Leonard Cohen: Vom Trümmerberg herab Foto oben: laif Das neue Album des 82-Jährigen und ein Gedankensprung zu Leberwurstbrot ▶ Seite 15 AUSGABE BERLIN | NR. 11162 | 44. WOCHE | 38. JAHRGANG DIENSTAG, 1. NOVEMBER 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Rettet die Republik „Cumhuriyet’i kurtarın“ lässt sich auf zwei Arten übersetzen: „Rettet die Cumhuriyet“, aber auch „Rettet die Republik“: MitarbeiterInnen der taz am Montag in der Redaktion Foto: Karsten Thielker TÜRKEI Polizei nimmt Chefredakteur und weitere Mitarbeiter der Zeitung „Cumhuriyet“ fest. Die taz zeigt sich solidarisch mit der Redaktion des regierungskritischen Blattes ▶ SEITE 2, 3 KOMMENTAR VON GEORG LÖWISCH Was Pressefreiheit bedeutet W ir kommen in Deutschland gerne mal auf die Pressefreiheit zu sprechen. Auf Symposien und in Leitartikeln wird über sie nachgedacht. Ob sie nicht tangiert wird, wenn Behörden mauern. Ob sie gefährdet ist, wenn immer weniger Rechercheure immer mehr PR-Leuten gegenüberstehen. Ob sie nicht wackelt, die Pressefreiheit, wenn ein Teil des Publikums den Medien pauschal die Glaubwürdigkeit abspricht. Wichtige Fragen. Aber was Pressefreiheit wirklich bedeutet, davon haben wir am Ende keine Ahnung. Was Pressefreiheit wirklich bedeutet, erleben jene, denen sie entrissen wird. So wie Akın Atalay, der Verlagschef von Cumhuriyet, in der Türkei die auflagenstärkste jener Zeitungen, die Recep Tayyip Erdoğan noch kritisieren. Atalay hat am Montagmorgen erfahren, dass sein Haus durchsucht wurde. Er ist auf Reisen im Ausland, seine Familie befindet sich dagegen in Istanbul. Der Cumhuriyet-Chefredakteur Murat Sabuncu: festgenommen. Dessen Vorgänger Can Dündar: Haftbefehl erlassen. Zwölf weitere Kollegen: in Haft. Die Staatsanwaltschaft wirft Cumhuriyet vor, die PKK und die Gülen-Bewegung zu unterstützen. Anders gesagt: Erdoğan terrorisiert die Medien unter dem Vorwand, den Terror zu bekämpfen. Auch gegen Akın Atalay, den Cumhuriyet-Verlagschef, wurde Haftbefehl erlassen. Was Pressefreiheit bedeutet – er weiß es. Deshalb zitieren wir, was er uns gesagt hat: „Die Anschuldigungen sind so absurd, dass wir nur sprachlos sind. Jeder weiß, dass es sich um Lügen handelt. Das einzige Ziel der Regierung ist, Cumhuriyet komplett zu schließen. Es geht darum, alle kritischen Stimmen in der Gesellschaft zum Schweigen zu bringen. Wir rufen die ganze Welt zur Solidarität mit Cumhuriyet und zum Widerstand gegen diese Ungerechtigkeit auf.“ Am Montagmorgen in der Redaktionskonferenz der taz ging es auch um andere wichtige Themen – um Rentenpolitik, um Biolandwirtschaft und deutsche Investitionen in China. Jeden Tag sortiert eine Zeitung nach ihrer eigenen Logik Themen und Ereignisse. Aber der Putsch gegen eine Zeitung, der wir uns verbunden fühlen, sprengt diese Logik. Man erahnt, was Pressefreiheit wirklich bedeutet. Das geht uns nahe. Und deshalb titeln wir in dieser Ausgabe mit einem Zeichen der Solidarität, deshalb berichten wir auf Seite 2 und 3. „Es geht darum, alle kritischen Stimmen in der Gesellschaft zum Schweigen zu bringen“ Zwar hat Erdoğan in der Türkei schon über 160 Medien lahmgelegt, mehr als 120 Journalisten sitzen in Haft. Hürriyet, die auflagenstärkste Zeitung, berichtet schon lange nicht mehr kritisch über die Regierung, sondern wurde zu deren Sprachrohr. Im Staatsfernsehen werden Karten einer Türkei in den Grenzen des späten Osmanischen Reichs präsentiert. Die Presse ist in der Türkei schon lange nicht mehr frei – so wie es eine Demokratie zum Leben bräuchte. Aber viele mutige JournalistInnen schreiben noch. Was sie sehen, was sie denken, was ist. Für sie ist die Cumhuriyet ein Wahrzeichen. Sie ist, 1924 gegründet, die älteste Zeitung des Landes. Sie will die Trennung von Staat und Religion. Erdoğan will den Islam als Staatsreligion. Cumhuriyet heißt übersetzt „Republik“. Die Türkei noch als solche zu bezeichnen, als Republik, fällt immer schwerer. Aber um diese Zeitung muss man kämpfen. TAZ MUSS SEI N 20644 4 190254 801600 Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.265 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Schwerpunkt DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 Pressefreiheit Der türkische Staat geht gegen das letzte Oppositionsblatt vor. Journalisten von „Cumhuriyet“ sitzen hinter Gittern oder werden gesucht MURAT SABUNCU TURHAN GÜNAY H I KMET ÇETI N KAYA AYDI N ENGI N GÜRAY ÖZ HAKAN KARA N EBI L ÖZGENTÜRK MUSA KART Chefredakteur der Zeitung seit diesem Jahr, festgenommen Leitender Redakteur der Literaturbeilage, festgenommen Autor seit exakt 50 Jahren bei der Zeitung, festgenommen Exchefredakteur der Zeitung und Autor, festgenommen Autor und Vorstandsmitglied, festgenommen Autor und Ex-Umweltredakteur, festgenommen Autor und Vorstandsmitglied, gesucht, z.Zt. im Ausland Langjähriger Karikaturist der Zeitung, festgenommen Schwarzer Montag „CUMHURIYET“ Schwerer Schlag gegen die wichtigste Oppositions- zeitung: Chefredakteur und zwölf Mitarbeiter inhaftiert VON JÜRGEN GOTTSCHLICH BERLIN taz | Mit einem Angriff auf die wichtigste Oppositionszeitung der Türkei, Cumhuriyet, hat das Regime von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gestern begonnen, eine der letzten Bastionen des freien Wortes zu zerschlagen: Dreizehn wichtige Mitarbeiter der Zeitung, darunter der Chefredakteur Murat Sabuncu, sind verhaftet worden. Der Geschäftsführer Akin Atalay und der frühere Chefredakteur Can Dündar entgingen ihrer Festnahme nur, weil sie sich im Ausland aufhalten. Gegen Can Dündar ist ein förmlicher Haftbefehl erlassen worden. Die Polizei kam in den frühen Morgenstunden. Aydin Engin, 75 Jahre alt, einer der bekanntesten Menschenrechtler des Landes und Kolumnist bei Cumhuriyet, wurde um 6 Uhr abgeführt. Frühestens in fünf Tagen darf ihn – ebenso wie die anderen Festgenommenen – ein Anwalt besuchen. Die CumhuriyetMitarbeiter können insgesamt 30 Tage in Polizeihaft festgehalten werden, bevor ein Richter über ihre weitere Haft entscheidet. Einen weiteren bekannten Kolumnisten, Kadri Gürsel, der auch Vorstandsmitglied des Internationalen Presseinstituts (IPI) ist, trafen die Polizisten am Morgen in seiner Wohnung nicht an. Er wird nun ebenfalls mit Haftbefehl gesucht. Vor dem Verlagsgebäude beobachteten am Montag Hunderte Unterstützer der Zeitung, wie immer neue Mitarbeiter von Cumhuriyet abgeführt wurden. Für den Abend riefen sämtliche Journalistenorganisationen, der linke Gewerkschaftsdachverband DISK und die Vorsitzen- den der oppositionellen CHP und HDP, zu einer Demonstration für Cumhuriyet auf. „Wenn schon Cumhuriyet angegriffen wird“, sagte der altgediente türkische Journalist Oktay Ekci angesichts dieser Entwicklung, „kann sich niemand mehr sicher fühlen.“ Hasan Cemal, ein früherer Chefredakteur der Cumhuriyet und weithin geachteter Publizist, schrieb am Montag: „Man braucht nicht mehr drum herumzureden. Das Vorgehen gegen die Cumhuriyet ist ein tödlicher Schlag gegen die Freiheit. Das Wort ist am Ende. Mit diesem Schritt Erdoğans Derzeit sind etwa 130 Journalisten in Haft, 600 verloren ihre Arbeitserlaubnis sind Freiheit und Recht vernichtet worden. Der zivile Putsch vertieft sich.“ Allein die Zahlen sprechen dafür, dass er recht hat: Rund 200 Journalisten sind seit dem Putsch am 15. Juli vorübergehend festgenommen worden, rund 130 sitzen in Haft. Mehr als 600 Journalisten wurde ihre Pressekarte und damit ihre Arbeitsberechtigung entzogen. Insgesamt 168 Medienorganisationen wurden per Notstandsdekret geschlossen. Aber die Vernichtung der Freiheit beschränkt sich längst nicht auf Journalisten und die freie Meinungsäußerung. Auch eine oppositionelle politische Tätigkeit ist kaum noch möglich. Während die Mitarbeiter von Cumhuriyet verhaftet wurden, geriet die kurdische Oppositionspartei HDP ebenfalls ver- stärkt unter Druck: Wie sie am Montag bekannt gab, sind in den letzten Tagen 700 wichtige Parteimitglieder verhaftet worden, außerdem weitere 27 HDP-Bürgermeister. Der Vizevorsitzende der Republikanischen Volkspartei CHP, Bülent Tezcan, überlebte am Sonntag ein Attentat. Er wurde durch Schüsse am Bein verletzt. Wenige Tage zuvor waren die beiden Bürgermeister der größten kurdischen Stadt, Gültan Kisanak und Firat Anli, verhaftet worden. Der Haftrichter hat der Untersuchungshaft bereits zugestimmt. Begründet werden all diese Verhaftungen – egal ob bei der Cumhuriyet oder in Diyarbakır – mit der angeblichen Mitgliedschaft oder Unterstützung einer Terrororganisation, wahlweise der islamischen Gülen-Bewegung oder der kurdischen PKKGuerilla. Dabei spielt es längst keine Rolle mehr, ob es tatsächlich eine Verbindung zu einer dieser Organisationen gibt. Es reicht völlig aus, als Kritiker der AKP oder Präsident Erdoğans zu gelten. Nachdem der Chef der im Parlament vertretenen rechtsradikal-nationalistischen MHP, Devlet Bahceli, vor gut einer Woche bekannt gegeben hat, dass er grundsätzlich eine Volksbefragung für ein neues Grundgesetz unterstützen würde, ist das Ende der heutigen Türkei absehbar. Noch in diesem Jahr will die AKP ihren Entwurf für eine autoritäre Präsidialverfassung im Parlament einbringen. Das Referendum soll dann in den ersten Monaten des kommenden Jahres stattfinden. Freiheit und Demokratie in der Türkei wären abgeschafft. „Dieses Vorgehen ist nicht tolerabel“ REAKTIONEN Europaweit sorgen die Festnahmen bei „Cumhuriyet“ für Empörung. EU-Präsident Martin Schulz: „Da ist die Demokratie am Ende“ BERLIN taz | Mit scharfen Wor- ten reagierten am Montag zahlreiche Politiker und Verbände auch außerhalb der Türkei auf die Festnahme weiterer türkischer Journalisten. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), sagte der taz: „Das Vorgehen türkischer Behörden gegen Cumhuriyet und andere kritische Medien ist nicht tolerabel. Wo Pressefreiheit beschnitten wird und Journalisten in Angst leben, da ist die Demokratie am Ende.“ Auch der Generalsekretär des Europarats, Thorbjørn Jagland, kritisierte das Vorgehen der türkischen Behörden scharf. „Es ist höchst fraglich, ob die Razzia gegen Cumhuriyet als angemessene Maßnahme gerechtfertigt werden kann, selbst unter dem Ausnahmezustand“, sagte Jagland. Er äußerte sich auch besorgt über die Schließung von 15 kurdischen Medien. Die Türkei riskiere eine Flut an Fällen vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, wenn der Ausnahmezustand, der nach dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli verhängt wurde, zu exzessiv genutzt werde, sagte Jagland. Er verlangte eine sorgfältige Unterscheidung zwischen gewalttätigen oder terroristischen Handlungen und starker Kritik an der Regierung. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte am Montag in Berlin: „Die Bundesregierung hat wiederholt – und das will ich hier auch noch einmal tun – ihrer Sorge Ausdruck gege- ben über das Vorgehen gegen Presse in der Türkei und gegen Journalisten in der Türkei.“ Die Bundeskanzlerin sei der Auffassung, dass Pressefreiheit nicht nur aus der Abwesenheit staatlicher Einflussnahme und Zensur bestehe: „Pressefreiheit umfasst auch die Freiheit, Missstände aufdecken und über sie berichten zu können, ohne Nachteile oder gar Gefahren befürchten zu müssen.“ SPD-Generalsekretärin Katarina Barley sagte, sie mache sich große Sorgen um die türkische Demokratie. Die Festnahmen bezeichnete sie als „Teil einer bewussten Aushöhlung des türkischen Rechtsstaats“, die schon seit Monaten in Gang sei.. Zahlreiche Journalistenorga nisationen meldeten sich am Montag ebenfalls zu Wort. Der Geschäftsführer der Organisation Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, sagte der taz: „Mit den Maßnahmen will die türkische Regierung ein klares Zeichen setzen: Sie hat kein Interesse an einer freien und unabhängigen Berichterstattung.“ Man merke in allen Gesprächen mit türkischen Kollegen, so Mihr, dass Journalisten inzwischen dreimal überlegten, was sie noch sagen könnten und was nicht. Der Türkeikorrespondent von Reporter ohne Grenzen, Erol Önderoğlu, war wegen angeblicher Propaganda bereits verhaftet worden. Der Prozess gegen ihn beginnt am 8. November. MARTIN KAUL Schwerpunkt DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 Pressefreiheit TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Die Cumhüriyet galt als letzte Bastion freier Presse in der Türkei. An jedem Wort, das die Wahrheit zeigte, hat die Regierung sich gestört AKI N ATALAY BÜLENT UTKU MUSTAFA KEMAL GÜNGÖR ÖN DER CELI K BÜLENT YEN ER ORHAN ERI NÇ KADRI GÜRSEL GÜNSELI ÖZALTAY Vorstandsvorsitzender und Ex-Justitiar, gesucht, z. Zt. im Ausland Vorstandsmitglied und Justitiar der Zeitung, festgenommen Vorstandsmitglied und Justitiar der Zeitung, festgenommen Vorstandsmitglied der Zeitung, festgenommen Ehemaliges Vorstands mitglied der Zeitung, festgenommen Chef der Genossenschaft, aus Altersgründen nicht in Haft Berater der Chefredak tion, festgenommen Prokuristin, festgenommen. Zudem gesucht: Müslüm Özisik, Nail Inan Alle Fotos: „Cumhuriyet“ „Lasst uns einfach unsere Arbeit machen“ DIE ZEITUNG Ein Journalist der „Cumhuriyet“ über die Situation in seiner Redaktion nach dem Putschversuch vom Juli – und über das Festhalten an der Wahrheit VON ALI ÇELIKKAN BERLIN taz | Als nach dem Putschversuch im vergangenen Juli der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, sind wir als die jungen Mitarbeiter der Zeitung bis zum letzten Druckschluss in der Redaktion geblieben. Wir haben Bier getrunken und über unsere Zukunft nachgedacht. „Nun haben Sie die Macht, alles zu tun, was sie wollen. Sie können morgen kommen und die Redaktion grundlos schließen“, sagte einer von uns. „Ja, aber was können wir schon tun? Wo wollen wir schon hin?“, sagte ein anderer. Statt zu fragen, wie es der Pressefreiheit in der Türkei gehen wird, falls diese Zeitung ge- Sie alle wurden am Montag wie Terroristen behandelt, vor den Augen ihrer Familien schlossen wird, dachten wir – vielleicht sehr egoistisch – darüber nach, was aus uns werden sollte. Cumhuriyet war sowohl für die freie Presse als auch für uns die letzte Bastion in der Türkei. Wir waren uns alle einig: „Es gibt in der Türkei keinen anderen Ort als diesen, an dem wir arbeiten können.“ Und Aydin Engin, der am Montag als einer von 13 Cumhuriyet-Journalisten festgenommen wurde, hatte uns damals ein bisschen Hoffnung gemacht: „Ich habe vier Putsche miterlebt, macht euch keine Sorgen. Lasst uns einfach unsere Arbeit machen.“ In den folgenden drei Monaten wurden Hunderte Medien geschlossen, viele Journalisten haben ihre Arbeit verloren. Während eine Regierung, die Tag und Nacht von „Demokratie“ spricht, alles Demokratische im Land zunichte gemacht hat, ist die Türkei in eine Einbahnstraße geraten. Unsere Zeitung hat jedes Wort gedruckt, das versucht hat, die Wahrheit zu erzählen – und an jedem Wort haben sie sich gestört. Das Regierungspresseorgan Sabah beschrieb die Ereignisse vom Montag so: „Es wurde bekannt, dass die Operation im Zusammenhang mit Ermittlungen steht, die im August begannen und dem Verdacht nachgehen, dass die Tageszeitung Cumhuriyet sich im Namen der Terrororganisationen FETÖ (Anm. d. Red.: Gülen-Bewegung) und PKK strafbar gemacht hat. Zu dem heißt es, dass es belastendes Beweismaterial gibt.“ Soll das ein Witz sein? Wäre diese Situation nicht so grausam, wir würden am liebsten darüber lachen. Welches „belastende Beweismaterial“ kann die Cumhuriyet sowohl mit FETÖ als auch mit der PKK verbinden? Natürlich gibt es die, die jetzt lachen, die denken, wir seien Volksverräter, die wollen, dass wir hingerichtet werden. In dieser von Erdoğans Hand geteilten Gesellschaft gibt es inzwischen Gruppen, die völlig fern von der Realität sind, die toben und in sozialen Netzwerken zur Gewalt aufrufen. Gerade habe ich ein Bild vor mir, das Menschen zeigt, die ihr Leben der freien Presse gewidmet haben – jetzt sind sie in Begleitung von Polizisten. Murat Sabuncu etwa. In dieser schwierigen Zeit ist er sehr stolz auf seinem Posten als Chefredakteur der Cumhuriyet. Er ist in Untersuchungshaft. Hikmet Çetinkaya schreibt seit Jahrzehnten kritisch über die Gülenisten. Er ist Autor zahlreicher Bücher über die Beziehungen zwischen AKP-Regierung und Fettullah Gülen. Nun ist er wegen des Verdachts auf Unterstützung der Gülen-Bewegung in Untersuchungshaft. Sie alle wurden am Montag wie Terroristen behandelt, vor den Augen ihrer Familien. Doch die Welt schweigt nicht mehr im Angesicht dieser mittelalterlichen Justiz. Eines der liebsten Sprichwörter der Türken lautet: „Schweig nicht, je länger du schweigst, desto schneller bist du selbst dran.“ Viele schweigen derzeit aus Furcht, doch Cumhuriyet war immer auf der Seite jener, denen ein Redeverbot erteilt wurde. Und erhält nun als Dank sehr viel Solidarität. Den gesamten Montag über standen mehr als 500 Menschen, Familien, Kinder, vor dem Redaktionsbüro und riefen Slogans wie: „Seite an Seite gegen die Diktatur!“ Die Leitung der Zeitung sitzt zwar in Haft, aber die Zeitung wird für den Druck vorbereitet. Mit Texten, die zweifellos so frei sein werden wie gewohnt. Journalisten beobachten die Situation am Montag vor dem Redaktionsgebäude der „Cumhuriyet“ in Istanbul Foto: Murad Sezer/reuters Atatürks Wunschkind ZEITUNG Lange galt die „Cumhuriyet“ als einseitig, zuletzt aber nahm der Meinungspluralismus zu BERLIN taz | Der Name der über- regionalen türkischen Zeitung, die so alt ist wie die Republik selbst, bedeutet auf Deutsch: „Republik“. Als eine der letzten oppositionellen Zeitungen hat die Cumhuriyet sich bis heute ihren regierungskritischen Ton bewahrt – trotz massenhafter Schließungen zahlreicher Medien des Landes, Verfolgung und Verhaftung von über hundert Journalist*innen und direkter Zensur durch Internetsperren. Selbst ein neues Gesetz, das die Anzeigeneinnahmen kritischer Medien unterbinden soll, konnte das unter großem finanziellen Druck stehende Blatt nicht zur Selbstzensur bewegen. Nun folgte der Haftbefehl gegen 16 Cumhuriyet-Mitarbeiter, darunter auch Chefredakteur Murat Sabuncu. Der Vorwurf: Unterstützung terroristischer Vereinigungen. Die linkskemalistisch ausgerichtete Tageszeitung, die derzeit eine Auflage von 50.000 Exemplaren hat, wurde 1924 auf expliziten Wunsch des türkischen Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk gegründet. Yunus Nadi, der erste Cumhuriyet-Chefredakteur, wird gar als direkter Untergebener Atatürks verstanden. Das heutige Redaktionsstatut beginnt mit einem Zitat aus Nadis Artikel für die allererste Ausgabe: „Cumhuriyet ist eine unabhängige Zeitung. […] Cumhuriyet wird gegen jede Kraft, die versucht, die Ideen und Realitäten der Demokratie zu untergraben, Widerstand leisten. Cumhuriyet wird stets den durch Atatürks Revolution erlangten Weg des Laizismus verteidigen und sich bemühen, ihn in der Gesellschaft zu verankern.