 2009 an der Macht ist,
hat der Bevölkerung mit Ausnahme
einer visafreien Einreise in die Schengen-Staaten keine spürbaren Veränderungen zum Besseren gebracht. Kor-
ruption, die bisweilen endemische
Ausmaße annimmt, ist nach wie vor
an der Tagesordnung. Flankiert wird
das alles noch durch Machtkämpfe
zwielichtiger Oligarchen, die im Hintergrund agieren.
Ihr bisheriges Unvermögen, diesen Missständen mit Reformen entgegenzutreten, könnte die Regierung
teuer zu stehen kommen. Und zwar
dann, wenn Dodon, was nicht ausgeschlossen ist, das 2014 mit der EU geschlossene Assoziierungsabkommen
zur Disposition stellt.
Der lachende Dritte in diesem
Machtpoker ist Russlands Präsident
Wladimir Putin. Dessen erklärte Politik ist es, Russlands Einfluss in den
ehemaligen Sowjetrepubliken aufrechtzuerhalten – notfalls auch unter Einsatz von Waffen – und jeglichen Versuch einer Hinwendung zum
Westen zu unterminieren. Der Sonntag könnte ihn diesem Ziel einen entscheidenden Schritt näher gebracht
haben. Der Republik Moldau drohen
finstere Zeiten.
Ausland SEITE 10
Schutzbedürftige sollten deshalb direkt zu uns geholt werden
D
eutschland pustet durch.
Die Zahl neu ankommender
Flüchtlinge hat sich auf einem Niveau eingependelt,
das es kaum noch in die Nachrichten schafft. Die „Flüchtlingskrise“
als Phase der permanenten Überforderung ist vorbei. Jetzt wäre endlich
Zeit für eine offene Diskussion über
die Aufnahme angemessen großer
Flüchtlingskontingente.
Während im Vorjahr knapp eine
Million Flüchtlinge nach Deutschland kam, sind es seit März nur noch
zwischen 15.000 und 20.000 pro Monat. Auf ein Jahr hochgerechnet sind
das rund 200.000 Menschen. Im Vergleich zu den anderen großen EUStaaten ist das immer noch viel. Mit
Blick auf die globale Situation gibt es
aber keinen Grund zur Selbstzufriedenheit.
Laut Zählung des UN-Flüchtlingshochkommissars (UNHCR) haben
noch nie so viele Menschen ihre Heimat verlassen wie derzeit: 64 Millionen Menschen. Die wenigsten von ihnen kamen nach Europa. Während es
also nur fair wäre, mehr Flüchtlinge
in Europa aufzunehmen, ging die
Zahl neuer Flüchtlinge ab März sogar
schlagartig zurück.
Balkanroute geschlossen
Anders als oft behauptet ist das umstrittene Abkommen der EU mit der
Türkei nicht Grund des Rückgangs. Da
die griechische Asylbehörde die Türkei nicht als sicheren Drittstaat anerkennt, wurde noch kein Flüchtling auf
dieser Grundlage in die Türkei zurückgebracht.
Ursache für den massiv reduzierten Flüchtlingszuwachs ist vielmehr
die Schließung der Balkanroute. Seit
Anfang März ist die Grenze zwischen
Mazedonien und Griechenland dicht.
Wer nach Griechenland kommt, muss
nun dort Asyl beantragen. Viele Flüchtlinge kommen deshalb gar nicht erst
nach Europa.
Die Schließung der mazedonischen
Grenze war eine koordinierte Aktion
der Nachbarstaaten; damals gegen
den Willen der deutschen Kanzlerin,
die auf das Türkei-Abkommen setzte.
Heute will aber auch Angela Merkel den mazedonische Riegel nicht
mehr lockern. Denn die Öffnung der
Balkanroute wäre die sofortige Rückkehr zu Zuständen wie im Herbst 2015.
Das würde die Bundesregierung politisch nicht überleben. Schließlich
ist nur ein sehr kleiner Bruchteil der
deutschen Bevölkerung für eine unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen.
Einige Flüchtlinge kommen aber
auch bei geschlossenen Grenzen
durch, oft mithilfe von Schleppern,
die aber immer teurer werden. Eine
Flucht nach Deutschland wird so wieder zum Privileg der Zahlungskräftigen – und der kräftigen jungen Männer, die manchmal eben doch einen
Weg finden. Die besonders Schutzbedürftigen – Schwache, Frauen, Kinder
– bleiben eher dort, wo sie sind: in der
Türkei und anderen Fluchtländern, in
den Flüchtlingslagern der Herkunftsregion, oft auch im Herkunftsland
selbst.
Tradition des Resettlements fehlt
Es liegt deshalb nahe, neben den
Flüchtlingen, die sich nach Deutschland durchgeschlagen haben, auch
große Kontingente von Flüchtlingen
aus der Herkunftsregion gezielt nach
Deutschland zu holen. Der UNHCR
fordert das schon lange. Rund 10 Prozent der Flüchtlinge seien besonders
schutzbedürftig und bräuchten ein
sicheres Land für ein „Resettlement“,
also eine Neuansiedelung.
Wenn auf diesem Weg pro Jahr zum
Beispiel 100.000 weitere Flüchtlinge
nach Deutschland kommen könnten,
würde das die immer noch relativ
große Aufnahmebereitschaft der Bevölkerungsmehrheit wohl nicht überfordern. Im Gegenteil könnte dies die
Akzeptanz der Flüchtlingsaufnahme
sogar erhöhen, weil es hier um besonders Schutzbedürftige geht und weil
diese Schutzbedürftigkeit schon vor
der Einreise geprüft würde.
Anders als in den USA, Kanada oder
Schweden hat Deutschland keine Tradition des Resettlements, das heißt:
Ursache für den massiv
reduzierten Flüchtlingszuwachs ist die Schließung der Balkanroute
Christian Rath
■■ist rechtspolitischer Korrespondent
der taz. Er schreibt regelmäßig über
die Arbeit der obersten Bundesgerichte
und der europäischen Gerichte sowie
über rechtspolitisch
relevante Gerichtsverfahren und
Diskussionen.
Ein Schwerpunkt
ist auch die
Gesetzgebung zur
inneren Sicherheit.
Foto: Rolf Zöllner
der aktiven Aufnahme von Flüchtlingen. An den UNHCR-Programmen
nimmt Deutschland erst seit 2012
teil. Derzeit hat die Bundesregierung
aber nur die Aufnahme von 800 Menschen pro Jahr zugesagt. Daneben gab
es noch ein nationales Aufnahmeprogramm für syrische Flüchtlinge. Zwischen 2013 und 2015 wurden so rund
20.000 Syrer nach Deutschland geholt. Dieses Programm ist beendet. Baden-Württemberg holte zudem rund
1.000 JesidInnen nach Deutschland.
Keine Alternative zum Asyl
Wann, wenn nicht jetzt – nach dem
massivem Rückgang der Flüchtlingszahlen – wäre der richtige Moment,
Deutschland zu einer großen Resettlement-Nation zu machen? Da kaum jemand mit einem so deutlichen Rückgang gerechnet hat, sind Einrichtungen der Flüchtlingsversorgung
teilweise unausgelastet. Es ist wenig
sinnvoll, wenn Kapazitäten jetzt abgebaut werden und bei der nächsten großen Flüchtlingswelle wieder fehlen.
Und doch setzt sich kaum jemand
für zusätzliche Kontingente ein. Familienministerin Manuela Schwesig
(SPD) war Ende September die letzte
Spitzenpolitikerin, die sich so äußerte.
Sie vertritt damit zwar die Parteilinie,
doch sonst war aus der SPD zuletzt wenig zu hören. Vermutlich hat sie Angst,
von der AfD und anderen Rassisten
angegriffen zu werden.
Aber auch Grüne, Linke und Flüchtlingsinitiativen setzen sich kaum für
Kontingente ein. Der Flüchtlingslobby
gelten Kontingente vielmehr als verdächtig, weil Innenminister Thomas
de Maizière (CDU) am liebsten die
Flüchtlingsaufnahme ganz auf vorab
geprüfte Kontingentflüchtlinge beschränken würde. De Maizières Ansatz ist aber nicht zwingend; Kontingente müssen keine Alternative zum
Asyl für hier ankommende Flüchtlinge sein. Vielmehr lässt sich beides
verbinden. Dabei wird und muss das
klassische Asyl weiter zentrales Instrument des Flüchtlingsrechts bleiben,
das folgt schon aus der Genfer Flüchtlingskonvention.
Wer Kontingente ablehnt, weil er
gegen die CSU-Obergrenze ist und
auch sonst gegen jede Begrenzung,
macht es sich zu einfach. Zurzeit geht
es nicht mehr um Begrenzung, denn
die Begrenzung hat durch die Schließung der mazedonischen Grenze
längst stattgefunden. Jetzt geht es
um eine zielgenaue Ausweitung der
Flüchtlingsaufnahme. Kontingente
sind derzeit die einzige Chance für
Flüchtlinge, die es nicht nach Europa
schaffen.
GESELLSCHAFT
KULTUR
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13
Foto: mam, Paris
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Der NSU: Die V-Männer
NSU-SERIE TEIL 2 Sieben vermeintliche Sicherheitsbehörden – von Verfassungsschutzämtern bis Militärischem Abschirmdienst –
führten über 40 V-Männer und V-Frauen im Umfeld des Trios. Eine Übersicht über die brisantesten Spitzel und ihre Aussagen
VON ANDREAS SPEIT
Im Oktober 1998 wendet sich der Anwalt Gert Thaut an die Staatsanwaltschaft Gera: Er will für das seit knapp
neun Monaten abgetauchte NSUKerntrio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe herausfinden, welches Strafmaß die drei erwarten würde, wenn sie sich stellten.
Die Idee zu diesem Deal hatte der Thü-
Carsten
Szczepanski
„Piatto“
Ralf Marschner
„Primus“
ringischen Verfassungsschutz selbst.
Er hatte Thaut beauftragt und auch
die Anwaltskosten von insgesamt
1.409,48 Mark übernommen. Doch der
zuständige Oberstaatsanwalt Arndt
Peter Koeppen lehnt ab. Das Trio bleibt
im Untergrund – und beginnt von dort
zu rauben und zu morden.
Die Geschichte ist eines der vielen
Fragmente, die seit dem zufälligen
Auffliegen des NSU das Wirken der Ge-
Carsten Szczepanski lieferte
dienliche Hinweise, die allerdings nicht verfolgt wurden.
Der schwerkriminelle Rechtsextreme hatte sich im Gefängnis
selbst dem Brandenburger Verfassungsschutz (VS) angedient.
1995 war er wegen Mordversuchs an einem Nigerianer zu
acht Jahren Haft verurteilt wurden. Schon in der U-Haft begann
Carsten Szczepanski F.: M. Müller/dpa
Im September diesen Jahres
stand fest: Die Schweizer Behörden werden Ralf Marschner
nicht ausliefern. Über 40 Straftaten listet die Polizei in ihren
Dateien zu dem einstigen Zwickauer Rechtsextremen auf
– von Diebstahl über verfas-
sungsfeindliche Kennzeichen
bis Körperverletzung. Wegen Insolvenzverschleppung besteht
Haftbefehl. Maschner war von
1992 bis 2002 V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz.
Laut Zeugenaussagen soll er in
seinem Zwickauer Modege-
Tino Brandt – „Otto“/„Oskar“
Michael See/
von Dolsperg
„Tarif“
Expertin für Innenpolitik und Sprecherin für antifaschistische Politik der
Linken im Bundestag, sagt, das liege
auch daran, dass Akten vernichtet und
Beweismittel zurückgehalten würden.
Die Bundesanwaltschaft hätte längst
als Ermittlungsführerin eingreifen
müssen – tat sie aber nicht. „Sie ist
seit Jahrzehnten in die V-Leute-Führung involviert. Sie wird nicht Teil der
Lösung sein“, glaubt Renner.
die Zusammenarbeit, die von
1994 bis 2000 lief. 1997 kam er
frei, eröffnete in Königs Wusterhausen einen Laden für rechte
Musik und baut das rechtsextreme Netzwerk Blood & Honour
(B & H) mit auf – jenes Netzwerk,
das den drei NSU-Mitgliedern
Wohnungen, Ausweise, Geld
und Waffen besorgte. Am 9. September 1998 erzählte Szcze­
Bis heute ist nur bruchstückhaft öffentlich bekannt: Was wussten die VLeute von dem Untergrundleben der
drei? Was gaben sie zu den zehn Morden weiter, was verschwiegen sie von
den drei Bombenanschlägen? Was war
den V-Leute-Führern bekannt? Welche
Informationen über Waffenbeschaffungen hielten sie wegen des Quellenschutzes zurück? Und vor allem:
Wer schützte wen?
panski seinem V-Mann-Führer,
dass ein Blood-&-Honour-Kader
Kontakt zu dem Trio habe und
„die drei Skinheads mit Waffen
versorgen“ solle. „Hallo, was ist
mit der Bums“ soll jener Kader, Jan Werner, ihm gesimst
haben. Bei einer Vernehmung
sagte Szcze­panski, die Chemnitzer Szene habe gewusst, dass das
Trio nach dem Untertauchen in
der Stadt war. Bis heute hat sein
damaliger V-Mann-Führer, Gordian Meyer-Plath, keine moralischen Bedenken, den Schwerkriminellen beauftragt zu haben:
„Piatto“ habe „auf Anhieb“ ihr
„Lagebild und das anderer Verfassungsschutzbehörden“ verbessert. „Es war ein Quantensprung.“ Heute leitet MeyerPlath den VS Sachsen.
schäft Beate Zschäpe und bei seiner Baufirma Uwe Mundlos beschäftigt haben – zur Zeit ihrer
Illegalität. Als der NSU aufflog,
meldeten sich schnell Zeugen,
die das bestätigten. Die Ermittler befragten die frühere Szenegröße und ehemaligen Top-V-
Mann 2012 und 2013. Marschner, der im Schweizer Chur lebt,
stritt alles ab. Das Trio will er
nicht gekannt haben. Glück für
ihn und seinen Dienstherrn: Im
Hochwasser 2010 wurden zwei
Akten des NSU-Prozesses vernichtet, die Marschner betrafen.
floss laut Brandt in die Szene, für
Reisekosten bis zur Bezahlung
von Geldstrafen für Kameraden.
Vor Gericht belastete Brandt
Zschäpe schwer: Sie sei eine politisch überzeugte Frau, „keine
dumme Hausfrau“. Zschäpe
sagte später, Brandt „hatte überall seine Finger im Spiel“. Der
Mitangeklagte Ralf Wohlleben
meinte, Brandt habe gewusst,
wo das Trio lebte und Geld für
eine Mordwaffe beschaffte.
Mittlerweile sitzt Brandt in
Haft: Im Dezember 2014 verurteilte ihn das Landgericht Gera
wegen sexuellen Missbrauchs
von Minderjährigen und deren
Vermittlung an andere Erwachsene zu fünfeinhalb Jahren.
Die NSU-Serie in der taz
■■Der Fall: Vor fünf Jahren, am
4. November 2011, flog mit dem
Tod von Uwe Mundlos und Uwe
Böhnhardt der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) auf.
Die taz widmet sich aus diesem
Anlass die ganze Woche lang mit
einer täglichen Schwerpunktseite
dem Erinnern an das Geschehene
und der Analyse des Rechtsterrorismus
■■Gestern erschien: Essay von
Hajo Funke: „Der NSU: Eine
Reihe offener Fragen“
■■Morgen erscheint: Die offenen
Fragen der Hinterbliebenen
■■Alle Teile: online unter
www.taz.de/NSU-Serie
Das Amt stufte ihn intern mit
der höchsten Bewertungsstufe
„B“ ein, heißt: Diese Quelle galt
als verlässlich.
Richter lieferte auch Informationen zur deutschen Sektion
des Ku-Klux-Klan (KKK). Recherchen der taz ergaben: Auch Kollegen der vom NSU getöteten Polizistin Michèle Kiesewetter gehörten zum KKK.
Der heute 41-Jährige lenkte das
Netzwerk Thüringer Heimatschutz (THS) mit seinen rund
170 Anhängern, zu dem auch die
Kameradschaft Jena gehörte. In
beiden war das spätere NSU-Trio
organisiert. Von 1995 bis 2000
lieferte Brandt dem Thüringischen Verfassungsschutz (VS)
Informationen. In dieser Zeit
führte er nicht nur den THS, er
wurde auch NPD-Landesvize.
Dem VS ist es eigentlich verboten, Führungsfiguren zu bezahlen. Im Jahr 2001 wurde Brandt
daher abgeschaltet, zwei Monate
später aber reaktiviert.
Gegenüber dem Oberlandesgericht in München verneinte er, auf das NSU-Trio an-
gesetzt worden zu sein. Nah an
ihnen dran war er dennoch: Bis
zu 3.000 Mark sammelte er auf
Szenekon­zerten für sie, das Geld
übergab er einem Kontaktmann.
Auf den will er den VS hingewiesen haben. Auch berichtete er,
das Trio finanziere sich über
den Verkauf eines selbstgestalteten „Pogromly“-Spiels, ähnlich
Monopoly. Das Amt ließ über
Brandt „Pogromly“-Spiele kaufen – 100 Mark das Stück – und
übergab ihm 1.800 Mark – für
die Ausreise der Untergetauchten. Das Geld verschwand, das
Trio blieb. Rund 200.000 Mark
erhielt Brandt für seine Dienste
– selbst in der Behörde gilt das
als „exorbitant hoch“. Das Geld
Er war einer der am besten verdienenden Spitzel des Bundesamts für Verfassungsschutz
(BfV) und starb unter dessen Obhut Ende März 2014 – kurz vor
einer geplanten Vernehmung.
Richter sollte zu einer gefundenen CD mit dem Titel „NSU/­
NSDAP“ befragt werden, die er
mitproduziert haben soll. Von
1994 bis 2007 lieferte er Infor-
mationen, für die er insgesamt
180.000 Euro erhalten haben
soll. Seit seiner Enttarnung 2012
war er im Zeugenschutz. Offiziell hieß es erst, er sei an einer
nicht erkannten Diabetes gestorben. Aber die Ermittlungen laufen weiter. Anfang der 2000er
war er einer der „führenden Kader“ bei den Freien Kameradschaften und Blood & Honour.
1995 hatte er Mundlos bei einem
Rechtsrockkonzert in Dresden
kennengelernt. Dem VS teilte
er mit, dass Mundlos mit Freunden die Kameradschaft Jena gegründet habe. Im persönlichen
Kontaktverzeichnis von Mundlos fanden sich die Daten von
Richter. Das BfV erklärte indes
offiziell, der V-Mann habe mit
dem NSU nichts zu tun gehabt.
Thomas Richter Foto: attenzione
Michael von Dolsperg soll sich
1994 selbst beim Verfassungsschutz als V-Mann angedient
haben. Drei Jahre zuvor, am 25.
November 1991, griff er mit Angehörigen der Freiheitlichen
Deutschen Arbeiterpartei im
thüringischen Nordhausen das
Ausländerbegegnungscafé an.
Zusammen mit zwei anderen
Beschuldigten wurde er später
wegen versuchten Totschlags in
zwei Fällen vor einer Disko festgenommen und zu dreieinhalb
Jahren Gefängnis verurteilt. Er
wendete sich an das Bundesinnenministerium, bat um Hilfe
beim Ausstieg und bot sich als
Informant an. Resultat: See, wie
er vor seiner Hochzeit hieß, lieferte bis 2003 gegen ein monatliches Gehalt von 500 bis 600
Mark Informationen an das
Bundesamt für Verfassungsschutz, unter anderem über die
Kameradschaft Leinefelde im
thüringischen Eichsfeld, die Kameradschaft Jena und den THS.
In einer achtstündigen Vernehmung am 10. März 2014 bei
der Bundesanwaltschaft soll
von Dolsperg ausgesagt haben,
dass ein Mitglied des Thüringer
Heimatschutzes (THS), Andre
Kapké, ihn Anfang 1998 gebeten habe, das gerade untergetauchte Trio zu verstecken. Dolsperg will sofort seinen V-MannFührer verständigt haben. Der
soll ihm geraten haben, den
dreien keinen Unterschlupf zu
gewähren. Kapké vom THS bestreitet, Dolsperg um Hilfe gebeten zu haben.
Tino Brandt Foto: picture alliance
Thomas Richter
„Corelli“
heimdienste fragwürdig und rechtswidrig erscheinen lassen. Sie zeigt
einmal mehr, welche engen Verbindungen zwischen dem Verfassungsschutz und dem Trio bestanden haben müssen.
Von den 40 V-Männern und VFrauen, die die Sicherheitsbehörden
im Umfeld des Trios geführt haben,
sind bis heute nicht alle Identitäten
der Spitzel geklärt. Martina Renner,
14
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Gesellschaft Kultur Medien
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
DI E WERBEPAUSE
Willkommen auf dem Damenklo
Plötzlich zählt das Kindeswohl
ANONYM Ein neues Gesetz soll es Kindern, die durch Samenspende gezeugt wurden,
erlauben, den Namen ihres Erzeugers zu erfahren. Gute Idee, nur das Argument ist faul
VON MARLENE HALSER
W
Screenshot: Secret Deodorant/YouTube
Über das Schicksal von Transmenschen wird in den USA derzeit hitzige debattiert: North Carolina hat unlängst diskriminierende Gesetze verabschiedet.
Der Widerstand war groß. Und
vor dem U. S. Supreme Court
steht eine Entscheidung darüber aus, ob der Schüler Gavin
Grimm, der als sich als trans
identifiziert, die Jungstoilette
der Schule benutzen darf.
Nun hat ausgerechnet die USamerikanische Werbebranche
ein Statement gesetzt. Procter
& Gamble, der Hersteller von
Gesundheits- und Pflegeprodukten, hat einen neuen Werbespot für sein „Secret Deodorant“ veröffentlicht. „Stress test“
heißt die Serie.
Frauen machen darin den ersten Schritt in der Beziehung, halten um die Hand ihres Mannes
an oder fordern mehr Gehalt
von ihrem Chef. Sie stellen stereotype Geschlechternormen in
Frage. Den neuesten Stresstest
muss nun die Transfrau Dana,
gespielt von der queeren Künstler_in Karis Wilde, bestehen.
Auf einer Damentoilette
steht sie in der Kabine, während drei Frauen das Bad betreten. Sie lachen vor dem Spiegel,
während Dana in der Kabine
schwitzt.
Mutig tritt sie schließlich heraus – und erntet Komplimente
für ihr Kleid. „Dana findet den
Mut zu zeigen, dass es keinen
falschen Weg gibt, eine Frau zu
sein“, lautet der Slogan.
Will heißen: Die US-Wirtschaft ist fortschrittlicher als
viele Konservative in der Politik.
Das zeigte auch der Fall North
Carolina. Es waren Unternehmen wie PayPal, die verkündeten, ihre geplanten Filiale aus
Protest gegen die Diskriminierung anderswo zu eröffnen, und
so Bewegung in die Sache brachten. CAROLINA SCHWARZ
DI E GESELLSCHAFTSKRITI K
Ja, ja, machen wir
■■WAS SAGT UNS DAS? Airbnb
fordert von Usern Bekenntnis zur
Nicht-Diskriminierung
E
in Bekenntnis, jeden Menschen gleich zu behandeln –
unabhängig von Rasse, Religion, Herkunft, Volkszugehörigkeit, Behinderung, Geschlecht,
Geschlechtsidentität, sexueller
Orientierung und Alter. Dem
sollen am 1. November alle Nutzer zustimmen. Hört sich doch
gut an.
Das Ferienwohnungsportal
reagiert damit auf Kritik: Viele
User hatten unter dem TwitterHashtag #AirBnBWhileBlack
über ihre Diskriminierungserfahrungen im Zusammenhang
mit der Plattform berichtet. Bestätigt wurden diese Eindrücke
von einer Harvard-Studie von
Anfang 2016. Diese stellte in
fünf US-Großstädten Anfragen
mit „weißen“ und „schwarzen“
Fake-Profilen. Ergebnis: Nutzer-Profile mit Namen, die gemeinhin mit Afroamerikanern
assoziiert werden, wurden dabei
um 16 Prozent seltener als Gäste
mit „weiß“ assoziierten Namen
akzeptiert. Ähnliche Beschwerden kamen auch aus der LGBTCommunity.
Das Problem an Airbnbs jetzigem Versuch, das Problem zu lösen: Diskriminierung wird nicht
mit einem Mausklick aufgehoben. Wer nicht zustimmt, kann
die Plattform nicht mehr nutzen
– die Einhaltung des Bekenntnisses kontrolliert aber niemand.
Airbnbs Konzept bleibt unverändert: In den Profilen wird
jeder trotzdem erkennen, wie
Gastgeber oder Gäste aussehen
– schwarz oder weiß. Was das
Ganze zu einer Scheinlösung
VANESSA CLOBES
macht. r
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in die Zivilgesellschaft
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er will schon gerne
Kindern schaden?
Oder daran schuld
sein, dass es ihnen im Leben schlecht ergeht?
Die sozial verträgliche Antwort
lautet: niemand. Gegen das Kindeswohl lässt sich schwer argumentieren. Insofern ist an dem
Gesetzesvorstoß von Bundesgesundheitsminister Hermann
Gröhe auch nichts falsch.
Der CDU-Minister plant ein
Samenspender-Register. Dort
sollen sich Kinder, die ihre Existenz in vitro gespendeten Spermien verdanken, künftig informieren können, wer ihr Vater ist
(die taz berichtete). Gröhe will
außerdem den Spendern garantieren, dass sie wie gehabt keinen Unterhalt zahlen und ihren
Nachkommen auch nichts vererben müssen. Nicht mal treffen müssen sie ihre Kinder, auch
wenn diese das im mündigen Alter wollen. Man kann also sagen:
Alle Interessen wurden gewahrt.
Alle sind glücklich. Tipptopp.
Oder man kann noch mal
nachhaken. Denn das zentrale
Argument, das in dieser Debatte eine Rolle spielt, sollte zumindest stutzig machen. Nicht
aus der Perspektive der Kinder,
deren Wohl definitiv schützenswert ist. Wohl aber deshalb, weil
es nur in diesem speziellen Fall
bemüht wird. Gemeint ist das
Argument, dass Kinder, deren
Vater nicht bekannt ist, seelischen Schaden erleiden. Ihnen
fehle oft ein Teil ihrer Identität,
heißt es. Ein Leben lang suchten
sie nach etwas, das durch den
anonymen Erzeuger schmerzlich abwesend ist.
Das mag so sein. Das seelische
Leid vaterloser Kinder soll hier
nicht in Frage stehen. Nur: Das
ist weder ein neues Problem.
Noch eines, dass an die Mutterschaft durch Samenspende gekoppelt ist. Was ist mit anderen
abwesenden Vätern? Mit Vätern, deren Identität Mütter absichtlich verschleiern, weil sie
nicht darüber sprechen oder
sich nicht an sie erinnern wollen? Oder mit Kindern, denen
nicht nur der Vater, sondern
beide Elternteile fehlen, und
die womöglich noch mehr darunter leiden, dass ihre Wurzeln
im Verborgenen liegen?
Warum wird ausgerechnet
beim Thema Samenspende das
Argument des Kindeswohls bemüht? Ein Vorschlag: Weil es
hier gar nicht ausschließlich
um das Wohl der Kinder geht.
Sondern darum, ein traditionelles heteronormatives Familienbild zu verteidigen, das durch
das Konzept der Samenspende
in Frage steht.
Durch die Samenspende wird
die Reproduktion zu einem Akt
des Konsums. (Single-)Frauen
und lesbische Paare brauchen
keinen Partner mehr, um Mütter zu werden. Nicht mal mehr
jemanden, der eine Nacht mit
ihnen verbringt. Man könnte
sagen: Eine Schwangerschaft
durch Samenspende ist ein Akt
der Emanzipation.
Würde man sich nun wirklich
für das Wohl der Kinder interessieren, müsste man die Diskussion auf breitere Füße stellen –
und auch all die Fälle miteinbeziehen, in denen Kindern aus
Was da mit­schwingt,
ist das altbekannte
Bild der Raben­mutter
Fortpflanzung, steril: Samenbank in Dänemark Foto: Laerke Posselt/VU/laif
anderen Gründen ein Elternteil
fehlt. Das geschieht aber nicht.
Ist der Subtext also ein anderer?
Nämlich der: Frauen, die ohne
Vater schwanger werden, schaden dem Kind?
Früher war die Sache ganz
einfach: Eine Mutter ohne Mann
wurde als nicht tolerierbares
Flittchen abgestempelt und ihr
„Bastard“ aus der Gesellschaft
ausgeschlossen. Das geht heute
nicht mehr. Lässt sich einwenden: Die unverschuldet alleinerziehend Mutter ist doch heute
gesellschaftlich
akzeptiert.
Stimmt. Aber sie ist ein Sonderfall, ein Opfer der Umstände. Sie
wünscht sich im Grunde einen
Partner und stellt das Ideal der
Kernfamilie nicht in Frage. Also
wird sie nicht sanktioniert.
Das Kindeswohl wird erst
dann bemüht, wenn sich Frauen
dazu entscheiden, geplant –
also vorsätzlich – ohne Mann
schwanger zu werden. Dann ist
plötzlich von den nicht verantwortbaren Schäden die Rede,
die ein Kind, das die Identität
des Vaters nicht kennt, erleiden kann. Was da mitschwingt,
ist das altbekannte Bild der Rabenmutter.