“ Mit diesem Bekenntnis steht Cumhuriyet politisch der linkskemalistischen CHP nahe, die nach der AKP zweitstärkste Partei im türkischen Parlament – und stand auch häufig in der Kritik der jungen Linken, die das Meinungsbild von Cumhuriyet für einseitig und überkommen hielt. Mit dem Anfang 2015 neu ernannten Chefredakteur Can Dündar und dem Neuzugang vieler Autor*innen zeichnete sich zuletzt allerdings ein zunehmender Meinungspluralismus ab, der bei sensiblen Themen wie dem Kurdenkonflikt oder dem Armeniergenozid neue Töne zuließ. Die PKK etwa wurde nicht mehr als „terroristische Vereinigung“ gelabelt, Solidaritätsbekundungen erschienen in Form armenischer Schlagzeilen. Empört war darüber nicht nur der traditionelle Cumhuriyet-Leser, sondern vor allem auch die Schlagzeilen auf Armenisch, PKK ohne „Terroristische Vereinigung“-Label AKP-Regierung. Letztere verklagte Ex-Chefredakteur Dündar (der inzwischen im Berliner Exil lebt) und HauptstadtbüroLeiter Erdem Gül aufgrund eines Berichts über illegale Waffenlieferungen der Regierung an syrische Islamisten. Zudem wurden im vergangenen Sommer die Redakteur*innen Ceyda Karan und Hikmet Çetinkaya zu je zwei Jahren Haft verurteilt, weil sie eine Mohammed-Karikatur von Charlie Hebdo abdruckten. Die im September mit dem als „alternativer Nobelpreis“ bekannten Right Livelihood Award ausgezeichnete Zeitung soll die kurdische Arbeiterpartei PKK und die Gülen-Bewegung unterstützen – zwei Organisationen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass Cumhuriyet seit über zehn Jahren kritisch zur Gülen-Bewegung und auch zu deren Verstrickungen mit der AKP-Regierung berichtet. FATMA AYDEMIR 04 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Schwerpunkt DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 Ernährung Die Öko-Branche zieht Konsequenzen aus Tierquälerskandalen in Bio-Ställen. Jetzt soll es mehr um die Gesundheit des Viehs gehen Schweine streicheln, statt Akten fressen INSPEKTIONEN Seit 2014 überprüfen Kontrolleure auf vielen Bio-Höfen, wie es dem Vieh geht. Jetzt arbeiten zwei Bundesländer daran, dass künftig alle Betriebe überprüft werden. Unterwegs mit einer Bio-Inspektorin AUS OSTBÜREN JOST MAURIN Ann-Kathrin Schmidt macht etwas, was Kontrolleure auf deutschen Bauernhöfen nur selten tun: Sie lässt sich von der Bäuerin ein Huhn aus jeder Herde fangen, streicht mit den Fingern durch sein Federkleid, guckt sich die Kloake an, berührt die Fußballen, achtet auf mögliche Wunden. Schmidt – 34 Jahre, diplomierte Agraringenieurin – ist Bio-Kontrolleurin. Heute soll sie prüfen, wie es den Tieren auf dem Ökohof von Christine Raffenberg im westfälischen Dorf Ostbüren geht. Nach einem Muster, das die Göttinger Öko- Kontrollstelle „Gesellschaft für Ressourcenschutz“ für die Agrarministerien von NordrheinWestfalen und Niedersachsen entwickelt hat und das jetzt erprobt wird. Eine ähnliche Inspektion bekommen bereits Höfe, die den Ökobauernverbänden Bioland, Biokreis, Demeter, Gäa oder Naturland angehören. Diese Organisationen schreiben ihren Mitgliedern höhere Haltungsstandards als die Bioverordnung der Europäischen Union vor. Nur wenige Kontrollstellen führen Tierwohlchecks auch bei EUBio-Betrieben durch. Das neue Projekt soll nun die schätzungsweise 40 Prozent der Öko-Vieh- halter erfassen, die bislang keine solche Überprüfung erhalten. Auch diese etwa 6.000 BioHöfe müssen eigentlich wie alle Nutztierhalter von den Veterinärbehörden überwacht werden. Aber die Ämter sind so überlastet, dass sie lediglich wenige Ställe inspizieren. Die BioKontrollstellen kommen zwar mindestens einmal im Jahr zu jedem Öko-Betrieb. Doch sie kümmern sich in erster Linie darum, wie groß etwa die Ställe sind, wie viele Luken nach draußen es für Geflügel gibt oder ob ein Auslauf vorhanden ist. Wie es den Tieren gehen soll, dazu macht die maßgebliche EU-Öko- landbau-Verordnung nur vage Angaben, etwa dass „hohe Tierschutzstandards beachtet“ werden müssten. Prompt wurde nach Skandalen vor allem in großen Bio-Legehennenfarmen Kontrolleuren vorgeworfen, zu wenig die Hühner im Stall und fast ausschließlich die Akten im Büro inspiziert zu haben. Viele Hennen in den betroffenen Betrieben waren völlig zerrupft und teils verletzt, Kadaver lagen offenbar tagelang auf dem Boden. Und das, obwohl Verbraucher Umfragen zufolge sich vor allem deshalb für Bio entscheiden, weil sie artgerechtere Haltungsbedingungen unterstüt- zen wollen. Aus diesen Gründen hat ihre Kontrollstelle Ann-Kathrin Schmidt heute zu dem Hof in Ostbüren geschickt. Zuerst hat sie anhand der Berichte aus dem Schlachthof kontrolliert, wie viele Schweine zum Beispiel Lungenkrankheiten hatten. Da war alles im grünen Bereich. Jetzt streift sich Schmidt Plastiküberzieher über die Schuhe, damit sie keine Keime in die Ställe einschleppen kann. In den Schweineställen des Hofs geht sie von Abteil zu Abteil. So langsam wie möglich, damit die Tiere nicht zu schnell wegrennen. „Sonst kann man nicht erkennen, dass eines lahmt“, erläutert Schmidt. „Falls die sich jetzt alle da hinten in der Ecke drängen, wenn Menschen reinkommen, könnte das bedeuten, dass das Mensch-Tier-Verhältnis nicht gut ist und mehr Betreuung nötig wäre.“ Die Schweine laufen zwar zunächst weg, nähern sich Schmidt aber sofort wieder an. Ein Tier, das erst nicht aufsteht, scheucht sie auf. Nur wenige haben Kratzer oder husten. Keines hat einen angefressenen Schwanz. Aber in einem Abteil mit 12 Tieren ist das Stroh auf dem Boden sehr nass, die Schweine sind beschmiert mit Matsch. Es könnte sein, dass sie das so wollen, um sich abzukühlen an diesen 30 Grad heißen Sommertagen. Aber vielleicht stimmt auch etwas nicht mit der Tränke. „Das ist kein Verstoß gegen irgendetwas“, sagt Schmidt. Aber die Kontrollstelle wird den Bauern später diese Beobachtung mitteilen. In der kalten Jahreszeit will sie die Sache nochmals überprüfen. Bei echten Mängeln verlangt die Kontrollstelle, dass der Tierhalter einen Plan vorlegt, wie er die Haltung verbessert. Dann kommt eine zusätzliche Inspektion. Das tut auch finanziell weh, denn alle Kontrollen muss der Hof selbst bezahlen. Wenn der Verdacht aufkommt, dass die Haltungsbedingungen gegen das Tierschutzrecht verstoßen, müssen die Öko-Kontrolleure die Veterinäre einschalten. „Prinzipiell halte ich die Tierwohl-Kontrolle für nötig“, sagt Bäuerin Raffenberg. Aber dass das Ganze nun vier Stunden gedauert hat, „das ist schon nervig“, vor allem heute, wo sie ihre beiden Kinder betreuen muss, der Trecker kaputt ist und ihr Mann auf dem Feld arbeitet. „Bei einem kleinen Familienbetrieb, der bei der Regelkontrolle nie aufgefallen ist, sollte eine Stunde reichen“, findet die 28-Jährige. Sie hat ja nur 250 Mastschweine und 650 Legehennen. Manche Biofarmen haben beispielsweise Zehntausende Hühner. Deshalb haben die Bioverbände bei mittleren Bestandsgrößen ihre Tierwohlchecks auf rund 30 Minuten je Tierart begrenzt. Das halten Schmidt und ihre Kontrollstelle für zu wenig. „Ich muss mir wirklich alle Herden anschauen“, sagt Schmidt. „Sonst könnte es ausgerechnet dort ein Problem geben, wo ich nicht war.“ Dennoch macht sie der Bäuerin Hoffnung: „Dieses Mal haben wir keine Probleme gefunden. Dann können wir in den nächsten Jahren voraussichtlich kürzer kontrollieren.“ Bio-Tierhaltung Na, wie geht’s uns denn heute? Die meisten Bio-Konsumenten sorgen sich vor allem um das Tierwohl Foto: dpa/picture alliance ■■Vorschriften: Die EU schreibt für Biotiere – anders als für konventionelle – einen Zugang ins Freie und mehr Platz im Stall vor. Schnabel- oder Schwanzteile dürfen nicht amputiert werden. Die Tiere müssen fast ausschließlich Futter aus ökologischer Landwirtschaft erhalten. ■■Gesundheit: Trotz der besseren Bedingungen sind Biotiere im Schnitt nicht gesünder – von Ausnahmen abgesehen. Das stellten die Verbraucherorganisation Foodwatch und der Öko-Tierhal- tungforscher Albert Sundrum von der Universität Kassel/Witzenhausen fest. Bei Milchkühen etwa fanden sie ähnlich hohe Raten von Euterentzündungen. ■■Skandale: 2013 veröffentlichten Tierrechtler Bilder von Bio-Hennen, die kaum noch Federn hatten. Vor Kurzem geriet ein Öko-Schweinehalter in die Kritik, weil er Sauen zeitweise in engen Kastenständen hielt sowie Antibiotika einsetzte, welche die Richtlinien seines Bio-Verbandes verbieten. (jma) Demeter will weniger, aber genauer kontrollieren Deutschlands drittgrößter Bioverband setzt in Zukunft mehr auf risikoorientierte Kontrollen bei der Tiergesundheit. Die bisherige Praxis der flächendeckenden Überprüfung sei teuer und aufwendig. Nun sollen nur noch Spezialisten eingesetzt werden NEUERUNG BERLIN taz | Der Bioverband De- meter will die Kontrollen auf seinen Mitgliedsbetrieben künftig ändern. Ab Januar soll der Gesundheitszustand von Tieren dort nicht mehr jedes Jahr im Detail überprüft werden. „Aber die Betriebe, die wir kontrollieren, überprüfen wir sehr viel intensiver, als wir es bei einer flächendeckenden Kontrolle machen würden“, sagte Vorstandssprecher Alexander Gerber der taz. Demeter, der nach der Regeln der anthroposophischen Weltanschauung arbeitet, hatte die jährlichen „Tierwohl-Checks“ 2014 gemeinsam mit den anderen großen Bioverbänden eingeführt. Nun sagt Demeter-Chef Gerber aber: „Wir werden Tierwohlkontrollen risikoorientiert auf einer begrenzten Anzahl von Betrieben durchführen. Dazu gehören alle mit Mängeln im Kontrolldurchgang der zwei Vorjahre, Bestände mit stark erhöhtem Risiko, beispielsweise mit mehr als 3.000 Legehennen, und eine geringe Anzahl von Betrieben ermittelt aus einer Kombination von Zufallsprinzip und von den Landesverbänden benannten Problembetrieben.“ Risikoorientiert statt flächendeckend Im Gegenzug sollen die Kon trollen gründlicher werden. „Wir werden mit weniger, dafür besonders geschulten Kontrolleuren arbeiten“, so Gerber. Wenn jeder Betrieb überprüft werden muss, könne Demeter nicht zu jedem einen Inspektor schicken, „der auch Experte in Tierwohlfragen ist“, ergänzt der Vorstandssprecher. Spezialisten könnten gezielter Probleme erkennen. „Unsere These ist, dass uns bei Demeter mit einer sehr guten risikoorientierten Kontrolle weniger Problembetriebe durchrutschen als mit einer Kontrolle, die im Qualitätsniveau nicht ganz so hoch ist.“ Allerdings: Es sei noch nicht entschieden, wie sich die Demeter-Kontrolleure von denen der anderen Verbände unterscheiden würden, sagte der Funktionär. Bioland etwa verlangt von Tierwohl-Kontrolleuren mindestens eine eintägige Schulung im Stall. Sicher ist aber, dass das neue System für die meisten Betriebe weniger aufwendig und damit kostengünstiger ist. Bisher sind laut Gerber nur etwa 5 Prozent der rund 1.200 Demeter-Betriebe mit Vieh bei den Tierwohlkon trollen negativ aufgefallen, meist durch „Kleinigkeiten“. „Das heißt aber auch im Umkehrschluss, dass wir 95 bis 98 Prozent der Betriebe umsonst kontrollieren“, so der Vorstandssprecher. „Und die Kontrollen belasten die Be- triebe zusätzlich, sie verlängern die normale Öko-Kontrolle. Das kostet Geld, das wir jetzt in eine gezieltere Kontrolle stecken werden.“ Das Vertrauen der Verbraucher sichern Fragt sich, warum Demeter nicht alle Kontrolleure so weiterbildet, dass sie gut genug in Sachen Tierwohl werden. „Wenn wir jetzt flächendeckend in eine Kontrolleursqualität investieren würden, wie wir sie gern hätten, wäre das unbezahlbar.“ Schon bisher zahle Demeter jährlich 40.000 bis 50.000 Euro für diese Inspektionen. „Das würde exponentiell steigen.“ Deutschlands größter Ökobauernverband, Bioland, dagegen hält an den ausführlichen Kontrollen in allen Betrieben fest. Es sei sinnvoll, dass die Inspektionen alle Tierhalter für das Thema Tierwohl sensibilisierten, sagt Pressesprecher Gerald Wehde. Außerdem sicherten die flächendeckenden Kontrollen das Vertrauen der Verbraucher. Und Wehde führt auch ein politisches Argument an: Die Bioverbände würden sich ja bei der Reform der EU-Ökoverordnung gerade dafür einsetzen, dass die normalen Bio-Kontrollen flächendeckend und nicht risikoorientiert blieben. JOST MAURIN Reportage Automatisierung DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 05 Der chinesische Gerätehersteller Midea schluckte die deutsche F irma Kuka. Besuch bei einem Konzern, der Robotern das Lernen beibringt Kooperation. Und Google lässt Roboter bereits kollaborativ neue Probleme lösen, indem sie ihre Fähigkeiten jeweils ergänzen. Cloud-Robotics habe einen „Katalysator-Effekt“, prognostiziert Gill Pratt. Der Mann arbeitete lange für die führende Forschungsbehörde des US-Militärs, die die Entwicklung künstlicher Intelligenz maßgeblich anschob. Pratt arbeitet nun als Chef beim Toyota Research Institute, das im Silicon Valley nun ein Forschungslabor für Robotik und künstliche Intelligenz aufbaut. Investitionsvolumen: eine Milliarde US-Dollar. Industrie 4.0 Mensch und Maschine freunden sich an: Kuka-Roboter im Einsatz bei der Eröffnung der Paralympics in Rio de Janeiro 2016 Foto: Jens Büttner/dpa Die Roboterfabrik Die Firma Kuka baut und entwickelt Roboter. Als Steuerungstechnologie dient künstliche Intelligenz. Zunehmend arbeiten Menschen und Maschinen gemeinsam. „Das rettet Arbeitsplätze“, glaubt der Betriebsrat AUS AUGSBURG KAI SCHLIETER In einem Industriegebiet im Osten von Augsburg – schräg gegenüber von Netto und einem „Hendl & Haxn-Grill“ – versuchte die Bundesregierung vergeblich, die technologische Zukunft Deutschlands zu retten. Ein Neubau mit einem weißen Atrium und einer Wendeltreppe, die so nahtlos aussieht, als hätte sie ein 3-D-Drucker ausgespuckt: der Hauptsitz von Kuka Roboter. Als der chinesische Haushaltsgerätehersteller Midea ver kündete, Kuka zu schlucken, drohte Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) mit Widerstand. Doch er überschätzte sich, und kurz darauf übernahm der chinesische Konzern die Zukunft Deutschlands per Kapitalgesellschaft auf den britischen Jungferninseln. Für 4,5 Milliarden Euro hält Midea nun etwa 96 Prozent der Kuka-Aktien. Hinter dem futuristischen „Headquarter“ reihen sich die Produktionshallen auf, und in einer von ihnen kommt gerade ein freundlicher Herr mit Poloshirt des Weges, der offensichtlich die meisten der Arbeiter hier kennt. Grüß Gott, Armin Kolb, Vorsitzender des Betriebsrats für rund 3.500 „Kukaner“ am Standort Augsburg. Kolb ist ein kräftiger Mann, graues Haar, einer, der oft lächelt und vor 39 Jahren hier seine Lehre begann. Da stellte Kuka noch Müllfahrzeuge her. Er grüßt die Kollegen, hält ein Schwätzchen, aber auf deutsche Spitzenpolitiker sollte man ihn besser nicht ansprechen, dann verfinstert sich seine Laune. Hinter ihm wuchten in einer Reihe von Gitterkäfigen massige orange Roboterarme Bauteile. 4.600 Kilo schwer, 1.300 Kilogramm Traglast, über drei Meter Reichweite: „Titan kann sich selbst heben und deswegen auch bauen“, sagt Armin Kolb zu dem Roboterkoloss. In dieser Fabrik replizieren sich die Maschinen, allerdings noch mit menschlicher Unterstützung. Einsatzgebiet von Titan: die Automobilindustrie. Dieser Geschäftszweig macht 50 Prozent aus. Tendenz sinkend, denn Kuka verringert die Abhängigkeit von der Industrie, deren Krise Kuka 2008 selbst ins Schlingern brachte. Seither erschließt der Konzern weitere Märkte. Zunehmend verlassen Roboter die Fabrikhallen und erledigen Servicedienste, verteilen Medikamente in Kran- Hier replizieren sich die Maschinen – noch mit menschlicher Unterstützung kenhäusern oder automatisierten Apotheken. Kuka kaufte mit Swisslog Spezialisten für die Automatisierung großer Warenlager. Und hier in Augsburg bauen sie die Roboterarmada, die dieser neuen Welt den Weg bereitet. Mit 12.000 Mitarbeitern weltweit zählt Kuka zu den führenden Konzernen in dem Segment. Werkstattgeräusche, Schrauben, Zischen, Fiepen. Hinter dem Gitter der mächtige Arm von Titan, der seine Schwerlast auf Millimeter mit Nachkommastelle exakt bewegt und hebt. Immer und immer wieder. In anderen Hallen werden Einzelteile gefräst und geschweißt: ebenfalls von Robotern. Präzise, optimiert und in Echtzeit überwacht. Kolb schiebt Besucher manchmal sanft zur Seite, weil in der etwa 200 Meter langen Werkshalle auf markierten Wegen Gabelstapler kreuzen. Nach dem aktuellen Softwareupdate düst hier demnächst der Leichtbauroboter „KMR iiwa“ herum. Batteriebetrieben und mit Industrie-WLAN. iiwa findet seinen Arbeitsort mit Laser, Sensorik und Kamera. Das Kürzel steht für „intelligent industrial work assistant“. Er bringt den Mechatronikern Werkzeuge und Teile für die Fertigung weiterer Roboter. Kukas Q Hinter einer Plexiglasscheibe greifen Roboterarme in Ablagen und holen sich Zahnräder, Schrauben oder Gummiringe. „Die Plexiglasscheibe ist nur dafür da, falls mal ein Gummiring abspringt“, sagt Johannes Kurth. Der Head of Engineering Advanced Technology Solution ist so etwas wie Kukas Q – der Techniktüftler, der James Bond mit Hightech ausstattete. Johannes Kurth fände diesen Vergleich wohl unpassend. Er trägt ein einfaches Sakko und faltet bei Sprechpausen die Hände. „Sie kennen sich aus mit Robotik? Roboter haben sechs Achsen, um jeden Punkt zu erreichen. Unsere haben sieben Achsen, wie ein Mensch mit Ellenbogen.“ Kurth schwärmt von seiner Arbeit, „denn das ist die Zukunft“. Und um diese Zukunft zu bauen, muss er verstehen, wie Menschen funktionieren. Die feine Motorik, die Sensorik der fünf Finger erscheint ihm mit wachsender Expertise in Robotik immer wundersamer. Die Hand, sagt Johannes Kurth entzückt, „ist ein Roboter mit 20 Achsen“. War der Entwickler zuvor zehn Jahre in der Forschungs- abteilung von Kuka verantwortlich, so kümmert er sich heute um den „LBR“ – den Leichtbauroboter. Ein kleines Gefährt, das an ein vergrößertes Raumfahrzeug erinnert. Bei der Entwicklung des LBR beteiligten sich auch Robotikspezialisten des Deutschen Zentrums für Luftund Raumfahrt (DLR). Vier Räder, die sich auf der Stelle drehen können. „Omnidirektionale Bewegung“ garantiert maximale Wendigkeit, verkürzt Leerzeiten und schont bei der tonnenschweren Variante den Bodenbelag. Deutsche Perfektion. Am Armende des Roboters befindet sich der „Effektor“, wie Kurth sagt. So heißen die Greifer, die je nach Einsatz aufgesetzt werden können. 1973 baute Kuka „Famulus“ – den ersten Industrieroboter der Welt. Die Gitterkäfige von einst, die Menschen vor Robotern wie Titan schützen, verschwinden heute. Dafür soll auch der LBR sorgen. Kurth beschäftigt sich also mit dem nächsten Schritt: der Mensch-Roboter-Kooperation. Die hat bereits ein eigenes Kürzel – „MRK“ – und ist seit Anfang des Jahres in der ISO-Norm 15066 geregelt. Biomechanische Grenzwerte definieren die Schmerzschwelle im Kontakt von Mensch und Maschine. Beim LBR messen Momentsensoren diesen Kontakt. Es lassen sich Freiheitsgrade festlegen, in denen sich der Roboterarm für bestimmte Arbeitsabläufe trainieren lässt. Man kann den Arm bewegen, man spürt dann auch einen Widerstand, der nachgibt, als steckte ein eigener Wille in der Maschine. Der Effektor lässt sich gezielt platzieren und nun wiederholt der Roboter das Gelernte. Er setzt Bewegung in Programmcode um. Bis hin zu komplexen Abläufen. Industrieroboter ■■Die Zahl der weltweit eingesetzten Industrieroboter wird laut Prognose der International Federation of Robotics (IFR) bis 2019 auf rund 2,6 Millionen Einheiten steigen. Das sind rund eine Million Einheiten mehr als im Rekordjahr 2015. ■■Europaweit setzt Deutschland die meisten Roboter ein: 301 auf 10.000 Arbeitnehmer. Weltweit liegt Deutschland hinter Korea (531), Singapur (395) und Japan (305) auf Platz 4. In China sind es 49 Roboter pro 10.000 Arbeitnehmer. Bis 2020 sollen es 150 Einheiten werden. In diesem Zusammenhang steht wohl der Kauf von Kuka. (kas) Auch bei Kuka geht es neben dem Bau der Roboter zunehmend um die Steuerungstechnologie: künstliche Intelligenz. Hunderte Softwareentwickler beschäftigt Kuka. „Deep Learning“ – selbstlernende Software, die mathematisch die Funktion und Anpassungsfähigkeit neuronaler Netze simuliert. Das gilt als Durchbruch für künstliche Intelligenz und erobert ständig neue Einsatzbereiche. Der japanische Weltmarktführer Farnuc arbeitet an Robotern, die andere Roboter unterrichten. Beispielsweise, um Objekte zu erkennen, Bewegungsabläufe zu erlernen, bis hin zu komplexen Produktionsschritten. Haben Roboter über Nacht mit Versuch und Irrtum bestimmte Funktionen erlernt, können sie diese „Erfahrungen“ künftig als Daten in einer digitalen Wolke ablegen und zur Verfügung stellen. „Cloud-Robotics“ erforscht auch Kuka. In Austin, Texas, schloss der Konzern mit Huawei, einem chinesischen IT-Giganten, Anfang des Jahres eine Damit auch Roboter von Kuka schneller lernen, sind Erfahrungen nötig – also Daten. Kuka digitalisiert sämtliche Prozesse der Fabrik, um sie immer weiter in Echtzeit zu messen und optimieren zu können. „Industrie 4.0“ nennt sich das. Johannes Kurth weist darauf hin, dass auch der LBR dazu praktische Dienste leistet: „Roboter sind hervorragende Datensammler.“ Kurth faltet seine beiden 20-achsigen Roboter vor seinem Sakko und sagt, er arbeite an der „Marktdurchdringung mit Leichtbaurobotern“. Man glaubt es ihm sofort. LBR-Arme sortieren Bauteile. Ruckartige Bewegungen, hypnotisierend in der Genauigkeit ihrer Wiederholung, Präzision jenseits aller Natürlichkeit, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Leistung ohne Pausen und Arbeitnehmerrechte: der Traum aller Fabrikanten. Angesichts der heutigen Automatisierung – selbst Juristen, Investmentbanker und Nachrichtenjournalisten werden bereits von lernender Software ersetzt – stellt sich die Frage, was mit den Menschen geschehen soll. Die Universität Oxford und McKinsey prognostizieren unabhängig voneinander, dass bis 2030 fünfzig Prozent der Jobs durch Automatisierung gefährdet seien. US-Präsident Barack Obama warnte kürzlich, dass in den USA bereits 2025 womöglich 60 Prozent der Jobs von Robotern ersetzt werden könnten. Der Rechtsausschuss des EU-Parlaments empfahl der EUKommission im Mai, die Kategorie der „elektronischen Person“ im Zivilrecht zu verankern. Eine Revolution findet statt. Ethische Fragen: völlig ungeklärt. Als Betriebsratsvorsitzender hat Armin Kolb deswegen einen skurrilen Job: Arbeitnehmervertreter einer Aktiengesellschaft, deren Kerngeschäft die Automatisierung, mithin also die Vernichtung von Arbeitsplätzen bedeutet? Er lacht und sagt, Roboter würden die Jobs seiner Kollegen nicht zerstören. „Die retten Arbeitsplätze.“ Sie würden die Produktivität und Konkurrenzfähigkeit Deutschlands erst sichern angesichts der höheren Lohnkosten hierzulande. Auf der Homepage verweist Kuka darauf, vorgelesen von einem Softwareroboter, dass in Deutschland bis 2025 vier Millionen Fachkräfte fehlen würden. „Schauen sie sich mal die Über-Kopf-Arbeit in der Automobilindustie an. Das macht keinen Spaß“, sagt Kolb. Gesundheitsschädliche Arbeitsplätze zu ersetzen, sei eine Errungenschaft. Bei Ford montieren Werksarbeiter „kollaborativ“ mit dem LBR von Kuka die Stoßdämpfer. Das erfreut einen Betriebsrat der Automatisierungsindustrie. 06 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Inland DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 NACH RICHTEN I NTERN ET-VERSAN DHÄN DLER AMAZON ZWIST I N GRÜN EN-SPITZE UNTERLASSEN E H I LFELEISTUNG SERI EN-BRAN DSTI FTER DAS WETTER Beschäftigte streiken für Tarifvertrag Peter über Özdemir: „Verhältnis ist gut“ Polizei kennt Namen der Bankkunden Feuerwehrmann unter Verdacht Noch einmal 18 Grad im Süden BERLIN | Grünen-Chefin Simone ESSEN | Im Fall der unterlassenen Peter hat den Dauerstreit zwischen sich und ihrem Co-Vorsitzenden heruntergespielt. „Das Vertrauensverhältnis zwischen Cem Özdemir und mir ist gut“, sagte Peter am Montag nach einer Bundesvorstandssitzung. Das Verhältnis zwischen den beiden gilt bei den Grünen als belastet, wenn nicht als zerrüttet. Im Spiegel lässt sich Peter mit dem Satz zitieren: „Das Amt der Bundesvorsitzenden beinhaltet, Kompromisslinien zu finden und die Partei im Team zu führen, nicht als Ich-AG.“ (us) Hilfeleistung für einen hilflosen Mann in einer Essener Bankfiliale hat die Polizei gestern von der Bank Namen der Bankkunden erhalten, mit deren Karten im betreffenden Zeitraum Geldgeschäfte erledigt wurden. Die Polizei geht davon aus, dass alle auf dem Video zu sehenden Personen mit ihren eigenen Karten am Geldautomaten waren. Der 82-Jährige war im Bankvorraum zusammengebrochen. Vier Kunden kümmerten sich anschließend nicht um den Mann und riefen auch keine Hilfe. (dpa) BÜCKEBURG | Erneut steht ein niedersächsischer Feuerwehrmann als Serienbrandstifter unter Verdacht. Der 23-Jährige soll im Landkreis Schaumburg rund ein Dutzend Brände gelegt haben. Gegen den Mann wurde Haftbefehl erlassen. Der Verdächtige hat mehrere Taten gestanden. Die Ermittler werfen dem 23-Jährigen vor, seit Anfang September unter anderem mehrere Fahrzeuge in Brand gesetzt zu haben. Sie waren dem Feuerwehrmann auch nach Hinweisen aus der Bevölkerung auf die Spur gekommen. (dpa) Es gibt noch einmal einen recht schönen Herbsttag, bevor morgen der dicke Wetterumschwung kommt. Tief „Gisi“ erreicht heute schon den Norden, aus einem bewölkten Himmel kann es dort immer wieder regnen und der Wind weht frisch, an den Küsten auch böig. In der Mitte und im Süden wird es aber freundlich mit auch längeren sonnigen Abschnit- ten. Die Höchsttemperaturen erreichen von Nordost nach Südwest 10 bis 18 Grad. MÜNCHEN | Um Amazon zu Ver- Macht hauseigene Löhne: Amazon Foto: reuters handlungen über einen Tarifvertrag zu bewegen, haben Mitarbeiter des weltgrößten Versandhändlers gestern an fünf deutschen Standorten gestreikt. Rund 1.000 Beschäftigte in Koblenz, Bad Hersfeld, Rheinberg und Werne sowie in Graben ließen in der Frühschicht die Arbeit ruhen. „Die Beschäftigten verlangen existenzsichernde Löhne und gute Arbeitsbedingungen per Tarifvertrag“, sagte Verdi-Vorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger. Amazon lehnt Verhandlungen über einen Tarifvertrag ab. (dpa) Bundespräsident fordert mehr „Entängstigung“ Gauck warnt anlässlich des LutherJubiläums vor „Gnadenlosigkeit“ in Internetforen REFORMATION BERLIN taz | Zum Auftakt des Ge denkjahres für den Beginn der Reformation vor 500 Jahren haben Papst Franziskus und Bundespräsident Joachim Gauck die Bedeutung des Reformators Martin Luther hervorgehoben – ebenso wie den Wert der Freiheit und der Gnade im Zusammenleben. Im schwedischen Lund feierte Franziskus als Oberhaupt der katholischen Weltkirche einen Gottesdienst mit führenden Köpfen des Lutherischen „Es macht sich ein Ungeist der Selbstge rechtigkeit breit“ JOACHIM GAUCK, BUNDESPRÄSIDENT Weltbundes – ein historisches Ereignis. Gauck sprach auf einem staatlichen Festakt zur Eröffnung des Reformationsjubiläums im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin. Der Expfarrer Gauck betonte in seiner Rede: Das Verlangen nach demokratischer Teilhabe habe eine seiner Wurzeln im reformatorischen Mündigwerden: „Es ist ein kostbares Erbe.“ Zum Drang nach Freiheit, einem Kern der Reformation, gehöre aber auch die Selbstbindung an ein Gewissen – egal, ob jemand gläubig sei oder nicht. „Diese Bindung ans Gewissen macht frei – frei zu einem selbständigen, verantwortlichen, gewissenhaften Leben.“ Das heutige Deutschland sei „nicht denkbar ohne die Reformation“, so Gauck. Auch wegen des durch sie geförderten Buchdrucks sei die Kultur Eu- ropas „eine Kultur des Buches, des Wortes, der Schrift“. So sei eine wichtige Grundlage gelegt worden „für Vernunft und rationale Durchdringung der Welt“. Der Bundespräsident mahnte, die Gesellschaft solle den für den Reformator so wichtigen Begriff der Gnade hochhalten. Es mache sich aber in der deutschen Gesellschaft etwa in Internetforen „ein Ungeist der Gnadenlosigkeit breit, des Niedermachens, der Selbstgerechtigkeit und Verachtung“, „der für uns alle brandgefährlich ist“. So wie Luther durch die Hoffnung auf die Gnade Gottes seine Angst verloren habe, brauche auch die heutige Zeit voller Ängste „Agenten der Entängstigung“. Auch der Berliner Bischof Markus Dröge hatte zuvor in einem Festgottesdienst zum Jubiläum in Berlin dazu aufgerufen, der „Voraus-Angst“, die manche in der Gesellschaft verbreiteten, ein „Voraus-Vertrauen“ im Sinne der Reformation entgegen zu stellen. Papst Franziskus gedachte vor dem Abflug nach Lund der „Ökumene des Blutes“: „Wenn Christen verfolgt und ermordet werden, werden sie ausgesucht, weil sie Christen sind, nicht weil sie Lutheraner, Calvinisten, Anglikaner, Katholiken oder Orthodoxe sind.“ Die Kirche sehe in Luther keinen Häretiker mehr. Er habe „einen großen Schritt getan, indem er das Wort Gottes in die Hände der Menschen legte“, so Franziskus. Bis zum 31. Oktober 2017 erinnern Hunderte von Veranstaltungen weltweit an die Thesenveröffentlichung Luthers 1517 in Wittenberg. PHILIPP GESSLER Keine Sicherheit im Maghreb ASYL Tunesien, Algerien und Marokko sind nicht so „sicher“, wie die Bundesregierung vorgibt. Das zeigen Unterlagen, mit denen das Bundesamt für Migration arbeitet Lebensentscheidend: Anhörung von Asylbewerbern im Bundesamt für Migration Foto: Frederik von Erichson/dpa AUS BERLIN RALF PAULI Die Kölner Silvesternacht lässt den Innenminister nicht los. Erst musste Thomas de Maizière (CDU) am Montag dem Untersuchungsausschuss des NRWLandtags Rede und Antwort zur Rolle der Bundespolizei in jener Nacht stehen. Und nun scheinen Akten des ihm unterstellten Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) zu belegen, dass sich die Bundesregierung die Menschenrechtslage in Nordafrika zurechtdichtet, um Asylbewerber aus der Region schneller abschieben zu können – was nach der Kölner Silvesternacht ihr erklärtes Ziel ist. Als sich herausstellte, dass vor allem Männer aus Nordafrika für die sexuellen Übergriffe rund um den Hauptbahnhof verantwortlich waren, hat die Bundesregierung beschlossen, Marokko, Tunesien und Algerien als „sichere Herkunftsstaaten“ einzustufen. Das entsprechende Gesetz verabschiedete der Bundestag im Mai. Nun kam heraus, dass BamfExperten bei den drei Maghrebstaaten zu einer ganz anderen Einschätzung kommen. Marokko, Tunesien und Algerien sind für politisch Verfolgte, Frauen und Homosexuelle bei Weitem nicht so sicher wie von der Bundesregierung vorgegeben. Das berichtete am Sonntag Zeit Online mit Verweis auf die sogenannten Herkunftsländerleitlinien, die Aufschluss über die politische Lage vor Ort geben und den Bamf-Mitarbei- „Das Gesetz ist eindeutig innen politisch motiviert“ MAXIMILIAN PICHL, PRO ASYL terInnen bei Asylentscheidungen helfen sollen. Wie weit Regierung und Bamf in ihren Einschätzungen ausein anderliegen, zeigt sich, wenn man die Leitlinien dem Gesetzestext gegenüberstellt. Dort heißt es beispielsweise: „Staatliche Repressionen, die allein wegen Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfolgen, sind in Algerien nicht feststellbar.“ Deshalb stünde einer „Einstufung Algeriens als sicherer Herkunftsstaat nichts entgegen.“ Das Bamf hingegen stellt fest: „In Algerien ist die Verfolgung von Seiten des Staats […] sowie anderer Akteure nicht auszuschließen“. Legt man diese Einschätzung zugrunde, kann das Land nicht als „sicher“ eingestuft werden, sagt Maximilian Pichl von Pro Asyl und fordert die Bundesregierung auf, den Gesetzgebungsprozess „zu beerdigen“. Der Bundesrat muss dem Gesetz noch zustimmen. Wenn die Bundesregierung wie im Falle Tunesiens selbst einräumt, über Fälle staatlicher Folter Bescheid zu wissen, und das Land dennoch als „sicher“ einstuft, geschehe dies eindeutig aus einer innenpolitischen Motivation heraus. Dass die Bamf-Leitlinien so sehr vom Gesetzestext abweichen, ist erstaunlich. Schließlich basiert die Bamf-Einschätzung weitgehend auf Informationen aus dem Auswärtigen Amt. Dieselben Informationen haben auch der Bundesregierung zur Verfügung gestanden, bestätigt eine Sprecherin des Innenministeriums. Zur Diskrepanz zwischen Gesetzestext und der politischen Lage vor Ort will sie sich nicht äußern. Unklar ist auch, warum das Bamf den Widerspruch nicht angesprochen hat. Bei der Anhörung im Innenausschusses im April war auch eine Bamf-Mitarbeiterin geladen. Sie äußerte jedoch keine Bedenken am Gesetzesentwurf – sondern begrüßte ihn. Von dem Gesetz werde ein Signal ausgehen, das zu weniger „unberechtigten Asylantragstellungen“ führen werde. Nahles will Rentenschutzlücken schließen Kapuzenpulli ALTERSSICHERUNG Aus 100% fair gehandelter Öko-Baumwolleund ausschließlich mit erneuerbarer Energie aus Windkraft verarbeitet. Earth-PositiveTM-Kleidung. Mit rotem PanterAufdruck. ministerin Andrea Nahles (SPD) will neue Vorschläge gegen drohende Altersarmut von Geringverdienern und Selbstständigen vorlegen. Im Rentendialog mit Verbänden, Gewerkschaften und Arbeitgebern kündigte sie laut Teilnehmern an, sich von den bisherigen Konzepten für eine Lebensleistungsrente zur Aufwertung von kleinen Renten zu verabschieden. Das Ziel, die Lebensleistung auch von Geringverdienern besser in der Rente zu würdigen und Betroffene vor Altersarmut zu schützen, lasse sich nicht gut genug innerhalb der Rentenver- € 3500 , 10 % Rabatt für taz-AbonnentInnen & taz-GenossInnen taz Shop | taz Verlags- und Vertriebs GmbH Rudi-Dutschke-Straße 23 | 10969 Berlin T (030) 25 9021 38 | F (0 30) 2590 25 38 [email protected] | www.taz.de/shop Arbeitsministerin kündigt neue Vorschläge gegen drohende Altersarmut an BERLIN dpa/taz | Bundessozial- sicherung lösen. Laut Koalitionsvertrag sollen die Rentenpunkte langjähriger Beitragszahler mit niedrigen Rentenanwartschaften aufgewertet werden. Ein Problem dabei: Viele Kleinrentner leben in Haushalten mit hohem Einkommen und sind gar nicht arm. Verbessern will sie auch die Alterssicherung von Selbstständigen. Dort gebe es eine Schutzlücke, sagte Nahles nach dem Treffen. Sie wolle die Absicherung für die Rente und für den Krankheitsfall gemeinsam betrachten, sagten Teilnehmer eines internen Treffens. Nahles strebe auch Verbesserungen für Erwerbsgeminderte an. Derzeit müssen Erwerbsminderungsrentner Abschläge von 10,8 Prozent hinnehmen. Viele sind zusätzlich auf Grundsicherung angewiesen. In einem internen Treffen machte sich Nahles für eine „doppelte Haltelinie“ stark. Das Rentenniveau dürfe nicht zu tief fallen, die Beiträge dürften nicht zu stark steigen. Der Sozialverband VdK forderte deutliche Schritte beim Rentenniveau. „Wir können den Rentnern schwer erklären, dass Milliarden für die Bankenrettung zur Verfügung gestellt werden, aber wir uns eine Stabilisierung des Rentenniveaus nicht leisten können“, so VdK-Präsidentin Ulrike Mascher. Die Linkspartei forderte eine Anhebung statt einer Absenkung des Rentenniveaus. „AlibiHaltelinien beim Rentenniveau, wie von Andreas Nahles vorgeschlagen, führen in letzter Konsequenz trotz steigender Beiträge in Zukunft zu immer niedrigeren Renten“, kritisierte der rentenpolitische Sprecher der Linksfraktion, Matthias W. Birkwald. Nur wenn das Rentenniveau wieder deutlich angehoben werden würde, würde die gesetzliche Rente auch in Zukunft den Lebensstandard im Alter wieder sichern. Inland DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Söder, Seehofer und der Weltuntergang MACHT Auf dem Parteitag in München gibt sich die CSU ein neues Grundsatzprogramm. Am Rande des Podiums wird man über Nachfolge oder Verbleib Horst Seehofers diskutieren, mit viel „Quatschi-Quatschi“ AUS MÜNCHEN DOMINIK BAUR Es vergehen nur wenige Sekunden, bis Horst Seehofer selbst den Weltuntergang relativiert hat. Da müsse schon der Himmel über Bayern zusammenbrechen, dass er schon vor Ende der Legislaturperiode im Herbst 2018 sein Amt als Ministerpräsident aufgebe, hat er eben noch gesagt. Doch dann: „Das können Sie als Politiker nie ausschließen.“ Und kurz zuvor wollte der Politiker im ZDF noch nicht einmal eine Spitzenkandidatur für den Bundestag im kommenden Jahr ausschließen. Solchermaßen von ihrem Chef verwirrt geht die CSU in ihren diesjährigen Parteitag am kommenden Freitag und Samstag. Denn nicht wenige Christsoziale beschäftigt derzeit die Frage, wer Partei und Land in Zukunft führen wird. Offiziell ist das auf dem Parteitag jedoch kein Thema, um das neue Grundsatzprogramm der Partei soll es stattdessen gehen. Ein Grundsatz kommt in dem 41 Seiten starken Entwurfspapier jedoch nicht vor: „Wir brauchen jetzt keine Personaldiskussion.“ Was fast schon erstaunlich ist. Denn schließlich wird kein Satz von CSU-Politikern derzeit ähnlich häufig wiederholt – freilich nicht, ohne dem Spruch dann immer gleich den neuesten Beitrag zu eben jener Diskussion folgen zu lassen. Auch Parteichef Seehofer, der für solcherlei Geplänkel sogar das bayerische Politvokabular um den Begriff des „Quatschi-Quatschi“ erweitert hat, beteiligt sich nur allzu gerne daran. Sicher ist zumindest schon mal Folgendes: Im kommenden Jahr wird Markus Söder, Finanzminister in Bayern, von Horst Seehofer den Parteivorsitz übernehmen – es sei denn, Seehofer bleibt im Amt oder überlässt den Vorsitz jemand anderem. Außerdem steht fest, dass der neue (oder alte) Vorsitzende spätestens nach der Landtagswahl im Jahr 2018 auch das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen (beziehungsweise behalten) oder es jemand anderem überlassen wird. Alles, was darüber hinaus geht, ist reine Orakelei. Das Problem: 2017 ist Bundestagswahl, und Horst Seehofer möchte die CSU hierfür in Berlin gut aufgestellt wissen. Das ist Markus Söder (links) und Horst Seehofer: Bayern ist klein für diese zwei Egos Foto:Sven Hoppe/dpa Merkel kommt nicht ■■Angela Merkel kommt nicht zum CSU-Parteitag. Dies teilte Horst Seehofer seinem Parteivorstand offiziell mit. Er begründete dies nach Teilnehmerangaben damit, dass man kein Schauspiel abgeben, sondern ehrlich mit der Bevölkerung umgehen wolle. Man wolle keine Gemeinsam- keit inszenieren. Denn in der Zuwanderungsfrage habe man bei Weitem noch keine Einigung erzielt. Nötig sei „ein in sich schlüssiges Konzept, das wir noch nicht haben“. Es ist das erste Mal in Merkels Kanzlerschaft, dass sie nicht zu einem CSU-Parteitag kommt. Seehofer betonte, die Entscheidung sei in Übereinstimmung erfolgt. Ob er selbst zum CDU-Parteitag im Dezember fahren wird, ließ er offen. Seehofer rief die Unionsparteien ungeachtet ihrer Differenzen zum gemeinsamen Kampf gegen ein rot-rot-grünes Bündnis auf Bundesebene auf. (dpa) verständlich. Seehofer prophezeit einen knallharten Wahlkampf, bei dem die CSU sich nur behaupten könne, wenn sie mit einem „Alphatier“ in Berlin vertreten sei. Er könne schließlich nicht „ewig den Libero machen“, beklagte sich Seehofer jüngst via Bild am Sonntag. „Einmal Schachzug Seehofers, den ungeliebten Parteifreund loszuwerden. Denn zumindest als Ministerpräsident käme Söder dann wohl fürs Erste nicht infrage. Aber genau das will Söder werden. So sehr die CSU ansonsten für schnelle Abschiebungen eintritt, so sehr pocht Söder in diesem Fall auf sein Bleiberecht. Bleibt er aber, könnte ihm das den Vorwurf einbringen, er habe die Interessen der Partei den eigenen hintangestellt. Geht es also wieder mal nur um die Befindlichkeiten zwischen den beiden CSU-Schwergewichten? Dass Seehofer und Söder sich nicht wirklich leiden können, ist in Bayern Allgemeingut, wird von beiden auch eher pflichtschuldig als überzeugend bestritten. Immer wieder heißt es, Seehofer glaube, Söder habe der Bild 2007 erzählt, dass er, Seehofer, eine außereheliche Affäre habe, und so seinen ersten Anlauf auf den Parteivorsitz torpediert. Doch das sind recht viele Konjunktive für einen Satz. Vielleicht ist es schlicht so, dass die CSU-Spitze nicht genug Platz für zwei derart große Egos bietet. Zudem entstammen die beiden Zweimetermänner völlig unterschiedlichen politischen Kulturen. Während Seehofer durchaus von – vor allem sozialpolitischen – Grundsätzen getrieben ist, unterstellen Beobachter seinem Kontrahenten allenfalls karrierepolitische Grundsätze. Beim letzten Parteitag hat Seehofer sein schwieriges Verhältnis zu Söder schon einmal direkt angesprochen – und heruntergespielt. „Ich mach Fehler“, sagte er, „Markus Söder macht Fehler.“ Es werde immer mal wieder „gewisse Vorkommnisse mit einem gewissen Unterhaltungswert“ geben, bei allen Scharmützeln werde aber immer das Parteiwohl an erster Stelle stehen. Soll tatsächlich ein neuer Parteichef der CSU in Berlin stärkeres Gewicht verleihen, bleibt nicht mehr viel Zeit. Turnus- „Ich mach Fehler. Markus Söder macht Fehler“ HORST SEEHOFER soll ich die absolute Mehrheit in München holen und dann die bayerischen Interessen in Berlin durchsetzen.