Was aber ist, wenn eine Mutter ihr via Samenspende empfangenes Baby artgerecht liebt
und umsorgt, während eine
klassische Kernfamilie säuft
und den Nachwuchs ständig vor
den Fernseher setzt? Welches
Kind trägt am Ende den größeren Schaden? Ganz so einfach ist
das alles nicht.
Ist also doch was falsch am
Gesetzesvorhaben des Bundesministers? Nein. Keine Sorge.
Aber das Argument, das in der
Debatte bemüht wird, hinkt.
Eben weil es nur dann relevant
zu sein scheint, wenn es um
Samenspenden geht. Und das
klingt nach etwas ganz anderem. Nämlich nach der Angst
all derer, die fürchten, dass
auch die letzten noch verbliebenen Grundwerte am Ende Auslegungssache sind. Also nach
den Gegner*Innen von Emanzipation.
SO RICHTIG ÜBERRASCHEND SIND GÜNTHER OETTINGERS AUSSAGEN ÜBER CHINESEN EIGENTLICH NICHT
Deutschland, du großartige Mausrutscher-Kolonne
S
chlitzohren und Schlitzaugen“. Donnerwetter, da hat
der Mann mit dem Namen
eines einigermaßen erträglichen Bieres aber einen rausgehauen. LOL, ROFL, HDGDL, ach
du mein Stammtisch, i moag
di. In etwa so humorig wie die
fleischgewordenen
Herrenwitze, die auf der vollgekotzten Theresienwiese des Oktoberfests herumliegen und sich
für die Krone der Schöpfung halten. Vor, während und nach dem
Vollrausch. Das Geld der asiatischen Touristen wird auch dort
gerne genommen, ansonsten
hat aber Ruhe zu herrschen auf
den billigen beziehungsweise
chinesischen Plätzen. Haha, verstehen Sie? Ja? Oh, tut mir leid,
so war das gar nicht gemeint.
Prosit!
Ob Günther Oettinger sich
in bester EU-Parlament-Manier von Jean-Claude Junckers
feuchtfröhlichen Auftritten inspirieren ließ und sich am frü-
hen Morgen ein kleines Schnäpperchen gegönnt hat, bevor er
seine Weisheiten über Asiaten
verbreitete und nebenbei noch
von einer „Zwangs-Homoehe“
philosophierte, ist der Nachwelt
auf der Afterhour nicht überliefert. Es wäre ihm allerdings
durchaus zuzutrauen, derartiges auch nüchtern abzusondern.
Schriftlich überliefert ist hingegen seine Erklärung in der SUPERillu der Politik, auch Welt genannt. Das ist die Zeitung, die
ihre Leser neuerdings geflissentlich vorwarnt, bevor diese
sich einen Artikel aus dem
Hause Springer gönnen. „Lesedauer 4 Minuten“ steht dort seit
Kurzem vor den Onlinetexten.
Gut zu wissen, mehr Zeit zwischen Weißwurst zuzeln, sprachliche Flächenbrände entfachen
und der nächsten Maß hab ich
grade eh nicht.
Was meinte Herr Oettinger denn nun genau, als er von
Schlitzaugen sprach? „Das war
LÜGENLESER
JURI STERNBURG
Foto: William Minke
eine etwas saloppe Äußerung,
die in keinster Weise respektlos gegenüber China gemeint
war.“ Okay, du bayerische Suffnase mit dem Intellekt einer
Beutelratte. Verzeihung. Das
war natürlich nicht respektlos
gemeint.
Deutschland, du großartige
Mausrutscher-Kolonne.
Der
von CSU-Spezi Joachim Herrmann ins Spiel gebrachte „wunderbare Neger“ sitzt nur einige
Meter weiter und nickt eifrig. Salopp, ja. Aber mehr doch wirklich nicht. Brechdauer: 20 Minuten und mehr. Erneute Nachfrage. Aber bitte noch einmal,
wie genau meinten Sie das denn
nun, Herr EU-Kommissar? „Ich
wollte im digitalen Sektor, generell bei technologisch geprägten Sektoren aufzeigen, wie dynamisch die Welt ist.“ Potzblitz,
das klingt sogar noch besser als
Christoph Daums „Ich habe ein
absolut reines Gewissen“ oder
die Statements von Deutschlands aktuellem Lieblingstroll,
Donald „not true“ Trump. Das
ist nicht mal mehr Whataboutism. Das ist grenzgeniale Debilität und die perfektionierte Verweigerung von Reflexion. Genug
Politik für heute. Zu ermüdend.
Also schnell mal ins Unterhaltungsprogramm gezappt, da wo
all das gespiegelt wird, was dieses schöne Land so ausmacht.
Oh, Blackfacing um 20.15 Uhr
im Ersten. Ganz schön salopp.
Endlich ausspannen und fünfe
gerade sein lassen. Hitler-Doku,
Deutschlands schönste Bahnstrecken, Mitten im Leben, eine
Live-Übertragung aus dem EUParlament, Verstehen Sie Spaß?
Guckdauer: 24/7
DIE FÜNFTAGEVORSCHAU | [email protected]
Mittwoch
Ingo Arzt
Kapitalozän
Donnerstag
Martin Reichert
Herbstzeitlos
Freitag
Judyta Smykowski
Rollt bei mir
Montag
Aboud Saeed
Warum so ernst?
Dienstag
Doris Akrap
So nicht
Gesellschaft + Kultur
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
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Weltberühmt und im kanadischen Montreal zu Hause: Leonard Cohen Foto: Sony
Gesang vom Trümmerberg herab
SINGER-SONGWRITER „You Want It Darker“ heißt das neue Werk von Leonard Cohen. Er belässt es nicht bei dieser Drohung:
Cohens abschließendes Album ist harter Tobak. Musik und Texte nehmen es mit seinen Großtaten aus früheren Jahrzehnten auf
VON DIRK KNIPPHALS
Ich hatte mich sehr gefreut.
Doch das erste Hören war ein
Schock.
Vielleicht alarmierte mich
schon der summende jüdische
Männerchor ganz zu Beginn.
Er summt sehr gottesfürchtig.
Oder es war das fette Bassmotiv, das dann so unerbittlich wie
eine rollende Kutsche daherkommt, die einen zum Jüngsten Gericht abholt. Auf jeden
Fall war es spätestens Leonard
Cohens Stimme.
Von den beiden vorangegangenen Alben, „Old Ideas“ und
„Popular Problems“, mag man
schon einiges gewohnt sein an
stimmlicher Dunkelheit bei
dem inzwischen 82-jährigen
Singer-Songwriter, aber das
hier ist noch einmal eine Steigerung. Gerade zum Auftakt
des neuen Albums singt Leonard Cohen trocken und gefasst, als wolle er den Titel „You
Want It Darker“ gleich einlösen,
wie zur Hälfte schon aus einem
Jenseits. Und was er singt, ist ein
Hammer: „I’m ready, my Lord.“
Ganz, ja doch, nackt und endgültig steht das da.
Das war’s dann jedenfalls.
Das neue Album war gerade einmal 82 Sekunden gelaufen – 1:22
stand auf der Anzeige –, als ich
den Pausenknopf drückte und
mir den Kopfhörer herunterriss. Eigentlich bin ich gar nicht
so zimperlich. Und obwohl religiös sonst unmusikalisch, suche
ich bei Cohen gerade diese tiefen kunstreligiösen Momente.
Aber das war jetzt zu viel der
schweren Zeichen.
Die Abwehrreaktion hatte natürlich auch etwas mit der Meldungslage zu tun. Cohen bereite sich aufs Sterben vor, las
man kurz vor Erscheinen des
neuen Albums. Man erfuhr von
einem Brief an seine sterbende
frühere Partnerin Marianne Ihle
(die Frau auf dem Rückcover von
„Songs From A Room“), in dem
Cohen schrieb, dass er ihr bald
folgen werde. Er selbst gehe davon aus, dass dies sein letztes Album sei, hieß es. Und die ersten
Besprechungen klangen schon
wie Nachrufe.
Das ist inzwischen zwar alles relativiert. Er gedenke, noch
mindestens 20 Jahre leben zu
wollen, ließ Cohen in der ihm
eigenen schelmischen Sphinxhaftigkeit wissen. Aber etwas
von Testament, von letzten Dingen, großem Abschiednehmen
und Vermächtnis haftete dem
Album seitdem nun einmal an.
Gottogott. Und dann ist gerade
auch noch Herbst.
Auf jeden Fall brauchte ich
also etwas Anlaufzeit. Die neun
Songs im Handy immer bei mir,
hörte ich die nächsten Tage vorsichtig mal hier rein, mal da
rein. Ich registrierte, dass es
Bestimmender
als Abschiednehmen
scheint für das
Cohen-Album Dankbarkeit das Hauptthema zu sein
auch spielerische Momente gibt.
Ich hörte den Song „Treaty“ zwei
Wochen lang morgens, mittags
und abends, bis ich die Zeilen „I
wish there was a treaty we could
sign / I do not care who takes
this bloody hill“ ständig im
Kopf hatte und feststellte, dass
der Song zum Besten gehört,
was Cohen je gemacht hat. Ich
grinste jedes Mal bei dieser tollen torkelnden Gitarre am Anfang von „Leaving the Table“. Ich
ließ mich tragen von der Geige
in „It Seemed the Better Way“.
Ich entdeckte, in wie vielen Variationen diese tiefe Altmännerstimme flüstern kann, manchmal nimmt sie sogar etwas Tänzelndes an. Kurz, binnen zwei
Wochen, während draußen die
Blätter fielen, entblätterte sich
mir dieses neue Album allmählich als das Meisterwerk, das es
tatsächlich ist.
Und dann fiel mir auf, dass
das immer so war. Bei den meisten neuen Cohen-Alben, ja, bei
ganzen Werkphasen gab es immer erst einmal eine Abwehr
zu überwinden. In den inneren
Kanon aufgenommen habe ich
sie erst über Umwege. Seltsam.
Aber das war wirklich schon immer so, von Anfang an.
Zum ersten Mal begegnet ist
mir Leonard Cohen, als ich ein
Teenager war und auf den Flohmärkten meiner Heimatstadt
Kiel damals nach billigen gebrauchten Alben suchte. In fast
allen Stapeln, in denen ich an
den Flohmarktständen wühlte,
gab es Cohen-Platten, als ob ihn
damals, Ende der Siebziger, alle
loswerden wollten. Es war die
Nach-Innerlichkeits-Phase. 68er
und Hippies schmissen ihre Flokatis aus den Wohnungen und
verscheuerten die Cohen-Alben
gleich mit. Zwei Werke, die ich
damals für, ich glaube, zusammen fünf Mark gekauft habe, besitze ich heute noch: „New Skin
for the Old Ceremony“ und leider nur eine „Greatest Hits“.
Ich habe Leonard Cohen
schon immer gerne gehört, aber
lange Zeit wusste ich nicht, warum. Zuerst ging es mir (es ist
mir heute etwas peinlich) offenbar eher darum, mit seiner
Musik auf meinem Plattenteller eine bestimmte Atmosphäre
herzustellen. So etwas zwischen
traurig und kuschelig. Leonard
Cohens Hits, „Suzanne“, „So
Long, Marianne“, „Famous Blue
Raincoat“, würde man in einem
heutigen Vokabular sagen, waren zum Chillen da.
Alles in allem brauchte ich –
das war der erste Umweg – bestimmt 20 Jahre, um zu begreifen, dass da überhaupt ein ganz
gewaltiges Missverständnis vorlag. Bis heute werde ich etwas
unwillig, wenn mir Cohen noch
als „Meister der leisen Töne“ nähergebracht oder vorschnell in
einen Zusammenhang mit Melancholie gestellt wird. Dabei
Wie variantenreich
diese tiefe Altmännerstimme flüstern
kann, manchmal
nimmt sie sogar
etwas Tänzelndes an
geht es doch in Wirklichkeit um
sehr handfeste Dinge. Um Begehren („Take This Longing“).
Verlorenheit („Story of Isaac“).
Sex („Don’t go home with your
hard-on“, „Giving me head / on
an unmade bed“). Auch um Depressionen („Seems So Long
Ago, Nancy“).
Nachrichten über die Intensität des Lebens sind das, Aufund Abschwünge inklusive. Von
wegen Sentimentalität oder Gefühligkeit. Wie singt er in „That
Don’t Make It Junk“: „I don’t
trust my inner feeling / Inner
feelings come and go“. Und wo
jetzt so viel Gewese um die Abschiede auf dem aktuellen Album gemacht wird – Abschiede
waren natürlich von Anfang an
bei Leonard Cohen dabei.
Der zweite Umweg betrifft
die mittlere Schaffensphase.
Die großen Klassiker, „Hallelujah“, „If It Be Your Will“, „First
We Take Manhattan“, „Anthem“,
hat man natürlich immer mitgenommen. Verstanden habe ich
nur lange nicht, was das sollte,
die Gitarre in die Ecke zu stellen und stattdessen auf einem
Casio-Synthesizer inklusiver
dünner Drumlines herumzutippen. Die Produktionen hörten sich stellenweise ja so homemade an, wie sie auch waren.
Wie ­Cohen etwa auf „Ten New
Songs“ die Dringlichkeit seines Gesangs mit den gelegentlich etwas plastikhaften Arrangements konfrontiert, ist eine
ganz eigene Kunst für sich.
Aber man muss erst einmal
drauf kommen, wie großartig
Leonard Cohen hier das Tiefe
mit dem Banalen verknüpft.
Wie heißt es in „If It Be Your
Will“: „From this broken hill /
I will sing to you“. Es ist eben
kein großer, pathetischer Thron
der Kunst, sondern ein Trümmerberg, von dem herab Leonard Cohen zu uns singt (oder
zu Gott, was, sein großer Trick,
aber dasselbe ist). Und wie heißt
es in „Anthem“: „Ring the bells
that still can ring / Forget your
perfect offering“. Irgendwann
übersetzte ich mir das in: Man
darf gerade nicht melancholisch
werden, sondern soll die Glocken läuten, die einem zur Verfügung stehen. Und wenn diese
Glocken eben aus billigen CasioGeräten bestehen und aus einer
Stimme, mit der man ein Leben
lang zu kämpfen hat. Was daraus
entsteht, liegt sowieso nicht in
der eigenen Hand.
Das einzige Album, das ich
von Anfang an rundherum
großartig fand, war „Dear Heather“ (2004). Mit dem Spätwerk,
von „Old Ideas“, an hatte ich dagegen zuerst Schwierigkeiten.
Ich weiß noch, „Nevermind“
und „Born in Chains“ aus „Popular Problems“ hörte ich zum ersten Mal, während am Strand von
Westerland die Sonne unterging
– und ich bekam sofort Lust auf
so etwas Profanes wie ein Leber-
wurstbrot. Das war mir zunächst
doch ein zu intimer Umgang mit
dem Heiligen oder Bösen oder
was auch immer. Aber wie großartig und schlicht dann wieder
der letzte Song des Albums ist,
„You Got Me Singing“. Und aus
dem Abstand daraus sind auch
„Old Ideas“ und „Popular Problems“ immer mehr gewachsen,
so wie jetzt „You Want It Darker“.
Wenn ich mir jetzt den Männerchor, den Bass und das intensive Flüstern am Anfang anhöre,
finde ich den Schock nur noch
bedingt wieder. Bestimmender als das Abschiednehmen
scheint mir auf dem neuen Album sowieso die Dankbarkeit zu
sein. Was ist der Song „If I Didn’t
Have Your Love“, neben „Treaty“
mein Lieblingsstück, anderes
als eine Dankesbezeugung für
ein bis zum Äußersten ausgekostetes Leben? Für ein Leben,
das auch noch weitergeht, wenn
man, wie Leonard Cohen, die
Phase, in der man alt und weise
werden kann, auch schon hinter
sich gebracht hat und mit seiner Musik einfach immer weiter
macht. So lange es geht.
■■Leonard Cohen: „You Want It
Darker“ (Columbia/Sony)
BERICHTIGUNG
Themen der Kultur landen nicht
oft auf der Seite 1. Meistens ist
das der unsicheren Weltlage
und der Innenpolitik geschuldet. Umso schöner, wenn unsere Themen zur Schlagzeile
werden, so wie vergangene Woche der Text von Michael Rauhut über die afroamerikanische
Sängerin Etta Cameron und ihr
Wirken in der DDR. Allerdings
hatte sich ein Fehler eingeschlichen, denn Rauhut, ein Berliner,
lehrt als Professor in Norwegen,
nicht in Dänemark.
16
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
EINGESCHÜCHTERTE SOZIALDEMOKRATISCHE STADTREGIERUNG
Thügida marschiert
GOTT UND DIE WELT
VON
MICHA BRUMLIK
W
em käme, hörte sie oder
er das Wort „deutsche
Kultur“, nicht mindestens auch die Stadt Jena in den
Sinn. Hier wirkten und lehrten
im 19. Jahrhundert Schiller und
Schlegel, Hegel und Fichte, hier
sorgte Goethe als Politiker, als
Wissenschaftsminister – dieses Amt hieß damals „Hofrat“
– des Weimarer Fürsten dafür,
dass Bibliotheken, Gärten und
Laboratorien eingerichtet wurden, hier vollendete er unter anderem seinen Roman „Wilhelm
Meister“ und seine Lebenserinnerungen „Dichtung und Wahrheit“, hier ist noch immer Schillers Gartenhaus zu sehen, wo
er unter anderem den „Wallenstein“ schrieb.
Heute freilich, seit 2011, steht
die lebens- und liebenswerte
Universitätsstadt zum Nachteil ihrer Bewohnerinnen und
Studierenden im Ruf, ein Zentrum der rassistischen und neonazistischen Untergrundszene
zu sein – bis hin zu begründeten Vermutungen, dass sich dort
auch Mitglieder des NSU getroffen haben. An Dreistigkeit ist die
neonazistische Szene dort nicht
zu überbieten: So marschierten an Hitlers Geburtstag 200
„Thügida“-Anhänger in einem
Fackelzug durch Jena, eine Demonstration, die nach einem
Verbot der Stadtverwaltung
durch das Verwaltungsgericht
Jena kassiert wurde.
Kurze Zeit später, am 17. August, dem Todestag des „Führerstellvertreters Rudolf Heß“,
schritt die Polizei daher nicht
mehr ein, wenngleich 3.000
Menschen, die Jenaer Zivilgesellschaft, dagegen aufstanden,
aber von der Polizei mit Hunden
und Wasserwerfern drangsaliert
wurde. Doch hat die nach oben
offene Skala neonazistischer
Provokationen ihr Ende bei Weitem noch nicht erreicht: Ausgerechnet für den 9. November, jenem Tag, an dem 1938 die Synagogen brannten und Tausende
jüdischer Männer in Konzentrationslager gesperrt wurden, hat
„Thügida“ einen weiteren Aufmarsch angemeldet.
Die Stadt reagierte darauf
halbherzig, indem sie zwar die
Demonstration der Rechtsradikalen am 9. 11. untersagte, ihnen aber für den 8. 11. einen
Gesellschaft + Kultur
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
Zwangsläufig ein Begriff
GENDERCHAOS In keine Zeit passte die Pariser Ausstellung über die hermaphroditischen
Marsch erlaubte – zwar nicht,
wie angemeldet, in Häftlingskleidung, wohl aber mit Sarg
und Fackeln. Dass und wie die
Neonazis von „Thügida“ die
deutsche Geschichte verdrehen, sich – als vermeintlich unterdrückte Deutsche – mit den
jüdischen Opfern des 9. November 1938 gleichsetzen, ist so absurd, dass es keiner Widerlegung
bedarf. Dass die Stadt Jena derlei hinnimmt, ist ein Skandal
sondergleichen. Der Oberbürgermeister von Jena, Dr. Albrecht Schröter, Jg. 1955, gehört
der SPD an, ist gelernter evangelischer Theologe und hat sich
nicht zuletzt um die Aufarbeitung der Verfolgung der Jenaer
Juden in der NS-Zeit verdient
gemacht. Wie eingeschüchtert
oder opportunistisch muss die
politische, die sozialdemokratische Mehrheit in Jena sein, dass
sie Naziaufmärsche zulässt? Politisch gibt es keinen Grund: Bei
der Bundestagswahl 2013 erhielten NPD und AfD zusammen
kaum mehr als 5 Prozent der
Stimmen, für die AfD freilich
kandidiert dort Michael Kaufmann, er lehrt in Jena als Professor für Mess-, Steuerungs- und
Regelungstechnik am Fachbereich Maschinenbau der ErnstAbbe-Fachhochschule. Er immerhin distanzierte sich von
den Rechtsradikalen.
Und die Studierenden? Ihr
politisches Interesse scheint
rapide zu schwinden – haben
doch bei der Wahl zum dortigen ­Studierendenrat im Sommer 2016 vom etwa 16.000
Wahlberechtigten nur 9,2 Prozent an der Wahl teilgenommen.
So schließt sich ein Bild: opportunistische, pseudolegalistische
Verwaltungsrichter, eine eingeschüchterte sozialdemokratische Stadtregierung sowie rapide schwindendes politisches
Interesse – nein, nicht bei den
sogenannten „Abgehängten“,
sondern bei den Gebildeten: Studierende, die unter dem Druck
der Bolognareformen offenbar
nichts anderes im Sinn haben,
als möglichst schnell ein Zertifikat zu erhalten und nebenbei
noch zu jobben – wer wollte das
verurteilen? Auf jeden Fall:
Die Zustände in Jena, jener
Ikone der Kultur der deutschen
Klassik, zeigen einen möglichen
Entwicklungspfad der Politik in
Deutschland. Was wohl Goethe,
Schiller und Hegel dazu gesagt
hätten?
■■Micha Brumlik lebt in Berlin
und arbeitet am Zentrum für
Jüdische Studien
© Peter Hönnemann
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Berliner Kunst-Zwillinge Eva & Adele gesellschaftspolitisch besser
Eva & Adele, Polaroid Diary, 18. 4. 1991, Berlin Abb.: Musée d‘Art Moderne de la Ville de Paris
VON ANNABELLE HIRSCH
Würde der Papst in den kommenden paar Monaten, irgendwann zwischen heute und
Ende Februar, einen Besuch in
das Musée d’Art Moderne de la
Ville de Paris wagen, er wäre sicher empört. Da machte er sich
vor ein paar Wochen die Mühe,
sich öffentlich gegen das französische Schulsystem auszusprechen, das angeblich, anarchisch
wie es bekanntlich ist, sehr aktiv eine höchst gefährliche Theo­
rie verbreitet, nämlich die Gendertheorie, und vergisst dabei,
dass die Museen in der Relativierung der ganzen Mann-Frau-Geschlechts-Debatten noch viel radikaler vorgehen.
Es ist fast ein bisschen komisch. Denn während vor zwei
Wochen eine wiederauferstandene Gruppe von „Manif pour
tous“-Anhängern über den Trocadero stampfte, um Frankreich
vor den Gefahren der gleichgeschlechtlichen Ehe und Elternschaft zu warnen, konnte man
nur ein paar hundert Meter weiter im Untergeschoss des Musée d’Art Moderne sehen, was
es bedeuten kann, wenn Männlichkeit und Weiblichkeit keine
Rolle mehr spielt: Eva & Adele,
die selbst ernannten herma­
phro­
ditischen Zwillinge aus
Berlin, sind zu Besuch in Paris
welches Kleid zur Documenta 13
(Spitzen-Bordüren-Kleid). Während einer Einzelausstellung
im Museum Mocak in Krakau,
so erfährt man, trugen sie zum
Interview einen rosa gestreiften
Nerzmantel und zu ihrem von
dort aus angetretenen Ausflug
nach Auschwitz einen schwarzen Nerzpelzmantel, rosa Baumwoll-Seiden-Pulli und einen
schwarzen Springfaltenrock.
Hier, also bei Auschwitz, kommt
ein irritierender Aspekt dieser
Ausstellung zutage, der sicher so
nicht intendiert war und weder
mit Geschlechtlichkeit noch mit
Freiheit oder Freude zu tun hat.
Denn diese tatsächlich amüsanten Beschreibungen der Garderobe des Paares rahmen den
Eingang zum Christian-Boltanski-Kabinett. Boltanski, dessen
Werk sich seit jeher dem Erinnern verschrieben hat, gedenkt
in diesen zwei Räumen, in denen sich erst Pullis und Hosen stapeln und dann ein paar
dunkle Porträts aneinanderreihen, der während des Nationalsozialismus in Konzentrationslagern umgekommenen Kinder.
Hier Kleidung, dort Kleidung,
hier Gesichter, dort Gesichter,
hier kahle, krank aussehende
Mann-Frauen, dort Kindergesichter, die sich in der Dunkelheit entziehen: War das Absicht?
Ist das ein Versehen?
Die beiden Werke treten in einen leicht verstörenden, dissonanten Dialog, zumal die Berliner Hermaphroditen, wenn
man vom vielen Rosa und Edith
Piafs „Je ne regrette rien“-Gesang einmal absieht, durchaus
nicht nur Lebensfreude versprühen. Im Gegenteil: Die Videos im letzten der drei kleinen
Räume sind kalt und düster.
Dort läuft Adele (die kleinere
der beiden) mit ihrem kahlen
weißen Kopf über einen kahlen
Acker oder nackt durch ein ruinenartiges Gebäude, sie macht
nackt ein Feuer bei dem sie einen Haufen Schuhe verbrennt
und tanzt in einer leergefegten Landschaft durch den heraufsteigenden Rauch. Es mag
sein, dass die Nähe zu Boltanski und die Konzentrationslagerassoziation dem kahlköpfigen Paar unrecht tut, es mag
sein, dass dies alles nur ein
dummer Zufall ist und hier
tatsächlich ein Lob auf die Freiheit zu sein scheint, zu leben,
wie man es möchte, ob mit Penis oder Vagina oder beidem
oder gar nichts. Nur kommt
diese Botschaft hier im Untergeschoss der Pariser Institution
sehr schief und erstickt rüber.
Lebendige Kunstfiguren strahlen live einfach besser.
tesk geschminkten Gesichtern
und den knalligen, meist pinken Kostümen aus Plastik oder
mit Flügeln oder sonstigen skurrilen Accessoires erscheinen. Sie
gehören dazu, sind Teil der Veranstaltung, und auch wenn es
natürlich viele solcher Gestalten gibt, Eva & Adele sind fraglos die bekanntesten von ihnen, sie bleiben im Gedächtnis.
Sie sind, so heißt es hier in Paris,
eben anders. Sie sind nicht nur
zwei exzentrische, geschlechts-
lose Kunstfiguren, sie haben
eine Message. Freiheit, Spaß
und Freude, könnte eine solche
Botschaft lauten, suggeriert Fabrice Hergott, der Direktor des
Museums, in seinem Vorwort
zum Katalog. Eine Reflexion
über Geschlechtlichkeit, Identität, den Anderen, der eigentlich Ich ist und so weiter, wäre
eine andere Option. Oder, dass
„queer“ schon lange vor Caitlyn
Jenner in der Kunst durchexerziert wurde, und zwar nicht nur
zu Claude Cahuns Zeiten und
auch nicht nur filmisch wie bei
Mathew Barney sondern ganz
echt und live im realen Leben
von heute.
Man kann sehr viele gute Ansätze finden um zu erklären, was
Eva & Adele dort tun, so wirklich einleuchten mag einem
das nicht, weshalb man sich
schnell auf die Details konzentriert. Etwa im ersten kleinen
Raum, in dem neben einem rosafarbenen Van die Wände mit
Abbildungen der diversen Kostüme des Paars tapeziert wurden und man in ihre sehr minutiös detaillierten Bekleidungskalender blicken kann: Dort
erfährt man zum Beispiel, welche Unterwäsche sie während
der Art Basel Miami Beach 2015
zum Flanieren trugen (schwarzer Wonderbra, schwarzes Höschen, Champagner-Straps) und
■■Bis 26. Februar, Musée d’Art
Moderne de la Ville de Paris, Katalog (Hirmer Verlag) 39,90 Euro
eine Frau lächeln und die Form
wahren. Von niemandem sonst
wird man das verlangen.‘ Margaret Thatcher hat sicher nicht
viel gelächelt; Angela Merkel lächelt oder lacht selten.“
Debakel an den Münchner
Kammerspielen: Nach einem
Regisseurwechsel mitten in
den Proben hat das Theater die
Aufführung zu Michel Houellebecqs umstrittenen Roman
„Unterwerfung“ komplett abgesagt. „Die Produktion konnte
sich nicht aus der durch die
Absage des Regisseurs Julien
­Gosselin verursachten Krise be-
freien“, teilte das Haus gestern
mit. Die für den 19. November
vorgesehene Premiere entfalle
ersatzlos. Für weitere Vorstellungstage sei Ersatz geplant.
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke hat den
Schriftsteller Günter de Bruyn
zu dessen 90. Geburtstag am
Dienstag als „großen deutschen Romancier“ gewürdigt.
De Bruyn habe die Jahre der
DDR kritisch beobachtet und
beschrieben wie auch die Jahre
nach der wiedergewonnenen
Einheit Deutschlands, sagte
­Woidke gestern. „Wer Ihre Werke
liest, wird in die Geschichte
Brandenburgs und Preußens
entführt“, erklärte Woidke. „Sie
haben unserem jungen Land
einen Teil der Identität wiedergegeben, die verschüttet, weil
nicht gewünscht war.“
Kubus mit Wellendach und
Wasserbecken: Die frühere DDRVolksschwimmhalle im Schweriner Stadtteil Lankow aus der
Ära Honecker wird zum extravaganten Wohnhaus. Gerettet hat den Betonklotz seine
schlichte Einmaligkeit. Erst kurz
vor Abriss kam er auf die Denkmalliste.
und könnten gesellschaftspolitisch in keine bessere Zeit fallen.