“ Damit die Partei sich „personell verbreitere“, so lockte Seehofer, wäre er auch bereit, den Parteivorsitz abzugeben. Viele wollten darin eine Aufforderung an Markus Söder sehen, nach Berlin zu gehen – und gleichzeitig einen geschickten mäßig wird der Vorstand erst im nächsten Herbst wieder gewählt. Dann ist die Bundestagswahl gelaufen. Am wahrscheinlichsten wäre daher ein Sonderparteitag im Frühjahr. Seehofer selbst kündigte an, die Personalentscheidungen würden im ersten Quartal 2017 fallen. Heiß wird in der CSU auch die Grundsatzfrage diskutiert, ob eine Trennung der beiden Ämter der Partei mehr oder weniger Durchschlagskraft verleihen würde. Söder ist natürlich dafür, beides in einer Person zu vereinen, in seiner. Seehofer sieht das neuerdings anders. Ein Blick auf die Parteigeschichte zeigt, dass es in der CSU bisher durchaus gängige Praxis war, das Ministerpräsidentenamt vom CSUVorsitz zu trennen. Und dass jemand beide Ämter gleichzeitig antrat, hat es vor Seehofer noch nie gegeben. Aber wer außer Söder käme überhaupt für die SeehoferNachfolge in Frage? Parteivize Manfred Weber? Regierungsvize Ilse Aigner? Innenminister Joachim Herrmann? Oder gar ein Überraschungskandidat, den momentan noch niemand auf der Rechnung hat? Die „bayerische Staatskanzlei“ jedenfalls hat vergangene Woche schon mal eine Stellenanzeige aufgegeben. Ein „Bundespräsident (m/m)“ wurde darin gesucht. Das gewünschte Profil: „Zwischen 48 und 50, tier- und frauenlieb, stattliche Erscheinung, Erfahrung in der Leitung heimatbezogener Ministerien …“ Als Aufgaben wurden unter anderem „viele Reisen außerhalb Bayerns“ und das „Ausmischen aus dem poli- Die beiden Schwer gewichte kommen aus unterschied lichen Kulturen tischen Tagesgeschäft“ genannt. Um irrtümliche Bewerbungen vollends auszuschließen, folgte noch der Hinweis: „Bei gleicher oder höherer Qualifikation wird Markus Söder bevorzugt.“ Gut, verbreitet wurde die Anzeige via Twitter vom BR-Satiremagazin Quer, ihre Authentizität ist daher nicht zweifelsfrei gesichert. Horst Seehofer jedenfalls dürfte sie gefallen haben. 07 Saar-AfD macht weiter Schiedsgericht stoppt Auflösung WAHL BERLIN taz | Nach den vergan- genen Landtagswahlen war die Reaktion der AfD-Bundesspitze stets so: Frauke Petry und Jörg Meuthen traten in Berlin vor die Presse, freuten sich über den neuen Erfolg und verkündeten das Ziel, im September 2017 in den Bundestag einzuziehen. Im März, wenn das Saarland einen neuen Landtag wählt, könnte es anders kommen. In einer Mail an die Mitglieder haben Petry und Meuthen im Namen des Bundesvorstands den saarländischen Landesvorstand aufgefordert, nicht an der Wahl teilzunehmen und die Kandidatenlisten zurückzuziehen: „Dieser Schritt sollte mit Rücksicht auf die Gesamtpartei im wichtigen Wahljahr 2017 erfolgen.“ Die AfD-Spitze reagiert damit auf eine Entscheidung des Bundesschiedsgerichts der Partei vom Wochenende. Dieses hatte entschieden, den Landesverband Saar nicht aufzulösen, obwohl der Bundesvorstand dies „aufgrund schwerwiegender Verstöße gegen die politische Zielsetzung und die innere Ordnung der Partei“ beschlossen hatte. Der Bundesparteitag war Ende April dieser Auffassung mehrheitlich gefolgt. Der Grund: Kontakte zu Rechtsextremisten von Landeschef Josef Dörr und auch von seinem Vize Lutz Hecker. Diese riefen das Schiedsgericht der Partei an – mit Erfolg. Zwar habe das Gericht den Anschuldigungen gegen Dörr und Hecker geglaubt, sagte Bundesvorstandsmitglied Dirk Driesang der taz. Die Auflösung des Landesverbands sei aber als „unverhältnismäßig“ eingestuft worden, weil sonst der ganze Landesverband für die Vorsitzenden in Mithaftung genommen worden wäre. „Aber im gesamten Landesvorstand gab es einen Mangel an Selbstreflexion“, so Driesang. Gegen Dörr und Hecker laufen nun noch Parteiausschlussverfahren. „Natürlich werden wir zur Wahl antreten“, sagt Landessprecher Rudolf Müller. Ganz vorn unten den Kandidaten: Dörr, Hecker und auch Müller selbst. Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft Saarbrücken, weil er in seinem Geschäft Hakenkreuzorden verkauft hatte. Alle drei haben gute Chancen, im Frühjahr in den Landtag einzuziehen. SABINE AM ORDE 08 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Wirtschaft + Umwelt DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 NACH RICHTEN SCHADSTOFFE REGIONALES SCH I EN EN N ETZ DATEN BAN K GI BT ÜBERBLICK ZAH L DES TAGES Jedes siebte Kind weltweit atmet giftige Luft Umweltschützer wollen mehr Geld Macht der Roboter bald meinen Job? Werbefuzzis wollen über den Kanal BERLIN | Bei den geplanten Mil- NÜRNBERG | „Macht ein Robo- liardeninvestitionen in Straßen, Schienen und Wasserwege kommen aus Sicht von Umweltschützern vor allem regionale Bahnprojekte zu kurz. „Die Bahn als alternativer Verkehrsträger ist auf der Strecke geblieben“, kritisierte der Vorsitzende des Bunds für Umwelt und Naturschutz, Hubert Weiger, den neuen Bundesverkehrswegeplan. Das Konzept sieht bis 2030 Investitionen von fast 270 Milliarden Euro in die Verkehrswege vor. 42 Prozent davon fließen in Schienenprojekte. (dpa) ter künftig meinen Job?“ – einen Überblick über die Ersetzbarkeit menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen, Roboter und Computerprogramme liefert seit dieser Woche eine Internetdatenbank. Interessierte können dort ihren Beruf eingeben – der „Job-Futuromat“ liefert dann Angaben zur „Automatisierbarkeit“ ihrer Arbeit als Prozentzahl. Initiiert hat die Datenbank die ARD im Rahmen ihrer Themenwoche zur „Zukunft der Arbeit“. Hier ist sie: https:// job-futuromat.ard.de. (dpa) For heaven’s sake! Der Brexit wird nun auch für uns Kontinentaleuropäer immer ungemütlicher: Nicht nur, dass erbsenzählende Banker aus London rübermachen, jetzt droht uns auch noch der Umzug dieser total überflüssigen Werbefuzzis: Weil die Umsätze „nur“ noch um 2,8 Prozent stiegen, will die weltgrößte Werbeagentur WPP sich nun stärker jenseits des Kanals engagieren – vor allem in Deutschland. NEW YORK | Das Kinderhilfswerk Unicef schlägt Alarm: 300 Millionen Kinder weltweit füllen ihre Lungen mit extrem giftiger Luft. Konkret ist jedes siebte Kind einer Luftverschmutzung ausgesetzt, die das Sechsfache oder mehr des von der Weltgesundheitsorganisation gesetzten Richtwerts überschreitet. Unicef veröffentlichte die auf Satellitendaten basierende Studie am Montag in New York. Demnach sind Kinder in Südasien, im Mittleren Osten und in Afrika sowie in der ostasiatischen und der Pazifikregion am stärksten gefährdet. Zu den am schlimmsten luftverseuchten Städten der Welt gehören demnach Onitsha (Nigeria), Zabol in Iran, das indische Gwallor, Riad in Saudi-Arabien sowie Peschawar im Nordwesten von Pakistan. Europa und Nordamerika sind auf der Unicef-Liste nicht zu finden. Der Bericht erscheint eine Woche vor Beginn der Klimakonferenz COP 22 in Marrakesch. Er appelliert an deren Teilnehmer, dem Gesundheitsrisiko für Kinder durch toxische Stoffe in der Luft mehr Beachtung zu schenken und die Belastung in ihren Ländern dringend abzubauen. (dpa) Stürmische Zeit für Windanlagenbauer Enercon Die Vorstands-Vizechefin muss gehen. Auslöser ist wohl ein Konflikt um die Strategie ENERGIE BERLIN taz | Deutschlands größ- ter Windkraftanlagenbauer Enercon steckt in Turbulenzen. Nach Konflikten um die Geschäftsstrategie hat die bisherige Vizevorsitzende des Vorstands, Nicole Fritsch-Nehring, aufgegeben. Enercon ist nach wie vor Marktführer in Deutschland, aber der Vorsprung zur Konkurrenz nimmt ab. „Auf eigenen Wunsch“ lege Fritsch-Nehring ihre Funktion bei Enercon zum 31. Oktober nie- Im deutschen Markt ist Enercon vor allem der Konkurrent Vestas auf den Fersen der, heißt es in einer Mitteilung des Unternehmens. Die Managerin war bisher Vizechefin der Aloys-Wobben-Stiftung, in der der Gründer seine Gesellschaftanteile gebündelt hat. Zugleich leitete sie als Geschäftsführerin die Konzerngesellschaft, die das operative Geschäft führt. Vorstandschef Hans-Dieter Kettwig und Simon-Hermann Wobben, ein Neffe des Gründers, werden Fritsch-Nehrings Aufgaben nun übernehmen. Zu den Gründen des Abgangs machte die Firma keine Anga- über, welche Aktivitäten Enercon selbst durchführen und welche man an externe Dienstleister auslagern solle. Beschäftigte berichten, dass im Vergleich zu früher mehr Logistik- und Wartungsaufträge an Fremdfirmen vergeben würden. Ein Unternehmenssprecher sagte dagegen, die Einbindung von Dienstleistern sei „nichts Neues“. Heute macht Enercon fast alles selbst. Das reicht von der Produktion der Türme für die Windanlagen, der Generatoren und Rotorblätter bis zu Aufbau und Wartung der Kraftwerke. Die Fertigungstiefe soll 80 Prozent betragen. Die Firma lebt von hochentwickelten, dafür aber auch relativ teuren Anlagen. Die rund 20.000 Beschäftigten erwirtschafteten 2014 einen Umsatz von rund 5 Milliarden Euro, wobei 500 Millionen Euro als Gewinn übrig blieben. Derart hohe Umsatzrenditen erzielen nicht viele Firmen. Allerdings schmilzt der Vorsprung. Im deutschen Markt ist Enercon vor allem der Konkurrent Vestas auf den Fersen. Im weltweiten Geschäft sank Enercons Marktanteil von fast 10 Prozent 2013 auf 5 Prozent in 2015. Dabei mag eine Rolle spielen, dass teure Anlagen weniger Abnehmer finden, weil unter anderem Deutschland Nix da mit sauberer Luft Foto: ap 2,8 Rettung für Kaiser’s in Sicht HANDEL Durchbruch bei Schlichtung im Supermarktstreit: 15.000 Beschäftigte können aufatmen, verspricht Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Verdi freut sich VON RICHARD ROTHER Neue Hoffnung für die 15.000 Beschäftigten der Supermarktkette Kaiser’s Tengelmann. „Die Schlichtung ist heute erfolgreich abgeschlossen worden“, sagte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) am Montag. Großen Anteil daran hatte wohl auch Exbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), der die Schlichtungsgespräche zwischen den verfeindeten Supermarktketten leitete. „Ich gehe nicht davon aus, dass es noch irgendeinen Stolperstein für den Vollzug der Schlichtungsvereinbarung geben kann“, zeigte sich Gabriel optimistisch. Grundlage bilde ein durch die Schlichter verhandelter Interessenausgleich, über den Stillschweigen vereinbart worden sei. Bis zum 11. November solle die Klage von Rewe gegen eine Sondererlaubnis des Bundeswirtschaftsministeriums zurückgezogen werden, so Gabriel. Der Discounter Norma und die internationale Handelkooperation Markant hatten ihre Klagen gegen eine Übernahme der Kaiser’s-Filialen durch den Branchenführer Edeka bereits zurückgezogen, obwohl diese juristisch erfolgversprechend waren. Allerdings müssten noch finanzielle Aspekte für den Interessenausgleich der beteiligten Unternehmen geklärt werden, so Gabriel. Dies sei ein technischer Prozess, er könne bis Freitag dieser Woche abgeschlossen werden. Die Arbeitsplätze der betroffenen Arbeitnehmer seien nun für sieben Jahre gesichert. „Verkäuferinnen, Fleischer, Lagerarbeiter, Fahrer, Gilt für Waren, nicht für Verkäuferinnen Foto: Wolfram Kastl/dpa Verwaltungsmitarbeiter und alle anderen Mitarbeiter von Kaiser’s Tengelmann können Weihnachten ohne Angst um ihren Arbeitsplatz feiern.“ „Nun ist klar, dass die Einigung komplett auf der Basis der Ministererlaubnis vollzogen wird“, sagte Verdi-Chef Frank Bsirske. Der Tag der Einigung sei ein guter Tag für die Beschäftigten. Ausdrücklich wolle er sich bei Gabriel für dessen beharrlichen Einsatz für den Erhalt der Arbeitsplätze bedanken. Andere mahnten zur Vorsicht. „Wir waren schon einmal euphorisch“, sagte der Betriebsratsvorsitzende von Kaiser’s Tengelmann, Volker Bohne, „Ich gehe nicht davon aus, dass es noch irgendeinen Stolperstein für den Vollzug der Schlichtungsvereinbarung geben kann“ BUNDESWIRTSCHAFTSMINISTER GABRIEL dem Berliner Tagesspiegel. Es seien „viele Fragen noch offen“, so Bohne. „Die Berliner Filialen sind erst dann gerettet, wenn es eine Einigung für das gesamte Unternehmen gibt.“ Für die Dauer des Schlichtungsverfahrens war vereinbart worden, keine Kaiser’sTengelmann-Filiale an Dritte zu verkaufen. Damit wurde die bereits eingeleitete Zerschlagung der Supermarktkette vorerst gestoppt. Kaiser’s Tengelmann schreibt seit 17 Jahren Verluste. Die Tengelmann-Gruppe als Eigentümer möchte sich deshalb von der Kette trennen. Vor zwei Jahren sollte sie an Edeka verkauft werden. Widerspruch, wo keiner möglich ist NETZ Enercon zum Anfassen: Teil einer alten Anlage Foto: Paul Langrock/Zenit ben. Offenbar war es aber zu Differenzen über den weiteren Weg des Unternehmens gekommen. Über Fritsch-Nehring wird berichtet, dass sie internationales Personal in die Führungsebenen nach Aurich holte. Dies haben manche wohl als Bedrohung und Abweichung vom gewohnten Kurs empfunden. Bisher ist Enercon ein oftmals patriarchal geführtes Unternehmen, in dem das Wort des Gründers und seiner Vertrauten Gesetz war. Zudem gab es möglicherweise Auseinandersetzungen dar die Finanzierung der erneuerbaren Energien von festen Fördersätzen auf Ausschreibungen umstellt. Billigere Kraftwerke bekommen dann eher den Zuschlag als teure. In der Vergangenheit ist die Firma nicht nur als Vorzeigeunternehmen der Energiewende aufgefallen. Gewerkschafter und manche Betriebsräte beschwerten sich, dass sie im Reich der Wobbens nicht ihrer normalen Tätigkeit als Arbeitnehmervertreter nachgehen könnten. HANNES KOCH EU-Datenschützer fordern einen Stopp des Datenaustauschs zwischen WhatsApp und Facebook BERLIN taz | WhatsApp und der Mutterkonzern Facebook geraten in das Visier von Datenschützern der EU. Den Mitarbeitern der Artikel-29-Arbeitsgruppe, die die EU-Kommission in Datenschutzfragen berät, geht es dabei um die Weitergabe von Nutzerdaten an Facebook durch WhatsApp. Die letzte Änderung der Nutzungsbedingungen, die das erlaubt, habe „eine große Unsicherheit bei Nutzern und Nichtnutzern“ des Dienstes ausgelöst, heißt es in einem Brief an WhatsApp-Mitgründer und -Chef Jan Koum. Facebook hatte den Messenger-Dienst WhatsApp vor zwei Jahren übernommen. Damals betonte Facebook noch, dass WhatsApp unabhängig bleiben solle. Im August dann die Wende: WhatsApp kündigte an, dass unter anderem dem Konto zugeordnete Handynummern an Facebook übermittelt werden. Widerspruch gegen die Übermittlung ist nicht möglich. Die Änderung betrifft nach dem Verständnis von Verbraucherschützern auch Nutzer, die Facebook und/oder WhatsApp nicht verwenden. Denn zum einen erfolge die Übermittlung unabhängig davon, ob die Nutzer einen Facebook-Account haben. Zum anderen würden auch Telefonnummern von Menschen ohne WhatsApp-Konto übermittelt. Denn das Unternehmen räumt sich laut dem Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) das Recht ein, das gesamte Telefonbuch an Facebook zu übertragen. Die Arbeitsgruppe fordert Koun nun unter anderem dazu auf, eine Liste der Datenkategorien, die zwischen den Unternehmen ausgetauscht werden, bereitzustellen und anzugeben, aus welcher Quelle diese Daten jeweils stammen. Bis entschieden sei, ob der Datenaustausch zwischen den Unternehmen rechtens ist, fordere man WhatsApp auf, die Übermittlung zu stoppen. Ob WhatsApp dieser Bitte nachkommen wird, ließ das Unternehmen auf Anfrage offen. Wahrscheinlich ist es allerdings nicht – denn auf bisherige Versuche, den Datenaustausch zu stoppen, hat es wenig kooperativ reagiert. Der Hamburger Datenschutzbeauftragte untersagte die Praxis bereits im September – doch das Unternehmen wehrt sich dagegen vor Gericht. Der vzbv hat WhatsApp abgemahnt. Da das Unternehmen nicht reagiert habe, prüfe man nun eine Klage. SVENJA BERGT Meinung + Diskussion SEITE 12 Wirtschaft + Umwelt DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 Knacks in der Beziehung in Peking ansprechen – und wird bereits vor seiner Reise ins Reich der Mitte düpiert Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzen von Leserbriefen vor. Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. ■■betr.: „Jazz. Der Klang der Felsen“, taz vom 29. 10. 16 Die Provinz zieht mit Berlin gleich. Auch das Würzburger Jazzfestival vom Wochenende hatte in seinem richtig guten und abwechslungsreichen Programm genauso viele Gruppierungen unter weiblicher wie unter männlicher Leitung. Ganz so schlecht sieht es mit dem männlichen Überhang beim Jazz also nicht mehr aus. Auch im Publikum überwiegen die männlichen Zuhörer kaum noch. Das ist doch eine erfreuliche Entwicklung! DORIS WÖRLER,Rödelsee Folgen der Globalisierung ■■betr.: „Europäer, hört die Signale“, taz vom 31. 10. 16 Auf Einkaufstour: Chinesische Investoren wollen auch die Osram-Sparte Levance übernehmen Foto:Jörg Koch/ddp „Für einige Branchen ist der Markt vollständig verschlossen“ JÖRG WUTTKE, EU-HANDELSKAMMER Beispiel ist die Übernahme des Augsburger Roboter-Herstellers Kuka durch den chinesischen Elektrohersteller Midea. Haben deutsche Unternehmen in den letzten beiden Jahrzehnten kräftig in der Volksrepublik investiert, hat sich der Trend zuletzt umgekehrt. China ist nun fleißig in Deutschland und Europa auf Einkaufstour. 2015 haben chinesische Firmen nach Angaben der Europäischen Handelskammer in Peking für 22 Milliarden Euro in Europa investiert, umgekehrt waren es nur 10 Milliarden. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young hat errechnet, dass China die Investitionen allein in Deutschland im ersten Halbjahr bei rund 10 Milliarden Dollar lagen. Während es chinesischen Firmen leicht gemacht werde, in Deutschland oder anderen europäischen Ländern Fuß zu fassen, stünden die hiesigen Investoren umgekehrt vor einer Chinesischen Mauer, beklagt Jörg Wuttke, Präsident der EU-Handelskammer in Peking. „Für einige Branchen ist der Markt vollständig verschlossen.“ Vor allem seine Finanzwirtschaft und die Bauindustrie schottet China seit Jahrzehnten ab. Doch selbst die deutsche Autoindustrie, die zuvor gute Geschäfte im Reich der Mitte gemacht hatte, sieht sich Protektionismus ausgesetzt. Westliche Hersteller durften schon bislang nur im Verbund mit chinesischen Partnerfirmen in China produzieren. Zugleich mussten sie sämtliche technischen Pläne offenlegen. Neue Gesetzespläne fordern, dass die Herstellung von Elekt- roantrieben für Fahrzeuge künftig nur noch in Gemeinschaftsunternehmen möglich sind, bei denen die chinesische Seite die Mehrheit hat. „Wenn das geplante Gesetz so kommt, liefe das auf einen erzwungenen, kompletten Technologietransfer hinaus“, sagt ein Branchenkenner. Zugleich sorgt ein weiteres Thema unter deutschen Autobauern für schlechte Stimmung. Die chinesische Führung plant eine Quote für Elektroautos. Nach einem noch nicht im Detail genannten Punktesystem sollen ausländische Hersteller bereits ab 2018 einen bestimmten Anteil an Elektround Hybridautos bauen und verkaufen. Erreichen sie dieses Ziel nicht, müssen sie ihre Produktion drosseln oder Konkurrenten Punkte abkaufen. Sollte dieser Plan umgesetzt werden, würden sie über solche Strafzahlungen quasi ihre lokalen Wettbewerber mitfinanzieren. Günther-Gate belastet Juncker „Schlitzaugen“-Causa von Kommissar Oettinger wird zum Problem für EU-Kommissionschef BRÜSSEL taz | Wenige Tage nach seiner überraschenden Nominierung zum Haushaltskommissar wird Günther Oettinger (CDU) zur Belastung für die Brüsseler EU-Behörde und ihren Chef, Jean-Claude Juncker. Denn Oettingers „saloppe“ Bemerkungen zu Chinesen, Homosexuellen und Wallonen haben ein peinliches Nachspiel. Fast eine Stunde lange musste sich Junckers Sprecher Margaritis Schinas am Montag bohrenden Fragen von Journalisten stellen, die auf Oettingers umstrittene Äußerungen abzielten. Es war das erste Mal in Junckers zweijähriger Amtszeit, dass er derart ins Kreuzfeuer geriet. Bei einem Vortrag in Hamburg hatte Oettinger mit Blick auf die wirtschaftliche Konkurrenz aus China von „Schlitzohren und Schlitzaugen“ gesprochen. Zudem hatte er sich über eine angeblich geplante „PflichtHomo-Ehe“ lustig gemacht und behauptet, die belgische Region Wallonien werde von Kommunisten regiert. Rassistisch, homophob und eines Kommissars unwürdig, empfanden viele Korrespondenten. Ob Juncker von Oettinger eine Entschuldigung gefordert habe, wollten die Journalisten taz.die tageszeitung | Rudi-Dutschke-Str. 23 | 10969 Berlin [email protected] | www.taz.de/zeitung Erfreuliche Entwicklung AUS PEKING FELIX LEE EUROPA 09 LESERI N N EN BRI EFE INVESTITION Deutsche Firmen haben es in China immer schwerer. Gabriel will das Schwere Verstimmungen – das hat es angesichts der guten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und China schon lange nicht mehr gegeben. Einen Tag vor dem Besuch von Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) in Peking hat das chinesische Außenministerium am Montag den deutschen Gesandten einbestellt und ihm eine Protestnote übergeben. Zuvor hatte bereits der Minister der einflussreichen Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC) ein Treffen mit Gabriel abgesagt. Über den genauen Inhalt der Protestnote wollte die Deutsche Botschaft am Montag keine Auskunft geben. Nur so viel: Die Einbestellung steht im Zusammenhang mit einer Ankündigung Gabriels aus der vergangenen Woche. Da hatte Gabriel bekannt gegeben, die Übernahme des deutschen Spezialmaschinenherstellers Aixtron als auch die der Osram-Sparte Levance durch chinesische Investoren überprüfen zu wollen. Das Wirtschaftsministerium begründet diesen Schritt damit, „sicherheitsrelevante Technologien“ vor staatlich gelenkten Unternehmen besser schützen zu wollen. Gabriel hatte die Wirtschaftspolitik Chinas schon vor seiner Reise mit ungewöhnlich harschen Worten kritisiert und angemahnt, den Spielregeln der Marktwirtschaft zu folgen. Bei den meisten chinesischen Investoren, die in Deutschland derzeit auf Einkaufstour sind, handelt es sich um staatsgetriebene Unternehmen, die unmittelbar der chinesischen Führung unterstehen oder kräftig von ihr unterstützt und damit kontrolliert werden. Was dabei auffällt: Die Zukäufe finden vor allem in Branchen statt, die für Chinas Regierung von strategischer Bedeutung sind. Ein TAZ.DI E TAGESZEITU NG wissen. Doch Schinas wiegelte ab. Oettinger habe doch alles klargestellt. Per Interview hatte dieser die Vorwürfe zurückgewiesen. Für Juncker sei der Fall damit erledigt, erklärte sein Sprecher. Für das EU-Parlament allerdings noch nicht. Dort muss Oettinger noch eine Anhörung über sich ergehen lassen, die klären soll, ob er für sein neues Amt geeignet ist. Danach soll auch eine Abstimmung stattfinden. Und die könnte zum Debakel werden. Denn nach einer – nicht repräsentativen – Umfrage des Brüsseler Online-Magazins Politic“ sprechen sich 73 Prozent der Abgeordneten für eine Entlassung des deutschen Kommissars aus. Die könnte zwar nur Juncker durchsetzen – nur der Kommissionschef hat das Recht, Kommissare zu nominieren und zu feuern. Doch wenn er 73 Prozent der Abgeordneten sprechen sich für eine Entlassung Oettingers aus Des isch d‘ Günder, dr noie Haushaldskommissar Foto: Rolf Vennenbernd/dpa darauf verzichtet, wird das Oettinger- zum Juncker-Problem. Längst ist der Luxemburger in Bedrängnis. Er kann nämlich nicht erklären, warum er Oettinger im Eilverfahren vom Digital- zum Haushaltskommissar befördert hat. Amtsinhaberin Kristalina Georgiewa wechselt erst Anfang 2017 zur Weltbank. Juncker hätte also noch genug Zeit gehabt, mit Oettinger zu sprechen oder einen anderen Nachfolger zu suchen. Doch offenbar stand er unter Druck. In Brüssel wird vermutet, dass Juncker mit seiner Eilentscheidung vor allem seinen Kabinettschef Martin Selmayr schützen wollte, der Georgiewa das Leben schwergemacht haben soll. Außerdem steht Juncker unter Druck aus Berlin, in der Budgetpolitik weniger „politisch“ und mehr in deutschem Sinne zu entscheiden. So oder so will Juncker an Oettinger festhalten. Auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) stellte sich hinter ihn: Sie habe „selbstverständlich“ volles Vertrauen in Oettinger, ließ sie ihren Sprecher in Berlin erklären. Allerdings: Schon einige Politiker mussten gehen, nachdem Merkel ihnen das Vertrauen ausgesprochen hatte. Ich verstehe die jetzt weitergeführte Europadebatte als Teil einer Auseinandersetzung mit den Folgen der Globalisierung: Es ist doch bemerkenswert, dass der ökonomische Riese Deutschland zirka 20 Prozent seines Außenhandelsüberschusses einfach verbrennen lassen muss, weil die „Partnerländer“ keine adäquaten Gegenleistungen erbringen können und vom Rest auch noch erhebliche Beträge zur Weiterverwendung bei der EZB geparkt wird. Da sind Ceta und insbesondere TTIP auch zur Absicherung weiterer Exporterlöse, weil diese Märkte eventuell noch ertragreicher sein könnten als die maroden Länder am Rande Europas. Gleichzeitig sind diese Abkommen auch Bollwerke gegen das weitere Vordringen Chinas, das ja schon Südostasien und den afrikanischen „Markt“ beherrscht. Der Widerspruch der Wallonen mitten in Europa ist Beispiel für die Kehrseite der Expansion des Kapitals weg aus inzwischen geschwächten Regionen in Märkte, die noch Chancen bieten. Niemand behandelt ernsthaft das Thema Südosteuropa, wo vor dem Zusammenbruch der Warschauer-Pakt-Staaten zumindest niemand hungerte und ihre Bewohner als Gegenleistung fürs Stillhalten sozial besser abgesichert waren. Vor dem Eindringen von Lidl konnte zumindest die Landwirtschaft dafür sorgen, dass Menschen in Lohn und Brot bleiben. VW, Audi und Mercedes konnten sich wenige gut qualifizierte und billigere Fachkräfte für eine noch weiter automatisierte Produktion suchen und dafür sogar noch Subventionen einstreichen! Die Regionen Europas müssen sich dem ökonomischen Diktat der Globalisierung widersetzen. Es muss sichergestellt werden, dass mindestens Ernährung, Energie, Gesundheitswesen und Verkehr vor Ort gesichert bleiben und vor multinationalen Trends geschützt bleiben. Nur demokratisch selbstbestimmte Regionen garantieren ein friedliches Zusammenwirken der Völker. DIETMAR RAUTER, Kronshagen Bezüge zu Carl Schmitt ■■betr.: „Das Unbehagen an der Ausgezeichneten“, taz vom 29. 10.16 Vielen Dank an Martin Reichert für seine parteiliche Positionierung für die humanistische Preisträgerin Carolin Emcke und gegen ein diffus raunendes Feuilleton, welches (auch schon in der taz) ein gewisses Unbehagen nicht unbeschrieben lassen möchte. Das der exlinke Welt-Mann Thomas Schmid, der mit seinem Springer-Chef Döpfner schon „1968“ neu ausdeuten wollte, sich durch moralische Unbedingtheit unangenehm berührt fühlen kann: geschenkt. Dass die Zeit, deren Chef Di Lorenzo unlängst den eleganten Nachweis führte, die kulturpolitische „Hegemonie“ der Grünen habe die AfD hervorgebracht, Emcke unterkomplex findet: so what? Mein Eindruck ist, dass die rasante deutsche und europäische Rechtsentwicklung ihre Spuren in redaktionellen Köpfen und Medien hinterlässt. „Links“ ist schon lange nicht mehr chic, und „linksliberal“ ist weithin auch nicht mehr cool. Wer sich berühren lässt von dem, was leider ist, steht unter dem Verdacht mangelnder Professionalität und analytischer Distanz. Philosophische Köpfe wie Foucault und Sartre konnten sich böse streiten, um sich dann aber bei denselben Pariser Demos wiederzufinden. Wer den Festakt der Preisverleihung als „Feldgottesdienst“ insinuiert und deren Teilnehmer als „linksliberale Sekte“ (T. Schmid) ausmacht, verrät höchstens Bezüge zu Carl Schmitt und dass er dieser „Sekte“ nicht zugehören will. Ich aber schon. ALBERT LANGE, Detmold Mainstream hinterfragen ■■betr.: „Berlin grüßt Köln – die nächste Sparrunde betrifft die Domstadt“, taz vom 28. 10. 16 Nicht nur in Berlin, Köln oder bei der derzeit ebenfalls noch aus dem Hause Dumont stammenden Hamburger Morgenpost: Auch anderswo in der Republik werden die Auflagen gedruckter Tageszeitungen regionaler sowie überregionaler Art zukünftig weiter abnehmen – und das keineswegs nur wegen der Konkurrenz des kostenfreien Internets. Sogar selbst ernannte „Qualitätszeitungen“ verkommen immer mehr zu einem ungefilterten und unkritischen Sprachrohr des neoliberalen Mainstreams. Dass sogar die ehemals linke Frankfurter Rundschau aktuell diejenigen belgischen Regionen kritisiert, die den Mut haben, das Ceta-Abkommen mit Kanada ernsthaft infrage zu stellen, spricht in diesem Zusammenhang Bände. Um die neoliberalen Internet- und Fernsehschlagzeiten lediglich ungefiltert sowie unkritisch schwarz auf weiß bestätigt zu bekommen, brauche ich kein Zeitungsabonnement. Stattdessen erwarte ich von einer Tageszeitung, diese Mainstream-Inhalte ernsthaft zu hinterfragen und dabei auch die Kehrseite(n) der jeweiligen Medaillen „beim Namen zu nennen“, denn nur so ist heutzutage noch eine allseitig umfassende Information und Meinungsbildung möglich. ELGIN FISCHBACH, Leimen 10 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Ausland DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 NACH RICHTEN BRASI LI EN KEN IA/SUDAN GEORGI EN VEREI N IGTE STAATEN SCHWEDEN Sektenbischof wird Bürgermeister von Rio Zwei Präsidenten gegen Den Haag Durchmarsch für Regierungspartei Rennen um das Weiße Haus offener Papst am 500. Jahrestag in Malmö BERLIN | Die Präsidenten Kenias TIFLIS | Die regierende Partei Ge- WASHINGTON | Eine Woche vor und Sudans haben gemeinsam ihre Ablehnung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) bekräftigt. Der Sudanese Omar Hassan al-Bashir, der vom IStGH mit Haftbefehl gesucht wird, habe den Kenianer Uhuru Kenyatta bei dessen zweitägigem Sudanbesuch über die Schritte zum Austritt aus dem Weltgericht gebrieft, erklärte Sudans Regierungssprecher Ahmed Bilal zum Abschluss des Staatsbesuches am Sonntagabend. „Wir glauben, dass Kenia jetzt austreten will“, so Bilal. (taz) orgischer Traum hat sich nach der zweiten Runde der Parlamentswahlen in der Südkaukasusrepublik Georgien eine verfassungsändernde Mehrheit gesichert. Die linksliberale Partei erhalte 115 von 150 Mandaten, teilte die Wahlkommission in Tiflis am Montag mit. Zweitstärkste Kraft wird die oppositionelle Vereinte Nationale Bewegung (UNM) mit 27 Sitzen. Zudem ist die als prorussisch geltende Partei Allianz der Patrioten mit sechs Mandaten vertreten. (dpa) der Präsidentschaftswahl ist das Rennen um das Weiße Haus wieder offen. Nachdem Hillary Clinton erneut von ihrer EMail-Affäre eingeholt worden ist, konnte Donald Trump seine schon zuvor begonnene Aufholjagd fortsetzen. Meinungsumfragen vom Montag sehen Hillary Clinton nun nur noch mit ein bis zwei Prozentpunkten in Front. Trump konnte auch in einigen Staaten wie Florida aufholen. Clinton führt noch deutlich, wenn es um die Zählung der Wahlmänner geht. (dpa) LUND | Papst Franziskus hat das Gedenken an die Reformation als neue Chance für die Annäherung von Katholiken und Lutheranern bezeichnet. „Wir dürfen uns nicht mit der Spaltung und der Entfremdung abfinden“, sagte der Pontifex am Montag im südschwedischen Lund, wo er mit lutherischen Geistlichen einen gemeinsamen Gottesdienst feierte. Am Montag begannen offiziell die Feierlichkeiten zum 500. Jahrestag der Reformation 2017. Aus diesem Anlass ist der Papst für zwei Tage nach Schweden gereist. (dpa) RIO DE JANEIRO | Der frühere Sek- Gewählt: Marcelo Crivella Foto: ap tenbischof Marcelo Crivella (59) regiert künftig Brasiliens Metropole Rio de Janeiro. Der für Attacken auf Schwarze und Schwule berüchtigte Senator von der rechten Republikanischen Partei PRB gewann am Sonntag mit 59,36 Prozent der Stimmen die Stichwahl gegen Marcelo Freixo von der Partei Sozialismus und Freiheit. Crivella hatte in der Vergangenheit mit drastischen Aussagen für Wirbel gesorgt. Über Schwule sagte er: „Sie sind Opfer eines schrecklichen Übels und leben ohne Frieden.“ (dpa) Fast absolute Mehrheit für prorussischen Kandidaten Der Sozialist Igor Dodon trifft in Präsidentenstichwahl auf die Liberale Maia Sandu REPUBLIK MOLDAU BERLIN taz | Über das nächste Staatsoberhaupt der Republik Moldau werden die Wähler in einer Stichwahl am 13. November entscheiden. Bei der ersten Runde der Präsidentenwahlen am vergangenen Sonntag erreichte der Kandidat der Sozialisten, Igor Dodon, 48,5 Prozent der Stimmen. Seine liberale Konkurrentin, die ehemalige Bildungsministerin Maia Sandu, kam auf 38,2 Prozent. Die Ergebnisse der übrigen sieben Kandidaten lagen im einstelligen Bereich. Die Wahlbeteiligung betrug knapp 49 Prozent. Die Abstimmung war die erste direkte Präsidentenwahl seit 20 Jahren. Ab 2000 wurde der Präsident vom Parlament gewählt – eine Regelung, die das Verfassungsgericht im vergangenen März kippte. Vor allem ging es um die Frage des künftigen außenpolitischen Kurses des zwischen Rumänien und der Ukraine gelegenen 3,5-Millionen-Einwohner-Staates. Igor Dodon, der am Sonntag seinen Sieg als „unausweichlich“ bezeichnete, strebt eine stärkere Hinwendung der Republik Moldau zu Russland an. Nur mit dem Modell Putin könnten die Ordnung in Moldau wieder hergestellt und traditionelle Werte verteidigt werden, sagte er ge- genüber der französischen Tageszeitung Le Monde am Wahlabend. Im Falle eines Wahlsieges hat er bereits eine Volksbefragung zur geopolitischen Ausrichtung des Landes angekündigt. Beobachter schließen auch nicht aus, dass er das 2014 mit der EU abgeschlossene Assoziierungsabkommen zur Disposition stellen könnte. Demgegenüber steht Maia Sandu, die auch gute Kontakte zu Washington unterhält, für eine stärkere Integration Moldaus in Europa. Doch diese Option ist immer weniger Moldauern zu vermitteln. Dafür zeichnet eine prowestliche Regierungskoalition verantwortlich. Diese ist seit 2009 an der Macht, hat im Kampf gegen Korruption keine nennenswerten Erfolge vorzuweisen. Im Gegenteil: Vorläufiger Höhepunkt war ein Korruptionsskandal, der im Frühjahr 2015 öffentlich wurde. Von drei Banken war umgerechnet eine Milliarde Euro illegal ins Ausland transferiert worden. „Die politische Klasse ist außer Atem“, sagt der moldauische Politologe Dionis Cenusa. „Angesicht dessen hat der Präsident genügend Hebel, den Prozess der europäischen Integration zu behindern.“ BARBARA OERTEL Meinung + Diskussion SEITE 12 ANZEIGE BESTELLEN SIE DAS FOTOBUCH 2016 UND UNTERSTÜTZEN SIE DIE PRESSEFREIHEIT Wilders verändert den Diskurs NIEDERLANDE Geert Wilders steht vor Gericht. Anstiftung zu Diskriminierung und Hass wirft die Anklage ihm vor. Politisch wird der Rechtspopulist keinen Schaden erleiden Zum Prozess ist der politische Brandstifter Geert Wilders erst gar nicht erschienen Foto: Remko De Waal/dpa AUS AMSTERDAM FABIAN BUSCH Ein fensterloser Raum im Justizkomplex, einem grauen Klotz neben dem Amsterdamer Flughafen. Es herrschen hohe Sicherheitsvorkehrungen, auch wenn der angeblich gefährdetste Mann des Landes gar nicht gekommen ist. Per Videobotschaft hatte der Rechtspopulist Geert Wilders seine Absage in der vergangenen Woche übermittelt: „Das ist ein politischer Prozess, und ich weigere mich, daran mitzuwirken.“ Wenn das, was er gesagt habe, strafbar sei, „dann sind die Niederlande keine Demokratie mehr, sondern eine Diktatur“. Verhandlungsgegenstand ist der Abend des 19. März 2014. Wilders’ „Partei für die Freiheit“ war bei den Kommunalwahlen in Den Haag auf dem zweiten Platz gelandet. Bei der Wahlparty rief der Populist seinen Anhängern zu: „Wollt ihr mehr „Wollt ihr mehr oder weniger Marokkaner in dieser Stadt und in den Niederlanden?“ GEERT WILDERS oder weniger Marokkaner in dieser Stadt und in den Niederlanden?“ Die Menge reagierte mit einem vielstimmigen „Weniger, weniger!“. Und Wilders antwortete süffisant grinsend: „Dann werden wir das regeln.“ Anstiftung zu Diskriminierung und Hass, so lautet die Anklage. Der Prozess beginnt mit Aussagen von Mitarbeitern der Partei und ehemaligen Weggefährten. Daraus geht hervor, dass Wilders und sein engster Kreis das Schauspiel geplant haben. Er wollte in die Medien, seine Leute sollten die „Weniger, weniger“-Rufe vom Publikum aus anheizen. Wilders hat Anfang des Jahres das zehnjährige Bestehen seiner Partei gefeiert, dessen einziges Mitglied er selbst ist. Der 53-Jährige hat die Niederlande auch ohne ein Regierungsamt verändert. Der Ton ist rauer geworden, es wird ausgeteilt und beleidigt. Der Angeklagte hatte das im Vorfeld des Prozesses zu seiner Verteidigungsstrategie gemacht: Wenn er vor Gericht stehe, dann gehörten dort auch andere Politiker hin, erklärte er. Wilders habe den politischen Diskurs beeinflusst, erklärt Matthijs Rooduijn, Politikwissenschaftler an der Universität Utrecht. „Andere Parteien haben ihre Standpunkte angepasst. Die meisten sind in Integrationsfragen nach rechts gerückt.“ Stimmung gegen die rund 380.000 marokkanischen Einwanderer im Land zu schüren, ist für einige Politiker eine erfolgversprechende Strategie. Viele Niederländer beäugen sie kritisch, manche hasserfüllt. Marokkaner gelten bei vielen als kriminell, außerdem bezieht verglichen mit dem niederländischen Durchschnitt ein höherer Prozentsatz unter ihnen Sozialleistungen. Wilders selbst zitiert immer wieder genüsslich eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts De Hond vom April 2014. Demnach sind 43 Prozent der Niederländer seiner Meinung: Das Land brauche weniger Marokkaner. Wilders hat den Prozess zu einer Entscheidung über die freie Meinungsäußerung stilisiert. Wohl wissend, dass die Meinungsfreiheit für viele Niederländer ein fundamentales Gut ist. Im Falle einer Verurteilung droht ihm eine Geldstrafe von bis zu 20.000 Euro. Aber politischen Schaden wird er wohl kaum davontragen. „Auch ein Schuldspruch könnte ihm noch nützen“, sagt Wissenschaftler Rooduijn. „Dann kann er sagen: Seht her, wir dürfen nicht sagen, was wir denken.