Vernissage-, Museumseröffnung- und Kunstmesse-Gängern sind die Damen und Herren, die Zwitterwesen der Geschlechtlichkeit, zwangsläufig
ein Begriff. Es gibt kaum ein
bedeutendes Kunstevent, auf
dem das ungleiche Paar nicht
lächelnd im Partnerlook mit
ihren kahlen Köpfen, den gro-
Sie sind nicht nur
zwei exzentrische,
geschlechtslose
Kunstfiguren, sondern sie haben eine
Message: Freiheit,
Spaß und Freude
UNTERM STRICH
KLAUS DOLDINGER
mit seinen Bands
Passport classic/Passport today
Fr 4.11.2016
THEATERHAUS | Siemensstr. 11 | 70469 Stuttgart
Tel.: 0711 4020720 | www.theaterhaus.com
Die Schriftstellerin Esther Dischereit bereist zurzeit die USA
und schickt uns kleinen Beobachtungen wie diese: „Jemand
hat keine Zeit, muss weiter, hat
noch kein Tenure, alle auf der
Jagd nach einer Festanstellung
an der Universität, Empfehlungen und so weiter. ,Hillary sollte
sagen, dass dieser Mann seine
Hände bei sich behalten sollte.‘
Mein Freund sagt: ,Und wenn sie
das tut, ist sie geliefert. Sie muss
immer und überall die Form
wahren, souverän bleiben, lachen und strahlen. Ihr Lächeln
ist wie festgefroren. Hier muss
Gesellschaft + Kultur
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
17
Meister des Rostfelds
NACHRUF
Zum Tod des „Spurensuchers“ und großen Kunstauslegers Raffael Rheinsberg
Im Weltkrieg geboren, war Raffael Rheinsberg sein Name ein
Pfund, mit dem er wucherte.
Gelernt als Former und Gießer,
wegen eines Bootsdiebstahls im
Jugendknast, begann er erst mit
dreißig Jahren ein Studium der
Gestaltung in Kiel. Dieser Raffael war ein stämmiger Kerl, ein
Mann der Arbeit, mit Seehundsschneuzer und Hundeblick, der
sich wie ein Tänzer bewegte.
Selbst für Westberliner Verhältnisse war er eine Ausnahmeerscheinung.
Rheinsberg wurde ein Stadtwanderer und Sammler zum
einen. Im schleswig-holsteini-
schen Eckernförde schnupperte
er sich mit Frottagen von Ortsnamen und Fußwegdetails „Von
Ecke zu Ecke“ (1986). Vom Berliner Nordbahnhof brachte er ein
„Rostfeld“ (1982) in die Charlottenburger Galerie Gianozzo, bevor er es am Fundort noch einmal auslegte; in der Galerie ein
Teppich von Objekten, im Freien
die Miniatur einer bombardierten Stadt.
Seine Rostfelder bestanden
aus allen denkbaren rostigen Eisenteilen, die er – verliebt in filigrane Details – auf dem Boden
auslegte, halb Bild, halb Schrift.
Die gesammelten Objekte hat-
ten keineswegs die Lakonie von
objets trouvés, im Gegenteil, er
hauchte ihnen, Ding für Ding,
eine flirrende Poesie ein.
Rheinsberg war ein Meister
der sozialen Plastik zum anderen, ein Bildhauer mit Blick für
das Werkstück, seine Geschichte,
geschult am verlorenen Zusammenhang des Schrottplatzes.
„Spurensucher“ nannte man
damals Künstler mit einem starken Orts- und Geschichtsbezug.
Das war aber nicht negativ gemeint.
Es gab in seinem Werk zwei
Tendenzen, zu horten und zu
ordnen. Entweder sammelte er
Beispiele höchst unterschiedlicher Formen und brachte diese
in ein unwiderlegbares Layout;
alle Varianten seiner „Rostfelder“ sind dafür Beispiele.
Oder er verschaffte sich einen umfangreichen Schatz von
Objekten gleicher Funktion, deren Abweichungen er im Aufbau
poetisierte. So organisierte er in
Brasilien Dutzende von Bohrköpfen, wie Goldgräber sie für
den eigenen Gebrauch herstellen, die er wie gestrandete See­
igel in Kolonnen auslegte, eine
riesige Installation, die Rheinsberg „Ananas, Gold, Kokain“
(1982 ff.) betitelte.
Von Rio bis ins finnische Suomenlinna war er ein gern geladener Künstler, der nur eine Woche vor der Eröffnung anreiste,
um sogleich seine Ortswanderung zu beginnen, „von der Peripherie ins Zentrum“, wie er
selbst einmal preisgab. Geschult
am historischen Schutt und
Unrat Westberlins, entwickelte
er gleich nach dem Mauerfall
eine Leidenschaft für die bleichen Relikte Ostdeutschlands:
„H1 – H45“ (1991) bestand aus
sogenannten „Hydrantenabdeckungen“, Würfel, Pyramiden
und Kegel in abenteuerlichen
Varianten von Rot.
Die Kunsthalle Nürnberg
zeigte damals mit einer Überblicksausstellung
Raffael
Rheinsbergs makellose Kontrolle des musealen Raums.
Künstlerisch war er verwandt
mit Richard Long in England
und Arman aus Frankreich.
Durchaus erfolgreich, blieb
ihm dennoch der Zugang zu
den ganz großen Bühnen des
Kunstbetriebs rätselhafterweise
verwehrt. Fast schon in Vergessenheit geraten, starb Rheinsberg am vergangenen Donnerstag mit 73 Jahren an Krebs, und
zwar in einem Krankenhaus in
ULF ERDMANN ZIEGLER
Trier. Sehnsucht,
Gummi und
Erdbeerduft
AUSSTELLUNG „This Was Tomorrow“,
eine große Pop-Art-Schau im
Kunstmuseum Wolfsburg, zeigt
Werke britischer Künstlerinnen
und Künstler, die zwischen 1947
und 1968 entstanden sind
VON BRIGITTE WERNEBURG
Eine der betörendsten Arbeiten in „This Was Tomorrow“ ist
zweifellos Jann Haworth’ Surfer. Die Künstlerin fertigte ihn
aus Seidenstrümpfen. Neben
einer Wuschelmähne und sonnengebräunter Haut modellierte sie ihrer „Soft Sculpture“
auch einen wunderbaren Sixpack. Wie kommt eine Künstlerin aus Großbritannien darauf, sich in den sechziger Jahren mit dem Motiv des Surfers
zu beschäftigen? Ein Motiv, das
selbst in den USA, wie es scheint,
doch erst durch Raymond Pettibon in den neunziger Jahren in
den Kunstdiskurs Eingang fand,
obwohl der Surfer dort, zumindest in Kalifornien, eine geläufige Erscheinung ist.
Die sich entwickelnde Konsum- und Freizeitkultur der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das lässt sich nach dem
Rundgang durch die große Übersichtsschau zur britischen PopArt im Kunstmuseum Wolfsburg konstatieren, erfuhr in
England und Frankreich früher
Aufmerksamkeit aus der Kunstbeziehungsweise in Frankreich
aus der Filmszene als in den Vereinigten Staaten selbst, dem Ursprungsland der Entwicklung.
Deshalb überblickt nun aus geschätzten zwölf Metern Höhe
der Star der Nouvelle Vague
schlechthin, überblickt also
Anna Karina die „City of the Sixties“ wie Ralf Beil, Direktor des
Kunstmuseums, und seine Kuratorin Uta Ruhkamp den Ausstellungsparcours in der großen
Museumshalle nennen. Gemalt
hat sie 1963 Gerald Laing in der
Art des Rasterdrucks, wie man
ihn aus Zeitungen kennt, im Billboardformat von knapp vier Metern Höhe.
Wie früh US-Werbung, Massenmedien und Hollywood in
England und Frankreich kulturell durchschlugen, zeigt die
neodadaistische Collage „I was
a Rich Man’s Plaything“, die der
damals 23-jährige Künstler Edu-
Pauline Boty: „Colour Her Gone“ (1962) Foto: Kunstmuseum Wolfsburg
ardo Paolozzi 1947 in seinem Pariser Atelier klebte. Unter der
Schrift „Intimate Confessions“
ist ein gerade abgeschossener
Revolver zu sehen, in dessen
Rauchwolke „Pop!“ zu lesen ist.
Neben der „Daughter of Sin“ ist
naturgemäß Coca-Cola in dieser Urszene der Pop-Art anwesend, eine Flying Fortress und
rot leuchtende, süße Kirschen.
Die rasche Abfolge solcher Collagen, mit denen der schottische Künstler unter dem Titel
„Bunk!“ seinen Einführungsvortrag bei der ersten Sitzung der
Independent Group am 12. Februar 1952 in London auf dem
Episkop begleitete und die modernen Küchen, Konservendosen, Flugzeuge, Pin-up-Girls
Britische Pop-Art
führte die Synergien
von Musik, Kunst
und Mode zum
ersten Höhepunkt
und Disney-Figuren zeigen, erwies sich zwar zunächst als totaler Flop. Trotzdem findet sich
in den Diskussionen über die
Konsumgesellschaft, über Urbanität, Mobilität und die Stadt
von morgen der Independent
Group mit dem Architekturkritiker Reyner Banham, dem Kunstkritiker Lawrence Alloway, den
Künstlern Richard Hamilton
und Eduardo Paolozzi, dem Fotografen Nigel Henderson und
den Architekten Peter und Alison Smithson die Keimzelle des
British Pop.
1956 stellten die Smithsons
einen Prototyp ihres für die
Massenproduktion vorgesehenen House of the Future vor, in
dem der soziale Wohnungsbau
richtig schick aussah, mit Designerküche und Egg Chair. Endlich nach dem Krieg ist das Land
hochgestimmt. Deshalb scheint
es nur folgerichtig, dass das ikonische Bild der Pop-Art jetzt entsteht: „Just what is it that ­makes
today’s homes so different, so
appealing?“, eine kleine Collage von Richard Hamilton in
der Ausstellung „This Is Tomorrow“. Dort stürzt sich Hamilton
mit seinem Fun House wirklich
kopfüber in die Zukunft: Bei
der Rauminstallation, die er
mit Hilfe der Architekten John
Voel­cker und John McHale in der
Londoner Whitechapel Art Gallery aufbaut, arbeitet er mit Mikrofon und Verstärker, die er den
Besuchern zur Verfügung stellt.
Damals wie heute – die von Hamilton 1987 selbst besorgte Rekonstruktion wurde extra aus
Valencia nach Wolfsburg geholt − riecht man Erdbeerduft,
schreitet über weichen Gummiboden, wird durch bewegliche Rotoreliefs irritiert, sieht
einen Kriegsfilm und kann in
der Jukebox die aktuellen Hits
finden, um nur einige Elemente
dieses totalen Environments zu
nennen.
Hamilton ist es auch, der rund
zehn Jahre später den Abgesang
ikonografisch definiert, mit
„Swingeing London 67“ (1968),
dem Bild, das Mick Jagger und
den Galeristen Robert Fraser in
Handschellen zeigt. Die Synergien von Musik, Kunst und Mode
sind auf dem Höhepunkt: „Pop­
idol Mick Jagger von den Rolling Stones erschien heute vor
Gericht in einem lindgrünen
Jackett, dunkelgrüner Hose, einer grünschwarzen Krawatte
und einem geblümten Hemd,
um sich wegen Drogenbesitzes
zu verantworten“, ist auf einen
Zeitungsausschnitt in Hamiltons Druckgrafik „Swingeing
London“ (1968) zu lesen. In
Wolfsburg ist man dann auf der
Empore angelangt, wo Hamilton einen eigen Raum hat, für
„Swingeing London 67“ und den
Film, den James Scott, wie viele
Pop-Art-Künstler ein Absolvent
der Slade School of Fine Arts in
London, 1969 über ihn drehte.
Dieser eigene Raum, den alle
in der Schau vertretenen Künstler haben, darunter nicht nur die
kanonisierten wie David Hock-
Blick in die Ausstellung „This Was Tomorrow“ Foto: Marek Kruszewski/Kunstmuseum Wolfsburg
ney, R. B. Kitaj, Peter Blake, Joe
Tilson oder Allen Jones, sondern auch Entdeckungen wie
Pauline Boty und Jann Haworth
oder weniger bekannte Künstler
wie Derek Boshier, Peter Phillips.
Gerald Laing, Colin Self, Antony
Donaldson, Patrick Caulfield
und Richard Smith, ist das Problem der Schau. Denn er vereinzelt, was zusammengehört. Fundament von British Pop war die
Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen, die sich an den
führenden
Kunsthochschulen wie der Slade School, der St.
Martin’s School of Art oder dem
Royal College of Art in drei Wellen herausbildeten und die auch
Leute aus der Musikbranche und
der Mode einbegriffen und ganz
früh eben auch die Independant
Group und ihre Projekte am Institute of Contemporary Art (ICA).
sen, was das Motiv des Surfers
verständlich macht. Eine weitere ihrer Stoffskulpturen, Shirley Temple mit einem „Welcome
The Rolling Stones“-Pullover,
ist auf dem „Sgt. Pepper’s …“-Album-Cover abgebildet, das sie
mit ihrem Ehemann Peter Blake
konzipierte. Gemeinsam mit
Pauline Boty mischte sie den
British Pop mit Feminismus auf.
Boty versuchte die Rolle der
Frau als Konsumartikel neben
Konservendosen und schnellen
Wagen, wie sie ihre Künstlerkollegen definierten, durch Affirmation zu unterlaufen, was ihr
naturgemäß nur bedingt gelang.
Deutlich wird aber in ihren Collagen und Gemälden ein weiblicher Blick auf die Konsum- und
Massenkultur. Für die schöne,
hippe und modische Akteurin
von Swinging London, die schon
mit 28 Jahren starb, handelte Pop
von der „Sehnsucht nach dem
Jetzt“. Statt distanzierend waren ihre popkulturellen Aneignungen identifikatorischer Natur. Und sie kehrte die sexuelle
Ökonomie des Pop wie etwa in
Laings „Anna Karina“ um. „With
Love to Jean-Paul Belmondo“
(1962) zeigt den Helden der Nouvelle Vague in coolem SchwarzWeiß mit einer riesigen roten
Rose auf den Strohhut und darüber bunte Herzchen.
■■Bis 19. Februar 2017, Kunstmuseum Wolfsburg, Katalog
38 Euro
Studium für Arbeiterkinder
Erstmals nach 1945 war aufgrund veränderter Zugangsvoraussetzungen ein Studium an
diesen Hochschulen auch für
Arbeiterkinder wie Hockney,
Jones, Bosier, Phillips, Caulfield,
Tilson und Self, möglich. Deren
Klassenzusammengehörigkeit
mag vielleicht die rauere Ästhetik und das deutlich politische
Zeichen- und Zitatrepertoire erklären, das sich im British Pop
immer wieder findet, etwa wenn
Collin Self das Bond-Girl Ursula
Andress mit dem Zeichen für einen nuklearen Fall-out-Schutzbunker kombiniert. Nur für Pauline Boty und Jann Haworth,
die als Frauen Außenseiterinnen und an den Hochschulen
nur bedingt zugelassen waren
− „the girls were there to keep
the boys happy“ so Haworth −,
könnte das eigene Haus stimmig
sein. Haworth sorgsam genähte
Soft Sculpture von 1962 „Donuts,
Coffee Cups & Comics“ zitiert
eine häusliche Szene. Doch es ist
ja nur das riesige Volumen der
Wolfsburger Halle, das Einbauten verlangt, die wie jetzt leicht
zu kleinteilig geraten. Haworth
war in Hollywood aufgewach-
Die taz.akademie
fördert junge kritische JournalistInnen
im In- und Ausland.
Der taz.panterpreis
bietet HeldInnen des
Alltags eine öffentliche und partizipative Plattform.
AUF IHRE
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SIND WIR ANGEWIESEN!
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18
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Flimmern + Rauschen
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
DAS SOLLTEN SI E SEH EN
MEDI ENTICKER
Die Chinesen kommen!
­ layer – Wo wir sind, isch
P
vorne“; Tragikomödie D 2013;
R: Hannes Stöhr; D: Walter
Schultheiß, Christoph Bach, Inka
Friedrich, Ulrike Folkerts
Michael Bogenschütz ist ein
Pa­triach ganz alter Schule: 90
Jahre alt, schwäbisches Mittelstandsunternehmen, mischt
sich ständig ein. Trotzdem
kriegt er erst spät mit, dass
Bogen­
schütz’Sohn, Chef des
Familienbetriebs, einen Investor aus China sucht. Schlimm,
findet der Senior und versucht
die Übernahme zu verhindern.
TEN N IS BEI ARD UN D ZDF
BUN DESVERDI ENSTKREUZ
„TATORT“-AUSSTELLUNG
MÜNCHEN/MAINZ | Tennis ist
BERLIN | Die erste Intendantin
BERLIN | Unter dem Motto „1000
bei ARD und ZDF auch mit Angelique Kerber kein QuotenGarant. Nur eine von vier Übertragungen vom WTA-Finale in
Singapur mit der Weltranglisten-Ersten hat mehr als eine
Million Zuschauer angelockt.
Die Quoten seien „nicht enttäuschend, aber natürlich nicht
wirklich
zufriedenstellend“,
sagte
ARD-Sportkoordinator
Axel Balkausky: „Und dies trotz
der überragenden Leistungen
von Angelique Kerber.“ (dpa)
des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB), Dagmar Reim, erhält
das Bundesverdienstkreuz. Die
Auszeichnung werde der Journalistin am Dienstag von Berlins
Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD) übergeben,
teilte die Berliner Senatskanzlei
mit. Reim übernahm 2003 die
Leitung des aus Sender Freies
Berlin und Ostdeutschem Rundfunk Brandenburg hervorgegangenen RBB. 2016 gab sie das
Amt auf. (epd)
Tatorte – Alle Filme. Alle Fälle“
sind im Berliner Museum für
Film und Fernsehen jetzt sämtliche Folgen der Krimireihe zu
sehen. In der Mediathek können die einzelnen Episoden ab
Dienstag angeschaut werden.
Neben allen „Tatort“-Folgen können Fans in der Berliner Schau
auch einige ausgewählte Requisiten aus der Serie sehen. Ausgestellt ist eine blutbefleckte Schimanski-Jacke, die Götz George
trug. (dpa)
Kaum Zuschauer
■■22.45 Uhr, ARD, „Global
Der Patriarch wird 90. Gute Laune allüberall F.: Pola Sieverding/Sabotage/ARD
Ehrung für Reim
1.000 Krimis
Die Stimme des Wandels
GUATEMALA „La Cuerda“, Zentralamerikas einzige feministische Monatszeitung, kämpft für die Rechte von Frauen und Indigenen
VON KNUT HENKEL
Viele Frauen sind auf der Titelseite der 191. Ausgabe von La
Cuerda zu sehen. Beim Diskutieren, beim Singen, beim Demonstrieren, beim Argumentieren, aber auch beim Turnen
und Kochen wurden die Guatemaltekinnen abgelichtet. Unbekannte Frauen, aber auch Symbolfiguren wie Claudia Paz y Paz
oder Thelma Aldana, die beiden
Generalstaatsanwältinnen, die
der einst diskreditierten Justiz
in Guatemala zu neuem Ansehen verholfen haben und verhelfen. Darunter prangt in dicken Lettern: „Erheben wir unsere Stimmen“.
Eine typische Zeile für La
Cuerda, deren Redaktion in der
dritten Straße im Zentrum von
Guatemala-Stadt nicht weit vom
Präsidentenpalast entfernt liegt.
Ein unscheinbares zweistöckiges Haus. Oben ist die Redaktion,
wo in aller Regel einer oder mehrere der drei Herausgeber*innen
anzutreffen sind.
Ana María Cofiño ist eine
von ihnen und hat die Zeitung
vor nunmehr 18 Jahren mitgegründet. „La Cuerda ist ein
Nachzügler, denn als in Zentral- und Südamerika in den
1970ern die ersten Frauenzeitungen und kommunalen Radios entstanden, tobte in Guatemala der Bürgerkrieg“, sagt
die großgewachsene Anthropologin und schiebt hinterher:
„An die Gründung einer Zeitung mit Anspruch war nicht
zu denken.“ Die fand schließlich 1998, zwei Jahre nach dem
Ende des blutigen Bürgerkriegs,
statt. Heute hat das Monatsmagazin eine Auflage von 20.000
Exemplaren, es gibt rund 1.300
Abonnent*innen, 14.000 Besucher hat die Webseite täglich,
und rund 8.000 Menschen folgen der Redaktion bei Facebook.
„Ziel war es damals und ist es
heute, die Stimme der Frauen
in der Gesellschaft zu stärken.
Das heißt ganz konkret, gegen
Sexismus im Bildungssystem
und in der Gesellschaft vorzugehen, die verbreitete Straflosigkeit und den Rassismus anzuprangern sowie die Rechte der
Frau durchzusetzen“, erklärt Cofiño.
Dabei sind die Guate­
mal­
tek*innen ein ganzes Stück weitergekommen. Schon beim sogenannten Jahrhundertprozess
vom Mai 2013 gegen Exdiktator
Efraín Ríos Montt wurden indigene Frauen gehört, die ihre Vergewaltigung anzeigten. Im Februar 2016 erging dann das erste
Urteil gegen zwei einstige Militärs wegen der Versklavung und
wiederholten Vergewaltigung
von fünfzehn Frauen der Ethnie der Maya-Q’eqchín.
Der Prozess war ein voller Erfolg für Guatemalas Frauenbewegung, denn die beiden Militärs wurden nicht nur zu langjährigen Haftstrafen verurteilt,
auch das Verfahren setzte neue
Maßstäbe: Die Frauen mussten
nicht ins Kreuzverhör, sondern
ihre Aussagen wurden per Video eingespielt. Das könnte zukünftig auch in anderen Vergewaltigungsprozessen zum Standard werden, hofft zumindest
Luz Méndez von der Frauenvereinigung Guatemalas UNAMG.
Bei der Berichterstattung über
den Prozess sei La Cuerda die
Speerspitze gewesen, sagt Méndez: „Die Redaktion hat schon
vor der formellen Anklage berichtet, immer wieder neue Details geliefert und unsere Reali-
täten in den mittelamerikanischen Kontext gesetzt.“
Für die Redaktion genauso
selbstverständlich wie Berichte
über die Situation der Frauen
mit indigenen Wurzeln, die zwar
die Bevölkerungsmehrheit bilden, aber trotzdem über Jahrzehnte fast unsichtbar waren.
„Zu unserem Anspruch gehört
es, zu erklären, Bildung zu vermitteln und zum gesellschaftlichen Wandel beizutragen“, erklärt Ana María Cofiño.
Wie ihre Redaktionskollegin
Rosalinda Hernández, eine mexikanische Journalistin, schreibt
sie eine Kolumne in der linksliberalen Tageszeitung El Periódico und steht wie alle aus dem
20-köpfigen Redaktionsbeirat
für Diskussionen und Seminare über Feminismus zur Verfügung. „Das sorgt für frisches
Blut in unserer Redaktion. Junge
Frauen kommen vorbei, um sich
zu informieren. Manche bleiben, weil unsere Arbeitsweise
ihnen gefällt“, sagt Hernández.
„Ganz konkret gegen
Sexismus vorgehen“
ANA MARÍA COFIÑO, HERAUSGEBERIN
UND MITGRÜNDERIN VON „LA CUERDA“
Vor 18 Jahren gründete Ana María Cofiño „La Cuerda“ Foto: Knut Henkel
Einige der Frauen, die die Titelseite der Nr. 191 zieren, haben
dazu beigetragen, dass Frauenrechte in Guatemala heute ein
Thema sind. So zum Beispiel
die beeindruckend souveräne
Richterin Jazmín Barrios, die
trotz vieler Anfeindungen historische Urteile gesprochen hat,
oder die afroguatemaltekische
Journalistin Joanna Wetherborn. Die schreibt auch für La
Cuerda – unentgeltlich wie alle
anderen, denn Geld hat die Redaktion, die sich vor allem durch
Spenden und Projektunterstützung aus dem Ausland finan-
ziert, in aller Regel nicht zu vergeben.
Das ist bis heute so, und auch
der Vertrieb läuft nach wie vor
über Frauen- und soziale Organisationen, Kulturzentren, Museen und auch Botschaften.
Dazu kommen Radio- und Videoclips auf der Homepage und
der Verbreitungsweg Facebook.
Ein wiederkehrendes Thema
ist die omnipräsente Gewalt gegen Frauen: Jedes Jahr werden
mehr als 800 Frauen in Guatemala ermordet – von Partnern,
Ehemänner, Angehörigen oder
Unbekannten.
Sexuelle Gewalt ist weit verbreitet. 2015 wurden 2.100 Mädchen zwischen 12 und 14 Jahren
registriert, die nach einer Vergewaltigung schwanger wurden. Rund 56.000 Vergewaltigungen werden pro Jahr angezeigt. „Auf diese Realität weisen
wir immer wieder hin. Demonstrationen wie in Peru im August
machen sichtbar, worunter fast
alle Gesellschaften in Mittelund Südamerika leiden“, erklären Hernández und Cofiño unisono. In Lima gingen am 14. August mehr als 50.000 Menschen
gegen Gewalt gegen Frauen auf
die Straße. Etwas Vergleichbares
hat es in Guatemala bisher nicht
gegeben.
Das soll sich ändern, und der
schon angesprochene SepurZarco-Prozess könnte dabei ein
Wendepunkt sein. Rund um den
Prozess wurde in Guatemala
sehr differenziert über Gewalt
gegen Frauen debattiert. Ein
Fortschritt, der einiges mit den
Frauen von La Cuerda zu tun hat.
DI E EVANGELISCH E KI RCH E ZEIGT ON LI N E EI N VI DEO: „REFORMATION FÜR EI NSTEIGER“ – IST WOH L FÜR DEN FALL, DASS MAN DI E NOCH MAL LOSTRETEN WI LL
ARD
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Tagesschau
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Tagesschau
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Tagesschau
Verrückt nach Fluss
Tagesschau
Brisant
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Familie Dr. Kleist
Tagesschau
Tierärztin Dr. Mertens
In aller Freundschaft
Report Mainz
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Global Player – Wo wir sind
isch vorne. Familienchronik, D 2013. Regie: Hannes
Stöhr. Mit Christoph Bach,
Walter Schultheiß
0.15 Nachtmagazin
0.35 Der Tiger von Eschnapur.
Abenteuerfilm, D/F/I 1959.
Regie: Fritz Lang. Mit Debra
Paget, Paul Hubschmid
2.15 Global Player – Wo wir sind
isch vorne. Familienchronik,
D 2013
ZDF
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12.10
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heute
drehscheibe
Mittagsmagazin
heute – in Deutschland
Die Küchenschlacht
Bares für Rares
heute – in Europa
SOKO Kitzbühel: Blutiger
Schnee. A/D 2004
17.00 heute
17.10 hallo deutschland
17.45 Ein guter Grund zu feiern
18.00 SOKO Köln: Tödliche Melodie. D 2016
19.00 heute
19.25 Die Rosenheim-Cops: Haarscharf ins Herz. D 2016
20.15 Wie gut sind Billig-Bäcker?
21.00 Frontal 21
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23.00 Leschs Kosmos
23.30 Markus Lanz
0.45 heute+
1.00 God‘s Cloud
1.35 Billy Elliot – I Will Dance.
Tragikomödie, GB/F 2000.
Regie: Stephen Daldry. Mit
Jamie Bell, Julie Walters
RTL
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17.00
17.30
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18.45
19.05
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20.15
22.15
23.10
0.00
0.30
2.15
3.05
Punkt 12
Der Blaulicht-Report
Verdachtsfälle
Betrugsfälle
Unter uns
Explosiv – Das Magazin
Exclusiv – Das Star-Magazin
RTL aktuell
Alles was zählt
Gute Zeiten,
schlechte Zeiten
Bones – Die Knochenjägerin: Im Wilden Westen ist
die Hölle los. USA 2015
Shades of Blue
CSI: Miami: Endgeschwindigkeit. USA 2012
RTL Nachtjournal
Bones – Die Knochenjägerin: Im Wilden Westen ist
die Hölle los. USA 2015
CSI: Miami: Endgeschwindigkeit. USA 2012
RTL Nachtjournal
SAT.1
KI.KA
12.00 Auf Streife –
Die Spezialisten
13.00 Auf Streife
16.00 Auf Streife – Berlin
17.00 Verdächtig
17.30 Schicksale – und plötzlich ist
alles anders
18.00 Auf Streife –
Die Spezialisten
19.00 Die Ruhrpottwache
19.55 Sat.1 Nachrichten
20.15 Vaterfreuden. Romatik­
komödie, D 2014. Regie:
Matthias Schweighöfer,
Torsten Künstler. Mit Matthias Schweighöfer, Isabell
Polak
22.25 Schutzengel. Thriller,
D 2012. Regie: Til Schweiger. Mit Til Schweiger, Luna
Schweiger
1.05 Vaterfreuden. Romatik­
komödie, D 2014
2.55 Schutzengel. Thriller,
D 2012
7.50 Nelly & César
8.00 Sesamstraße
8.25 JoNaLu – Mäuseabenteuer
zum Mitmachen
8.55 Mama Mirabelle‘s Tierkino
9.05 Charley
9.20 Raumfahrer Jim –
Abenteuer auf Munaluna
9.40 ABC Bär
9.55 Au Schwarte! –
Die Abenteuer von Ringel,
Entje und Hörnchen
10.30 Coco, der neugierige Affe
10.50 Kein Keks für Kobolde –
Der Film
12.05 Tabaluga
12.25 Garfield
12.50 Die fantastische Welt von
Gumball
13.15 Die Wilden Kerle
13.40 Die Pfefferkörner
14.10 Schloss Einstein
15.00 Tracy Beaker kehrt zurück
15.55 Lenas Ranch
16.50 Marsupilami – Im Dschungel ist was los
17.35 Bobby & Bill
18.00 Sesamstraße präsentiert:
Eine Möhre für Zwei
18.15 Glücksbärchis – Willkommen im Wolkenland
18.40 Elefantastisch!
18.50 Unser Sandmännchen
19.00 Das Dschungelbuch
19.25 pur+
19.50 logo! Die Welt und ich
20.00 Ki.Ka Live
20.10 Das erste Mal … USA!
20.35 Die Jungs-WG
PRO 7
12.15
13.40
15.25
18.00
18.10
19.05
20.15
How I Met Your Mother
Two and a Half Men
The Big Bang Theory
Newstime
Die Simpsons
Galileo
Flight. Drama, USA 2012.