“ Michel Aoun heißt der neue Präsident LIBANON Ein politisches Chamäleon tritt das höchste Amt im Staate an. Ein Erfolg für die Hisbollah BEIRUT dpa/taz | Der Libanon Unterstützen Sie uns und bestellen Sie Fotos für die Pressefreiheit 2016 (16 € inkl. Versand) online. Mit den Verkaufserlösen finanziert Reporter ohne Grenzen Anwaltskosten, medizinische Hilfe und Öffentlichkeitsarbeit für verfolgte Journalistinnen und Journalisten. WWW.REPORTER-OHNE-GRENZEN.DE hat nach mehr als zwei Jahren wieder ein Staatsoberhaupt. Das Parlament des Mittelmeerstaates wählte am Montag den christlichen Politiker und Exgeneral Michel Aoun zum Präsidenten. Aoun erhielt allerdings erst im vierten Versuch und nach chaotischen Szenen die erforderliche Mehrheit. Die Wahl des neuen Präsidenten war zuvor seit Mai 2014 bereits 45 Mal gescheitert, weil sich die Parteien nicht auf einen Kandidaten einigen konnten. Mitte Oktober gab jedoch der sunnitische Expremier Saad Hariri seinen Widerstand gegen Aoun auf. „Meine Entscheidung ist ein großes politisches Risiko“, sagte Hariri. Es soll dabei Teil der Abmachung sein, dass Hariri erneut Ministerpräsident wird. Aoun leistete unmittelbar nach seiner Wahl den Amtseid. In seiner Rede versprach er, für die nationale Einheit des Landes einzutreten. Sie sei die Basis für die Stabilität und Sicherheit des Libanons. Ohne Staatsoberhaupt war die Politik des Landes in den vergangenen zweieinhalb Jahren weitestgehend gelähmt. Gleichzeitig leidet der Libanon unter den Auswirkungen des Bürgerkriegs im Nachbarland Syrien. Mitglieder der Hisbollah kämpfen an der Seite des syrischen Regimes. Nach UNAngaben leben zudem im Libanon mehr als eine Million syrische Flüchtlinge. Die Amtszeit von Aouns Vorgänger Michel Suleiman war im Mai 2014 ausgelaufen. Tiefe Gräben zwischen christlichen und muslimischen Politikern verhinderten die Wahl eines neuen Präsidenten. In dem multikonfessionellen Land muss das Staatsoberhaupt immer ein Christ sein, der Premier ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit. Der 81 oder 83 Jahre alte Aoun ge- hörte zwischen 1975 und 1990 zu den Hauptakteuren des libanesischen Bürgerkriegs. Damals leistete er Widerstand gegen die syrischen Truppen im Land. 1989 begann Syrien eine Militäroperation gegen sein Hauptquartier in Beirut, die Aoun zur Flucht nach Paris zwang. Erst nach dem Abzug der syrischen Truppen konnte der maronitische Christ 2005 wieder ins Land zurückkehren. Danach wechselte er die Seiten und verbündete sich mit der Hisbollah, einem der wichtigsten Partner des syrischen Regimes. Unter Christen wurde dieser Schritt Aouns scharf kritisiert. Ausland DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 „Hier zerquetscht man Menschen“ MAROKKO Tod eines Fischverkäufers in einem Müllwagen löst landesweit Empörung aus. TAZ.DI E TAGESZEITU NG Vatikan auf Mediationskurs, Rechte uneins über den Weg Aber anders als einst in Tunesien bleibt der Staat besonnen und der Protest friedlich Opposition stimmt Dialog mit Regierung zu, will aber weiter demonstrieren AL-HOCEIMA afp/taz | Der Tod BUENOS AIRES taz | In Venezuela eines Fischverkäufers, den ein Müllwagen zu Tode quetschte, hat in Marokko eine Welle der Empörung hervorgerufen. Der 30-jährige Mouhcine Fikri starb am Freitagabend in der Stadt alHoceima in der nordmarokkanischen Rif-Region am Mittelmeer bei einer Polizeikontrolle. Er führte Schwertfische mit sich, aber die Beamten sagten, diese seien um diese Jahreszeit geschützt und dürften nicht verkauft werden. Die Beamten beschlagnahmten seine Ware und warfen sie in einen Müllwagen. Mouhcine Fikri sprang hinterher und wurde zermalmt. Die schrecklichen Todesumstände wurden auf einem Handy-Video festgehalten und im Internet verbreitet. Ganz Marokko war schockiert. Auf sozialen Netzwerken verbreiteten sich umgehend Protestaufrufe. Tausende nahmen am Sonntag an der Beerdigung des Toten teil. Stundenlang marschierten sie aus al-Hoceima in das Dorf Imzouren, wo Mouhcine Fikri beigesetzt wurde. In Sprechchören war vom „Märtyrer Mouhcine“ die Rede. Die Trauerkundgebung blieb friedlich, ebenso eine gigantische Demonstration am gleichen Abend im Zentrum von al-Hoceima. „Verbrecher, Mörder“, riefen die Protestierenden, „Stoppt die Schande“ und „Königshof, hör zu, die Menschen des Rif erniedrigt man nicht!“. Die Kundgebung, stark geprägt von der Berber-Identität der RifBevölkerung, ging gegen 21.30 Uhr ohne Zwischenfälle zu Ende. Weitere, kleinere Demonstrationen gab es in anderen Städten des Rif und auch in Marokkos größten Städten Casablanca, Marrakesch und Rabat, wo über starten Regierung und Opposition eine neue Dialogrunde. Bereits am Sonntag traf sich eine vierköpfige Delegation um Präsident Nicolás Maduro mit vier Vertretern der Opposition an einem quasi neutralen Ort. Im Museum Alejandro Otero in Caracas gab sich Präsident Maduro versöhnlich und offen: „Ich reiche dem MUD die Hand, wir sind gekommen, um zuzuhören,“ sagte er. Unter der Vermittlung des Vatikans einigten sich beide Seiten auf eine 4-Punkte-Agenda. Die im Mesa de la Unidad Democrática (MUD) vereinigte rechte Opposition geht allerdings nicht geschlossen in die neue Gesprächsrunde. Mindestens 14 der gut 30 im MUD zusammengeschlossenen Parteien und Gruppierungen misstrauen der Gesprächsbereitschaft der Regierung. Kein Wunder, schon mehrfach waren Dialogrunden groß angekündigt worden, die dann ergebnislos im Sand verliefen, zuletzt eine von der südamerikanischen Staatengemeinschaft Unasur angestoßenen Runde. Die jetzt vereinbarten inhaltlichen Gespräche sollen am 11. November beginnen. Dann geht es um vier verschiedene Themen. Ein Arbeitstisch soll sich mit Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Souveränität befassen. Der zweite Tisch soll sich mit Gerechtigkeit, Menschenrechten, Opfer entschädigung und Aussöhnung auseinandersetzen. Am dritten Arbeitstisch soll es um wirtschaftliche und soziale Fragen gehen und an einem vierten soll über vertrauensbildende Maßnahmen und ein Zeitplan für die Unterschriftensammlung zum Abwahlreferendum des Präsidenten und die eigentlich für Dezember vorgesehenen, aber verschobenen Gouverneurs- und Kommunalwahlen gesprochen werden. Der inhaftierte Oppositionspolitiker Leopoldo López hat seine Partei Voluntad Popular dazu aufgerufen, nicht an der Trauernde in al-Hoceima tragen den Toten zu Grabe, Sonntag Foto: reuters 1.000 Menschen mit dem Ruf „Wir sind alle Mouhcine!“ durch die Straßen zogen. Marokkos König Mohammed VI., der sich in Tansania aufhielt, entsandte Innenminister Mohammed Hassad nach al-Ho- „Niemand hatte das Recht, ihn so zu behandeln“ MAROKKOS INNENMINISTER ceima und ordnete eine „genaue und vertiefte Untersuchung“ an. Der Minister hatte bereits am Samstag staatsanwaltschaftliche Ermittlungen angekündigt. Gegenüber AFP sagte der Minister, das Opfer habe sich einer Polizeikontrolle widersetzt, weil er in seinem Auto eine „erhebliche Menge“ illegal gefischter Schwertfische transportierte. „Es wurde beschlossen, die illegale Ware zu vernichten. Was danach geschah, ist die Frage“, so der Minister und erklärte: „Niemand hatte das Recht, ihn so zu behandeln. Es ist nicht hinzunehmen, dass Verantwortungsträger übereilt oder wütend handeln oder in menschenrechtswidrigen Umständen.“ Die Küstenstadt al-Hoceima mit rund 55.000 Einwohnen war in den 1920er Jahren der Kern des bewaffneten Widerstandes gegen spanische Kolonisatoren. Jahrzehntelang vernachlässigt, hat der Rif in Marokko einen widerborstigen Ruf. Als 2011 im Zuge des Arabischen Frühlings auch in Marokko demonstriert wurde, war al-Hoceima ein Zent- rum der sogenannten Bewegung des 20. Februar. Der Tod des marokkanischen Fischhändlers wird von manchen mit dem Freitod des tunesischen Obsthändlers Mohammed Bouazizi Ende 2010 verglichen, Auslöser der Massenproteste gegen die damalige tunesische Diktatur. Marokkos Staat hatte die Demonstrationen durch eine neue Verfassung und eine Stärkung der gewählten Regierung gegenüber dem König abgefangen; die Regierung wird seit Wahlen 2011 von gemäßigten Islamisten gestellt. Am Montag blieb Marokko ruhig. Ab 7. November tagt in Marrakesch die Weltklimakonferenz COP 22. Auf einem Transparent dort stand: „Willkommen zur COP 22. Hier zerquetscht man Menschen.“ Die nächsten Beben sind unausweichlich ITALIEN Die Zerstörungen belasten den Haushalt des Landes in Milliardenhöhe. Und der Winter naht Die Plattenverschiebung führt zur Dauerbedrohung Foto: Massimo Percossi/ap AUS ROM MICHAEL BRAUN Mit einer Stärke von 6,5 war das Beben, das am Sonntagmorgen um 7.40 Uhr Mittelitalien erschütterte, so schwer wie keines in Italien seit 1980. Vor diesem Hintergrund grenzt es an ein Wunder, dass es keine Toten und nur wenige Verletzte gab. Mehr als 300 Tote hatte dagegen das Beben in L’Aquila im Jahr 2009 gefordert, das nur eine Stärke von 6,1 erreicht hatte, und auch das Beben in Amatrice mit einer Stärke von 6,0 kostete 298 Menschen das Leben. Zum Glück im Unglück wurde diesmal die Abfolge der Beben, die die Zone an der Grenze der beiden Regionen Umbrien in den letzten Tagen erschütterte. Vielleicht muss die wunderschöne Re gion sogar auf Dauer aufgegeben werden Ein erster schwerer Erdstoß mit einem Wert von 5,4 war am vergangenen Mittwoch, dem 26. Oktober, kurz nach 19 Uhr zu verzeichnen gewesen. Das Gros der Menschen hatte daraufhin die Wohnungen verlassen und hielt sich im Freien auf, als zwei Stunden später ein weiterer Erdstoß, diesmal schon mit einer Stärke von 5,9, zu verzeichnen war. Nur ein Mensch starb an einem Herzinfarkt. Im Gefolge dieser beiden Beben hatten die Kommunalverwaltungen und der Zivilschutz wiederum zahlreiche Ortskerne zu abgesperrten „roten Zonen“ erklärt. Das Beben vom Sonntag brachte deshalb zahlreiche Häuser zum Einsturz, die anders als in Amatrice vor zwei Monaten schon verlassen waren. So wurde zwar eine Tragödie vermieden, der materielle Schaden aber geht in die Milliarden. Dutzende mittelalterliche Weiler wurden komplett zerstört. Im Städtchen Norcia, in dem die Kathedrale aus dem 14. Jahrhundert zusammenstürzte, müssen voraussichtlich auch viele Häuser noch abgerissen werden. In den Marken werden etwa 25.000 und in Umbrien 15.000 Obdachlose gezählt. Bisher werden sie notdürftig in Sporthallen untergebracht, viele schlafen in ihren Autos. Die Errichtung von Zeltstädten kommt angesichts der Tatsache, dass die Temperaturen in der Gebirgsregion mittlerweile nachts auf unter null Grad fallen, nicht infrage. Stattdessen werden die Menschen jetzt in Hotels an der Adriaküste oder auch am Trasimener See untergebracht. Wie schon nach dem Beben vom August verkündet Ministerpräsident Matteo Renzi, dass „alles wieder aufgebaut“ wird. Die Regierung veranschlagt Kosten von acht Milliarden Euro, für die Soforthilfe in den Erdbebengemeinden wur- den bisher 375 Millionen Euro bereitgestellt. Renzi machte erneut deutlich, dass er die erforderlichen Mittel aus dem EUStabilitätspakt herausrechnen will. Unterstützung erhält er hier auch von Beppe Grillos 5-SterneBewegung, die dem Regierungschef Kooperation anbot. Jenseits der unmittelbaren materiellen Schäden trifft das Beben die Ökonomie der betroffenen Dörfer und Städte heftig. Sie zogen Tausende Besucher an, die in die Gegend mit ihren mittelalterlichen Ortskernen, mit ihrer oft unberührten Natur, mit ihren kulinarischen Traditionen von Trüffeln zu den berühmten Wurstwaren und Schinken aus Norcia kamen. In Norcia hatte es Jahre gedauert, die Schäden des letzten Bebens von 1997 zu beheben. Nachbeben in der betroffenen Region schließen die Geologen nicht aus. Das Beben vom Sonntag sehen sie als direkte Konsequenz des Erdbebens von Amatrice am 24. August: Die tektonische Plattenverschiebung habe zur Verstärkung der Spannungen in der nördlich von Amatrice gelegenen Zone geführt. Schon nach dem Augustbeben hatte das Nationale Institut für Geophysik und Vulkanologie vor einem weiteren Erdstoß mit einer Stärke von bis zu 7 gewarnt. Nicht auszuschließen ist, dass sich diese Kettenreaktion über Wochen fortsetzt. 11 VENEZUELA neuen Runde teilzunehmen. „Wir gehen davon aus, dass sich die Bedingungen für einen wirklichen Dialog nicht verbessert haben“, heißt es in einer Erklärung seiner Partei. Oppositionsführer Henrique Capriles von der Partei Primero Justicia zeigte sich zwar dialogbereit, rief aber ebenfalls zum Marsch auf Miraflores auf. Die Frage, ob mit dieser Regierung eigentlich noch verhandelt werden kann oder sollte, ist innerhalb der Opposition durchaus sehr umstritten. Damit das Bündnis über der Teilnahme am Dialog nicht zerbricht, kündigte MUD-Generalsekretär Jesús de Torrealba nach dem Treffen an, dass die Proteste auf der Straße unbeirrt weitergehen werden. Aus der Haft ruft Leopoldo López seine Partei auf, den Dia log zu boykottieren „In der Nationalversammlung, auf der Straße und über internationalen Druck, das sind auch weiterhin unsere drei Wege“, so Torrealba. An dem für Donnerstag angekündigten Marsch zum Präsidentenpalast Miraflores will die Opposition ausdrücklich festhalten. Nícmer Evans von der linken Marea Socialista setzt noch einen ganz anderen Akzent. Die unter der Vermittlung des Vatikans installierte Dialogrunde setze auf den Ausschluss der linken Opposition in Venezuela, kritisiert er. „Wir sind nicht gegen den Dialog, aber wir sagen, dass er gegenwärtig nichts garantiert, wenn er weiter nur polarisiert und ausschließt.“ In diesem Dialog habe die Mehrheit der Venezolaner keine Fürsprecher, so Evans. Man werde aber auch nicht mit dem MUD auf der Straße marschieren, da nicht erkennbar sei, was die rechte Opposition wirklich wolle. JÜRGEN VOGT 12 TAZ.DI E TAGESZEITU NG SVENJA BERGT ÜBER Meinung + Diskussion DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 WHATSAPP UND WAS MAN DAGEGEN TUN KANN Die Macht aufbrechen M arktmacht ist super. Zumindest für Unternehmen, die sie haben. WhatsApp schickt persönliche Nutzerdaten an Konzernmutter Facebook weiter? Kein Problem – dass massenhaft Nutzer abwandern, ist eher unwahrscheinlich. Sind doch alle auf WhatsApp. Freunde, Kollegen, der Fußballverein. Ob zweifelhafter Umgang mit Händlern bei Amazon, Klarnamenpflicht bei Facebook oder die Rechte, die sich Snapchat herausnimmt, um Nutzerinhalte weiterzuverarbeiten – das alles sind Symptome desselben Problems. Denn Marktmacht ist nicht nur super für Unternehmen. Sondern – erst einmal – auch für die Nutzer. Deshalb gibt es den Netzwerkeffekt, der dazu führt, dass alle dort hingehen, wo alle sind. Und das ist einer der wesentlichen Gründe dafür, dass Unternehmen wie Facebook, WhatsApp oder auch Instagram so erfolgreich sein können. Etwas aufgefallen? Genau: Die drei gehören längst zusammen. Eine Entwicklung, die noch lange nicht am Ende ist, denn die Menge der sam- ULRICH SCHULTE ÜBER melbaren Daten steigt. Ob über Virtual-Reality-Brillen, selbst fahrende Autos oder medizinische Hilfsmittel. Die Nutzer selbst bekommen davon wenig mit, und das sollte sich ändern. Dabei kann die Lösung nicht sein, dass jeder knapp 20 Seiten Nutzungsbedingungen von WhatsApp lesen und verstehen können muss – mündiger Verbraucher hin oder her. Die Formulierungen sind meist derart verklausuliert, dass sich kaum jemand vorstellen kann, was genau mit den Daten passiert. Vielversprechender wäre: Transparenz. Wenn jede Nutzerin und jeder Nutzer, etwa jährlich, eine Datei zugeschickt bekommt, in der sämtliche Daten aufgelistet sind, die ein Konzern über ihn hat, und in der erklärt ist, was mit diesen Daten gemacht wurde – das dürfte sicher einige zum Wechseln bewegen. Die gute Nachricht: Das muss nicht das Ende des digitalen Daseins bedeuten. Alternative, nutzerfreundlichere Anbieter gibt es für viele Bereiche. Zumindest noch. Wirtschaft + Umwelt SEITE 8 DEN DAUERSTREIT ZWISCHEN CDU UND CSU Zeit für Kontingente Im Abklingbecken AUFNAHME Immer weniger Flüchtlinge schaffen den Weg nach Deutschland. an wolle keine Gemeinsamkeit inszenieren, kommentiert CSU-Chef Seehofer Angela Merkels Entschluss, dem CSUParteitag fernzubleiben. Hinter der Entscheidung steckt aber keineswegs eine plötzlich entdeckte Abneigung gegen Inszenierungen, sondern die Furcht vor einem Debakel. Was, wenn die erboste CSU-Basis die Kanzlerin vor laufenden Kameras ausbuhte? Für symbolische Harmonie ist es schlicht noch zu früh. CDU und CSU befinden sich in der Abklingphase. Sie köcheln vor sich hin wie zwei ausgelaugte Brennstäbe, nicht mehr tödlich heiß, aber immer noch gefährlich. Seehofer, stets die absolute Mehrheit in Bayern im Blick, hat den Streit in der Flüchtlingspolitik in den vergangenen Monaten in einer Weise eskaliert, die für die Konservativen geschäftsschädigend zu werden droht. Doch die politische Konkurrenz, also SPD, Grüne und Linke, sollten sich nicht zu früh freuen. Der abgesagte Merkel-Besuch bedeutet nicht, dass der Dauerzwist weitergeht. Konser- VON CHRISTIAN RATH M vative haben Routine darin, Differenzen zurückzustellen, wenn es um den Machterhalt geht. Unüberwindbar sind die Unterschiede zwischen CDU und CSU nämlich schon lange nicht mehr. Merkel hat mit dem Türkei-Deal die Absicherung der EU-Außengrenzen vollzogen, es kommen kaum noch Flüchtlinge nach Deutschland, die von Seehofer gewünschte, fragwürdige Obergrenze ist also überflüssig. Aber der CSU-Chef braucht einen Erfolg, mit dem er seine Leute von den Bäumen holen kann, auf die er sie selbst getrieben hat. Hinter den Kulissen werkeln Gesandte aus den verfeindeten Lagern längst an einem Kompromiss, den Merkel und Seehofer mit großer Geste irgendwann verkünden werden. Sie werden nicht mehr von einer Obergrenze, sondern von einem Richtwert, einer Orientierungsgrenze oder etwas anderem sprechen. Um dann gemeinsam vor dem zu warnen, das die Macht der Union wirklich bedroht – einem rot-rot-grünen Linksbündnis. Inland SEITE 7 Irgendwann werden Merkel und Seehofer mit großer Geste einen Kompromiss verkünden BARBARA OERTEL ÜBER DEN WAHLAUSGANG IN DER REPUBLIK MOLDAU Von Europa enttäuscht D eutlicher kann eine Gesellschaft ihre Zerrissenheit nicht zum Ausdruck bringen, als es die Moldauer am Sonntag an den Urnen getan haben. Mit knapp über 48 Prozent stimmte fast die Hälfte der Wähler für den Sozialisten Igor Dodon, seine schärfste Konkurrentin, die Liberale Maia Sandu, kam immerhin noch auf 38 Prozent. Dabei stand bei dem Votum vor allem die Frage im Vordergrund, wohin die Reise des Landes außenpolitisch künftig gehen soll. Heißt der nächste Präsident Igor Dodon, ist die Antwort eindeutig: Richtung Moskau, geradewegs in den Kreml. Denn es war und ist ein erklärtes Credo Dodons, sich wieder stärker an Russland annähern zu wollen. Warum sich ein Großteil der Moldauer enttäuscht von Europa abgewandt hat, liegt auf der Hand: Der proeuropäische Kurs der Koalitionsregierung, die seit 2009 an der Macht ist, hat der Bevölkerung mit Ausnahme einer visafreien Einreise in die Schengen-Staaten keine spürbaren Veränderungen zum Besseren gebracht. Kor- ruption, die bisweilen endemische Ausmaße annimmt, ist nach wie vor an der Tagesordnung. Flankiert wird das alles noch durch Machtkämpfe zwielichtiger Oligarchen, die im Hintergrund agieren. Ihr bisheriges Unvermögen, diesen Missständen mit Reformen entgegenzutreten, könnte die Regierung teuer zu stehen kommen. Und zwar dann, wenn Dodon, was nicht ausgeschlossen ist, das 2014 mit der EU geschlossene Assoziierungsabkommen zur Disposition stellt. Der lachende Dritte in diesem Machtpoker ist Russlands Präsident Wladimir Putin. Dessen erklärte Politik ist es, Russlands Einfluss in den ehemaligen Sowjetrepubliken aufrechtzuerhalten – notfalls auch unter Einsatz von Waffen – und jeglichen Versuch einer Hinwendung zum Westen zu unterminieren. Der Sonntag könnte ihn diesem Ziel einen entscheidenden Schritt näher gebracht haben. Der Republik Moldau drohen finstere Zeiten. Ausland SEITE 10 Schutzbedürftige sollten deshalb direkt zu uns geholt werden D eutschland pustet durch. Die Zahl neu ankommender Flüchtlinge hat sich auf einem Niveau eingependelt, das es kaum noch in die Nachrichten schafft. Die „Flüchtlingskrise“ als Phase der permanenten Überforderung ist vorbei. Jetzt wäre endlich Zeit für eine offene Diskussion über die Aufnahme angemessen großer Flüchtlingskontingente. Während im Vorjahr knapp eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kam, sind es seit März nur noch zwischen 15.000 und 20.000 pro Monat. Auf ein Jahr hochgerechnet sind das rund 200.000 Menschen. Im Vergleich zu den anderen großen EUStaaten ist das immer noch viel. Mit Blick auf die globale Situation gibt es aber keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Laut Zählung des UN-Flüchtlingshochkommissars (UNHCR) haben noch nie so viele Menschen ihre Heimat verlassen wie derzeit: 64 Millionen Menschen. Die wenigsten von ihnen kamen nach Europa. Während es also nur fair wäre, mehr Flüchtlinge in Europa aufzunehmen, ging die Zahl neuer Flüchtlinge ab März sogar schlagartig zurück. Balkanroute geschlossen Anders als oft behauptet ist das umstrittene Abkommen der EU mit der Türkei nicht Grund des Rückgangs. Da die griechische Asylbehörde die Türkei nicht als sicheren Drittstaat anerkennt, wurde noch kein Flüchtling auf dieser Grundlage in die Türkei zurückgebracht. Ursache für den massiv reduzierten Flüchtlingszuwachs ist vielmehr die Schließung der Balkanroute. Seit Anfang März ist die Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland dicht. Wer