Regie: Robert Zemeckis. Mit
Denzel Washington, Don
Cheadle
23.00 Shutter Island. Psychothriller, USA 2010. Regie: Martin Scorsese. Mit Leonardo
DiCaprio, Mark Ruffalo
1.30 Stepfather – Daddy ist da!
Horrorfilm, USA 2009
ARTE
7.45 Die Kunst der Anpassung
8.30 X:enius
9.00 Wipfelglück
9.25 Magie der Moore
11.05 Tiermythen
11.50 Tiermythen
12.35 Tiermythen
13.20 ARTE Journal
13.50 Die Ritter der Tafelrunde.
Abenteuerfilm, USA 1953.
Regie: Richard Thorpe. Mit
Robert Taylor, Ava Gardner
15.45 Ivanhoe – Der schwarze
Ritter. Historienabenteuer,
USA 1952. Regie: Richard
Thorpe. Mit Robert Taylor,
Elizabeth Taylor
17.30 In der Welt zu Hause
17.55 X:enius
18.25 Eine Sommerreise auf der
Wolga
19.10 ARTE Journal
19.30 Amerikas Flüsse
20.15 Amerika hat die Wahl
22.15 Gesprächsrunde
22.30 Duell ums Weiße Haus
0.00 Kill Zone USA
1.25 Der Staub Amerikas
3SAT
18.30
19.20
20.15
21.50
23.30
Universum
Der letzte große Kaiser
Sisi
Sisi
Das Attentat – Sarajevo
1914
1.10 Anna und der Prinz
2.50 Der letzte große Kaiser
BAYERN
18.30 Rundschau
18.45 Stofferl Wells Bayern
19.15 Im Ochsenfurter Land –
Oben im Gau, unten am
Main
20.00 Tagesschau
20.15 Wer hat Angst vorm weißen
Mann?
21.45 Rundschau Magazin
22.00 Und Äktschn! Komödie,
D/A 2014. Regie: Frederick
Baker. Mit Gerhard Polt,
Maximilian Brückner
23.35 Bezaubernde Marie
1.05 Macher gesucht!
SWR
18.07
18.15
18.45
19.15
19.45
20.00
20.15
21.50
22.20
22.50
23.35
0.05
Hierzuland
natürlich!
Zwischen Leben und Tod
Bekannt im Land
SWR Landesschau aktuell
Tagesschau
Kindheit auf dem Land
Hannes und der Bürgermeister
So lacht der Südwesten
Christoph Sonntag – Sonntag im Alltag
Hannes und der Bürgermeister
Das Beste aus „Verstehen
Sie Spaß?“
HESSEN
18.00
18.25
18.50
19.15
19.30
20.00
20.15
21.00
21.45
22.30
22.45
Maintower
Brisant
Service: Reisen
Alle Wetter!
hessenschau
Tagesschau
Zeig mir deine Stadt
Erlebnis Hessen
Um Himmels Willen
hessenschau kompakt
Håkan Nesser: Van Veeterens schwerster Fall
0.15 Eyewitness – Die Augenzeugen: Der Bombenanschlag.
N 2014
WDR
18.45
19.30
20.00
20.15
21.40
23.10
Aktuelle Stunde
Lokalzeit-Geschichten
Tagesschau
Ein Mord mit Aussicht
Ein Schnitzel für alle
Die Ausbildung. Drama,
D 2011. Regie: Dirk Lütter.
Mit Joseph K. Bundschuh,
Anke Retzlaff
0.35 Wie solidarisch ist Deutschland?
1.20 Ein Mord mit Aussicht
NDR
18.00
18.15
18.45
19.30
20.00
20.15
21.15
21.45
22.00
Ländermagazine
NaturNah
DAS!
Ländermagazine
Tagesschau
Visite
Panorama 3
NDR//aktuell
Tatort: Freunde bis in den
Tod. D 2013
23.30 Weltbilder
0.00 Hauptsache Arbeit
1.05 7 Tage ...
RBB
18.00 rbb UM6 – Das Länder_magazin
18.30 zibb
19.30 Abendschau
20.00 Tagesschau
20.15 Geheimnisvolle Orte
21.00 Bilderbuch
21.45 rbb aktuell
22.15 Thadeusz
22.45 Honeckers Gastarbeiter
23.30 Foto: Ostkreuz
1.00 Thadeusz
1.30 Abendschau
MDR
18.10
19.00
19.30
19.50
20.15
20.45
21.15
21.45
22.05
23.35
Brisant
MDR Regional
MDR aktuell
Einfach genial
Umschau
Der Osten
MDR Zeitreise
MDR aktuell
Der NSU-Komplex
Polizeiruf 110: Walzerbahn.
DDR 1979
0.35 Die Kinder von Golzow
2.00 Heimat Osten
PHOENIX
12.15 Amerika hat die Wahl
12.45 Amerika hat die Wahl
13.15 Nichts mehr wie es war –
New York fünfzehn Jahre
nach 9/11
13.45 Geteilte Staaten von
Amerika
14.30 Schätze der Welt – Erbe der
Menschheit
14.45 Im Zauber der Wildnis
15.30 Im Zauber der Wildnis
16.15 „Lady Liberty“
17.45 Verrücktes Portland
18.30 Trekking-Tour im wilden
Westen
19.15 Geteilte Staaten von
Amerika
20.00 Tagesschau
20.15 Amerika von oben
21.00 Amerika von oben
21.45 Rassismus in Uniform –
­Polizeigewalt in den USA
22.30 WELTjournal +
23.15 Donald Trump – Der lange
Arm des Milliardärs
0.05 Hillary Clinton
0.35 Amerika hat die Wahl
1.05 30 Jahre Knast für nichts
Leibesübungen
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
19
AUS DORDRECHT TOBIAS MÜLLER
Ist dies der Tag des Machtwechsels? Sayer Jobe grinst
und bringt ein vollmundiges
Ja hervor. Seine Begleiter, Rebekka Van Kaekenberghe und
ihr Freund Robbie Van Herck,
schauen amüsiert, aber vor allem zweifelnd in Richtung des
riesigen ovalen „Sportboulevard“. In ein paar Stunden
wird dort, im niederländischen
Dordrecht, das Finale der Korbball-EM stattfinden. Und wie immer stehen sich dabei die Auswahl der Niederlande und die
Belgiens gegenüber.
Das Dreiergrüppchen ist gehüllt in Fanartikel des belgischen Fußballteams. Sie sind
an diesem Sonntagmorgen
über die nahe Grenze ins Land
des Korbball-Giganten gekommen, wo der Sport 1902 erfunden wurde. Alle sind selbst aktiv,
Sayer Jobe gar in der ersten Liga
beim Antwerpse Korfbal Club.
Die Dominanz der niederländischen Gastgeber ist schnell erklärt: „In den Niederlanden gibt
es fast 100.000 Spieler, bei uns
keine 7.000. Dort ist Korbball
professionell, bei uns arbeiten
alle.“
Am Ort des ungleichen Nachbarschafts-Showdowns ist es
kühl. Was daran liegt, dass er in
der Halle stattfindet, die normalerweise den Dordrecht Lions als
Kulisse ihrer Eishockey-Heimspiele dient. Auf dem Feld mit
den beiden freistehenden Körben in dreieinhalb Metern Höhe
machen sich die Teams aus Katalonien und Portugal für das
Spiel um Platz drei warm. Zwischen diesen beiden Teams
und den Belgiern liegen ebenfalls Welten: 1.000 Korbballer
gibt es in Katalonien, die 500,
die es in Portugal gibt, konzentrieren sich um die Hauptstadt
Lissabon.
Die Kulisse ist demnach ungewohnt für die meisten Spieler
bei dieser EM. Nur in den Niederlanden füllt „korfball“, so der
englische Name, der bisweilen
auch in Deutschland verwendet
wird, solche Hallen. Die eine Tribünenhälfte ist bereits vor dem
kleinen Finale durchgehend in
Orange getaucht, gegenüber
trudeln immer mehr Belgier
ein. Die Grüppchen aus Portugal und Katalonien zählen kaum
mehr als ein Dutzend Fans, die
aber umso lauter sind.
Sie sehen ein attraktives Spiel.
Es ist schnell, auch weil es verboten ist, zu dribbeln oder mit
dem Ball zu laufen. Das ist eines der Kennzeichen von Korb-
Gemischte
Schlachteplatte
KORBBALL Weitgehend unbemerkt
von den europäischen Nachbarn
hat sich Korbball in den
Niederlanden zu einer populären
Hallensportart entwickelt.
Kein Wunder, dass die Orangen
die EM gewonnen haben
Niederländische Lawine: Deutschlands Verteidigung tut sich da schwer bei der EM in Dordrecht Foto: Soenar Chamid/pixathlon
ball. Die weiteren: 25 Sekunden
für einen Angriff, ein Punkt
pro Korb. Und: Die Teams sind
gemischt. Jedes besteht aus je
vier Frauen und Männern, und
je zwei von ihnen sind für eine
der beiden Spielfeld-Hälften zuständig. Nach jedem Korb wechseln die Akteure also zwischen
Angriff und Verteidigung. Im
kleinen Finale liegt Katalonien
am Ende mit 16:12 vorn. Bronze.
Das Finale kommt dann
recht laut daher. Zunächst
macht es sich mit tiefergelegten Beats bemerkbar. Je näher
der Anpfiff rückt, desto martialischer werden sie. Man kennt
dieses Stampfen aus der Fußballkultur beider Länder oder
von Straßenfesten am niederländischen Koningsdag. In
Dordrecht erinnert es an die
Ankündigung des Trainers der
Gastgeber, Wim Scholtmeijer,
man wolle die Belgier „schlachten“. Akustisches Messerwet-
Korbball ist schnell,
auch weil es verboten ist, zu dribbeln
oder mit dem Ball
zu laufen. Das ist
eines der Kennzeichen der Sportart.
Die weiteren: 25
Sekunden für einen
Angriff, ein Punkt
pro Korb. Und:
Jedes besteht aus
je vier Frauen
und Männern
zen muss wohl so klingen. Es
wird tatsächlich eine Schlachteplatte, die die orange gewandeten Niederländer wenig später für ihre Gegner anrichten,
während das öffentlich-rechtliche Fernsehen live überträgt.
Den Belgiern unterlaufen im
Spielaufbau zu viele Ballverluste, sodass die Niederländer
keine Probleme damit haben,
eine druckvolle HighspeedLawine von der Leine zu lassen und einige höchst sehenswerte Spielzüge zu zeigen. Das
erste zehnminütige Viertel ist
noch nicht vorbei, da steht es
10:1. Gegen Ende des zweiten
Viertels läuft ein Radioreporter auf der Pressetribüne auf
und ab und berichtet live, dass
„unsere belgischen Frauen und
Männer“ chancenlos seien und
die Niederlande eben immer
noch „eine Nummer zu groß“.
Am Ende steht es 27:14 für die
Gastgeber.
Forever Löw
J
oachim Löw soll also noch
ein paar Jahre Bundestrainer bleiben. Sein Vertrag
mit dem Deutschen Fußballbund wurde bis 2020 verlängert. Viel zu streiten darüber
gibt es nicht. Er ist der Weltmeistertrainer. Seit er Trainer beim
DFB ist, hat die Mannschaft bei
den großen Turnieren immer
zumindest das Halbfinale erreicht. Er stand an der Linie, als
Deutschen bei der WM in Brasilien die Gastgeber mit 7:1 geschlagen hat und ist somit Autor einer der größten Fußballgeschichten, die je in Deutschland
geschrieben wurden.
Genug der Lobhudelei! Mit so
einem kann man den Vertrag
auch bis über die WM 2030 hinaus verlängern, gerne auch auf
Lebenszeit. Nicht einmal dieje-
gespielt hat. Zum Korbball kam
sie mit zwölf Jahren im Schulsport. Und der Korbball nach
Katalonien? Auch dabei waren
niederländische Entwicklungshelfer beteiligt. „Sie wollten in
Spanien etwas aufbauen, und in
Katalonien gab es Interesse. In
den letzten zehn Jahren, sagt sie,
habe sich taktisches und spielerisches Vermögen stark verbessert. Leben aber könne man in
Katalonien vom Korbball noch
immer nicht.
Während die Europameister
im Foyer Autogramme schreiben, steht Joyer Sabe, der Korbballer aus Antwerpen, noch auf
der Tribüne. Wieder einmal
wurde es also nichts mit dem
erhofften Machtwechsel. „Sie
erneuern den Korbball, und wir
laufen hinterher“, analysiert er,
einen Becher Bier in der Hand.
„Aber wir versuchen es weiter,
und beim nächsten Mal stehe
ich auf dem Feld!“
WAS ALLES N ICHT FEH LT
PRESS-SCH LAG
■■Der DFB gibt Joachim Löw einen Vertrag bis 2020. Da kommt
Freude auf. Die Probleme im DFB
werden weggegrinst
Die Halle tobt nun tatsächlich, und Marjolijn Kroon, eine
der niederländischen Stars,
sorgt kurz nach dem Ende für
Erheiterung bei ihren Teamkollegen: Samt Pokal nimmt sie Anlauf in Richtung Fans, rutscht
aber auf dem Goldlametta, das
auf dem Boden liegt, aus und
findet sich samt Trophäe auf
selbigem liegend wieder.
Doch was passiert dort auf
dem Feld, während sich die
orangen Akteure mit einer
Riesensektflasche in Richtung
Presseraum bewegen? Als Letztes tanzen hier nicht die Europameister, sondern die überglücklichen Katalanen mit ihren Bronzemedaillen.
Es dauert, bis sich Berta
Alomà Sesé aus dem Knäuel
löst. „Dies ist das erste Mal, dass
ich etwas gewinne“, strahlt die
23-Jährige, die selbst zwei Jahre
lang für OVVO De Kroon in der
ersten niederländischen Liga
nigen, die das Halbfinal-Aus bei
der EM im Sommer gegen Gastgeber Frankreich als Blamage
bezeichnet haben, werden sagen können, wer es denn besser
gemacht hätte. Und auch diejenigen, die beinahe schon „Skandal!“ geschrien haben, weil der
Bundestrainer, vor der letzten
Länderspieleinheit seine Kicker
einen Tag später, als es möglich gewesen wäre, zu
sich bestellt hat, werden wissen, dass
das nicht wirklich
schlimm war. Die
Vertragsverlängerung ist also voll
okay.
Und so okay sie
ist, so unsinnig und
unnötig ist sie auch. Sollte
wider Erwarten die WM in Russland 2018 zum totalen Desaster
für das deutsche Team werden,
dann wird man sich gewiss darüber unterhalten, ob es mit oder
ohne Löw weitergehen soll. Die
Vertragsverlängerung, die DFBPräsident Reinhard Grindel mit
seinem schönsten Strahlen im
Gesicht präsentiert hat, ist ein
Gute-Laune-Event, das dem Verbandsboss gerade ganz gut in
den Kram passt.
Am kommenden Wochenende steht der Bundestag des
DFB an, das Treffen der Verbandsdelegierten aus Liga
und DFB. Die sollen
schön was zum Klatschen haben, damit
sie dann auch brav
die Hand heben,
wenn es um die
Wiederwahl von
Grindel geht und
vor allem wenn es
darum geht, den gerade frisch erneuerten
Grundlagenvertrag des DFB mit
der DFL, dem Verband der Profiligen, durchzuzwinken. Der regelt, wie viel Geld der DFB vom
prosperierenden Ligafußball
erhält und wie viel der DFB aus
seinen üppig sprießenden Einnahmen aus der Vermarktung
der Nationalmannschaft an die
Profiliga zu zahlen hat.
So manchem Amateurklub
kommt zu wenig von dem, was
oben verdient wird, unten an.
Engelbert Kupka, Präsident der
SpVgg Unterhaching, wettert
seit Wochen gegen die Verteilung und hat einen bitterbösen
Brief an das DFB-Präsidium geschickt, das dann doch dem
Grundlagenvertrag zugestimmt
hat. Jetzt geht er davon aus, dass
die meisten Delegierten eh nicht
so genau wissen, worum es geht,
und den Vertrag durchwinken.
Nach der Vertragsverlängerung
mit Löw ist eh alles gerade so
schön im DFB. Wer will sich
schon über die Geldverteilung
zwischen Profis und Amateuren
streiten, oder gar – nicht auszudenken! – über den Umgang der
DFB-Spitze mit der sogenannten
Sommermärchenaffäre.
ANDREAS RÜTTENAUER
Ein Todesfall beim Marathon
in Frankfurt: Bei dem Lauf­event
am Sonntag ist einer der Läufer
nach etwa 39 Kilometern auf der
Strecke zusammengebrochen
und trotz einer sofortigen ärztlichen Versorgung sowie mehrerer Wiederbelebungsversuche später in einem Krankenhaus gestorben. Das haben die
Veranstalter am Montagvormittag bestätigt.
Deutsche Sportler auf dem Weg
zur Eigenständigkeit: Die Athletenvertreter der im Deutschen
Olympischen Sportbund vertretenen Verbände haben am Wochenende in Bonn beschlossen,
Pläne für eine professionelle
Sportlerorganisation zu entwickeln. Ob es gelingen wird, diese
unabhängig vom DOSB zu finanzieren, ist noch ungewiss. Viele
Athletenvertreter befürworten
eine von den Verbänden unabhängige Sportlervertretung.
Das Warten auf den großen
Tennisboom: Tennis ist auch
nach den großen Erfolgen von
Angelique Kerber kein Quotenbringer im deutschen Fernse-
hen. Nur eine von vier TennisÜbertragungen vom WTA-Finale in Singapur ist von mehr
als einer Million Zuschauern
verfolgt worden. Das Endspiel
der Weltranglistenersten gegen
Dominika Cibulkova (3:6, 4:6)
am Sonntagnachmittag schauten im ZDF 1,63 Millionen Zuschauer. Zum Vergleich: Die Formel-1-Übertragung aus Mexiko
sahen am Abend bei RTL 4,49
Millionen Zuschauer. Die Sendungen vom WTA-Finale waren
die ersten großen Tennis-Übertragungen bei ARD und ZDF seit
mehreren Jahren.
Magnus Carlsen in Angst vor
Hackern: Der Schachweltmeister hat vor dem Titelduell gegen
den Russen Sergei Karjakin (11.
bis 30. November in New York)
seine Computer speziell absichern lassen. Carlsens Manager
Espen Agdestein sagte: „Es geht
um den Weltmeister-Titel, da
wollen wir so gut geschützt sein,
wie es eben möglich ist. Es ist natürlich ganz entscheidend, dass
kein Fremder Zugang zu unseren Analysen bekommen kann.“
20
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Die Wahrheit
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
FERI EN AUF SALTKROKAN: PAPST I N SCHWEDEN EI NGETROFFEN
Schwedenpapstfoto: ap
Hmm, lecker Köttbullar mit fingerdick Blaubeermus bestrichen
und gleich zwei Stücker IkeaEinkaufsgutscheine zum selber ausdrucken! Nicht schlecht
staunte gestern Vormittag am
Malmöer Flughafen unser aller reisender argentinischer Jesuit über die Gastfreundschaft
der Seinen in der Diaspora. Als
gesichert gilt, dass nur 1,5 Prozent der Schweden katholisch
sind, zu 100 Prozent können
sie jedoch Astrid Lindgren lesen. Nach dem leckeren Köttbullar-Imbiss zum Auftakt des weltweiten Gedenkens an den Frechdachs Luther aus Lönneberga
und den 500. Jahrestag der Suppentopfreformation reiste der
reinweiße Oberhirte flugs weiter über Bullerbü nach Saltkrokan, wo er eine höchst delikatknifflige Angelegenheit regeln
DAS WETTER: HARTER TABAK
musste. Seine Schäfchenherde
dort hatte nämlich immer wieder andere Schäfchen gerissen.
Gleich nach Ankunft sprach der
tierliebe Pontifex dann die historischen Worte: „Bootsmann
trifft keine Schuld.“ Weil die Absolution von so gut wie Gottes
Gnaden geschah, bekam der gewaltige Saltkrokaner Bernhardiner anschließend noch ein überaus zünftig gesegnetes Leckerli.
Frau Dr. Jolante hatte zeit ihres
sehr langen Lebens einem ausgeprägten Hang zur Kategorisierung von allem und jedem gefrönt. In ihrem Anwesen gleich
hinter der Bushaltestelle des
357er gab es Schubladen über
Schubladen, und Dr. Jolante
war noch bis kurz vor ihrem
Tode, der sie an einem diesigen
Dienstag fällte, mit dem Verstauen von allem und jedem in
just jene Schubladen beschäftigt. Ob es um Rhabarberrezepte oder Geschlechterfolien,
um Ponytricks oder Besenhersteller ging: Dr. Jolante stopfte
und stopfte jedwedes in die gar
nie endenwollenden Schubladen. Nur ein Thema brannte ihr
bis zum Tode an jenem diesigen
Dienstag unter den gefeilten Nägeln: Für das Wetter besaß Frau
Dr. Jolante so gar keine Ablage.
Unter Transis
SUBKULTUR Ein berückender Einblick in die Kleintransporter-Szene
Sie treffen sich sonntags auf
Rastplätzen, verabreden sich zu
illegalen Umzügen und geraten
manchmal auf Abwege: Mehr
und mehr macht die Kleintransporter-Szene von sich reden.
„Wir sind schon eine Subkultur“, meint Thorsten B. (42),
während er den Motor seines
Mercedes Vito mit viel Gefühl
„kommen“ lässt. Dabei ist der
intellektuell wirkende Brillenträger und zweifache Vater eher
ein untypischer Vertreter der
„Transi-Szene“. „Ich bin ziemlich zufällig dazugekommen,
vor sechs Jahren“, erzählt er und
wechselt auf die ganz linke Spur
der A 2. „Ich hatte meinem Bruder beim Umzug geholfen und
war am Sonntag allein zurück
nach Hamburg, um den Wagen
zurückzugeben. Und hier, auf
dem Rastplatz Auetal, fielen mir
dann diese coolen Leute auf.“
Man kam schnell ins Gespräch damals, nachdem sein
Mietfahrzeug zunächst mit abschätzigen Blicken bedacht worden war. Beim Blick in den geöffneten Laderaum eines knallroten VW Caddy wusste Thorsten
auch, warum: Der Innenraum
war ausgelegt mit einem echten Orientteppich und voll tapeziert. Thorsten blieb zwei Stunden auf dem Rastplatz und er-
lebte Rituale wie den Tausch von
Zierleisten sowie das dreidimensionale Nachmessen von Laderäumen. Es gab Krakauer und
„Crafter“, wie das Spezi hier
heißt, und Van Halen und Minitruckstop dröhnten über den
Parkplatz.
Thorsten B. blinkt einen VW
Golf von der Überholspur und
schwärmt: „Ich habe mich dann
Wegen einiger
schwarzer Schafe
steckt man die ganze
Transi-Szene in eine
Rowdyschublade
bald dem Transi-Club ‚Blinker
links‘ angeschlossen. Da gibt es
bis heute Veteranen, die noch
die alte Transitstrecke Berlin–
Hamburg gefahren sind, noch
vor der Autobahn. Die sind natürlich unsere Helden. Die haben da illegale Rennen gemacht.
Und die Polizei-Wartburgs locker abgehängt.“
Am nächsten Rastplatz hält
Thorsten an. Sein Hund „Sprinter“ muss Gassi. Und seiner Meinung nach sind wir jetzt auch
reif, einen Blick in seinen Lade-
raum zu werfen. Fasziniert betrachten wir die Minischrankwand Typ „Caravan“, die ein
Gelsenkirchener Spezialunternehmen produziert. Vor den von
innen aufgemalten, täuschend
echten Fensterimitaten hängen
indirekt beleuchtete Gardinen.
Das Plakat des Kultfilms „Kleintransporter auf großer Fahrt“
hängt gerahmt und hinter Glas
an der Wand zur Fahrerkabine.
Der Unterboden ist zu einem flachen Whirlpool ausgebaut. Und
der Clou: die doppelten Breitreifen sind frei sichtbar hinter
schlammbespritzten PlexiglasInnenkotflügeln eingehängt.
Thorsten grinst stolz, als er
unser Staunen bemerkt. „Ein
paar von uns arbeiten bereits
an einem selbstfahrenden
Wohntransi auf Tesla-Basis, der
allein in Urlaub geht. Der soll
dann selbstständig auf unserem
Lieblings-Standplatz
einparken, während wir das Geld verdienen, das man für die Standplatzmiete braucht.“
Dann wird Thorsten plötzlich
ernst. Sehr ernst. „Wir fühlen uns
von der Polizei zu Unrecht verfolgt. Wegen einiger schwarzer
Schafe wird die ganze TransiSzene in eine Rowdyschublade
gesteckt. Und die Politik lässt
uns im Stich.“ Wir wissen, wo-
Selbst der härteste Bulli endet irgendwann auf dem Schrottplatz Foto: dpa
rauf er anspielt – unser Gespräch mit dem Leiter der Autobahnpolizeidirektion Hannover hat die heiklen Themen
schonungslos ans Tageslicht
gebracht: Rechtsüberholen mit
Tempo 220; illegale MotocrossRennen in Naturschutzgebieten; Monster-Transis in historischen Altstädten, und eine Parallelwährung namens Ducato,
mit der die Umsätze der Szene
am Finanzamt vorbeigeschleust
werden.
„Ich verstehe das wirklich
nicht. Wenn sie alles legalisieren würden, hätte die Polizei
überhaupt keine Probleme mit
uns. In der Unfallstatistik stehen wir deutlich besser da als
Geisterfahrer und Betrunkene.
Und dass wir einen längeren
Bremsweg haben, ist nicht unsere Schuld. Wenn Pkw-Schleicher und Ausländer die Spur
freimachen, passiert – nichts.
Und übersehen kann man uns
ja kaum im Rückspiegel!“ Geht
WISSENSCHAFTLER KOMMUN IZI EREN MIT GRÜN PFLANZE
Eine E-Mail vom Spinat
dpa/taz |
Spinat ist nicht gerade das hipste
Gemüse. Das zeigte sich jetzt
wieder, als amerikanische Wissenschaftler des Massachusetts
Institute of Technology in Cambridge einem Spinat Nanopartikeln implantierten. Die grüne
Pflanze konnte so Sprengstoff
im Grundwasser aufspüren.
Nahm der Spinat explosive Nitroaromate aus dem Wasser auf,
reagierte der Kohlenstoff und
die Blätter gaben floureszierende Signale ab, die eine InfraCAMBRIDGE/BERLIN
FAMI LI ENGESCH ICHTE MIT DUN KLEM FLECK
Der dunkle Fleck an meiner
Wohnzimmerwand nahm deutlich an Größe zu. Da mit so etwas
nicht zu spaßen ist, bat ich eine
handwerklich erfahrene Freundin um Rat. Sie meinte, es sei
jedenfalls kein Schimmelpilz.
„Was soll es denn dann sein?“,
wollte ich wissen, bekam aber
keine befriedigende Antwort.
Während der Fleck weiterwuchs,
zeigte ich ihn noch ein paar anderen Menschen, die aber allesamt keine Erklärung dafür
hatten. Schließlich begann die
Wand sich an der befallenen
Stelle etwas vorzuwölben.
Zu jener Zeit verlangte es
mich stark, gewisse mir unbekannte Details der eigenen Familiengeschichte zu erfahren.
Zum Beispiel wusste ich nicht,
auf welche Weise meine Eltern
einander kennengelernt hatten und ob ich tatsächlich in
der Waschküche eines Privathauses zur Welt gekommen war.
Zu Lebzeiten meiner Eltern hatte
ich nie zugehört, wenn von solchen Dingen die Rede gewesen
war. Inzwischen lebte niemand
mehr von meiner Familie, der
diese Details kennen konnte. Die
einzige Möglichkeit, noch etwas
herauszubekommen, wäre gewesen, an den Ort meiner Kindheit zu reisen und dort nach Informationen zu suchen. Doch
das war ausgeschlossen, da ich
unter keinen Umständen reise.
Eines Nachts kamen Wesen
aus dem Fleck an der Wand.
Sie sprachen gut verständlich:
„Geografie ist eine Lüge, wie
die ganze Welt eine Lüge ist. Du
kannst die Reise genauso gut in
deinem Sessel unternehmen.“
Die Methode, die sie mir nahelegten, erschien mir sympathisch, und am Morgen pro-
VON EUGEN EGNER
bierte ich sie aus. Tatsächlich
fand ich mich in meinem Geburtsort wieder. Ich ging zum
Meldeamt, hoffend, dass man
mir dort die eine oder andere
Frage nach meiner Familiengeschichte oder Geburt beantworten konnte. Unterwegs passierte ich ein altes Gebäude. Die
Mauer, an der ich vorbeiging,
war zum Teil von einem großen
Relief bedeckt. Als Kind hatte
ich es bestaunt, ohne zu verstehen, was es darstellte. Auch jetzt
konnte ich mir keinen Reim darauf machen. Die fleckige Mauer
erweckte an einer Stelle den Eindruck, als drücke von innen etwas gegen die Putzschicht.