nach Griechenland kommt, muss nun dort Asyl beantragen. Viele Flüchtlinge kommen deshalb gar nicht erst nach Europa. Die Schließung der mazedonischen Grenze war eine koordinierte Aktion der Nachbarstaaten; damals gegen den Willen der deutschen Kanzlerin, die auf das Türkei-Abkommen setzte. Heute will aber auch Angela Merkel den mazedonische Riegel nicht mehr lockern. Denn die Öffnung der Balkanroute wäre die sofortige Rückkehr zu Zuständen wie im Herbst 2015. Das würde die Bundesregierung politisch nicht überleben. Schließlich ist nur ein sehr kleiner Bruchteil der deutschen Bevölkerung für eine unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen. Einige Flüchtlinge kommen aber auch bei geschlossenen Grenzen durch, oft mithilfe von Schleppern, die aber immer teurer werden. Eine Flucht nach Deutschland wird so wieder zum Privileg der Zahlungskräftigen – und der kräftigen jungen Männer, die manchmal eben doch einen Weg finden. Die besonders Schutzbedürftigen – Schwache, Frauen, Kinder – bleiben eher dort, wo sie sind: in der Türkei und anderen Fluchtländern, in den Flüchtlingslagern der Herkunftsregion, oft auch im Herkunftsland selbst. Tradition des Resettlements fehlt Es liegt deshalb nahe, neben den Flüchtlingen, die sich nach Deutschland durchgeschlagen haben, auch große Kontingente von Flüchtlingen aus der Herkunftsregion gezielt nach Deutschland zu holen. Der UNHCR fordert das schon lange. Rund 10 Prozent der Flüchtlinge seien besonders schutzbedürftig und bräuchten ein sicheres Land für ein „Resettlement“, also eine Neuansiedelung. Wenn auf diesem Weg pro Jahr zum Beispiel 100.000 weitere Flüchtlinge nach Deutschland kommen könnten, würde das die immer noch relativ große Aufnahmebereitschaft der Bevölkerungsmehrheit wohl nicht überfordern. Im Gegenteil könnte dies die Akzeptanz der Flüchtlingsaufnahme sogar erhöhen, weil es hier um besonders Schutzbedürftige geht und weil diese Schutzbedürftigkeit schon vor der Einreise geprüft würde. Anders als in den USA, Kanada oder Schweden hat Deutschland keine Tradition des Resettlements, das heißt: Ursache für den massiv reduzierten Flüchtlingszuwachs ist die Schließung der Balkanroute Christian Rath ■■ist rechtspolitischer Korrespondent der taz. Er schreibt regelmäßig über die Arbeit der obersten Bundesgerichte und der europäischen Gerichte sowie über rechtspolitisch relevante Gerichtsverfahren und Diskussionen. Ein Schwerpunkt ist auch die Gesetzgebung zur inneren Sicherheit. Foto: Rolf Zöllner der aktiven Aufnahme von Flüchtlingen. An den UNHCR-Programmen nimmt Deutschland erst seit 2012 teil. Derzeit hat die Bundesregierung aber nur die Aufnahme von 800 Menschen pro Jahr zugesagt. Daneben gab es noch ein nationales Aufnahmeprogramm für syrische Flüchtlinge. Zwischen 2013 und 2015 wurden so rund 20.000 Syrer nach Deutschland geholt. Dieses Programm ist beendet. Baden-Württemberg holte zudem rund 1.000 JesidInnen nach Deutschland. Keine Alternative zum Asyl Wann, wenn nicht jetzt – nach dem massivem Rückgang der Flüchtlingszahlen – wäre der richtige Moment, Deutschland zu einer großen Resettlement-Nation zu machen? Da kaum jemand mit einem so deutlichen Rückgang gerechnet hat, sind Einrichtungen der Flüchtlingsversorgung teilweise unausgelastet. Es ist wenig sinnvoll, wenn Kapazitäten jetzt abgebaut werden und bei der nächsten großen Flüchtlingswelle wieder fehlen. Und doch setzt sich kaum jemand für zusätzliche Kontingente ein. Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) war Ende September die letzte Spitzenpolitikerin, die sich so äußerte. Sie vertritt damit zwar die Parteilinie, doch sonst war aus der SPD zuletzt wenig zu hören. Vermutlich hat sie Angst, von der AfD und anderen Rassisten angegriffen zu werden. Aber auch Grüne, Linke und Flüchtlingsinitiativen setzen sich kaum für Kontingente ein. Der Flüchtlingslobby gelten Kontingente vielmehr als verdächtig, weil Innenminister Thomas de Maizière (CDU) am liebsten die Flüchtlingsaufnahme ganz auf vorab geprüfte Kontingentflüchtlinge beschränken würde. De Maizières Ansatz ist aber nicht zwingend; Kontingente müssen keine Alternative zum Asyl für hier ankommende Flüchtlinge sein. Vielmehr lässt sich beides verbinden. Dabei wird und muss das klassische Asyl weiter zentrales Instrument des Flüchtlingsrechts bleiben, das folgt schon aus der Genfer Flüchtlingskonvention. Wer Kontingente ablehnt, weil er gegen die CSU-Obergrenze ist und auch sonst gegen jede Begrenzung, macht es sich zu einfach. Zurzeit geht es nicht mehr um Begrenzung, denn die Begrenzung hat durch die Schließung der mazedonischen Grenze längst stattgefunden. Jetzt geht es um eine zielgenaue Ausweitung der Flüchtlingsaufnahme. Kontingente sind derzeit die einzige Chance für Flüchtlinge, die es nicht nach Europa schaffen. GESELLSCHAFT KULTUR MEDIEN www.taz.de | [email protected] AUSSTELLU NGEN FEM I N ISTISCH ES H EF T Frau? Mann? Frau! Eva & Adele, die zwei selbst ernannten hermaphroditischen Zwillinge aus Berlin, sind zu Besuch im Pariser Musée d’Art Moderne: knallig, glitzernd und skurril. Aber sie sind nicht nur zwei exzentrische, geschlechtslose Kunstfiguren, sondern haben eine Message: Think about identity. ▶ SEITE 16 Das einzige feministische Monatsmagazin Zentralamerikas erscheint in Guatemala. Seit 18 Jahren berichten die Redakteurinnen von La Cuerda über Gewalt an Frauen, benachteiligte Indigene und schlechte Bildungschancen für Mädchen. Ein Redaktionsbesuch. ▶ SEITE 18 13 Foto: mam, Paris DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Der NSU: Die V-Männer NSU-SERIE TEIL 2 Sieben vermeintliche Sicherheitsbehörden – von Verfassungsschutzämtern bis Militärischem Abschirmdienst – führten über 40 V-Männer und V-Frauen im Umfeld des Trios. Eine Übersicht über die brisantesten Spitzel und ihre Aussagen VON ANDREAS SPEIT Im Oktober 1998 wendet sich der Anwalt Gert Thaut an die Staatsanwaltschaft Gera: Er will für das seit knapp neun Monaten abgetauchte NSUKerntrio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe herausfinden, welches Strafmaß die drei erwarten würde, wenn sie sich stellten. Die Idee zu diesem Deal hatte der Thü- Carsten Szczepanski „Piatto“ Ralf Marschner „Primus“ ringischen Verfassungsschutz selbst. Er hatte Thaut beauftragt und auch die Anwaltskosten von insgesamt 1.409,48 Mark übernommen. Doch der zuständige Oberstaatsanwalt Arndt Peter Koeppen lehnt ab. Das Trio bleibt im Untergrund – und beginnt von dort zu rauben und zu morden. Die Geschichte ist eines der vielen Fragmente, die seit dem zufälligen Auffliegen des NSU das Wirken der Ge- Carsten Szczepanski lieferte dienliche Hinweise, die allerdings nicht verfolgt wurden. Der schwerkriminelle Rechtsextreme hatte sich im Gefängnis selbst dem Brandenburger Verfassungsschutz (VS) angedient. 1995 war er wegen Mordversuchs an einem Nigerianer zu acht Jahren Haft verurteilt wurden. Schon in der U-Haft begann Carsten Szczepanski F.: M. Müller/dpa Im September diesen Jahres stand fest: Die Schweizer Behörden werden Ralf Marschner nicht ausliefern. Über 40 Straftaten listet die Polizei in ihren Dateien zu dem einstigen Zwickauer Rechtsextremen auf – von Diebstahl über verfas- sungsfeindliche Kennzeichen bis Körperverletzung. Wegen Insolvenzverschleppung besteht Haftbefehl. Maschner war von 1992 bis 2002 V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz. Laut Zeugenaussagen soll er in seinem Zwickauer Modege- Tino Brandt – „Otto“/„Oskar“ Michael See/ von Dolsperg „Tarif“ Expertin für Innenpolitik und Sprecherin für antifaschistische Politik der Linken im Bundestag, sagt, das liege auch daran, dass Akten vernichtet und Beweismittel zurückgehalten würden. Die Bundesanwaltschaft hätte längst als Ermittlungsführerin eingreifen müssen – tat sie aber nicht. „Sie ist seit Jahrzehnten in die V-Leute-Führung involviert. Sie wird nicht Teil der Lösung sein“, glaubt Renner. die Zusammenarbeit, die von 1994 bis 2000 lief. 1997 kam er frei, eröffnete in Königs Wusterhausen einen Laden für rechte Musik und baut das rechtsextreme Netzwerk Blood & Honour (B & H) mit auf – jenes Netzwerk, das den drei NSU-Mitgliedern Wohnungen, Ausweise, Geld und Waffen besorgte. Am 9. September 1998 erzählte Szcze Bis heute ist nur bruchstückhaft öffentlich bekannt: Was wussten die VLeute von dem Untergrundleben der drei? Was gaben sie zu den zehn Morden weiter, was verschwiegen sie von den drei Bombenanschlägen? Was war den V-Leute-Führern bekannt? Welche Informationen über Waffenbeschaffungen hielten sie wegen des Quellenschutzes zurück? Und vor allem: Wer schützte wen? panski seinem V-Mann-Führer, dass ein Blood-&-Honour-Kader Kontakt zu dem Trio habe und „die drei Skinheads mit Waffen versorgen“ solle. „Hallo, was ist mit der Bums“ soll jener Kader, Jan Werner, ihm gesimst haben. Bei einer Vernehmung sagte Szczepanski, die Chemnitzer Szene habe gewusst, dass das Trio nach dem Untertauchen in der Stadt war. Bis heute hat sein damaliger V-Mann-Führer, Gordian Meyer-Plath, keine moralischen Bedenken, den Schwerkriminellen beauftragt zu haben: „Piatto“ habe „auf Anhieb“ ihr „Lagebild und das anderer Verfassungsschutzbehörden“ verbessert. „Es war ein Quantensprung.“ Heute leitet MeyerPlath den VS Sachsen. schäft Beate Zschäpe und bei seiner Baufirma Uwe Mundlos beschäftigt haben – zur Zeit ihrer Illegalität. Als der NSU aufflog, meldeten sich schnell Zeugen, die das bestätigten. Die Ermittler befragten die frühere Szenegröße und ehemaligen Top-V- Mann 2012 und 2013. Marschner, der im Schweizer Chur lebt, stritt alles ab. Das Trio will er nicht gekannt haben. Glück für ihn und seinen Dienstherrn: Im Hochwasser 2010 wurden zwei Akten des NSU-Prozesses vernichtet, die Marschner betrafen. floss laut Brandt in die Szene, für Reisekosten bis zur Bezahlung von Geldstrafen für Kameraden. Vor Gericht belastete Brandt Zschäpe schwer: Sie sei eine politisch überzeugte Frau, „keine dumme Hausfrau“. Zschäpe sagte später, Brandt „hatte überall seine Finger im Spiel“. Der Mitangeklagte Ralf Wohlleben meinte, Brandt habe gewusst, wo das Trio lebte und Geld für eine Mordwaffe beschaffte. Mittlerweile sitzt Brandt in Haft: Im Dezember 2014 verurteilte ihn das Landgericht Gera wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und deren Vermittlung an andere Erwachsene zu fünfeinhalb Jahren. Die NSU-Serie in der taz ■■Der Fall: Vor fünf Jahren, am 4. November 2011, flog mit dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) auf. Die taz widmet sich aus diesem Anlass die ganze Woche lang mit einer täglichen Schwerpunktseite dem Erinnern an das Geschehene und der Analyse des Rechtsterrorismus ■■Gestern erschien: Essay von Hajo Funke: „Der NSU: Eine Reihe offener Fragen“ ■■Morgen erscheint: Die offenen Fragen der Hinterbliebenen ■■Alle Teile: online unter www.taz.de/NSU-Serie Das Amt stufte ihn intern mit der höchsten Bewertungsstufe „B“ ein, heißt: Diese Quelle galt als verlässlich. Richter lieferte auch Informationen zur deutschen Sektion des Ku-Klux-Klan (KKK). Recherchen der taz ergaben: Auch Kollegen der vom NSU getöteten Polizistin Michèle Kiesewetter gehörten zum KKK. Der heute 41-Jährige lenkte das Netzwerk Thüringer Heimatschutz (THS) mit seinen rund 170 Anhängern, zu dem auch die Kameradschaft Jena gehörte. In beiden war das spätere NSU-Trio organisiert. Von 1995 bis 2000 lieferte Brandt dem Thüringischen Verfassungsschutz (VS) Informationen. In dieser Zeit führte er nicht nur den THS, er wurde auch NPD-Landesvize. Dem VS ist es eigentlich verboten, Führungsfiguren zu bezahlen. Im Jahr 2001 wurde Brandt daher abgeschaltet, zwei Monate später aber reaktiviert. Gegenüber dem Oberlandesgericht in München verneinte er, auf das NSU-Trio an- gesetzt worden zu sein. Nah an ihnen dran war er dennoch: Bis zu 3.000 Mark sammelte er auf Szenekonzerten für sie, das Geld übergab er einem Kontaktmann. Auf den will er den VS hingewiesen haben. Auch berichtete er, das Trio finanziere sich über den Verkauf eines selbstgestalteten „Pogromly“-Spiels, ähnlich Monopoly. Das Amt ließ über Brandt „Pogromly“-Spiele kaufen – 100 Mark das Stück – und übergab ihm 1.800 Mark – für die Ausreise der Untergetauchten. Das Geld verschwand, das Trio blieb. Rund 200.000 Mark erhielt Brandt für seine Dienste – selbst in der Behörde gilt das als „exorbitant hoch“. Das Geld Er war einer der am besten verdienenden Spitzel des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) und starb unter dessen Obhut Ende März 2014 – kurz vor einer geplanten Vernehmung. Richter sollte zu einer gefundenen CD mit dem Titel „NSU/ NSDAP“ befragt werden, die er mitproduziert haben soll. Von 1994 bis 2007 lieferte er Infor- mationen, für die er insgesamt 180.000 Euro erhalten haben soll. Seit seiner Enttarnung 2012 war er im Zeugenschutz. Offiziell hieß es erst, er sei an einer nicht erkannten Diabetes gestorben. Aber die Ermittlungen laufen weiter. Anfang der 2000er war er einer der „führenden Kader“ bei den Freien Kameradschaften und Blood & Honour. 1995 hatte er Mundlos bei einem Rechtsrockkonzert in Dresden kennengelernt. Dem VS teilte er mit, dass Mundlos mit Freunden die Kameradschaft Jena gegründet habe. Im persönlichen Kontaktverzeichnis von Mundlos fanden sich die Daten von Richter. Das BfV erklärte indes offiziell, der V-Mann habe mit dem NSU nichts zu tun gehabt. Thomas Richter Foto: attenzione Michael von Dolsperg soll sich 1994 selbst beim Verfassungsschutz als V-Mann angedient haben. Drei Jahre zuvor, am 25. November 1991, griff er mit Angehörigen der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei im thüringischen Nordhausen das Ausländerbegegnungscafé an. Zusammen mit zwei anderen Beschuldigten wurde er später wegen versuchten Totschlags in zwei Fällen vor einer Disko festgenommen und zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Er wendete sich an das Bundesinnenministerium, bat um Hilfe beim Ausstieg und bot sich als Informant an. Resultat: See, wie er vor seiner Hochzeit hieß, lieferte bis 2003 gegen ein monatliches Gehalt von 500 bis 600 Mark Informationen an das Bundesamt für Verfassungsschutz, unter anderem über die Kameradschaft Leinefelde im thüringischen Eichsfeld, die Kameradschaft Jena und den THS. In einer achtstündigen Vernehmung am 10. März 2014 bei der Bundesanwaltschaft soll von Dolsperg ausgesagt haben, dass ein Mitglied des Thüringer Heimatschutzes (THS), Andre Kapké, ihn Anfang 1998 gebeten habe, das gerade untergetauchte Trio zu verstecken. Dolsperg will sofort seinen V-MannFührer verständigt haben. Der soll ihm geraten haben, den dreien keinen Unterschlupf zu gewähren. Kapké vom THS bestreitet, Dolsperg um Hilfe gebeten zu haben. Tino Brandt Foto: picture alliance Thomas Richter „Corelli“ heimdienste fragwürdig und rechtswidrig erscheinen lassen. Sie zeigt einmal mehr, welche engen Verbindungen zwischen dem Verfassungsschutz und dem Trio bestanden haben müssen. Von den 40 V-Männern und VFrauen, die die Sicherheitsbehörden im Umfeld des Trios geführt haben, sind bis heute nicht alle Identitäten der Spitzel geklärt. Martina Renner, 14 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Gesellschaft Kultur Medien DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 DI E WERBEPAUSE Willkommen auf dem Damenklo Plötzlich zählt das Kindeswohl ANONYM Ein neues Gesetz soll es Kindern, die durch Samenspende gezeugt wurden, erlauben, den Namen ihres Erzeugers zu erfahren. Gute Idee, nur das Argument ist faul VON MARLENE HALSER W Screenshot: Secret Deodorant/YouTube Über das Schicksal von Transmenschen wird in den USA derzeit hitzige debattiert: North Carolina hat unlängst diskriminierende Gesetze verabschiedet. Der Widerstand war groß. Und vor dem U. S. Supreme Court steht eine Entscheidung darüber aus, ob der Schüler Gavin Grimm, der als sich als trans identifiziert, die Jungstoilette der Schule benutzen darf. Nun hat ausgerechnet die USamerikanische Werbebranche ein Statement gesetzt. Procter & Gamble, der Hersteller von Gesundheits- und Pflegeprodukten, hat einen neuen Werbespot für sein „Secret Deodorant“ veröffentlicht. „Stress test“ heißt die Serie. Frauen machen darin den ersten Schritt in der Beziehung, halten um die Hand ihres Mannes an oder fordern mehr Gehalt von ihrem Chef. Sie stellen stereotype Geschlechternormen in Frage. Den neuesten Stresstest muss nun die Transfrau Dana, gespielt von der queeren Künstler_in Karis Wilde, bestehen. Auf einer Damentoilette steht sie in der Kabine, während drei Frauen das Bad betreten. Sie lachen vor dem Spiegel, während Dana in der Kabine schwitzt. Mutig tritt sie schließlich heraus – und erntet Komplimente für ihr Kleid. „Dana findet den Mut zu zeigen, dass es keinen falschen Weg gibt, eine Frau zu sein“, lautet der Slogan. Will heißen: Die US-Wirtschaft ist fortschrittlicher als viele Konservative in der Politik. Das zeigte auch der Fall North Carolina. Es waren Unternehmen wie PayPal, die verkündeten, ihre geplanten Filiale aus Protest gegen die Diskriminierung anderswo zu eröffnen, und so Bewegung in die Sache brachten. CAROLINA SCHWARZ DI E GESELLSCHAFTSKRITI K Ja, ja, machen wir ■■WAS SAGT UNS DAS? Airbnb fordert von Usern Bekenntnis zur Nicht-Diskriminierung E in Bekenntnis, jeden Menschen gleich zu behandeln – unabhängig von Rasse, Religion, Herkunft, Volkszugehörigkeit, Behinderung, Geschlecht, Geschlechtsidentität, sexueller Orientierung und Alter. Dem sollen am 1. November alle Nutzer zustimmen. Hört sich doch gut an. Das Ferienwohnungsportal reagiert damit auf Kritik: Viele User hatten unter dem TwitterHashtag #AirBnBWhileBlack über ihre Diskriminierungserfahrungen im Zusammenhang mit der Plattform berichtet. Bestätigt wurden diese Eindrücke von einer Harvard-Studie von Anfang 2016. Diese stellte in fünf US-Großstädten Anfragen mit „weißen“ und „schwarzen“ Fake-Profilen. Ergebnis: Nutzer-Profile mit Namen, die gemeinhin mit Afroamerikanern assoziiert werden, wurden dabei um 16 Prozent seltener als Gäste mit „weiß“ assoziierten Namen akzeptiert. Ähnliche Beschwerden kamen auch aus der LGBTCommunity. Das Problem an Airbnbs jetzigem Versuch, das Problem zu lösen: Diskriminierung wird nicht mit einem Mausklick aufgehoben. Wer nicht zustimmt, kann die Plattform nicht mehr nutzen – die Einhaltung des Bekenntnisses kontrolliert aber niemand. Airbnbs Konzept bleibt unverändert: In den Profilen wird jeder trotzdem erkennen, wie Gastgeber oder Gäste aussehen – schwarz oder weiß. Was das Ganze zu einer Scheinlösung VANESSA CLOBES macht. r ah er uj üb e h dN c au un ise ten Re ach hn ei in die Zivilgesellschaft W SENEGAL MIT IBOU COULIBALY DIOP UND MADJUGUÈNE CISSÉ Dakar – Insel Gorée – St. Louis – Touba – Popinguine Starke Frauen, toleranter Islam und rebellische Rapper 23. Dez. 2016 – 5. Jan. 2017 / 18. Febr. – 3. März 2017; ab 2.880 € (DZ/HP/Flug) In Kooperation mit AfricAvenir e. V. und dem Frauennetzwerk REFDAF, Dakar Starke Frauen werden Sie in den REFDAF-Gruppen wie den „Frauen gegen die klandestine Migration“ kennenlernen, den toleranten Islam in Touba bei der Sufi-Bruderschaft der Mouriden und die rebellischen Rapper bei Treffen mit der Jugendbewegung „Y'en a marre“ – dazwischen liegt eine Rundreise durch ein Land mit warmherzigen Menschen und viel Musik. Mehr Infos unter taz.de/tazreisen oder Telefon (0 30) 2 59 02-1 17 taz Verlags- und Vertriebs-GmbH, Rudi-Dutschke-Str. 23, 10969 Berlin er will schon gerne Kindern schaden? Oder daran schuld sein, dass es ihnen im Leben schlecht ergeht? Die sozial verträgliche Antwort lautet: niemand. Gegen das Kindeswohl lässt sich schwer argumentieren. Insofern ist an dem Gesetzesvorstoß von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe auch nichts falsch. Der