Unwillkürlich fragte ich mich,
ob ich etwas Ähnliches nicht
schon einmal irgendwo beobachtet hatte. Wie so oft, wenn
ich versuche, mich auf etwas
zu konzentrieren, verschob sich
mein überfordertes Bewusstsein auf traumartige Weise,
und ich schlief ein. Im nächsten Moment wieder aufschreckend, glaubte ich mich zu erinnern, dass das Phänomen in
der Mauer indirekt vom Elektrizitätswerk, der vormaligen Meierei, gegenüber erzeugt wurde.
Daraus folgte logischerweise:
Wenn es mir möglich war, diese
Reise daheim im Sessel zu unternehmen, dann war es auch
möglich, dass ich an dem ganzen Vorgang überhaupt nicht
beteiligt war, sondern vielmehr
nicht das Allergeringste damit
zu tun hatte. Die Wesen aus der
Wohnzimmerwand beglückwünschten mich dazu, dass ich
„so schön mitarbeitete“. Auch
der Bürgermeister kam eilends
gelaufen und reichte mir seine
Hand, die viermal so groß war
wie meine eigene.
es um seine Freiheit als Bürger, kann der ansonsten besonnen wirkende Familienmensch
richtig leidenschaftlich werden.
Hat Thorsten noch Träume?
Aber ja! Die Transamericana, die
will er einmal „machen“ in seinem Leben. Möglichst mit Familie – wenn seine Frau ihre „Auszeit“ bis dahin beendet hat. Sie
hatte kein Verständnis für seine
Tempoprobefahrt auf dem heimischen Hof aufbringen können. „Dabei“, ereifert sich Thorsten, „kann die Kleine an Krücken
schon wieder ganz gut gehen.
Und es war schließlich der Job
meiner Frau, auf die Kinder aufzupassen!“
Zusammen mit „Blinker
links“ will er politische Verantwortung übernehmen und den
Forderungen der Szene Gehör
verschaffen. Darunter ist auch
die Aufnahme der „Formel T“ in
den internationalen Rennkalender. „Silverstone, Imola, Suzuka
… das wäre so was von mega“,
murmelt Thorsten versonnen
und schließt die Hecktür seines Transis. Und so kommen
die Buchstaben wieder zusammen, die sein Motto formen:
„Nicht hupen! Fahrer träumt
vom Nürburgring.“
OLIVER DOMZALSKI
ANDREAS CZECH
GURKE DES TAGES
rotkamera aufnahm und als EMail weiterleitete. Ach, komm,
E-Mails?! Wer schickt denn heutzutage noch E-Mails? Doch nur
Gammelfleisch-Rentner. Hätte
der Spinat Bilder bei Snapchat
gepostet, dann wäre es krass gewesen, dass die Kommunikationsschranke zwischen Pflanzen und Menschen überwunden
wurde. So aber ist die SpinatMail doch nur altbacken wie Iglos Blubb-Tante Verona Pooth.
Deren IQ ist allerdings ideal auf
dem Niveau des Gemüses.
In den Höhen der deutschen
Sprache ist die Luft mitunter
sehr dünn. „An Niveaulosigkeit kaum zu übertreffen: Der
US-Wahlkampf 2016“, betitelte
gestern die Nachrichtenagentur
AP einen Bericht aus den USA.
Wenn ein Niveau nicht vorhanden ist, dann wird es schwierig,
es zu übertreffen. Sinniger wäre
es in dem Fall, das Niveau zu unterbieten. Wobei auch dafür gilt:
Ohne Niveau ist es unmöglich,
tiefer zu sinken. Diese Stilkritik
kommt von ganz oben herab.
🐾 taz.die tageszeitung
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Foto: Lia Darjes
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DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Frau Karbe geht auf die Barrikaden
GEKÜNDIGT Die Verdi-Jugendbildungsstätte in Konradshöhe soll im März 2017 geschlossen werden. Die Gewerkschaft will die
Immobilie verkaufen. 55 Jahre politische Jugendarbeit sind damit bald Geschichte – und ein Dutzend Arbeitsplätze gefährdet
Sommer in der Havel baden.
Das alles ginge bei einem Umzug nach Mitte verloren. Außerdem stehe die Stätte finanziell
gut da. Sie seien mit über 85 Prozent gut ausgelastet und finanzieren sich überwiegend selbst:
über Senatsförderung in Höhe
von 160.000 Euro, Projektmittel
und Vermietung der Räume für
Seminare und Tagungen. Verdi
übernimmt lediglich die Miete.
VON LARA JANSSEN
In dem Haus direkt am Havelufer hat Petra Karbe fast 13 Jahre
gearbeitet. Jetzt liegt der Köchin
und alleinerziehenden Mutter
von vier Kindern die Kündigung
auf dem Tisch. Denn die „Verdi
Jugendbildungsstätte BerlinKonradshöhe“, in einem Ortsteil von Reinickendorf gelegen,
wird zum März 2017 geschlossen: Dem Trägerverein wurde
von der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) gekündigt, weil teure Sanierungsarbeiten an dem Gebäude anstünden.
Der Verein soll in ein Jugendzentrum in Mitte umziehen und
die Jugendarbeit in kleinerem
Rahmen fortführen: Ein Großteil der zwölf derzeit Angestellten würden ihren Job verlieren.
„Es ist eine bodenlose Frechheit“,
sagt die 48-Jährige Karbe. „Verdi
setzt sich lauthals schreiend
für gewerkschaftliche Solidarität ein, aber wir werden hängen
gelassen.“ Verdi wolle die Immobilie für einen mehrstelligen
Millionenbetrag verkaufen. Von
11 Millionen Erlös ist die Rede.
Von den Socken
„Die Kündigung hat uns völlig
von den Socken gehauen“, sagt
Karbe. Das Gebäude wurde erst
vor zwei Jahren saniert, insofern
hätten die Beteiligten nichts von
einem drohenden Umzug geahnt. 400.000 Euro wurden bis
2013 investiert. Laut Verdi-Sprecherin Daniela Milutin seien die
damals nötigen Reparaturen erfolgt, um dem Verein einen Aufschub von wenigen Jahren zu geben. Zudem wäre 2014 die Geschäftsführerin Sabine Weißer
informiert worden, dass eine
Nutzung über 2016 hinaus nicht
möglich sein würde.
Sabine Weißer widersprach
dem öffentlich schon im August: Von einem Umzug habe sie
nichts gewusst. Auch der Initiator der Solidaritätsgruppe „Rettet Konradshöhe“, Ulrich Dalibor, argumentiert so: Hätte Weißer früher davon gewusst, hätte
sie sich viel eher um die Zukunft
der Stätte gekümmert. Natür-
Landesverband für Erhalt
Noch arbeitet die „Verdi-Jugendbildungsstätte Berlin-Konradshöhe e. V.“, ein Bild vom Freitag – im März 2017 soll Schluss damit sein Foto: Amélie Losier
lich könne man den 60er-JahreBau renovieren – vor allem eine
energetische Sanierung von Fassade und Fenster sei angebracht
–, doch derzeit spreche Verdi von
einer nötigen Summe von rund
2,4 Millionen Euro.
Laut Dalibor, der sich auf ein
von Verdi 2011 in Auftrag gestelltes Gutachten beruft, sei das viel
zu hoch: 2011 wurden 720.000
Euro Gesamtbedarf errechnet.
Außerdem seien die MaßnahANZEIGE
men weder sofort noch alle auf
einmal nötig.
Stattdessen werden Gerüchte
laut, dass die Kündigung ausgesprochen wurde, damit das
Grundstück verkauft werden
könne. „Es ist ein ImmobilienSahnehäubchen“, sagt Heiko
Swieykowski, der sich in der Solidaritätsgruppe engagiert. VerdiSprecherin Milutin möchte sich
zu dem Vorwurf nicht äußern:
„Wir geben grundsätzlich keine
Auskünfte über Vermögenswerte und die Verwendung von
Liegenschaften.“
Dabei gibt es die gewerkschaft­
liche Jugendbildungsstätte Konradshöhe bereits seit 55 Jahren. Am 17. Juni 1959 legte Bürgermeister Willy Brandt den
Grundstein. Als sich 2001 fünf
Gewerkschaften zu Verdi zusammenschlossen, sollte die Konradshöhe zugunsten größerer
Einrichtungen aufgegeben werden. Doch letztlich beschloss der
Verdi-Gewerkschaftsrat den Er-
halt der Stätte – seit 2003 unter
der Führung des eigenständigen und gemeinnützigen Vereins „Verdi Jugendbildungsstätte
Berlin-Konradshöhe“.
„Sie jetzt zu schließen wäre
eine Katastrophe“, sagt Swieykowski. Die Jugendbildungsstätte leiste wertvolle Arbeit
mit rund 17.000 Jugendlichen
im Jahr: Beispielsweise arbeiten
derzeit jugendliche Geflüchtete
ihre Fluchtgeschichten mithilfe
von Film und Fotocomics auf.
„Gerade jetzt, wo der Rechtspopulismus erstarkt und Arbeitsbedingungen in einer globalisierten Welt unübersichtlicher
werden, ist es wichtiger denn je,
politische Jugendarbeit zu fördern und junge Menschen für
Gewerkschaften zu begeistern“,
sagt Swieykowski.
Die Konradshöhe sei dafür
der ideale Ort: Auf dem weiten
Gelände würden sich die Jugendlichen wohlfühlen, sie können Lagerfeuer machen oder im
„Wir werden weiter
kämpfen. Geld
scheint Verdi wichtiger zu sein als die
Jugend“
PETRA KARBE, KÖCHIN
History Jugendbildungsstätte
■■Die Deutsche Angestellten
Gewerkschaft (DAG) Berlin suchte
in den 1950ern einen Ort für
Jugendbildung. 1957 kaufte die
DAG das Gelände an der Havel.
Die DAG-Jugend legte einen
Zeltplatz an und baute eine
Holzhütte, um das Gelände sofort
nutzen zu können. Am 17. Juni
1959 legte der Bürgermeister
von Westberlin, Willy Brandt, den
Grundstein für die neue Bildungsstätte, sie wurde im März
1960 als Haus der DAG-Jugend
Konradshöhe eingeweiht. (heg)
Der Verdi-Landesbezirk BerlinBrandenburg brachte bereits
einen Antrag für den Erhalt der
Konradshöhe im Verdi-Bundeskongress ein, der ihn unbearbeitet auf den Gewerkschaftsrat übertrug. Dieser entschied,
ihn ebenfalls nicht zu behandeln, da der Antrag nur auf Berlin bezogen sei.
Auch Uwe Brockhausen, der
bis letzten Donnerstag zuständiger Stadtrat für Reinickendorf
war, setzte sich für die Konradshöhe ein und richtete im März
ein Schreiben an den Verdi-Vorstand: Es blieb unbeantwortet.
Als sich im September ein Interessent meldete, der das Grundstück kaufen und die Jugendbildungsstätte erhalten will, setzte
er ein zweites Schreiben auf: Erneut erhielt er keine Antwort.
Ungeachtet des Widerstands
von allen Seiten fordert Verdi
einen Umzug der Jugendbildungsstätte. Laut Verdi-Sprecherin Milutin gibt es eine Kooperation mit dem Jugendzentrum
„Die Pumpe“ des Arbeiterwohlfahrtverbandes in Mitte. Ab
April 2017 solle der Verein Konradshöhe seine Arbeit in den Seminarräumen der Pumpe weiterführen. Doch die Pumpe hat
bereits eine eigene Belegschaft.
Somit ginge nicht nur ein traditionsreicher Standort und die
Arbeit mit den Jugendlichen in
Reinickendorf verloren, auch
die meisten Angestellten, darunter Köchin, Hausmeister
und Büro- und Putzkräfte würden arbeitslos. „Wir werden weiter kämpfen und auf die Barrikaden gehen“, sagt Karbe, „aber
Geld scheint Verdi wichtiger zu
sein als die Jugend.“
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SUSANNE MESSMER WAR
BEI DER ENTHÜLLUNG EINER GEDENKTAFEL DABEI
Eine Geschichte der Selbstverwirklichung
D
ie letzten Blätter fallen von den Bäumen, nebenan klingelt es an einer
Grundschule zur Hofpause. Vor einem frisch renovierten Haus hat sich eine
Gruppe von etwa 30 Menschen versammelt,
die meisten von ihnen sind mit Notizblock
oder Kamera bewaffnet. Sie sind hier, weil
gleich eine weitere von etwa 450 Berliner Gedenktafeln enthüllt wird – die erste für einen Menschen aus der afrikanischen Community in dieser Stadt, wie die Historikerin Katharina Oguntoye, die in Nigeria und
Deutschland aufwuchs, gleich erzählen wird.
In diesem Haus in der Kuglerstraße 44 in
Prenzlauer Berg lebte Martin Dibobe, der
1876 als Quane a Dibobe in Bonapriso in Kamerun geboren wurde. Dibobe kam 1896
nach Berlin: Als Darsteller in einer Völkerschau im sogenannten Negerdorf der Berliner Gewerbeausstellung. Später arbeitete er
Dibobes Bild hängt am Halleschen Tor Foto: BVG
sich bis zum Zugfahrer der 1. Klasse bei der
U-Bahn hoch (siehe Foto), gründete eine Familie. „Für uns ist Dibobes Geschichte eine
der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung“, sagt Historikerin Oguntoye.
Doch Dibobes noch immer nicht restlos
erforschte Biografie ist auch aus einem anderen Grund interessant. 1919 reichte er mit
17 anderen Afrikanern in Deutschland, die
ihn als ihren ständigen Vertreter im Reichstag vorschlugen, eine Petition bei der Nationalversammlung in Weimar ein. Diese forderte in 32 Punkten „Selbstständigkeit und
Gleichberechtigung“ der Menschen in und
aus den deutschen Kolonien ein.
Einige der Forderungen – wie etwa die
nach Reisefreiheit – lesen sich auch heute
wieder brisant. Insofern ist es fast ein wenig
schade, dass sie keinen Platz fanden auf der
kleinen Gedenktafel in der Kuglerstraße 44.
Fearless Speech #6
Anschlüsse
an Foucault
Foucault in Bohemia und
antirassistischer Praxis
2.11. / HAU1
Mit Mark Terkessidis und
Pascal Jurt
ž www.hebbel-am-ufer.de
22
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
SPORTPLATZ
Da ist noch Luft nach oben
■■Handball Es läuft richtig rund
für die Füchse Berlin in der
noch jungen Saison. Nach zehn
Spielen stehen die Handballer
mit 17:3 Punkten auf Platz drei
sehr gut da
A
m Sonntag holten sie im
Ostderby beim SC Magdeburg ein 29:29. Und das,
obwohl die Füchse in der ersten
Hälfte schon mit fünf Toren zurücklagen. „Da konnte man sich
überhaupt noch nicht vorstellen, dass wir noch einen Punkt
holen werden. Das war ICE gegen D-Zug“, fand Manager Bob
Hanning. Aber die Füchse zeigten Moral.
Die Berliner mischen in der
Spitzengruppe der Bundesliga
kräftig mit, und auch beim internationalen EHF-Pokal sind
sie weiter dabei. „Da kann man
wirklich zufrieden sein“, sagt
Hanning. Von der Meisterschaft redet zwar niemand, aber
an großen Ambitionen fehlt es
trotzdem nicht. „Wir haben drei
Jahre den EHF-Pokal gespielt,
wir wollen jetzt in die Cham­
pions League“, gibt der schwedische Rechtsaußen Mattias Zachrisson die Richtung vor.
Erst zwei Mal schafften es die
Füchse in die Königsklasse. 2012
gelang sogar der Sprung ins Final Four, sie wurde am Ende
Vierter. Und das sie immer noch
die Großen ärgern können, bewiesen sie bei der Klub-WM im
September. Dort konnte man
im Finale die Millionentruppe
von Paris St. Germain überraschend besiegen und den Coup
vom Vorjahr wiederholen.
Im Angriff haben die Füchse
allerdings noch einige Luft nach
oben. Da lässt die Chancenverwertung noch zu wünschen übrig. Vor allem bei den Siebenmetern werden zu viele verworfen.
„Das sind wichtige Tore. Da müssen die Schützen mehr zeigen“,
fordert Richardsson.
In der Abwehr läuft es aber
schon sehr gut. Die beiden Keeper Silvio Heinevetter und Petr
Stochl ergänzen sich gut und
präsentierten sich zuletzt in
Topform. „Heine und ich sind
lange als Tandem zusammen
und haben schon viel erlebt. Es
spielt eben der, der besser ist“,
erklärt Kapitän Petr Stochl. Da
Heinevetter zuletzt oft brillierte,
schaute der Tscheche meist nur
zu. Neid gibt es bei dem 40-Jährigen aber nicht. „Er hat sich das
total verdient“, erklärt er.
Mit dem größeren Kader
kann im Team jetzt mehr rotiert
werden. „Nur so können wir in
unserem Spiel das Tempo hoch
halten“, erklärt Richardsson. Ein
paar Verletzungssorgen trüben
allerdings dann doch die Freude
des Füchse-Trainer. Ausgerechnet beide Linkshänder im Rückraum hat es erwischt.
Breiter aufgestellt
Die Füchse sind in dieser Saison breiter aufgestellt. Mit dem
Kroaten Kresimir Kozina kam
ein neuer Kreisläufer, und der
deutsche Nationalspieler Steffen Fäth soll für mehr Flexibilität im Rückraum sorgen.
Zudem rückten aus der eigenen Jugend Fynn-Ole Fritz
und Kevin Struck zu den Profis auf. „Wir haben jetzt ganz
andere Möglichkeiten zu spielen. Wir sind schneller und flexibler“, schwärmt Trainer Erlingur Richardsson. „Ich bin sehr
überzeugt von unserem Kader“, glaubt auch Nationalspieler Paul Drux.
Hing das Offensivspiel in
der vergangenen Saison noch
zu sehr von der Form von Spielmacher Petar Nenadic ab, ist die
Last in dieser Saison auf mehrere Schultern verteilt. „Früher hat er unser Spiel kontrolliert. Aber jetzt können wir auch
gleichwertig wechseln. Jede Position ist doppelt gut besetzt“,
freut sich Richardsson.
Berlin
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
Bashir war ein Freiheitskämpfer
TRAUER Freunde und Weggefährten geben Bashir Zakarias am Montag das letzte Geleit.
Der Sprecher der Flüchtlinge vom O-Platz war letzte Woche überraschend gestorben
VON UTA SCHLEIERMACHER
Die Trauerfeier beginnt eigentlich schon auf dem Oranienplatz. Dort, wo auch Bashir Zakarias Wirken in Berlin angefangen
hat, stehen am Montagmorgen
etwa 70 Freunde und Unterstützer im Kreis und hören Bello
Umar zu. Mit ruhiger Stimme
und Pausen zwischen den Sätzen erzählt er vom letzten Dienstag, an dem der unbesiegbar wirkende und kraftvolle 44-jährige
Zakaria überraschend an Herzversagen gestorben war. „Wir
wollten jemanden treffen, doch
dann war ihm schwindlig, plötzlich ging es ihm sehr schlecht“,
erzählt er. Der Rettungswagen
konnte nicht mehr helfen, Zakaria starb wenig später in seiner Wohnung an Herzversagen.
„Bashir war ein Freiheitskämpfer, er hat immer versucht zu
helfen“, sagt Umar. „Er ist ein
Vorbild für uns alle.“
Ähnlich drückt es der Imam
zwei Stunden später bei der Beerdigung auf dem Landschaftsfriedhof Gatow in Spandau aus.
„An seinen Taten können wir
uns orientieren“, Zakaria habe
Menschen aus verschiedenen
Ländern, Kulturen und Religionen zusammengebracht.
Nach dem Totengebet ziehen die inzwischen rund 100
Gäste mit Gebetsrufen hinter
dem Sarg her – in den Teil des
Friedhofs, in dem die Gräber
gen Mekka ausgerichtet sind, für
So wird er in Erinnerung bleiben: Bashir Zakaria auf einer Demo in Kreuzberg Foto: Christian Mang
Erdbestattungen nach muslimischem Ritus. Freunde legen den
in weißes Tuch gehüllten Leichnam in die Grube, darüber den
Sargdeckel wie ein Dach. Dann
schaufeln sie zu zehnt Erde darüber, bis sich ein kleiner Hügel
über dem Grab wölbt.
Zakaria hatte sich nach seiner Flucht 2012 den Protesten
am Oranienplatz angeschlossen
und wurde zum Sprecher der
Flüchtlinge dort. Schon damals
war er herzkrank, er war einer
der wenigen, die aus gesundheitlichen Gründen eine Dul-
dung bekamen. Unterstützerin
Taina Gärtner sagt, dass er zuletzt neue Hoffnung geschöpft
hatte. „Er wollte unbedingt wieder arbeiten und plante, andere
Flüchtlinge zu beraten.“
Am Grab nehmen Freunde
mit kurzen Reden Abschied.
Die Aktivistin Napuli Paul ruft
zu Spenden für Zakarias kranke
Mutter in Nigeria auf.
Auch von unerwarteter Seite
kommt eine Trauerbekundung:
„Wir werden dich nicht vergessen“ steht in goldener Schrift
auf der weißen Schleife eines
Kranzes, den der Integrationsbeauftragte des Senats, Andreas Germershausen, auf dem
Grab ablegt.
Latoya Manly Spain von Lampedusa Hamburg spricht über
Zakarias politisches Vermächtnis. „Wir dürfen seine Kraft
nicht vergessen“, sagt sie. Nachdem die Zeit der CDU vorbei sei,
sollte man nun der SPD auf die
Finger schauen. „Wir sind an einem Punkt, wo Verhandlungen
vielleicht wieder möglich sind,
wir müssen weiter für eine gerechte Gesellschaft kämpfen.“
„Wenn jetzt nichts passiert – wann dann?“
CANNABIS
Trainer Richardsson Foto: dpa
Erst zog sich der Norweger
Kent-Robin Tönnesen einen
Muskelbündelriss in der Wade
zu und fällt monatelang aus,
dann erwischte es Nationalspieler Fabian Wiede. „Er ist der Einzige, den wir momentan nicht
ersetzen können“, so Hanning.
Den 22-Jährigen plagen Schulterprobleme, zuletzt konnte
er nur mit Schmerzen spielen.
Aber „es tritt nicht die Verbesserung ein, die wir uns erhofft haben“, erklärt der sportliche Leiter Volker Zerbe. Eine neuerliche MRT-Untersuchung soll nun
Aufschluss geben, wie es weitergeht. Ein Ausfall würde den Ambitionen der Füchse wohl einen
kleinen Dämpfer versetzen.
NICOLAS SOWA
Rot-Rot-Grün ist eine Traumkonstellation für eine Liberalisierung, meint der Hanfverband
taz: Herr Wurth, was erwartet der Hanfverband von der
künftigen Berliner Landesregierung?
Georg Wurth: Rot-Rot-Grün ist
eine Traumkonstellation für jeden Legalisierungsbefürworter.
Wenn jetzt keine Schritte hin zu
einer liberaleren Cannabispolitik erfolgen – wann dann? Wir
erwarten von dieser Koalition
einiges.
Wie man hört, sind die Unterhändler der SPD bisher nicht
bereit, den Anbau von Pflanzen zum Eigenbedarf straffrei
zu stellen. Auch einem Modellprojekt zur regulierten Abgabe
von Cannabis an Erwachsene
wollen die Sozialdemokraten
nicht zustimmen.
Die SPD tut so, als könne sie
sich nicht über ihre Mitglieder
hinwegsetzen, die bei einer Be-
fragung im November 2015 gegen eine Legalisierung votiert
hatten. Dabei war das Ergebnis
denkbar knapp …
… 43,2 Prozent waren dafür,
44 Prozent dagegen.
Damals war wohlgemerkt die
Frage nach einer vollständigen
Legalisierung für Erwachsene
gestellt worden. Fast die Hälfte
hat sich dafür ausgesprochen.
Bei den aktuellen Koalitionsverhandlungen geht es nicht
um Legalisierung, sondern um
Schritte in Richtung Entkriminalisierung. Dafür hätte die
SPD bei ihren Mitgliedern mit
Sicherheit eine Mehrheit. Das
kann kein Argument sein, das
jetzt alles abzublocken.
Sind Dinge wie ein straffreier
Anbau und ein Modellversuch
nicht Peanuts?
Deutsche Bundesländer können
im Gegensatz zu einem US-Staat
Cannabis nicht vollständig legalisieren. Die Null-Toleranz-Zone
von Henkel im Görli zurückzunehmen – das sind Peanuts.
Kreuzberg ist mit seinem
­Antrag, einen Modellversuch
durchzuführen, am Bundesgesundheitsministerium gescheitert. Würde das nicht auch
dem Land Berlin drohen?
Berlin könnte mit Bremen eine
Bundesratsinitiative starten.
Dort hat Rot-Grün ja auch einen
Modellversuch beschlossen. Nationale Lobbyarbeit ist wichtig,
um das Projekt voranzubringen.
Warum geht es beim Eigenanbau?
In Berlin gilt, dass bis 15 Gramm
Cannabis straffrei bleiben können. Wenn allerdings eine
Pflanze beschlagnahmt wird,
wird sie als Ganzes gewogen. Da
ist man sehr schnell bei über 15
Gramm. Auch Bremen will den
Eigenanbau deshalb entkriminalisieren. Die Politik sagt ja immer, man wolle die Dealer jagen
und nicht die Konsumenten.
Wer selbst anbaut, muss nicht
auf dem Schwarzmarkt kaufen.
N EUE U-BAH N EN & TRAM
KOALITIONSVERHAN DLUNGEN
BUN DESWEITE BI LDUNGSSTUDI E VERÖFFENTLICHT
BVG in Bestelllaune
Mehr Geld für Unis
Berliner SchülerInnen lesen schlecht
Die BVG will mit neuen U-BahnZügen und Straßenbahnen die
wachsenden Fahrgastzahlen
in Berlin bewältigen. Der Aufsichtsrat beschloss am Montag,
mindestens 446 U-Bahn-Wagen
und mindestens 80 Trams zu bestellen. Es ist die erste Tranche
eines Investitionsprogramms,
durch das bis 2035 insgesamt
3,1 Milliarden Euro in neue
Züge fließen sollen. Das Unternehmen will alte Fahrzeuge ersetzen, aber auch seinen Wagenpark vergrößern. Zu Jahresbeginn hatte die BVG sich darauf
mit dem Senat verständigt. (dpa)
SPD, Linke und Grüne wollen
den Hochschulen künftig jedes
Jahr 3,5 Prozent mehr Geld geben. Das bedeute ein Plus von
36 bis 40 Millionen Euro im
Jahr, sagten Wissenschaftsexperten der potenziellen Koalitionspartner am Montag nach
der siebten Verhandlungsrunde. Bisher bekommen die
Hochschulen rund eine Milliarde Euro, mit einer jährlichen
Steigerung von 3,2 Prozent. Als
Gegenleistung müssten mehr
Studienplätze geschaffen werden und die Absolventenzahlen steigen. (dpa)
Berliner SchülerInnen belegen
in einem bundesweiten Länderranking zur Lese- und Rechtschreibkompetenz nur den vorletzten Platz vor Bremen: Das
Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB)
hatte bereits am Freitag den
„Bildungstrend 2015“ vorgestellt, der zum zweiten Mal nach
2009 zeigen sollte, wie gut SchülerInnen am Ende der neunten
Jahrgangsstufe in den Fächern
Deutsch und Englisch auf den
Mittleren Schulabschluss vorbereitet sind. Der MSA wird
am Ende der zehnten Klasse
INTERVIEW: PLUTONIA PLARRE
Georg Wurth
■■43, ist seit 2002 Sprecher
des Deutschen Hanfverbandes (DHV). Dieser strebt eine
­Legalisierung von
Cannabis an,
unter klarer
Einhaltung
von Jugendschutzauflagen.
Foto: privat
NACH RICHTEN
geprüft. Dem Bericht nach erreichte ein Drittel der Berliner
NeuntklässlerInnen nicht den
Mindeststandard Lesekompetenz, der nach den Richtlinien
der Kultusministerkonferenz
für den MSA verlangt wird. Der
Bundesschnitt lag zehn Prozentpunkte darunter. Knapp 20
Prozent der BerlinerInnen fielen bei Rechtschreibung durch
(Bundesschnitt: 13,7). Allerdings
klappt es dann am Ende für die
meisten doch: Ohne Abschluss
verließen 2015 nur 7 Prozent der
Berliner ZehntklässlerInnen die
Schule. (akl)
Berlin
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
23
VON ANNA KLÖPPER
Maria ruft an. Das hat sie lange
nicht getan. Zuletzt, kurz vor
den Sommerferien im Juli, klang
die junge Serbin immer müde
– wenn sie denn überhaupt ans
Telefon ging. Jetzt plaudert sie
aufgeräumt über dies und das:
Ja, ihr gehe es gut, die Mutter
sende schöne Grüße, der Bruder auch. „Ach, und weißt du“,
sagt Maria, und sie sagt es so
leichthin: „Wir dürfen bleiben.
Hat die Härtefallkommission
gesagt. Drei Jahre.“
Die Wetten standen nicht gut
für Maria Jovanovic und ihre Familie. 2015 wurden 167 Härtefallanträge von serbischen StaatsbürgerInnen bei der Senatsverwaltung für Inneres gestellt.
Lediglich ein Drittel davon waren erfolgreich. „Mangelnde
Integrationsleistung“ sei der
häufigste Grund für eine Ablehnung, heißt es aus der Senatsverwaltung.
In der Härtefallkommission
beraten unter anderem VertreterInnen von Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen und dem
Flüchtlingsrat bei jedem Antrag,
ob sie ein Ersuchen um Aufenthaltserlaubnis an den Innensenator, in den letzten vier Jahren
hieß er Frank Henkel (CDU), stellen. Am Ende entscheidet der
Innensenator allein, ob er eine
Aufenthaltserlaubnis nach Paragraf 23a Aufenthaltsgesetz
erteilt. Der gewährt „ausreisepflichtigen Ausländern in besonders gelagerten Härtefällen“ eine Aufenthaltserlaubnis,
sofern „dringende humanitäre
oder persönliche Gründe“ vorliegen.
Die Jovanovics sind Roma.
Maria erzählt, wie sie in der
Schule in Serbien von den Lehrern und ihren MitschülerInnen
deswegen systematisch fertig
gemacht wurde. „Ihr habt doch
später eh keine Arbeit, wozu
sollen wir euch was beibringen“, hätten ihr die Lehrer gesagt. Die Mutter, die nie einen
Beruf gelernt hat, erzählt, wie
man ihr auf dem Amt keine Sozialhilfe auszahlen wollte. Sie erzählt von häuslicher Gewalt: wie
ihr Mann, der die Familie inzwischen verlassen hat, sie schlug,
wie ein Verwandter sie vergewaltigte.
Anwältin Böhlo verwendet
diese Punkte im Asylantrag der
Familie beim Bundesamt für
Flüchtlinge und Migration: Verfolgung durch Dritte und Ausbleiben des Schutzes durch den
serbischen Staat. Sie argumentiert, dass serbische Frauenhäuser sich weigerten, Roma-Frauen
Schutz zu gewähren. Sie stützt
sich auf Reports von Frauenrechtsorganisationen, die berichten, dass die Polizei sich
häufig weigere, Anzeigen wegen Vergewaltigung von RomaFrauen überhaupt nur aufzunehmen.
„Offenbar überzeugend“
NGO-Berichte sind das eine.
Aber für einen Asylantrag muss
der Einzelfall bewiesen werden,
und das ist schwer. Auch Marias
Mutter Mitra hat nichts Offizielles: die Vergewaltigung hat sie
nicht angezeigt, dass das Sozialamt ihr nichts zahlte, kann sie
nicht beweisen. Der Asylantrag
wird im Frühjahr abgelehnt. Bevor Anwältin Böhlo den Fall der
Familie im Juli schließlich an
die Härtefallkommission gibt,
sagt sie: „Es wäre eine Überraschung wenn der Innensenator
positiv auf den Antrag der Familie reagieren würde.“ Er tat es.
Warum?
Die Innenverwaltung macht
die Gründe für ihre Entscheidungen nicht öffentlich. Weil es
ja immer bloß Einzelfälle sind,
so die offizielle Begründung –
und weil man natürlich auch
keine argumentativen „Blau-
Jagos, der Sohn, 12 Jahre alt: Er geht zur Schule, er spielt Klarinette. Alles Pluspunkte auf dem Konto mit dem Namen „Integrationsleistung“ Foto: Lia Darjes
Hart geprüft
TAZ-SERIE FLUCHTPUNKT BERLIN (9) Die Jovanovics bleiben: Die Härtefallkommission der
Senatsverwaltung für Inneres hat der serbischen Familie überraschend Aufenthalt gewährt
taz-Serie Fluchtpunkt Berlin
■■Das Projekt: Die Aussichten
auf ein Bleiberecht sind sehr
ungleich verteilt: In loser Folge
begleitet die taz seit November
2015 eine syrische und eine
serbische Flüchtlingsfamilie.
■■Zuletzt verzweifelten die Mottawehs aus Syrien am Berliner
Amtsschimmel; und die Jovanovics fanden sich fast im Abschiebeflieger nach Belgrad wieder.
■■Alle Folgen: www.taz.de/
Schwerpunkt-Fluechtlingsserie
(taz)
pausen“ liefern will für nachfolgende AntragstellerInnen. Und
auch die Fürsprecherinnen für
die Familie haben aus demselben Grund kein Interesse, ins
Detail zu gehen. Wenn man öffentlich macht, wie man den Innensenator im Einzelfall überzeugt, könnte das Nachahmer
finden, die aus purer Taktik so
argumentieren. Das würde den
tatsächlichen Fällen die Glaubwürdigkeit nehmen.
Rechtsanwältin Böhlo sagt
also nur: „Offensichtlich war unsere Begründung überzeugend.“
Offensichtlich, ja. Paragraf 23a
sagt: Insbesondere wenn jemand suizidgefährdet ist oder
die Gefahr einer Traumatisierung im Heimatland besteht,
kann die Härtefallregelung angewendet werden.
Das wichtigste Dokument,
das im Fall der Jovanovics an
die Härtefallkommission geht,
ist ein Gedächtnisprotokoll von
Maria und ihrer Mutter, das die
Anwältin übersetzen lässt. Es
geht darin um einen Sommerabend im August 2015. In Leskovac, einer 65.000-EinwohnerKleinstadt im südlichen Serbien,
aus der die Familie stammt, findet eine große Hochzeitsfeier
statt, alles trifft sich im Zentrum. Maria, damals 13 Jahre alt,
will mit einer Freundin dorthin. Die Mutter erlaubt es ihr,
um 19 Uhr machen sich die beiden Mädchen auf den Weg.
Eine Stunde später versucht
Mitra, ihre Tochter auf dem
Handy zu erreichen, doch das
Handy ist aus. Maria hat einen
jungen Mann wieder getroffen,
den sie wenige Monate zuvor
kennengelernt hatte.
In Berlin hatten Maria und
der Mann Sex, ob Maria das
wollte, ist nicht so ganz klar. Jetzt
aber zerrt er sie in ein Auto, ein
Kumpel sitzt am Steuer. Sie fahren auf einen abgelegenen Parkplatz und vergewaltigen Maria.
Sie drohen: „Wenn du das irgendjemandem erzählst, bringen wir dich um.“ Und: „Das war
erst der Anfang.“
Die Männer lassen Maria auf
dem Parkplatz zurück. Zu Fuß
läuft sie zurück ins Stadtzentrum, wo ihre Mutter sie um
Mitternacht findet: die Kleider
zerrissen, die Arme blau gequetscht. Zur Polizei gehen will
Maria aus Angst vor den Männern nicht. Sie sagt, sie wüsste,
wie nun in der Stadt über sie
geredet würde: Sie sei jetzt „die
Nutte“. Ihre Mutter gibt zu Protokoll, die Tochter habe gedroht,
sich umzubringen, wenn sie in
Serbien bleiben müsse.
Eine Perspektive haben
Es ist ein Gedächtnisprotokoll.
Es beweist nichts, man muss
glauben. Dass die Härtefallkommission glauben wollte, ist
auch der Verdienst eines langjährigen Mitglieds der Kommission, das den Fall von Maria und
ihrer Familie dort auf Bitten von
Anwältin Böhlo eingebracht und
vorangetrieben hat. Der Fürsprecher der Jovanovics – ein
Name soll hier nicht genannt
werden – sagt: Das Entscheidende sei, „dass man versucht,
die Menschen hinter den Akten,
die da bei der Kommission landen, sichtbar zu machen.“ Menschen, die hier, Stichwort „Integrationsleistung“, eine Perspektive haben könnten.
Bei Marias Bruder Jagos
ging das leicht. Ein Dienstagnachmittag, einer der ersten
Herbstnachmittage. Jagos sitzt
im ersten Stock der Schostakowitsch-Musikschule in Hohenschönhausen, auf dem Schoß
seine Klarinette. Ein Nachbar
in Leskovac hatte Jagos eine Klarinette geschenkt und ihm ein
paar Stücke beigebracht, nach
Gehör. Nun lernt der Zwölfjährige Noten lesen: Mühsam hangelt er sich durch die Tücken
der F-Dur-Tonleiter. „Spiel mal
lauter, du bist doch ein kräftiger Junge“, sagt seine Lehrerin
Claudia Wozny.
Schnell Freunde gefunden
Jagos hat ein robustes Gemüt.
Es fällt ihm nicht schwer, immer wieder neu anzufangen:
Familie Jovanovic wurde bereits zweimal ausgewiesen. Der
erfolgreiche Antrag bei der Härtefallkommission ist der dritte
Versuch der Familie seit 2012,
in Deutschland bleiben zu dürfen. Jagos hat schnell Freunde
gefunden in dem Lichtenberger
Flüchtlingsheim, in dem die Familie lebt. Mit denen geht er in
den Jugendclub gegenüber oder
zum Fußballspielen. Er übt auf
der Klarinette und spart auf ein
eigenes Instrument. Nach den
Sommerferien ist er in die siebte
Klasse an einer Integrierten Sekundarschule versetzt worden.
Er kommt klar.
Maria mache ihm mehr
Sorgen, sagt Walid Chahrour.
Chahrour ist Sozialarbeiter
beim Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und MigrantInnen in Moabit. Einmal in der Woche fahren die Jovanovics „zu Walid“,
wie Maria sagt. Die 15-Jährige
ist im letzten Halbjahr kaum
zur Schule gegangen. Sie sagt,
sie werde dort gemobbt. Aber
wenn die Aufenthaltserlaubnis
der Familie in drei Jahren entfristet werden soll, braucht die
Tochter einen Schulabschluss,
die Mutter einen Job. Alles Pluspunkte auf dem Konto mit dem
Namen „Integrationsleistung“.
Erst mal wollen die Jovanovics aber vor allem eins: raus
aus dem Heim. Offiziell sind
die Sozialämter der Bezirke dafür zuständig, Flüchtlingen mit
Aufenthaltstitel eine Wohnung
zu organisieren. Doch die Kon-
kurrenz um günstigen Wohnraum – 621 Euro Bruttowarmmiete übernimmt das Amt im
Fall der Jovanovics – ist groß. Das
Sozialamt Lichtenberg teilt auf
Anfrage mit, man erhebe keine
Daten darüber, wie viele Flüchtlinge mit Aufenthaltsstatus in
Wohnungen leben und wie viele
noch im Heim. Man wisse auch
nicht, wie viele man bereits in
Wohnungen vermittelt habe.
Ohne Glück geht nichts
Sozialarbeiter Chahrour sagt,
man warte gar nicht mehr auf
die Behörden, sondern suche
in den eigenen Netzwerken des
Beratungszentrums:
„sechs,
manchmal auch zwölf Monate“,
dauere es erfahrungsgemäß, bis
man eine Wohnung finde.
Der Sozialarbeiter, der Fürsprecher in der Härtefallkommission und Anwältin Böhlo
sind die Gründe, warum die Familie noch da ist. Der glückliche Fall der Familie zeigt deshalb auch das Unglück der vielen anderen: Ohne Fürsprecher,
ohne ein bisschen Glück geht
nichts. An die Anwältin sind
die Jovanovics über einen Tipp
von Bekannten aus Serbien gekommen, die die Familie in Berlin hat. Berenice Böhlo hat den
Fall der Familie übernommen,
ohne dafür eine Bezahlung zu
bekommen.
In der Musikschule packt Jagos die Klarinette ein. „Hey“, sagt
seine Lehrerin. „Hab gehört, ihr
dürft bleiben?“ Sie hält die Hand
zum Einschlagen hin: „Check!“
24
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Berlin Kultur
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
NACH JAHREN WIEDER MAL AM PRENZLAUER BERG UNTERWEGS
Where is the Berghain?
E
Jessy Lanzas
supertoller R&B
Hamilton, die Industriestadt im
kanadischen Bundesstaat Ontario,
ist ganz bestimmt nicht das,
was man einen Sehnsuchtsort
nennt. Eher umgekehrt ist es die
ideale Abschussrampe, von der
aus sich die Produzentin Jessy
Lanza mithilfe ihrer autodidaktisch
zusammen­geschraubten Homerecording-Musik auf den Gipfel des
zeitgenössischen R&B- und Electronica-Schaffens gelauncht hat.
Von dort ist es dann nur noch ein
Katzensprung zu ihrem Londoner
Label Hyperdub und ins Berghain
beziehungsweise in seinen IndieVorposten, die Berghain Kantine,
in der Jessy Lanza heute Abend
gastiert, um die Songs ihres neuen
Albums „Oh No“ vorzustellen. Am
Wriezener Bahnhof 5, ab 21 Uhr,
circa 17 Euro.
BERLI N ER SZEN E
SOFAREPORT
Ein Gedeck
Fast jeden Nachmittag war ich
bei Getränke Hoffmann in der
Blücherstraße gewesen und
hatte neue Biersorten ausprobiert. Zum fünfzigsten Jubiläum
des Unternehmens war man auf
die pfiffige Idee gekommen, die
Getränke-Hoffmann-Läden umzubenennen, damit sie gemütlicher klingen. Im Gräfekiez gibt
es nun „Mein Hoffi“. Andere Filialen sind geschlossen worden, wie etwa die in der Blücherstraße. Das ist sehr ärgerlich,
weil die Filiale dort angenehm
und gut sortiert gewesen war.
„Ich bin auch ständig zu“,
könnt ich nun schreiben, weil
mein alter Freund M., ein 70erJahre-Revolutionär und ExKommilitone von Steinmeier,
sich freut, solche Sätze in der
Zeitung zu lesen. M. war immer
zu. Wir hatten jahrelang zusammen Tischtennis gespielt, geflippert oder bei ihm gesessen und
über die Verhältnisse gesprochen. Später hatte sich herausgestellt, dass er in Wirklichkeit
gar nicht haschsüchtig, son-
Der Weg zum
Badezimmer ist
eine weite Reise
dern dem Alkohol verfallen war.
Dann hatte er Diabetes bekommen, letztes Jahr kam noch Polyneuropathie dazu; bei einer MRT
stellte sich heraus, dass sein Gehirn schrumpft. Dann war er die
Treppe heruntergefallen.
Die Beweglichkeit ist arg eingeschränkt und mit Schmerzen
verbunden. Der Weg zum Badezimmer ist eine weite Reise. Im
Wohnzimmer läuft der Fernseher ununterbrochen. Zum
Beispiel „Blaulichtreport“. Die
meiste Zeit liegt M. in Decken
eingemummelt halb auf dem
Sofa und leidet und will ein Gedeck; Berliner Kindl plus Piccolo. Alkohol hilft ein bisschen.
Ich meckere wegen des Trinkens,
stell ihm sein Gedeck aber doch
hin. Besuch hilft auch manchmal. Lesen ist schwierig, weil er
sich nicht mehr konzentrieren
kann wegen der Schmerzen. „Das
letzte Buch, das ich gelesen habe,
heißt ‚Revolution und Kultur‘
und ist 1973 in Moskau erschienen. Ein strunzdummes Buch!
Aber ich lese gerne dumme Sachen.“ DETLEF KUHLBRODT
Yro, der bärtige VJ an Kamera und Mischpult, beim „Pictorial Concert“ Foto: Balz IslerT/Schaubude
Puppentheater 2.0 mit
feinem Lowtech Appeal
THEATER Das Festival „Theater der Dinge“ will Puppentheater
und Internet of Things zusammenführen und noch mehr
VON TOM MUSTROPH
Dinge können beseelt sein. Nur
dank dieser Übertragungsoperation funktioniert Puppenund Objekttheater. Ein Stückchen Holz, ein Stein, ein Fetzen Stoff – das alles können
Figuren, können Protagonisten
sein. Im heraufziehenden Zeitalter des Internets der Dinge,
der smarten Kühlschränke und
Toiletten, der digitalen Assistenten und des Cyberpornos,
ergeben sich fürs Puppentheater 2.0 ganz neue Möglichkeiten. Einer, der das ganz besonders gern erkunden will, ist Tim
Sandweg, seit einem Jahr Chef
der Schaubude. Deshalb hat er
zu seinem ersten großen Festival als Intendant Künstler eingeladen, die mit Robotern und
Drohnen spielen, mit Pop-upBüchern Geschichten erzählen
und ganz allgemein Objekte digitalisieren, mit denen sie dann
operieren. „Digital ist besser“,
lautet der hübsche Untertitel
des Festivals „Theater der Dinge“,
das noch bis zum Donnerstag in
der Schaubude und im Podewil
stattfindet.
Gut, der Schritt in die digitale Zukunft braucht etwas Vorbereitung. Die Gruppe Manufaktor etwa, die in ihrem Projekt „Pinocchio 2.0“ den frechen
menschenähnlichen Protagonisten zur Premiere im nächsten Jahr mit einem Roboter besetzen und ihn dabei von einer
Drohne umschwirren lassen
will, hat noch einiges an Bastelarbeit vor sich. Beim „Festivalfrühstück“, einem zwanglosen
Vorausblick in das Puppentheater der Zukunft, hatte die Truppe
noch nicht einmal die Drohne
angeschafft. Aber es sind ja auch
noch ein paar Monate Zeit. Recht
virtuos gingen hingegen Kristin
und Davy McGuire in „The Ice-
book“ mit einem Pop-up-Buch
um – und schufen so dreidimensionale Effekte. Aus den Buchseiten wachsen reliefartig die
Strukturen von Schiffen, Häusern und Interieur heraus. Auf
sie treffen Rückprojektionen.
Und so kann dann etwa im Kamin eine Prinzessin erscheinen
und den Helden zum Aufbruch
in ihr Reich locken. Gebannt
verfolgt man den Reiseweg und
sieht, wie aus einem Buch ganz
direkt Geschichten aufsteigen.
Neuartige Oberflächen
Dass Animation auch viel
hemdsärmliger vonstatten gehen kann, sah man am Eröffnungstag des Festivals beim
französischen Künstler Yro und
den Belgiern Vincent Glowinski und Teun Verbruggen. Yro,
ein bärtiger VJ an Kamera und
Mischpult, lud analoge Familienfotos per Hand in den Zwischenspeicher, indem er sie vor
der Kamera bewegte. Ganz neuartige Oberflächentexturen entstanden so. Seltsame Bildausschnitte, Teile von Mund und
Ohr etwa oder Nahaufnahmen
von großporiger Haut, wurden
ausgewählt. Und auch das Prinzip der Kamerafahrten wurde
neu interpretiert: Hier führte
die Künstlerhand das Bild am
fest installierten Kameraauge
vorbei und erzeugte so den Effekt der Bewegung. Gar nicht
so weit entfernt vom Fotoatelier, in dem einst der Filmapparate-Künstler Max Skladanowsky in die Lehre ging, durfte
Also lud man Künstler ein, die mit Robotern und Drohnen
spielen und Pop-upBücher digitalisieren
man Zeuge von einem ganz neuartigen Jahrmarktspektakel mit
bewegten Bildern werden. Der
Neu-Skladanowsky Yro loopte
die in den Arbeitsspeicher hochgeladenen Bilder schließlich
noch, ließ sie zittern, ausfransen und einander in Schichten
überlagern.
Gleich ganze Objekte „digitalisierte“ Vincent Glowinski. Begleitet von seinem kongenialen
Schlagzeugpartner Teun Verbruggen, legte er erst eine Wurst
auf seinen Arbeitstisch und
filmte sie dann ab. Die Projektionen wurden mit einem Weinglas – umgekippt, ausgeschüttet und weggefegt – fortgesetzt.
Dem wilden Auftakt folgte ein
Hochhausbau aus weißen Papierbögen. Einmal erbaut, fielen
aus den Fenstern plötzlich Figuren – unerbittlich zoomte die
Kamera darauf, und der Projektor vergrößerte das Massenfallen auf die mehrere Meter große
Wand. Ein echter Zimmerhorror,
akustisch untermalt vom Mann
am Schlagzeug. Später entstanden auf diese Art noch hingetuschte Erzählungen, bis die
Wurst vom Anfang sich schließlich in eine Pistole verwandelte
und zum finalen Bühnensuizid
von Glowinski eingesetzt wurde.
Insgesamt überzeugte bei
„Theater der Dinge“ bislang der
Lowtech-Zugriff auf die Dinge;
neue Archaik entstand im Zwischenreich von analog und digital. Ein Höhepunkt verspricht
am Mittwoch die Deutschlandpremiere von „Birdie“ zu
werden, einem nicht mit Vogelschwärmen, sondern mit
Kleinstpuppen und Kamera erzählten Remake des HitchcockKlassikers „Die Vögel“, in dem
über das Verhältnis von Migration und Angst nachgedacht
wird. Natürlich, digital ist auch
politisch.
ine Freundin ist mit ihrer Familie für eine Woche
vom Mariannenplatz in den
Prenzlauer Berg gezogen – Wohnungstausch mit Leuten aus Paris vereinbart, doch keine Zeit
zum Urlauben, Franzosen aber
reisen unerbittlich an, ein Kollege fährt an ihrer Statt, sie
wohnt derweil in seiner Wohnung. Eine seltene Gelegenheit
tut sich auf: Ausgehen in Prenzlauer Berg, ui, lange nicht gemacht, Terra incognita, Exotik,
Prickeln auf der Haut. Gelegenheit beim Schopfe gepackt und
raus aus dem Kreuzberg-Nordneuköllner Alltagshalligalli. Die
Strecke mit dem Fahrrad am
Freitagabend: irgendwie weiter als in den Neunzigern. Auf
der Köpenicker setzen zehntausend Taxen Yello-Fans vorm
Kraftwerk aus, das Hofbräuhaus
am Alex schluckt zehntausend
Anzugträger. Berg hoch. Rund
um den Wasserturm: herrliche
Ruhe. Rund um den Helmholtz­
platz: Beschaulichkeit, leere
Trottoirs, wir rascheln durch die
Blätter, ein freundlicher Junge
am Kiosk verkauft ein paar
Craft-Beer-Sorten, weiß aber
auch nicht, was es mit „German
IPA“ auf sich hat. Im ausliegenden Flyer steht „unfiltriertes India Pale Ale, ausschließlich aus
heimischen Hopfensorten gebraut. Wir kaufen zwei Helle aus
bayerischen Klöstern.
Ein „Event-Café“ auf der
Schönhauser hat seinen Schankvorgarten spinnwebartig mit
Wattefäden geschmückt, wer
reinwill, muss sich winden. Ist
ja auch Halloween-Party, Motto:
„Monster, Biere, Mutationen“.
Auch an der Eberswalder: Jubel,
Trubel, Heiterkeit. Kostümierte,
Teufel, Kätzchen, Monster, eines
streichelt uns mit seinem Krallenhandschuh aus schwarzer
Pappe die Wange. My my, so incredibly uncool würde sich in
unserem Hometurf-Kiez kein
New Berliner aufführen. Dann
Hunger. Suche nach einer warmen Pho-Suppe. Aber es ist
schon elf – und Punkt elf werden in Prenzlauer Berg die Bürgersteige hochgeklappt. Entschuldigung, wir haben schon
zu, die Küche hat schon geschlossen, tut mir leid. Ein arabischer Imbiss auf der Danziger bietet letzte Zuflucht. Und
AUSGEHEN UND RUMSTEHEN
VON
KIRSTEN
RIESSELMANN
ganz zum Schluss lehrt uns das
„Leathers“ auf der Lychener das
wahre Gruseln: Hinter bodentiefen Fenstern präsentiert sich
maßgeschneiderte S/M-FetischWare für den betuchten Lederschwulen. Der eine Schaufensterpupperich hat eine gänzlich
lochlose Falkenhaube auf dem
Kopf und eine Spanking-Klatsche in der Hand (wie sieht er,
wo er hinschlagen soll?), der andere in schwarzledernem Harnisch trägt einen Kürbis unterm
Arm. Hey, Prenzlauer Berg, du
kannst es noch!
Am Samstag Xenia Rubinos
in der Berghain Kantine. Gestern schon Lobeshymne an genau dieser Stelle. Mir allerdings
hat’s nicht gefallen. Trotz wahrlich großer Sangeskunst und
technischer Versiertheit gerät
bei mir nichts in Schwingung.
Eine befremdliche Einsamkeitserfahrung, denn alle um mich
rum sind hin und weg. Außer:
der einzige anwesende Konzertfotograf, der von der Künstlerin
gleich zu Beginn vom Bühnenrand verscheucht wird.
Auf dem Weg zum am Berghain-Zaun festgeschlossenen
Fahrrad werde ich ganze drei
Mal angesprochen: Excuse me,
do you know where the Berghain is? Do you know when it
will open? Do you know where
the entrance is? Where is this
other place, this Panoramabar?
Polyglottes
Stimmengewirr:
wienerisch, portugiesisch, englisch, weißrussisch. Das Berghain dämmert um Viertel nach
elf noch gänzlich dunkel vor
sich hin, aber eine kleine Kirmes kümmert sich um die vielen Too Early Birds: Ein Kaffeestand, aus dessen fies schlechten Miniboxen Techno blechert
hat gut zu tun, die Currywurstpommesbude daneben wird
ebenfalls frequentiert. Als ich
am nächsten Morgen das Radio
anschalte, nölt mich einer der
Kalkbrenners an, ob Paule oder
Fritze, ganz egal, das stadtmarketingkonforme ClubpluckerGrauen hört auf beide Namen.
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Landkreis Bentheim, die Stadt
Hannover und die umliegende
Region sind jetzt ganz offiziell
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sind die Radfahrer nicht.
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Niedersachsen feiert heute in Hannover
seinen 70. Geburtstag. Zeit für einen
Hymnen-Vergleich der Nachbarländer.
Denn während die Schleswig-HolsteinHymne ein wahrer Agitationssong ist,
mag das Niedersachsenlied keiner.
Wieso eigentlich?
▶ SEITE 23
25
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
VON KATHARINA SCHIPKOWSKI
taz: Herr Brenneisen, stellen
Sie in Ihrer Beratungsstelle
fest, dass tatsächlich afghanische Geflüchtete abgeschoben
werden?
Claudius Brenneisen: Bisher
nicht, aber es kommen schon
mehr Afghanen mit Ablehnungsbescheiden zu uns, das
stimmt. Die Zahl der Anerkennungen afghanischer Geflüchteter beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geht nach
unten.
Was hat sich denn rechtlich
verändert?
Gar nichts. Nur die politische
Motivation, afghanische Flüchtlinge abzuschieben, hat sich geändert. Es gibt jetzt das Rücknahmeabkommen mit der afghanischen Regierung, das
Abschiebungen in großer Zahl
zulassen soll.
Das müssen Sie erklären.
Rechtlich hat sich nichts verändert und trotzdem werden
AfghanInnen jetzt seltener als
Flüchtlinge anerkannt?
Die Anerkennung von Asylgesuchen ist eine Sache. Die liegt bei
afghanischen Flüchtlingen immer noch bei knapp 50 Prozent.
Das Spannende ist, wie mit einer
Ablehnung umgegangen wird.
In den letzten Jahren wurden
die Abschiebungen eben nicht
vollzogen.
Und das könnte sich jetzt mit
dem Rücknahmeabkommen
ändern.
Genau.
Aber Sie sagten auch: Gleichzeitig sinkt die Quote der Anerkennungen.
Die Anerkennungszahl lag letztes Jahr bei knapp 80 Prozent,
jetzt liegt sie unter 50 Prozent.
Der Grund dafür ist aus der
rechtlichen Lage nicht ersichtlich. Die Zustände in Afghanistan haben sich auch nicht verbessert. Das führt eben zu dem
Schluss, dass es ein politischer
Kurs ist.
In Hamburg gibt es allerdings
eine rechtliche Besonderheit,
die sich verändert hat.
Ja, die Senatorenregelung wurde
abgeschafft. 2008 hat der damalige Innensenator Christoph
Ahlhaus von der CDU unter dem
schwarz-grünen Senat verfügt,
dass Menschen nach 18 Monaten Duldung einen Aufenthalt
bekommen.
Das war bundesweit einmalig?
Jein. Es geht auf ein Bundesgesetz zurück, Paragraf 25, Absatz
Nach Anschlägen auf Polizisten: Soldaten der afghanischen Armee sind im Oktober 2016 auf Patroullie Foto: Watan Yar/dpa
„Hamburg lässt Afghanen im Unklaren“
KURSWECHSEL Afghanischen Geflüchteten drohen Sammelabschiebungen, obwohl sich weder ihre asylrechtliche
Situation verändert hat noch die Konflikte im Land entschärft wurden, sagt Anwalt Claudius Brenneisen
5 des Aufenthaltsgesetzes, wo
genau das drin steht. Nur Hamburg war das einzige Land, das
das umgesetzt hat, auf öffentlichen Druck hin.
Diese Regelung hat der rotgrüne Senat jetzt einfach wieder abgeschafft.
Ja.
Fährt Hamburg aktuell einen
besonders harten Kurs gegen
Geflüchtete?
Bisher kann man das im Vergleich zu anderen Bundesländern noch nicht sagen. Aber
Hamburg hat die größte afghanische Community. Wenn
die jetzt verstärkt abgeschoben
werden, wird sich das bemerkbar machen. Wobei – die Abschaffung der Senatorenrege-
lung ohne jede Ankündigung
oder das Aufzeigen von Alternativen war schon hart.
Welche Alternativen meinen
Sie?
Bisher wusste man, auch wenn
ein Asylantrag abgelehnt wurde,
dass es andere Möglichkeiten
gibt, um hierzubleiben. Asyl ist
ja nicht die einzige Grundlage,
auf der man hier bleiben kann.
Gründe können sein, wenn man
zum Beispiel zur Schule geht,
eine Ausbildung macht oder
eben Ausreisehindernisse vorliegen – wie die unsichere Lage
in Afghanistan. Das ist jetzt weggefallen und alle fragen sich:
„Wann geht’s los?“
Was passiert mit den Geflüchteten, die aufgrund der Sena-
torenregelung bleiben dürfen
– wird ihnen der Status wieder
aberkannt?
Wir hoffen nicht, aber das ist alles offen. Die Stadt lässt die Afghanen völlig im Unklaren darüber, wie es weitergeht.
Haben schon AfghanInnen die
„freiwillige“ Ausreise angetreten, weil sie fürchten, ohnehin
abgeschoben zu werden?
Das wäre mir nicht bekannt und
ich kann es mir nicht vorstellen, weil Afghanistan im Ranking der Herkunftsländer von
Geflüchteten aktuell auf Platz
zwei liegt. Die Sicherheitslage
hat sich dort nicht entspannt,
sondern viele Städte und Regionen werden von den Taliban
„zurückerobert“ und der soge-
nannte Islamische Staat (IS) ist
auch schon tätig. Wir sind da in
einem Zustand wie vor der Invasion westlicher Truppen. Auch
die Zahl von über einer Million
afghanischen Flüchtlingen im
Iran spricht dagegen. Und wenn
man sich die Bilder anguckt:
Frauen tragen Burka und in Kabul gab es im Juli einen Anschlag
auf eine friedliche Demonstration mit 80 Toten und über 200
Verletzten.
Bundesinnenminister
Thomas de Maizière (CDU) meint,
es gebe genügend „sichere Regionen“.
Aber davon auszugehen, dass
wir dort sichere Verhältnisse
haben, ist absurd. Seit 2009
gab es 60.000 Opfer durch zi-
H ELMUT SCHMI DT
Anspruchslos
„Grünbuch“ zur Flüchtlingspolitik ist da
Der Klatschmohn ist die Blume
des Jahres 2017. Das hat die LokiSchmidt-Stiftung am Montag
bekanntgegeben. Mit der Ernennung will die Stiftung nach
eigenen Angaben darauf aufmerksam machen, dass Ackerwildblumen zunehmend verloren gehen. Der Klatschmohn als
relativ anspruchslose Pflanze
sei in diesem Sinne ein „Überlebenskünstler“. Das hätte seinen Namensgeber gefreut, vermutet der Helmut Schmidt, weil
der Klatschmohn damit gewisse
Gemeinsamkeiten mit seiner
Loki hat. Aber sicher hätte er
hinzugefügt: „Dass ihr mir deswegen jetzt nicht wieder mit irgendsonem Öko-Quatsch ankommt!“
Hilfsorganisationen in Schleswig-Holstein haben die ihrer
Meinung deutlich verschärfte
Flüchtlingspolitik verurteilt und
die zunehmende Gewalt gegen
Flüchtlinge angeprangert. Mit
gekürzten Sozialleistungen und
verschärften Gesetzen werde
auf Abschreckung statt auf Integration gesetzt, kritisierten
die Verbände, darunter die Diakonie und der Flüchtlingsrat
Schleswig-Holstein. Sie stellten
am Montag das erste „Grünbuch
1.0“ zur Flüchtlingspolitik vor.
Anlass ist die Flüchtlingskonferenz der Landesregierung am 9.
November in Lübeck.
Dieses Grünbuch nennt für
15 Handlungsfelder konkrete
Forderungen: Es geht um mehr
DISKRIMINIERUNG
Schleswig-Holsteins
Hilfsorganisationen
sind unzufrieden mit
dem Umgang mit
Geflüchteten. Kurz vor
der geplanten
Flüchlingskonferenz in
Lübeck erheben sie nun
konkrete Forderungen
Wohnungen,
Deutschkurse,
Schulunterricht, die Behandlung traumatisierter Flüchtlinge
oder die Anerkennung ausländischer Qualifikationen. Kritisiert
wird die unterschiedliche Behandlung von Flüchtlingen mit
guter und mit geringer Bleibeperspektive. Im Grünbuch heißt
es: „Rassismus ist salonfähig geworden.“ Besonders manifestiere sich Diskriminierung von
Geflüchteten aber in Gesetzen.
Massive Kritik übt das Grünbuch an der vom Kieler Innenministerium geplanten Landesunterkunft für Ausreisepflichtige – gemeint sind vor allem
abgelehnte Asylbewerber. „Kein
Gesetz verpflichtet das Land
zu einer solchen, mittelfristig
auf die nachhaltige Isolierung
und Desintegration hinauslaufenden Maßnahme.“ Das Land
müsse „auf eiwne zwangsweise
und im Zuge von Freiheitsentzug durchgesetzte inhumane
Aufenthaltsbeendigung
verzichten“.
Schleswig-holsteins Innenstaatssekretärin Manuela Söller-Winkler (SPD) dankte den
Grünbuch-Autoren für die konstruktive Kritik. „Das Papier zeigt,
dass die Landesregierung insgesamt in der Flüchtlingspolitik
auf dem richtigen Kurs ist.“ Verbesserungsbedarf gebe es etwa
im Umgang mit gefährdeten
Gruppen unter den Flüchtlingen. Die Flüchtlingskonferenz
solle Lösungen erarbeiten. (dpa)
vile Anschläge. Und wenn man
sich anguckt, unter welchen Sicherheitsvorkehrungen ausländische Organisationen arbeiten,
spricht alles dagegen, dass es
eine große freiwillige Bewegung
zurück nach Afghanistan gibt.
Claudius Brenneisen
■■44, ist Rechtsanwalt und
arbeitet bei der
kirchlichen
Beratungsstelle für
Geflüchtete
„Fluchtpunkt“ in
Hamburg.
Foto: Heike Günther
Land will mehr
Lohn zahlen
Der Mindestlohn für Mitarbeiter von Firmen, die öffentliche Aufträge erledigen, soll in
Schleswig-Holstein im Februar
2017 auf fast zehn Euro steigen.
Geplant ist eine Anhebung des
vergaberechtlichen Mindestlohns von 9,18 auf 9,99 Euro,
wie Arbeitsminister Reinhard
Meyer (SPD) gestern ankündigte. Die Höhe lehnt sich an
den Mindestlohn im Tarifvertrag der Länder an, der auf 9,99
Euro erhöht wurde. Arbeitnehmer in Privatfirmen, die öffentliche Aufträge erhalten, müssten bezahlt werden, als führe
die öffentliche Hand mit eigenen Mitarbeitern diese Aufträge
aus, sagte Meyer. (dpa)
26
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
UN D H EUTE
… fusionieren
zwei Landkreise
Es ist der erste Zusammenschluss zweier Landkreise in
Niedersachsen seit der Gebietsreform der 1970er-Jahre
und dazu auf freiwilliger Basis:
Heute wird aus den Landkreisen
Göttingen (250.000 Einwohner)
und Osterode am Harz (80.000)
der neue Großkreis Göttingen.
Dieser wird seinen Verwaltungssitz in Göttingen haben. Bürgernahe, aber auch zentrale Dienste
wie die Finanzverwaltung werden in Osterode bleiben. Die
Fusion soll vor allem den wirtschaftlich schwachen Kreis Osterorde vor Handlungsunfähigkeit bewahren. Das Land schießt
80 Millionen Euro zu.
Nord
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
NACH RICHTEN
Gerügt hat der schleswig-holsteinische Landesrechnungshof die Haushaltspolitik der
Koalition in Kiel. In einer Stellungnahme heißt es, mit mehr
Ausgabendisziplin wäre ein Etatentwurf für 2017 ohne Neuverschuldung möglich gewesen.
Trotz Rekordeinnahmen plane
die Landesregierung aber eine
Kreditaufnahme in Höhe von
126,5 Millionen Euro. Sie fahre
keinen Konsolidierungskurs.
Außerdem baue die Regierung
mehr Personal auf als ab und
investiere zu wenig in die Infrastruktur. Die Investitionsquote sei mit 6,8 Prozent auf
dem zweitniedrigsten Stand
seit mehr als 50 Jahren. +++ Bei
den Wolfsrudeln auf dem Truppenübungsplatz Bergen und im
Raum Wietzendorf gibt es Nach-
LESERI N N EN BRI EFE
taz.nord | Stresemannstraße 23 | 22769 Hamburg | [email protected] | www.taz.de
Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzen von Leserbriefen vor.
Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Historiker mundtot gemacht
■■betr.: „NS-Studie mit Nachspiel“, taz.nord vom 24. 10. 16
Als ob der VW-Konzern nicht schon genug Probleme und Skandale produziert hat. Nun soll auch noch ein kritischer Historiker
mundtot gemacht werden. Der vom obersten VW-Chef Matthias
Müller geforderte Kulturwandel, mehr Demokratie von unten,
wird offensichtlich noch nicht von allen vollzogen. Manfred
Grieger ist es unter anderem mit zu verdanken, dass sich der
Konzern in den 1990er-Jahren – endlich nach über 40 Jahren –
seiner Mitverantwortung an Verbrechen in der Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gestellt hat. In der wissenschaftlichen
Aufarbeitung des VW-Werkes im Nationalsozialismus wurde die
Nähe der Konzernleitung zu den NS-Eliten herausgearbeitet. Ein
Foto vom 7. Juni 1939 zeigt Adolf Hitler einträchtig neben seinem
Lieblingsingenieur Ferdinand Porsche, der sein Werk nur mit
Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen aufbauen konnte, bei der
Besichtigung des Presswerkes. Während in Ingolstadt eine nach
Richard Bruhn, einem der handelnden Personen des vormaligen
Auto-Union-Konzerns, umbenannt worden ist, gibt es in Wolfsburg immer noch eine Porsche-Straße und ein Porsche-Denkmal.
DIETHELM KRAUSE-HOTOPP, Destedt
Ein Comic als Hilfeschrei
■■betr.: „Mit Bleistiften gegen die Ignoranz“, taz.nord vom
19. 10. 16
Da zeichnen und schreiben zwei gegen das an, was sie, wie so
viele von uns, mit normalem Menschenverstand nicht länger
erfassen können: zur Kenntnis nehmen zu müssen, dass nahezu
täglich Menschen im Mittelmeer ertrinken und wir dabei
zuschauen. Nun sind Gaby von Borstel und Peter Eickmeyer
zeitweilig Teil der Besatzung der „MS Aquarius“ geworden, die
Flüchtlinge aus dem Meer rettet. Die beiden sind auch in der
Flüchtlingsinitiative Neuenkirchen aktiv. Das war ihnen nicht
mehr genug, denn es verhindert nicht das Ertrinken im Meer.
Wann beeinflussen uns solche Schlüsselreize derart, dass wir
aus dem passiv beobachtenden in ein aktiv handelndes Verhalten wechseln? Machen wir es uns nicht zu einfach, wenn wir
das Abstumpfen psychologisch mit dem Argument des Selbstschutzes begründen? Zu groß das Leid, zu wenig von Seiten der
Politik getan, zu menschenverachtend die Gesamtlage, zu wenig
eindeutig, wie man einen Beitrag leisten kann? Die zivile Hilfsbereitschaft ist ungebrochen. Und das ist gut so in Zeiten, in denen
sich rechtsgerichtete Minderheiten lautstark und zunehmend
gewaltbereit in den Vordergrund spielen. Je persönlicher wir die
Schicksale an uns heranlassen, umso geringfügiger wirkt gleichzeitig der Beitrag, den wir hier in Deutschland leisten können.
Von Borstel und Eickmeyer wollen nun durch Graphic Novels das
Leid im Mittelmeer auf der „MS Aquarius“ festhalten. Es wirkt
wie ein Hilfeschrei, mit einem Comic gegen das Erstarken nationaler Abschottungstendenzen anzeichnen zu wollen. Ob die ausgewählte Zeichnung, die den Beitrag von Harff-Peter Schönherr
begleitet, das trifft, was die beiden sich vorgenommen haben,
bleibt fragwürdig. Eine düstere Zeichnung, wie im Bilduntertitel
benannt, sehe ich in den Gesichtern, die den Betrachter anschauen, nicht. Werden hier doch Personen dargestellt, die man
mit den realen Bildern erschöpfter und traumatisierter Menschen nicht so recht überein bekommen mag. Es bleibt zu hoffen, dass die Graphic Novels als Medium ihr Ziel nicht verfehlen.
Und es bleibt offen, ob Zeichnungen tatsächlich mehr aufrütteln
können als reale Bilder. CHRISTINE STECKER, Hamburg
wuchs. Mit Fotofallen der Bundesforstbetriebe wurden Welpen abgelichtet, wie die Landesjägerschaft mitteilte. So
konnten in Bergen vier und bei
Wietzendorf drei Welpen nachgewiesen werden. +++ Der Oldenburger Energieversorger
EWE will sich langfristig von allen konventionellen Kraftwerken zur reinen Stromerzeugung
trennen. Sie seien nicht rentabel, sagte EWE-Chef Matthias
Brückmann mit Blick auf die
Vorstellung einer neuen Konzernstrategie, die sich stärker
auf erneuerbare Energien konzentriert. Ihm zufolge sollen das
Kohle- und das Gaskraftwerk der
Bremer Tochter SWB nun genau
geprüft werden. Das Müllheizkraftwerk in Bremen sei hingegen profitabel. +++
ASYL I N N I EDERSACHSEN
N I EDERSACHSENS WÄLDER
Neue Beratung vor
Nur die Eiche in Gefahr
der Härtefallprüfung In den Wäldern Niedersachsens
Flüchtlinge und ihre Unterstützer können sich vor möglichen
Eingaben an die Niedersächsische
Härtefallkommission
künftig unabhängig beraten
lassen. Die unabhängige Fachberatungsstelle sei „ein wichtiger Baustein in der niedersächsischen Flüchtlingsberatung“,
sagte die Landesbeauftragte
für Migration und Teilhabe, Doris Schröder-Köpf (SPD). Träger
der Beratungsstelle ist die Landesarbeitsgemeinschaft
der
Freien Wohlfahrtspflege. Ziel
sei es, aussichtslose Eingaben zu
vermeiden und so die Härtefallkommission zu entlasten. (epd)
ist der Anteil schwer geschädigter oder gar abgestorbener
Bäume in diesem Jahr gering
geblieben. Die Bäume haben
den Risiken von Witterung,
Schädlingen und
Umweltgiften
getrotzt.
„Die aktuelle Bestandsaufnahme ist
vor allem für den Klimaschutz eine sehr gute Nachricht“, sagte Landwirtschaftsminister Christian Meyer (Grüne)
anlässlich der Vorlage des Waldzustandsberichts am Montag in
Hannover.Ganz genesen sei der
Wald allerdings
noch nicht. Ein
Sorgenkind sei
derzeit die Eiche.
Die Baumart weist
mit 30 Prozent die höchste
Kronenverlichtung auf. Zu dem
Blattverlust haben unter anderem starker Insektenfraß und Pilzbefall beigetragen. Rund ein
Viertel des Bundeslandes Niedersachsens
ist von Wald bedeckt. (dpa)
Eichenblätterfoto: dpa
Preisgekrönter Durchschnitt
MOBILITÄT Niedersachsens Verkehrsminister Olaf Lies adelt Städte und Kreise mit dem
Titel „Fahrradfreundliche Kommune“ – dabei sind die meisten RadlerInnen unzufrieden
VON ANDREAS WYPUTTA
Der Rahmen war groß gewählt,
die Einladungen gingen schon
vor Wochen in die Post: In der
Akademie des Landessportbunds hat Niedersachsens Wirtschafts- und Verkehrsminister
Olaf Lies (SPD) die Stadt Oldenburg, den Landkreis Bentheim
sowie die Landeshauptstadt
Hannover und die umliegende
Region mit dem Titel „Fahrradfreundliche Kommune“ ausgezeichnet.
In Oldenburg werden bereits
40 Prozent aller Wege mit dem
Rad zurückgelegt – den Preis bekam die Stadt für ihre Steuerung
des Fahrradverkehrs: An Knotenpunkten erkennen Wärmebildkameras die Zahl der RadlerInnen; Ampeln zeigen bei Bedarf länger grün. Die Grafschaft
Bentheim wurde für den guten
Zustand ihrer Radwege ebenso
gelobt wie für einen Film, der
Flüchtlingen die Bedeutung
von Verkehrsschildern erläutern soll.
In Hannover reichten dagegen die blaue Markierung des
City-Rings sowie Griffe und
Trittbretter, die an Ampeln das
Anhalten erleichtern, für die
Auszeichnung. Die Region um
die Landeshauptstadt herum
wurde für die Schaffung von
Fahrradparkplätzen an Bahnstationen, mehr Platz für Räder in
den Stadtbahnen und ihr sogenanntes „Bügel-Programm“ gelobt: Pro Jahr sollen 1.000 Metallbügel aufgestellt werden, an
denen Fahrräder sicherer angeschlossen werden können.
„Radfahren boomt“, sagte Verkehrsminister Lies bei der in
eine Fachtagung namens „Fahrradland Niedersachsen“ eingebetteten Preisverleihung. Mit einem Anteil von 15 Prozent am
Gesamtverkehr sei der Radverkehr in Niedersachsen „bereits
heute
überdurchschnittlich
groß“, so Lies weiter. Wichtig
sei es, „weiterhin zukunftsfähige Konzepte zu entwickeln“,
sagte der Minister, der auch im
Aufsichtsrat von Deutschlands
größtem Autobauer VW sitzt.
In Niedersachsens rot-grüner
Koalition drängen vor allem
die Grünen auf eine besondere
Förderung des leisen und emissionsfreien Radverkehrs.
Nötig scheint das allemal:
Beim letzten Fahrradklimatest
des Allgemeinen Deutschen
Fahrradclubs (ADFC), der allein
in Niedersachsen von mehr als
17.000 Mitgliedern unterstützt
wird, bewerteten die befragten
RadlerInnen 2014 ihre Situation in dem Bundesland nur etwas besser als „ausreichend“. 32
Fragen, bei denen etwa der Zustand der Radwege, Konflikte
mit Autofahrern, die Lenkung
an Baustellen oder die Fahrrad-
mitnahme im öffentlichen Verkehr abgefragt wurden, ergaben
einen Schulnoten-Durchschnitt
von lediglich 3,7 – ähnlich ist die
Situation auch in Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen.
„In Niedersachsen gibt es bisher nur ein Radwegekonzept.
Wir fordern seit längerem ein
Radverkehrskonzept“, kritisierte
Niedersachsens ADFC-Vorsitzender Dieter Schulz. Selbstverständlichkeiten wie eine einheitliche Beschilderung der Radwege fehlten, ebenso wie sichere
Abstellmöglichkeiten etwa in
abschließbaren Fahrradparkplätzen gerade an Bahnhöfen.
Außerdem sei nicht einmal
der Erhalt der bestehenden
Struktur gesichert. Zwar sei Niedersachsen mit knapp 8.000 Kilometern das Bundesland mit
dem deutschlandweit längsten
Radwegenetz, sagte Schulz. „Laut
Aussagen des Verkehrsministeriums aus dem Jahr 2014 sind
aber 15 Prozent der Radwege
„Ich sehe kein
Konzept. Die Straßen
und Plätze wirken so,
als seien sie für das
Auto gemacht und
nicht für das Rad.“
MIKAEL COLVILLE-ANDERSEN
komplett fahrraduntauglich“,
klagte der ADFC-Mann. „Und
ein weiterer großer Teil ist sanierungsbedürftig.“
Auch fehlten Radschnellwege,
die gerade in einer Zeit des Elektrofahrrad-Booms nicht nur in
der Region Hannover das Umland und die Stadt verbinden
und so eine Alternative zum
Auto fördern. Trotzdem gibt
es in Niedersachsen einen solchen Schnellweg nur in Göttingen – und der ist gerade einmal
vier Kilometer lang. „Trotzdem
unterstützt das Land den Bau
solcher Radschnellwege bisher überhaupt nicht“, sagte der
ADFC-Vorsitzende.
Die Folge: Von Erfolgen wie in
Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen, wo bereits jeder dritte
Weg per Bike erledigt wird, ist
auch Hannover als fahrradfreundlichste Großstadt Niedersachsens weit entfernt. Im
Jahr 2011 entfiel hier 19 Prozent des Verkehrs auf das Rad.
Grund dafür sei vor allem mangelhafte Planung, kritisierte der
Däne Mikael Colville-Andersen
schon 2015 bei einer alternativen Stadtplanungskonferenz:
„Ich sehe kein Konzept“, sagte er.
„Die Straßen und Plätze wirken
so, als seien sie für das Auto gemacht – und erst nach dem Bau
wird überlegt, wie auch noch
Platz für das Rad geschaffen
werden kann.“
Das ist Greenwashing
■■betr.: „Ökosiegel trotz Umweltschäden“, taz.nord vom 25. 10. 16
Diese ganzen Siegel sind mal mehr, mal weniger Greenwashing.
Hier geht es um den MSC, gegründet vom WWF selber (der
Kohlkopf) und dem imagepflegenden Großkonzern Unilever (der
gärtnernde Bock). Speziell der WWF soll mal mit seinen Greenwashing-Aktivitäten (zertifiziertes Palmöl) zurückhaltend sein.
DA HIAS, taz.de
Fahrradfreundlichkeit in Niedersachsen: Für den Preis reichten in Hannover schon ein paar Griffe und Trittbretter an Ampeln Foto: Holger Hollemann/dpa
Nord
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
„Es ist ein
politisches
Kampflied
HYMNE I Wie ein
ursprünglich mal
unpolitisches Lied
zum Agitationssong
im deutschdänischen
Sprachenstreit
wurde und wieso
Friedrich Engels das
ganze Lied
bescheuert fand
INTERVIEW PETRA SCHELLEN
taz: Herr Riecken, wann entstand die bis heute inoffizielle
Schleswig-Holstein-Hymne?
Claas Riecken: In einer politisch aufgeheizten Zeit. Schleswig und Holstein waren ja seit
1773 Teil des dänischen Gesamtstaats und wurden mitverwaltet
vom dänischen König. Wobei
Schleswig durch eine Lehensverbindung auch staatsrechtlich
mit Dänemark verbunden war,
Holstein aber nicht. In Holstein
waren Bevölkerung und Sprache deutsch, in Schleswig waren Deutsch und Dänisch offizielle Sprachen. Beide existierten nebeneinander, und das war
jahrhundertelang kein Problem.
Wann änderte sich das?
Im 19. Jahrhundert, als in Europa
der nationale Gedanke aufkam
und dänische Politiker sowie
das Kopenhagener Bürgertum
zu König Christian VIII. sagten:
„Wenn Schleswig zu uns gehört,
muss da auch Dänisch gesprochen werden! Das gehört doch
bis zur Eider seit dem Mittelalter zu Dänemark.“ Dass dort seit
dem Mittelalter auch Tausende
Deutsche eingewandert und
weitere Tausende zur deutschen
Sprache übergewechselt waren,
spielte keine Rolle mehr.
Was de facto ein Plädoyer für
die Trennung Schleswigs von
Holstein war.
So hat es das Bürgertum in
Schleswig und Holstein auch
verstanden und seinerseits gesagt: Schleswig und Holstein
gehören zusammen. Die Dinge
polarisierten sich dann schnell:
Dänische Nationalliberale fordern die engere Bindung Schleswigs an Dänemark, ihre deutschen Antagonisten die Eigenständigkeit der Herzogtümer
Schleswig und Holstein sowie
die Aufnahme Schleswigs in den
Deutschen Bund.
Was sich im Schleswig-Holstein-Lied spiegelt?
Ja. Dessen Melodie stammt vom
Schleswiger Kantor Carl Gottlieb
Bellmann. Den Urtext verfasste
der Berliner Rechtsanwalt Karl
Friedrich Straß, der den inneren Zusammenhalt der Menschen beschwört und – politisch korrekt – „Schleswig, Holstein“ titelt.
Dabei blieb es dann aber nicht,
oder?
Nein. Die zweite, bis heute bekannte Fassung, die der Schleswiger Anwalt Matthäus Friedrich
Chemnitz für die Erstaufführung beim Schleswiger Sängerfest 1844 schrieb, ist agitatorischer. Er beschwört die Bedrohung durch Dänemark herauf
und fügt die Herzogtümer auch
sprachlich zusammen, schreibt
erstmals „Schleswig-Holstein“.
Damit hat Chemnitz die Hymne
zum politischen Kampflied für
die Einheit Schleswigs und Holsteins sowie die Unabhängigkeit
beider von Dänemark gemacht.
Ein Kampflied beim Sängerfest?
Ja, solche Feste, auf denen Männergesangsvereine auftraten,
waren damals hochpolitische
Veranstaltungen, denn reguläre politische Versammlungen
waren verboten. Das unter großem Jubel des Publikums aufgeführte Lied war also eine echte
Provokation für den dänischen
König. Es verbreitete sich dann
schnell durch Sängerfeste und
Zeitungen, die den brisanten
Text abdruckten.
Welche Passagen sind besonders brisant?
Die Zeile „deutscher Sitte hohe
Wacht“ etwa betont sehr bewusst das Deutsche und erteilt
der Koexistenz eine Absage.
Und wie deuten Sie dann die
Zeilen „drohend sich der Nord
erhebt, schütze Gott die holden
Blüten, die ein milder Süd belebt“?
Der „Nord“ steht für Dänemark,
der „Süden“ für Deutschland.
Wobei die Bewohner des Grenzlandes diese Strophe heute nicht
mehr gern singen, um den alten
Konflikt nicht zu beschwören.
Inzwischen wirbt SchleswigHolstein sogar mit dem Slogan „der echte Norden“.
Ja, das wirkt eigenartig, besonders, wenn man aus Dänemark
nach Schleswig-Holstein fährt.
Überhaupt enthält das Lied
viele
nationalsozialistisch
wirkende Worte: Die „DoppelEiche“ klingt nach der germanischen Weltesche Yggdrasil,
„stammverwandt“ nach „Blut
und Boden“, dazu der „Hol­
stengau“.
Sie zäumen das Pferd verkehrt
herum auf. Das ist das Vokabular der Nationalromantik:
Die Doppel-Eiche, die getrennt
wächst, aber zusammensteht,
steht für Schleswig und Holstein, „stammverwandt“ für Verbindungen der beiden Herzogtümer. Und „Gau“ hieß damals
schlicht „Gebiet“. Die Nazis kamen 100 Jahre später und deuteten dann Dinge, die schon da
waren, in ihrem Sinne um.
Dabei hatte das Lied schon
Friedrich Engels überhaupt
nicht gefallen.
Ja, er schrieb 1846 an Karl Marx
so etwas wie: „Hast du schon gehört, in Schleswig-Holstein haben sie ein bescheuertes Lied
erfunden.“ Das sei so schlecht,
dass es nur wert sei, von blöden Dithmarschern gesungen
zu werden.
Wie wichtig ist das Lied denn
heute?
Irgendwie ist es immer da. Radio
Schleswig-Holstein spielt es jeden Abend um Mitternacht, und
viele Leute kennen zumindest
die erste Strophe. Das Kämpferische daran wird aber den wenigsten bewusst sein.
HYMNE II Kaum
jemand kann sich
mit dem
Niedersachsenlied
identifizieren. Wieso
eigentlich?
Wir sind die Niedersachsen,
Sturmfest und erdverwachsen,
Heil Herzog Widukinds Stamm!
Wo fiel’n die römischen Schergen?
Wo versank die welsche Brut?
In Niedersachsens Bergen,
An Niedersachsens Wut
Wer warf den römischen Adler
Nieder in den Sand?
Wer hielt die Freiheit hoch
Im deutschen Vaterland?
Das war’n die Niedersachsen,
Sturmfest und erdverwachsen,
Heil Herzog Widukinds Stamm!
Das war’n die Niedersachsen,
Sturmfest und erdverwachsen,
Heil Herzog Widukinds Stamm!
DIE ERSTEN ZWEI STROPHEN DES NIEDERSACHSENLIEDES
He
ut
ef
ei
Foto: Privat
27
„Über
Grenzen“
Von der Weser bis zur Elbe,
Von dem Harz bis an das Meer
Stehen Niedersachsens Söhne,
Eine feste Burg und Wehr
Fest wie unsre Eichen
halten alle Zeit wir stand,
Wenn Stürme brausen
Übers deutsche Vaterland.
Wir sind die Niedersachsen,
Sturmfest und erdverwachsen,
Heil Herzog Widukinds Stamm!
er
tN
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de
rsa
ch
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„Schleswig-Holstein, meerumschlungen,
deutscher Sitte hohe Wacht!
Wahre treu, was schwer errungen,
bis ein schön’rer Morgen tagt!
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
wanke nicht, mein Vaterland!
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
wanke nicht, mein Vaterland!
Claas Riecken
■■50, hat Geschichte, Friesisch
und Dänisch
studiert und
ist seit 2014
Lektor am
Nordfriesischen
Institut in
Bredstedt.
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
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taz: Herr Rösner, ist die Niedersachsen-Hymne ein politisches Lied?
Hans Rösner: Im weitesten
Sinne ja, denn es bezieht sich auf
die Zeit der Sachsenkriege, als
Herzog Widukind 777 bis 785 im
Sachsenhain bei Verden den erfolglosen Kampf gegen die Franken anführte. Darüber hat Hermann Löns 1913 die Erzählung
„Die rote Beeke“ – der rote Bach,
gefärbt von Sachsenblut – verfasst. Dieses Werk wiederum hat
wohl der Braunschweiger Lehrer
Hermann Grote gekannt, als er
1926 Text und Melodie des Niedersachsenliedes schuf.
Merkwürdig. Die eigene Niederlage als Kern einer Hymne?
Es geht wohl eher um den entschlossenen Kampf gegen die
Feinde. Außerdem gibt es ja
auch eine Strophe, die von der
erfolgreichen Varusschlacht gegen die Römer im Teutoburger
Wald handelt.
Im Lied heißt es, Niedersachsen reiche „Von der Weser bis
zur Elbe“. Wo bleiben Ostfriesen, Oldenburger, Emsländer,
Osnabrücker?
Es geht eher um historische
Grenzen. Andererseits war der
Begriff „Niedersachse“ schon
Mitte des 19. Jahrhunderts ein
Konstrukt mit nicht klar definierten Zugehörigkeiten. Die
Oldenburger zum Beispiel singen bei feierlichen Anlässen lieber ihre Oldenburg-Hymne. Mit
dem Niedersachsenlied identifizieren sich wohl am ehesten die
Menschen im Bereich des alten
Hannoverschen Landes um Lüneburg herum.
Wieso hatte das Lied in der
Nazi-Zeit Hochkonjunktur?
Die Machthaber des Dritten
Reichs empfanden das Lied offensichtlich als geeignet, um
ihre Ideologie zu transportieren. Dazu muss man sagen, dass
der Lieddichter Hermann Grote
– obwohl als Lehrer wahrscheinlich Parteimitglied – über den
Missbrauch seines Liedes nicht
erfreut war. Meinen Recherchen zufolge kam es deshalb zu
einem ideologischen Streit mit
der NSDAP-Führung, woraufhin
er zur Unperson erklärt wurde.
Lea Rosh, von 1991 bis 1997 Direktorin des NDR-Landesfunkhauses Hannover, hat verboten, dass der Text gespielt
wurde. Sie fand ihn faschistoid.
Ja, seither erklingt auf NDR 1 nur
ein Teil der Melodie, an mehreren Stellen im Tagesprogramm.
Während der Fußballverein
Hannover 96 das Lied gar nicht
mehr spielt, seit Fans beim Refrain „Heil Herzog Widukinds
Stamm“ den Hitlergruß zeigten.
Das wusste ich nicht. Aber es
ist natürlich eine geeignete Reaktion.INTERVIEW: PS
Hans Rösner
Ob auch wild die Brandung tose,
Flut auf Flut von Bai zu Bai:
O, lass blühn in deinem Schoße
deutsche Tugend, deutsche Treu’.
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
bleibe treu, mein Vaterland!
DIE ERSTEN ZWEI STROPHEN DER SCHLESWIG-HOLSTEIN-HYMNE
■■75, der ehemalige Verwaltungsbeamter ist
ehrenamtlicher
Archivar des
Landesverbandes der
Feuerwehr
Niederachsen.
Foto: privat
taz.hamburg
das wetter
Viele Wolken und gelegentlich leichter Regen, so
wird das heute. Wärmer als 13 Grad wird es nicht
und dazu weht es mäßig von Westen her
www.taz.de | [email protected] | Stresemannstraße 23 | 22769 Hamburg
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
I N ALLER KÜRZE
Polizei ermittelt
in alle Richtungen
Auch nach Bekanntwerden einer angeblichen Bekennerbotschaft der Terrororganisation
„Islamischer Staat“ (IS) ermittelt die Polizei nach einem tödlichen Messerangriff auf einen
16-Jährigen in alle Richtungen.
„Wir schließen nichts aus“, sagte
ein Polizeisprecher am Montag.
Die angebliche Mitteilung des IS
werde weiter geprüft. Es sei unklar, ob die Botschaft echt sei.
Berichte über eine andere wichtige oder gar heiße Spur wollte
die Polizei nicht bestätigen. Es
gebe keinen neuen Stand, erklärte der Sprecher. (dpa)
Senat zieht
Bauvorhaben an sich
Der Senat hat den Bau eines 26,5
Hektar großen Gewerbegebiets
zwischen Rahlstedt und Stapelfeld als übergeordnete politische Instanz an sich gezogen und damit gleichzeitig ein
Bürgerbegehren zurückgewiesen. Schriftlich wurde der Initiative, die gegen den Bau des Gewerbegebietes vorgehen wollte,
mitgeteilt, das Begehren werde
wegen „Unzulässigkeit zurückgewiesen“. Das zuständige Be-
zirksamt Wandsbek wurde angewiesen, das Bebauungsplanverfahren zügig durchzuführen.
Die Bürgerinitiative will Widerspruch einlegen. (taz)
ASYL Das Bündnis Hamburger Flüchtlingsinitiativen fordert die
Regierung auf, Tausend Menschen aus Griechenland zu holen
Blohm + Voss darf
übernommen werden
Das Bundeskartellamt hat den
Weg für die Übernahme der
Hamburger
Traditionswerft
Blohm + Voss durch die Bremer
Lürssen-Gruppe frei gemacht.
Nachdem am vergangenen
Freitag die kartellrechtliche Genehmigung erteilt wurde, wollen die Bremer Schiffbauer die
Zusammenarbeit intensivieren
und prüfen, wie die Werft effizient zu nutzen sei, teilte Lürssen
am Montag mit. (taz)
Hochtief ist die
Elbphilharmonie los
Rund neuneinhalb Jahre nach
Grundsteinlegung hat der Baukonzern Hochtief am Montag
die Elbphilharmonie ganz offiziell an die Stadt Hamburg übergeben. Am Freitag soll dann die
Aussichtsplattform der Öffentlichkeit zugänglich gemacht
werden. Der Musikbetrieb soll
am 11. und 12. Januar 2017 beginnen. (dpa)
H EUTE I N HAMBURG
„Vorurteile abgebaut“
PREIS Das Projekt „gemeinsam Kirchdorf-Süd“ wird
für die Arbeit in der Hochhaussiedlung prämiert
taz: Frau Frey, das Projekt „gemeinsam Kirchdorf-Süd“ richtet sich an alle 6.000 BewohnerInnen der Hochhaussiedlung.
Wer kommt zu Ihnen?
Sibylle Frey: Unser Motto ist:
von fünf bis 95 – intergenera­
tionell, interkulturell und inklusiv. Wir wollen also möglichst
alle ansprechen. Aber nicht zu
allen Treffpunkten kommen
alle. Deshalb haben wir an vier
Tagen in der Woche offene Angebote, die von unterschiedlichen
Gruppen wahrgenommen werden.
Ein Beispiel?
Es gibt ein Frauenfrühstück, da
sind auch Kinder dabei, aber
keine Männer. Die können wieder zum Café kommen. Wir haben ein Sprachcafé für alle, die
Interesse an Sprachaustausch
haben. Das Sprachcafé wird
von BewohnerInnen der Hochhaussiedlung und Menschen
aus der nahen Flüchtlingsunterkunft besucht. Da geht es um
den Austausch in den eigenen
Sprachen, aber auch darum, sicherer zu werden in der Konversation im Alltagsdeutsch.
Wie haben Sie die Geflüchteten
erreicht?
Wir sind auch ein aufsuchendes Projekt. Das heißt, dass wir
in die Unterkunft gegangen sind
und dort unser Angebot vorgestellt haben.
Sie bekommen heute den mit
10.000 Euro dotierten HolgerCassens-Preis. Warum bemüht
man sich um den sozialen Zusammenhalt vor allem in armen Vierteln?
Es ist sozialgeschichtlich belegt,
dass es eine Segregation in der
Bildung und damit auch im Bildungserfolg gibt. Dieser Spalt
verläuft in Deutschland nun
Der Senat soll einladen
mal sehr stark entlang der ökonomischen Situation. Insofern
ergibt es Sinn, dem in den ärmeren Stadtteilen entgegen zu
wirken. Hier ist die Mehrsprachigkeit ein Teil des Lebensgefühls, unser Team ist daher auch
mehrsprachig. Es geht uns um
die Erhöhung der Mitgestaltungsmöglichkeit.
Nur weil man irgendwo wohnt,
will man ja nicht Zeit mit seinen Nachbarn verbringen. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Indem gesellschaftliche Gruppen miteinander ihren Stadtteil gestalten, werden Vorurteile
und Rassismus abgebaut. Denn
so ändern sich die Perspektiven
aller. Das wäre aber ein Ziel in jedem Stadtteil. In Kirchdorf-Süd
sind viele Familien wegen ihrer
Armut isoliert.
Ist Armut in Kirchdorf-Süd, der
Wohnmaschine an der Autobahn, das Hauptproblem?
Am Armutsproblem hängt Bildung, die Berufschance und
die Aussicht auf Teilhabe. Jetzt
ist Kirchdorf bedroht durch das
nächste Autobahnprojekt – die
A26. Wenn die kommt haben die
Menschen nicht nur die A1 an ihrer Seite, sondern vor sich noch
die A26, die durch den Grüngürtel verlaufen soll.INTERVIEW: LKA
■■Preisverleihung: 18 Uhr, Patrio-
tische Gesellschaft, Trostbrücke 4
Sibylle Frey
■■52, Sozialpädagogin, arbeitet
beim Verein für
interkulturelle Bildung
„Verikom“
in KirchdorfSüd.
Foto: Privat
Immer noch hängen Geflüchtete in Griechenland fest: Bündnis findet, in Hamburg sei Platz Foto: Kay Nietfeld/dpa
VON KATHARINA SCHIPKOWSKI
Während in manchen Vierteln
viel Geld fließt, damit AnwältInnen verhindern, dass dort
Flüchtlingsunterkünfte gebaut
werden, läuft es auch manchmal
anders: Der Zusammenschluss
Hamburger Flüchtlingsinitiativen hat eine Petition gestartet,
in der er den Senat auffordert,
Tausend Flüchtlinge aufzunehmen, die in Griechenland festsitzen. „Hamburg hat Platz“, lautet deren Titel.
Die InitiatorInnen schreiben,
sie wollten sich nicht damit abfinden, dass Tausende vor Krieg
und Terror geflohene Menschen
unter unzumutbaren Bedingungen ausharren müssen, „weil es
keinen legalen Weg gibt, in andere EU-Länder zu gelangen“.
Sie fordern den Senat auf, mit
der Bundesregierung zu verhandeln, um die Einreisegenehmigungen für 1.000 Menschen zu
erwirken. Außerdem solle die
Stadt die Transportkosten tragen und die Voraussetzungen
für eine schnellstmögliche Unterbringung in regulären Wohnungen schaffen.
Wo genau Hamburg Platz
hat, hätten sich die InitiatorInnen nicht überlegt, sagte Harald
Möller-Santner vom Ottenser
Gesprächskreis zu Flucht und
Migration, der die Petition mit
initiiert hat. „Das ist aber auch
nicht unsere Aufgabe“, findet
er. „In einer reichen Stadt wie
Hamburg gibt es viele Möglichkeiten.“
Durch die drastisch gesunkene Zahl von Ankömmlingen
gebe es auch wieder Kapazitäten in Erstaufnahmeeinrichtungen. Für die anschließende Unterbringung in Wohnungen sei
ein grundsätzliches Umsteuern
in der Wohnungsbaupolitik erforderlich, sagt Möller-Santner.
Platz nur in Erstaufnahmen
Doch, ob Hamburg wirklich
Platz habe, sei nicht so einfach
zu beantworten, sagte Christiane Kuhrt vom Zentralen Koordinierungsstab Flüchtlinge.
„Theoretisch können wir Tausend Menschen in Erstaufnahmen unterbringen“, sagte die
Sprecherin.
Die Frage sei aber: „Möchte
man das?“ Die Geflüchteten
wollten schließlich nicht ewig
in
Erstaufnahmeeinrichtungen wohnen – und in den Folgeunterkünften mangelt es nach
wie vor an Platz: 7.500 „Überresidente“ warten darauf, in eine
Folgeunterkunft umzuziehen.
Der Zusammenschluss der
Flüchtlingsinitiativen beruft
sich außerdem auf das von der
EU beschlossene Relocation-Programm. 2015 gab es zwei EU-Beschlüsse, nach denen 160.000
Personen aus Griechenland und
Italien innerhalb von zwei Jahren auf andere EU-Länder verteilt werden müssen. Deutschland soll über 27.400 Personen
aufnehmen. In Hamburg angekommen sind davon bisher
elf, wie ein Sprecher des Einwohnerzentralamts auf taz-Anfrage sagte.
Die Verantwortung für die
Umsetzung des Relocations-Programms in den einzelnen Bundesländern liegt allerdings bei
der Bundesregierung. Der Senat hat sich damit offenbar noch
nicht befasst – dessen Sprecher
verwies zum Thema lediglich an
die Innenbehörde. Dort wusste
man nichts von dem Programm.
28
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Tarifvertrag
gefordert
Ver.di will
Abkommen zum
Schutz von Pflegern
PERSONALNOT
Ein Klinik-Check der Gewerkschaft Ver.di in 200 Abteilungen von zwölf Krankenhäusern brachte es schon 2013 zutage: Es fehlen 4.200 Stellen in
den Krankenhäusern der Stadt.
Doch alle Appelle an die Klinikbetreiber verhallten bisher.
Nun geht die Gewerkschaft einen neuen Weg. Mit einen „Tarifvertrag Entlastung“ möchte sie
mit den Krankenhausbetreibern
verbindliche Entlastungen für
das Personal aushandeln. „Das
ist ein total neues anspruchsvolles Tarifprojekt“, sagt Hilke
Stein, Leiterin des Ver.di-Fachbereichs Gesundheit.
Der Tarifvertrag basiert auf
drei Säulen: einer personelle
Mindestbesetzung, also mehr
Personal, einem verbindlichen
Belastungsausgleich nach Engpässen und verlässlichen Arbeitszeiten. „Die Pflegekraft
kann dann selbst überprüfen,
ob die Verpflichtungen eingehalten werden“, sagt Stein. Im
Ernstfall könne es dazu führen,
dass der Betreiber wegen Personalmangels Abteilungen vorübergehend schließen müsse.
Novum ist auch, dass der „Tarifvertrag Entlastung“ parallel
zu dem bestehenden Gehaltsund Manteltarifverträgen verhandelt werden kann. Denn da
er eine neue Thematik regelt,
darf die Gewerkschaft trotz Friedenspflicht auf tarifliche Mittel
wie einen Arbeitskampf zurückgreifen. Der Krankenhaus Arbeitgeberverband (KAH), dem
die Asklepios-Kliniken angehören, wollte sich gestern zu dem
Ver.di-Vorstoß nicht äußern.
Unterstützung
bekommt
Ver.di von der Linksfraktion und
der SPD in der Bürgerschaft sowie vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), der unter
dem Motto „Hamburger Appell
für mehr Krankenhauspersonal“ eine Onlinepetition gestartet hat. „Es kann nicht sein, dass
diejenigen, die uns pflegen, selber von ihrer Arbeit krank werden“, sagt DGB-Chefin Katja Karger.
KVA
Innenbehörde gibt sich ganz entspannt
OSZE-TREFFEN
Für die Konferenz Anfang Dezember in Hamburg gibt es nun ein detailliertes Polizeikonzept
Der OSZE-Gipfel vom 7. bis 9. Dezember in Hamburg wird „wohl
reibungslos verlaufen“, gibt sich
der Sprecher der Innenbehörde,
Frank Reschreiter, optimistisch.
Etwa 10.000 Polizisten werden
für die Sicherheit der gut 3.000
Mitglieder von 57 staatlichen
Delegationen auf dem Treffen
der Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa
sorgen. Im Zentrum stünden der
Tagungsort in den Messehallen,
das Rathaus sowie etliche Luxushotels in der Innenstadt. Die
Einschränkungen für die Anwohner sollen „so gering wie
möglich gehalten“ werden, versichert Reschreiter.
Der Zugang zu den Wohnungen in den Sicherheitszonen um
die Brennpunkte des Geschehens werde uneingeschränkt
gewährleistet sein, wegen Personenkontrollen sollten Anwohner jedoch Ausweise dabei
haben, sagt Reschreiter. Privater Autoverkehr wird untersagt,
Parken ist verboten, am Straßenrand abgestellte Fahrräder müssen nicht entfernt werden.
Einzelne Straßen im Karoviertel werden aber selbst für
Fußgänger gesperrt, der Rathausmarkt wird am Abend des
8. Dezember gesperrt. Der Weihnachtsmarkt soll jedoch stattfinden dürfen, versichert die
Innenbehörde. In der gesamten Innenstadt wird es von Mittwochabend bis Freitagmittag zu
erheblichen Verkehrsstörungen
kommen. Es gebe aber keine
Hinweise auf „gravierende Störungen“ durch Gipfelgegner, so
Reschreiter, deshalb gehe man
von einem ruhigen Verlauf der
Konferenz aus.
Das OSZE-Treffen ist aber nur
die Generalprobe für den G20Gipfel am 7. und 8. Juli 2017.
Dann werden die Staats- und Regierungschefs von 19 Industrie-
Privater Autoverkehr
wird untersagt,
abgestellte Fahrräder
indes müssen nicht
entfernt werden
und Schwellenländern in Hamburg erwartet. Attac kündigte
am Wochenende einen Alternativgipfel, eine Großdemonstration und „Aktionen zivilen
Ungehorsams“ an. Die Gegenaktivitäten zum Gipfeltreffen
sollen der „Schwerpunkt“ von
Attac Deutschland im kommenden Jahr werden. Das Treffen der
20 wichtigsten Industriestaaten
stehe für Standortkonkurrenz,
Lohn- und Sozialdumping, so
SVEN-MICHAEL VEIT
Attac.
■■Auf zwei detaillierten Karten
unter www.hamburg.de/polizei/
osze-g20-np sind die Sicherheitszonen um die Brennpunkte
des Geschehens dargestellt und
erläutert
taz.bremen
Das Was-ist-das-für-1-FDP-Wetter
Dass ausfallende oder gar nicht
vorhandene Kitas ein Problem
sind, ist kürzlich auch der FPD
aufgefallen. Denn: Besonders
die Mittelschicht leidet darun-
ter. Ein herber Sozialflash treibt
die Liberalen zum Äußersten:
„Wir setzen uns dafür ein, dass
das letzte Kindergartenjahr kostenlos wird.“ Regen bei 12 Grad
www.taz.de | [email protected] | Tel. 960 260 | Trägerdienst Tel. 36 71 66 77
DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016
WELTSCHMERZ AUF DER HÜHNERLEITER
29
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Geschäft mit altem Wasser
WASSER Durch eine Rekommunalisierung der Wasserversorgung könnte der Wasserpreis
um zehn Prozent sinken. Dafür klagt der ehemalige Hochschulprofessor Ernst Mönnich
VON KLAUS WOLSCHNER
I N ALLER KÜRZE
Friedenspreisträger der
Villa Ichon steht fest
Der Kultur- und Friedenspreis
der Villa Ichon geht im kommenden Jahr an Libuše Černá
und Tilman Rothermel. Das
Ehepaar habe die soziale und
kulturelle Entwicklung in Bremen über viele Jahre maßgeblich geprägt und die Völkerver-
ständigung durch internationalen Austausch in der Kunst
befördert, heißt es in der Begründung der Freunde und Förderer der Villa Ichon in Bremen
e.V. Der Preis, der damit zum 35.
Mal verliehen wird, ist mit 5.000
Euro dotiert. Die feierliche Verleihung soll am 11. März kommenden Jahres stattfinden. (taz)
H EUTE I N BREMEN
„Nazis lesen das nicht“
Die Friedrich-Naumann-Stiftung lädt zu
Vortrag und Diskussion über „Mein Kampf“
HITLER
taz: Herr Töppel, Sie haben sich
jetzt jahrelang mit Adolf Hitlers „Mein Kampf“ beschäftigt.
Wie schreibt er denn so?
Roman Töppel: Hitlers Schreibstil ist eher ein Redestil: Oft
fängt es ruhig an, steigert sich
dann wie ein Crescendo und gipfelt in Schlagworten, so wie man
es auch aus seinen Reden kennt.
Also eine mitreißende Lektüre?
Naja: Oft sind es sehr komplizierte Schachtelsätze, ein insgesamt wirrer Stil, der schwer
zu verstehen ist. Richtig abstrus wird es, wenn es um Rassentheorien und Biologie geht,
da kannte er sich überhaupt
nicht aus.
Hitler hatte keine Ahnung von
Rassentheorie?
Genau. Das Kapitel, in dem es
um „Volk und Rasse“ geht, ist das
schwächste im ganzen Buch. Davon hatte er wirklich keine Ahnung.
Wo kannte er sich besser aus?
Sobald es um Propaganda und
Massenbeeinflussung
geht,
wird der Stil sehr viel besser lesbar, solche Passagen sind sehr
überzeugend geschrieben.
„Mein Kampf“ war während
der Nazizeit ein Bestseller. Haben die Leute das wirklich gelesen?
Es gab 12,5 Millionen deutsche
Exemplare von dem Buch. Es
gibt diese Schutzbehauptung
aus den 1960er-Jahren, dass eigentlich niemand das Buch tatsächlich gelesen habe, aber das
stimmt nicht: In einer Umfrage
von 1946 gaben 23 Prozent der
Deutschen an, das Buch ganz
oder in Teilen gelesen zu haben.
Und 1946 war es wirklich nicht
mehr opportun, das zuzugeben.
Wird „Mein Kampf“ jetzt wieder zum Kassenschlager?
Das glaube ich nicht. Auch der
Verfassungsschutz sagt, das
Buch habe bei Nazis nur symbolische Bedeutung. Die lesen das
nicht. Und unsere kritische Edition lesen die schon gar nicht. In
einer Amazon-Rezension stand:
„Kauft euch lieber die unkritische Version und nicht die mit
den lehrerhaften Kommentaren.“
INTERVIEW: KMS
■■Presseclub: 19 Uhr, im Schnoor
Roman Töppel
■■40, ist Historiker
und Mitherausgeber der
kritischen Edition
von Hitlers „Mein
Kampf“.
Das Oberverwaltungsgericht
muss sich um ein Problem
kümmern, das überschaubar
klein aussieht, aber große Auswirkungen hat. Der ehemalige
Bremer
Hochschulprofessor
Ernst Mönnich hat eine Klage
eingereicht: 150 Euro zahlt er
jedes Jahr für das Abwasser –
zu viel, sagt er, um rund 10 Prozent sei die Rechnung überhöht.
Wenn er vor Gericht Erfolg hat,
wären gut 300.000 Haushalte in
der Stadt Bremen betroffen, es
geht also um mehrere Millionen
Euro im Jahr.
Und der Kläger ist nicht irgendwer. Mönnich hat an der
Hochschule Bremen Kostenrechnung gelehrt, hat Gutachten und Aufsätze zu dem
Thema Abwasser-Finanzierung
geschrieben und eine Expertise über die Wasserversorgung
in Rostock. Sein Anwalt Benno
Reinhardt ist auch Experte in
diesem Bereich, er hat schon in
Sachsen-Anhalt im Umweltministerium Privatisierungsfälle
begleitet und war als Experte
zum Berliner „Wassertisch“ geladen, bei dem es um die Privatisierung der Berliner Wasserversorgung ging, die per Volksbegehren gestoppt wurde.
Bremens Partnerstadt Rostock ist für Mönnich von besonderer Bedeutung: Sie will die
auch von ihm kritisierte Privatisierung der Wasserversorgung
rückgängig machen – Mitte 2018
soll es nun dazu kommen. Die
Stadt verspricht eine Preissenkung von zehn Prozent.
Wenn man die komplizierten juristischen Argumente
der Schriftsätze, mit denen die
Bremer Klage begründet ist,
auf ihren Kern reduziert, dann
ist das Argument des Klägers:
Bei der Privatisierung des Abwasserbereiches hat die Stadtgemeinde rund 360 Millionen
Euro von den Käufern bekommen. Diese Verkaufs-Erlöse hätten aber dem „Gebührenhaus-
Kostet nicht nur Rohstoffe, sondern auch eine ganze Menge Geld: Abwasser Foto: Jens Büttner/dpa
halt“ gutgeschrieben und zur
Senkung der Abwasser-Gebühren genutzt werden müssen, so
argumentiert Mönnich. Wenn
heute Abwasser-Kanäle saniert
werden müssen, dann „bezahlt“
das auch nicht der Steuerzahler
aus diesen 360-Milllionen, sondern die Gesamtheit der Gebührenzahler.
Die private Firma Hansewasser, die den Abwasserbereich im
Jahre 1999 übernommen hat,
macht zudem gute Gewinne,
sie hat eine Eigenkapitalrendite
von oft 25 Prozent, hat Mönnich
ausgerechnet. Über die Jahre
gab es mal 17 Millionen Euro
Überschuss, mal 12 Millionen
– je nach Instandhaltungs-Investitionen. Ein unternehmerisches Risiko gibt es bei diesem
Geschäft nicht – jeder Haushalt unterliegt dem Anschlusszwang, die Stadt setzt die Gebühren fest, es gibt keine „Konkurrenz“ auf diesem Markt. Es
handelt sich also um ein staatlich garantiertes Geschäft. Außerdem bürgt die Kommune für
die Kredite der Privatfirma Han-
sewasser, die daher den günstigen Kommunalkredit-Zinssatz
erhält.
Da die Gewinne Geschäftsgeheimnis sind, steht in dem
farbigen „Bremer Abwasserbericht“ des Umweltsenators nie,
wie viel Profit Hansewasser auf
Kosten der Wassergebühren
macht. Im Jahre 2008 haben
Gutachter im Auftrag des Umweltsenators auf der Basis der
Geschäftsdaten 2006 offiziell
festgestellt, dass die Hansewasser-Gewinne übermäßig sind.
Damals hat das Umweltressort
mit der Privatfirma einen Kompromiss ausgehandelt und einen klassischen „Halbe/Halbe“Deal zu Lasten der Gebühren-
Das private Geschäft
mit dem Wasser fährt
staatlich garantiert
Gewinne ein
zahler gemacht: Fünf Millionen
weniger bekommt Hansewasser,
darf aber die seit 1998 eingestrichenen Gewinne behalten. Und
dazu hat die Stadt auch offiziell
darauf verzichtet, die Gewinne
noch einmal zu überprüfen – bis
zum Ende der Vertragslaufzeit,
also bis 2028. Das Unternehmen
bedankte sich mit satten Spenden an das Ressortprojekt „Botanika“.
Da die Umweltbehörde als
legitime Vertreterin der Gebührenzahler diesen „Kompromiss“ ausgehandelt hat, selbstverständlich ohne die Betroffenen „Zahler“ dazu zu befragen,
lässt sich das juristisch nicht so
einfach anfechten. Aber wenn,
so die Konstruktion der Klage,
der Privatisierungsvertrag in
dieser Form einer rechtlichen
Prüfung nicht standhält, dann
könnte die Stadt im Interesse
ihrer Gebührenzahler neu mit
Hansewasser verhandeln. Im
Interesse der Gebührenzahler
müsste der grüne Umweltsenator also hoffen, dass er den Prozess gegen Mönnich verliert.
Keine nachhaltige Entwicklung
Es klingt wie ein Angebot, das
man nicht ausschlagen kann:
Der Bund bietet den Ländern
an, sich an der Finanzierung jeweils einer Koordinationsstelle
für ein Schulprogramm zu beteiligen. Das Angebot soll sich
für die Länder lohnen, auch
wenn niemand konkrete Zahlen nennen will. Allein: Bremen
will nicht so recht. Das Schulprogramm, um das es geht, heißt
„Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ und geht zurück auf
einen Beschluss der Kultusministerkonferenz im vergangenen Jahr: Dort wurde ein neuer
„Orientierungsrahmen für den
Lernbereich globale Entwicklung“ verabschiedet, auch Bremen war dafür.
Der Themenbereich Entwicklungspolitik und Nachhaltigkeit
soll fächerübergreifend in den
Unterricht implementiert werden. Bislang wird das in Bremen
Der Bund will
den Ländern eine
Koordinationsstelle
zum Schulprogramm
„Bildung für nach­
haltige Entwicklung“
spendieren. Doch die
Bremer Bildungs­
behörde ziert sich noch
BILDUNG
über das Bremer entwicklungspolitisches Netzwerk (BEN) und
das Bremer Informationszentrum für Menschenrechte und
Entwicklung (BIZ) bearbeitet.
Die NGOs stellen Materialien
für den Unterricht bereit, bieten
Projekttage und Fortbildungen
an. Dafür bekommen sie Geld
aus dem Bildungsressort. „Das
große Manko ist, dass wir derzeit keinen Ansprechpartner in
der Behörde haben“, sagt Gertraud Gauer-Süß vom BIZ. Momentan ist dort niemand für
diesen Themenbereich zuständig. Das könnte sich mit der vom
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (BMZ) mitfinanzierten Koordinationsstelle
ändern.
Wie die taz auf Anfrage beim
BMZ erfuhr, steht mit einem
Bundesland der Vertragsabschluss bevor. „Fast alle andere
Länder“, so die Sprecherin des
Ministeriums weiter, „haben
schriftlich oder mündlich Interesse bekundet.“ Aus der Bildungsbehörde heißt es etwas
schmallippig: Man sei mit der
Agentur, die für das BMZ die
Stellenfinanzierung managt,
im Gespräch. Außerdem habe
Bremen den Orientierungsrahmen mitgetragen, nachhaltige
Entwicklungspolitik sei in den
Bildungsplänen der Fächer implementiert.
Enthusiasmus klingt anders,
und auch Gertraud Gauer-Süß
hat den Eindruck: „Die Relevanz
des Themas für die Zukunft wird
nicht erkannt.“ Immerhin beschäftigt seit Kurzem auch eine
von Matthias Güldner (Grüne)
initiierte Anfrage zu diesem
Thema den Senat. Und die Antwort sollte dann hoffentlich etwas konkreter ausfallen.
KAROLINA MEYER-SCHILF