CDU-Minister plant ein Samenspender-Register. Dort sollen sich Kinder, die ihre Existenz in vitro gespendeten Spermien verdanken, künftig informieren können, wer ihr Vater ist (die taz berichtete). Gröhe will außerdem den Spendern garantieren, dass sie wie gehabt keinen Unterhalt zahlen und ihren Nachkommen auch nichts vererben müssen. Nicht mal treffen müssen sie ihre Kinder, auch wenn diese das im mündigen Alter wollen. Man kann also sagen: Alle Interessen wurden gewahrt. Alle sind glücklich. Tipptopp. Oder man kann noch mal nachhaken. Denn das zentrale Argument, das in dieser Debatte eine Rolle spielt, sollte zumindest stutzig machen. Nicht aus der Perspektive der Kinder, deren Wohl definitiv schützenswert ist. Wohl aber deshalb, weil es nur in diesem speziellen Fall bemüht wird. Gemeint ist das Argument, dass Kinder, deren Vater nicht bekannt ist, seelischen Schaden erleiden. Ihnen fehle oft ein Teil ihrer Identität, heißt es. Ein Leben lang suchten sie nach etwas, das durch den anonymen Erzeuger schmerzlich abwesend ist. Das mag so sein. Das seelische Leid vaterloser Kinder soll hier nicht in Frage stehen. Nur: Das ist weder ein neues Problem. Noch eines, dass an die Mutterschaft durch Samenspende gekoppelt ist. Was ist mit anderen abwesenden Vätern? Mit Vätern, deren Identität Mütter absichtlich verschleiern, weil sie nicht darüber sprechen oder sich nicht an sie erinnern wollen? Oder mit Kindern, denen nicht nur der Vater, sondern beide Elternteile fehlen, und die womöglich noch mehr darunter leiden, dass ihre Wurzeln im Verborgenen liegen? Warum wird ausgerechnet beim Thema Samenspende das Argument des Kindeswohls bemüht? Ein Vorschlag: Weil es hier gar nicht ausschließlich um das Wohl der Kinder geht. Sondern darum, ein traditionelles heteronormatives Familienbild zu verteidigen, das durch das Konzept der Samenspende in Frage steht. Durch die Samenspende wird die Reproduktion zu einem Akt des Konsums. (Single-)Frauen und lesbische Paare brauchen keinen Partner mehr, um Mütter zu werden. Nicht mal mehr jemanden, der eine Nacht mit ihnen verbringt. Man könnte sagen: Eine Schwangerschaft durch Samenspende ist ein Akt der Emanzipation. Würde man sich nun wirklich für das Wohl der Kinder interessieren, müsste man die Diskussion auf breitere Füße stellen – und auch all die Fälle miteinbeziehen, in denen Kindern aus Was da mitschwingt, ist das altbekannte Bild der Rabenmutter Fortpflanzung, steril: Samenbank in Dänemark Foto: Laerke Posselt/VU/laif anderen Gründen ein Elternteil fehlt. Das geschieht aber nicht. Ist der Subtext also ein anderer? Nämlich der: Frauen, die ohne Vater schwanger werden, schaden dem Kind? Früher war die Sache ganz einfach: Eine Mutter ohne Mann wurde als nicht tolerierbares Flittchen abgestempelt und ihr „Bastard“ aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Das geht heute nicht mehr. Lässt sich einwenden: Die unverschuldet alleinerziehend Mutter ist doch heute gesellschaftlich akzeptiert. Stimmt. Aber sie ist ein Sonderfall, ein Opfer der Umstände. Sie wünscht sich im Grunde einen Partner und stellt das Ideal der Kernfamilie nicht in Frage. Also wird sie nicht sanktioniert. Das Kindeswohl wird erst dann bemüht, wenn sich Frauen dazu entscheiden, geplant – also vorsätzlich – ohne Mann schwanger zu werden. Dann ist plötzlich von den nicht verantwortbaren Schäden die Rede, die ein Kind, das die Identität des Vaters nicht kennt, erleiden kann. Was da mitschwingt, ist das altbekannte Bild der Rabenmutter. Was aber ist, wenn eine Mutter ihr via Samenspende empfangenes Baby artgerecht liebt und umsorgt, während eine klassische Kernfamilie säuft und den Nachwuchs ständig vor den Fernseher setzt? Welches Kind trägt am Ende den größeren Schaden? Ganz so einfach ist das alles nicht. Ist also doch was falsch am Gesetzesvorhaben des Bundesministers? Nein. Keine Sorge. Aber das Argument, das in der Debatte bemüht wird, hinkt. Eben weil es nur dann relevant zu sein scheint, wenn es um Samenspenden geht. Und das klingt nach etwas ganz anderem. Nämlich nach der Angst all derer, die fürchten, dass auch die letzten noch verbliebenen Grundwerte am Ende Auslegungssache sind. Also nach den Gegner*Innen von Emanzipation. SO RICHTIG ÜBERRASCHEND SIND GÜNTHER OETTINGERS AUSSAGEN ÜBER CHINESEN EIGENTLICH NICHT Deutschland, du großartige Mausrutscher-Kolonne S chlitzohren und Schlitzaugen“. Donnerwetter, da hat der Mann mit dem Namen eines einigermaßen erträglichen Bieres aber einen rausgehauen. LOL, ROFL, HDGDL, ach du mein Stammtisch, i moag di. In etwa so humorig wie die fleischgewordenen Herrenwitze, die auf der vollgekotzten Theresienwiese des Oktoberfests herumliegen und sich für die Krone der Schöpfung halten. Vor, während und nach dem Vollrausch. Das Geld der asiatischen Touristen wird auch dort gerne genommen, ansonsten hat aber Ruhe zu herrschen auf den billigen beziehungsweise chinesischen Plätzen. Haha, verstehen Sie? Ja? Oh, tut mir leid, so war das gar nicht gemeint. Prosit! Ob Günther Oettinger sich in bester EU-Parlament-Manier von Jean-Claude Junckers feuchtfröhlichen Auftritten inspirieren ließ und sich am frü- hen Morgen ein kleines Schnäpperchen gegönnt hat, bevor er seine Weisheiten über Asiaten verbreitete und nebenbei noch von einer „Zwangs-Homoehe“ philosophierte, ist der Nachwelt auf der Afterhour nicht überliefert. Es wäre ihm allerdings durchaus zuzutrauen, derartiges auch nüchtern abzusondern. Schriftlich überliefert ist hingegen seine Erklärung in der SUPERillu der Politik, auch Welt genannt. Das ist die Zeitung, die ihre Leser neuerdings geflissentlich vorwarnt, bevor diese sich einen Artikel aus dem Hause Springer gönnen. „Lesedauer 4 Minuten“ steht dort seit Kurzem vor den Onlinetexten. Gut zu wissen, mehr Zeit zwischen Weißwurst zuzeln, sprachliche Flächenbrände entfachen und der nächsten Maß hab ich grade eh nicht. Was meinte Herr Oettinger denn nun genau, als er von Schlitzaugen sprach? „Das war LÜGENLESER JURI STERNBURG Foto: William Minke eine etwas saloppe Äußerung, die in keinster Weise respektlos gegenüber China gemeint war.“ Okay, du bayerische Suffnase mit dem Intellekt einer Beutelratte. Verzeihung. Das war natürlich nicht respektlos gemeint. Deutschland, du großartige Mausrutscher-Kolonne. Der von CSU-Spezi Joachim Herrmann ins Spiel gebrachte „wunderbare Neger“ sitzt nur einige Meter weiter und nickt eifrig. Salopp, ja. Aber mehr doch wirklich nicht. Brechdauer: 20 Minuten und mehr. Erneute Nachfrage. Aber bitte noch einmal, wie genau meinten Sie das denn nun, Herr EU-Kommissar? „Ich wollte im digitalen Sektor, generell bei technologisch geprägten Sektoren aufzeigen, wie dynamisch die Welt ist.“ Potzblitz, das klingt sogar noch besser als Christoph Daums „Ich habe ein absolut reines Gewissen“ oder die Statements von Deutschlands aktuellem Lieblingstroll, Donald „not true“ Trump. Das ist nicht mal mehr Whataboutism. Das ist grenzgeniale Debilität und die perfektionierte Verweigerung von Reflexion. Genug Politik für heute. Zu ermüdend. Also schnell mal ins Unterhaltungsprogramm gezappt, da wo all das gespiegelt wird, was dieses schöne Land so ausmacht. Oh, Blackfacing um 20.15 Uhr im Ersten. Ganz schön salopp. Endlich ausspannen und fünfe gerade sein lassen. Hitler-Doku, Deutschlands schönste Bahnstrecken, Mitten im Leben, eine Live-Übertragung aus dem EUParlament, Verstehen Sie Spaß? Guckdauer: 24/7 DIE FÜNFTAGEVORSCHAU | [email protected] Mittwoch Ingo Arzt Kapitalozän Donnerstag Martin Reichert Herbstzeitlos Freitag Judyta Smykowski Rollt bei mir Montag Aboud Saeed Warum so ernst? Dienstag Doris Akrap So nicht Gesellschaft + Kultur DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 15 Weltberühmt und im kanadischen Montreal zu Hause: Leonard Cohen Foto: Sony Gesang vom Trümmerberg herab SINGER-SONGWRITER „You Want It Darker“ heißt das neue Werk von Leonard Cohen. Er belässt es nicht bei dieser Drohung: Cohens abschließendes Album ist harter Tobak. Musik und Texte nehmen es mit seinen Großtaten aus früheren Jahrzehnten auf VON DIRK KNIPPHALS Ich hatte mich sehr gefreut. Doch das erste Hören war ein Schock. Vielleicht alarmierte mich schon der summende jüdische Männerchor ganz zu Beginn. Er summt sehr gottesfürchtig. Oder es war das fette Bassmotiv, das dann so unerbittlich wie eine rollende Kutsche daherkommt, die einen zum Jüngsten Gericht abholt. Auf jeden Fall war es spätestens Leonard Cohens Stimme. Von den beiden vorangegangenen Alben, „Old Ideas“ und „Popular Problems“, mag man schon einiges gewohnt sein an stimmlicher Dunkelheit bei dem inzwischen 82-jährigen Singer-Songwriter, aber das hier ist noch einmal eine Steigerung. Gerade zum Auftakt des neuen Albums singt Leonard Cohen trocken und gefasst, als wolle er den Titel „You Want It Darker“ gleich einlösen, wie zur Hälfte schon aus einem Jenseits. Und was er singt, ist ein Hammer: „I’m ready, my Lord.“ Ganz, ja doch, nackt und endgültig steht das da. Das war’s dann jedenfalls. Das neue Album war gerade einmal 82 Sekunden gelaufen – 1:22 stand auf der Anzeige –, als ich den Pausenknopf drückte und mir den Kopfhörer herunterriss. Eigentlich bin ich gar nicht so zimperlich. Und obwohl religiös sonst unmusikalisch, suche ich bei Cohen gerade diese tiefen kunstreligiösen Momente. Aber das war jetzt zu viel der schweren Zeichen. Die Abwehrreaktion hatte natürlich auch etwas mit der Meldungslage zu tun. Cohen bereite sich aufs Sterben vor, las man kurz vor Erscheinen des neuen Albums. Man erfuhr von einem Brief an seine sterbende frühere Partnerin Marianne Ihle (die Frau auf dem Rückcover von „Songs From A Room“), in dem Cohen schrieb, dass er ihr bald folgen werde. Er selbst gehe davon aus, dass dies sein letztes Album sei, hieß es. Und die ersten Besprechungen klangen schon wie Nachrufe. Das ist inzwischen zwar alles relativiert. Er gedenke, noch mindestens 20 Jahre leben zu wollen, ließ Cohen in der ihm eigenen schelmischen Sphinxhaftigkeit wissen. Aber etwas von Testament, von letzten Dingen, großem Abschiednehmen und Vermächtnis haftete dem Album seitdem nun einmal an. Gottogott. Und dann ist gerade auch noch Herbst. Auf jeden Fall brauchte ich also etwas Anlaufzeit. Die neun Songs im Handy immer bei mir, hörte ich die nächsten Tage vorsichtig mal hier rein, mal da rein. Ich registrierte, dass es Bestimmender als Abschiednehmen scheint für das Cohen-Album Dankbarkeit das Hauptthema zu sein auch spielerische Momente gibt. Ich hörte den Song „Treaty“ zwei Wochen lang morgens, mittags und abends, bis ich die Zeilen „I wish there was a treaty we could sign / I do not care who takes this bloody hill“ ständig im Kopf hatte und feststellte, dass der Song zum Besten gehört, was Cohen je gemacht hat. Ich grinste jedes Mal bei dieser tollen torkelnden Gitarre am Anfang von „Leaving the Table“. Ich ließ mich tragen von der Geige in „It Seemed the Better Way“. Ich entdeckte, in wie vielen Variationen diese tiefe Altmännerstimme flüstern kann, manchmal nimmt sie sogar etwas Tänzelndes an. Kurz, binnen zwei Wochen, während draußen die Blätter fielen, entblätterte sich mir dieses neue Album allmählich als das Meisterwerk, das es tatsächlich ist. Und dann fiel mir auf, dass das immer so war. Bei den meisten neuen Cohen-Alben, ja, bei ganzen Werkphasen gab es immer erst einmal eine Abwehr zu überwinden. In den inneren Kanon aufgenommen habe ich sie erst über Umwege. Seltsam. Aber das war wirklich schon immer so, von Anfang an. Zum ersten Mal begegnet ist mir Leonard Cohen, als ich ein Teenager war und auf den Flohmärkten meiner Heimatstadt Kiel damals nach billigen gebrauchten Alben suchte. In fast allen Stapeln, in denen ich an den Flohmarktständen wühlte, gab es Cohen-Platten, als ob ihn damals, Ende der Siebziger, alle loswerden wollten. Es war die Nach-Innerlichkeits-Phase. 68er und Hippies schmissen ihre Flokatis aus den Wohnungen und verscheuerten die Cohen-Alben gleich mit. Zwei Werke, die ich damals für, ich glaube, zusammen fünf Mark gekauft habe, besitze ich heute noch: „New Skin for the Old Ceremony“ und leider nur eine „Greatest Hits“. Ich habe Leonard Cohen schon immer gerne gehört, aber lange Zeit wusste ich nicht, warum. Zuerst ging es mir (es ist mir heute etwas peinlich) offenbar eher darum, mit seiner Musik auf meinem Plattenteller eine bestimmte Atmosphäre herzustellen. So etwas zwischen traurig und kuschelig. Leonard Cohens Hits, „Suzanne“, „So Long, Marianne“, „Famous Blue Raincoat“, würde man in einem heutigen Vokabular sagen, waren zum Chillen da. Alles in allem brauchte ich – das war der erste Umweg – bestimmt 20 Jahre, um zu begreifen, dass da überhaupt ein ganz gewaltiges Missverständnis vorlag. Bis heute werde ich etwas unwillig, wenn mir Cohen noch als „Meister der leisen Töne“ nähergebracht oder vorschnell in einen Zusammenhang mit Melancholie gestellt wird. Dabei Wie variantenreich diese tiefe Altmännerstimme flüstern kann, manchmal nimmt sie sogar etwas Tänzelndes an geht es doch in Wirklichkeit um sehr handfeste Dinge. Um Begehren („Take This Longing“). Verlorenheit („Story of Isaac“). Sex („Don’t go home with your hard-on“, „Giving me head / on an unmade bed“). Auch um Depressionen („Seems So Long Ago, Nancy“). Nachrichten über die Intensität des Lebens sind das, Aufund Abschwünge inklusive. Von wegen Sentimentalität oder Gefühligkeit. Wie singt er in „That Don’t Make It Junk“: „I don’t trust my inner feeling / Inner feelings come and go“. Und wo jetzt so viel Gewese um die Abschiede auf dem aktuellen Album gemacht wird – Abschiede waren natürlich von Anfang an bei Leonard Cohen dabei. Der zweite Umweg betrifft die mittlere Schaffensphase. Die großen Klassiker, „Hallelujah“, „If It Be Your Will“, „First We Take Manhattan“, „Anthem“, hat man natürlich immer mitgenommen. Verstanden habe ich nur lange nicht, was das sollte, die Gitarre in die Ecke zu stellen und stattdessen auf einem Casio-Synthesizer inklusiver dünner Drumlines herumzutippen. Die Produktionen hörten sich stellenweise ja so homemade an, wie sie auch waren. Wie Cohen etwa auf „Ten New Songs“ die Dringlichkeit seines Gesangs mit den gelegentlich etwas plastikhaften Arrangements konfrontiert, ist eine ganz eigene Kunst für sich. Aber man muss erst einmal drauf kommen, wie großartig Leonard Cohen hier das Tiefe mit dem Banalen verknüpft. Wie heißt es in „If It Be Your Will“: „From this broken hill / I will sing to you“. Es ist eben kein großer, pathetischer Thron der Kunst, sondern ein Trümmerberg, von dem herab Leonard Cohen zu uns singt (oder zu Gott, was, sein großer Trick, aber dasselbe ist). Und wie heißt es in „Anthem“: „Ring the bells that still can ring / Forget your perfect offering“. Irgendwann übersetzte ich mir das in: Man darf gerade nicht melancholisch werden, sondern soll die Glocken läuten, die einem zur Verfügung stehen. Und wenn diese Glocken eben aus billigen CasioGeräten bestehen und aus einer Stimme, mit der man ein Leben lang zu kämpfen hat. Was daraus entsteht, liegt sowieso nicht in der eigenen Hand. Das einzige Album, das ich von Anfang an rundherum großartig fand, war „Dear Heather“ (2004). Mit dem Spätwerk, von „Old Ideas“, an hatte ich dagegen zuerst Schwierigkeiten. Ich weiß noch, „Nevermind“ und „Born in Chains“ aus „Popular Problems“ hörte ich zum ersten Mal, während am Strand von Westerland die Sonne unterging – und ich bekam sofort Lust auf so etwas Profanes wie ein Leber- wurstbrot. Das war mir zunächst doch ein zu intimer Umgang mit dem Heiligen oder Bösen oder was auch immer. Aber wie großartig und schlicht dann wieder der letzte Song des Albums ist, „You Got Me Singing“. Und aus dem Abstand daraus sind auch „Old Ideas“ und „Popular Problems“ immer mehr gewachsen, so wie jetzt „You Want It Darker“. Wenn ich mir jetzt den Männerchor, den Bass und das intensive Flüstern am Anfang anhöre, finde ich den Schock nur noch bedingt wieder. Bestimmender als das Abschiednehmen scheint mir auf dem neuen Album sowieso die Dankbarkeit zu sein. Was ist der Song „If I Didn’t Have Your Love“, neben „Treaty“ mein Lieblingsstück, anderes als eine Dankesbezeugung für ein bis zum Äußersten ausgekostetes Leben? Für ein Leben, das auch noch weitergeht, wenn man, wie Leonard Cohen, die Phase, in der man alt und weise werden kann, auch schon hinter sich gebracht hat und mit seiner Musik einfach immer weiter macht. So lange es geht. ■■Leonard Cohen: „You Want It Darker“ (Columbia/Sony) BERICHTIGUNG Themen der Kultur landen nicht oft auf der Seite 1. Meistens ist das der unsicheren Weltlage und der Innenpolitik geschuldet. Umso schöner, wenn unsere Themen zur Schlagzeile werden, so wie vergangene Woche der Text von Michael Rauhut über die afroamerikanische Sängerin Etta Cameron und ihr Wirken in der DDR. Allerdings hatte sich ein Fehler eingeschlichen, denn Rauhut, ein Berliner, lehrt als Professor in Norwegen, nicht in Dänemark. 16 TAZ.DI E TAGESZEITU NG EINGESCHÜCHTERTE SOZIALDEMOKRATISCHE STADTREGIERUNG Thügida marschiert GOTT UND DIE WELT VON MICHA BRUMLIK W em käme, hörte sie oder er das Wort „deutsche Kultur“, nicht mindestens auch die Stadt Jena in den Sinn. Hier wirkten und lehrten im 19. Jahrhundert Schiller und Schlegel, Hegel und Fichte, hier sorgte Goethe als Politiker, als Wissenschaftsminister – dieses Amt hieß damals „Hofrat“ – des Weimarer Fürsten dafür, dass Bibliotheken, Gärten und Laboratorien eingerichtet wurden, hier vollendete er unter anderem seinen Roman „Wilhelm Meister“ und seine Lebenserinnerungen „Dichtung und Wahrheit“, hier ist noch immer Schillers Gartenhaus zu sehen, wo er unter anderem den „Wallenstein“ schrieb. Heute freilich, seit 2011, steht die lebens- und liebenswerte Universitätsstadt zum Nachteil ihrer Bewohnerinnen und Studierenden im Ruf, ein Zentrum der rassistischen und neonazistischen Untergrundszene zu sein – bis hin zu begründeten Vermutungen, dass sich dort auch Mitglieder des NSU getroffen haben. An Dreistigkeit ist die neonazistische Szene dort nicht zu überbieten: So marschierten an Hitlers Geburtstag 200 „Thügida“-Anhänger in einem Fackelzug durch Jena, eine Demonstration, die nach einem Verbot der Stadtverwaltung durch das Verwaltungsgericht Jena kassiert wurde. Kurze Zeit später, am 17. August, dem Todestag des „Führerstellvertreters Rudolf Heß“, schritt die Polizei daher nicht mehr ein, wenngleich 3.000 Menschen, die Jenaer Zivilgesellschaft, dagegen aufstanden, aber von der Polizei mit Hunden und Wasserwerfern drangsaliert wurde. Doch hat die nach oben offene Skala neonazistischer Provokationen ihr Ende bei Weitem noch nicht erreicht: Ausgerechnet für den 9. November, jenem Tag, an dem 1938 die Synagogen brannten und Tausende jüdischer Männer in Konzentrationslager gesperrt wurden, hat „Thügida“ einen weiteren Aufmarsch angemeldet. Die Stadt reagierte darauf halbherzig, indem sie zwar die Demonstration der Rechtsradikalen am 9. 11. untersagte, ihnen aber für den 8. 11. einen Gesellschaft + Kultur DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 Zwangsläufig ein Begriff GENDERCHAOS In keine Zeit passte die Pariser Ausstellung über die hermaphroditischen Marsch erlaubte – zwar nicht, wie angemeldet, in Häftlingskleidung, wohl aber mit Sarg und Fackeln. Dass und wie die Neonazis von „Thügida“ die deutsche Geschichte verdrehen, sich – als vermeintlich unterdrückte Deutsche – mit den jüdischen Opfern des 9. November 1938 gleichsetzen, ist so absurd, dass es keiner Widerlegung bedarf. Dass die Stadt Jena derlei hinnimmt, ist ein Skandal sondergleichen. Der Oberbürgermeister von Jena, Dr. Albrecht Schröter, Jg. 1955, gehört der SPD an, ist gelernter evangelischer Theologe und hat sich nicht zuletzt um die Aufarbeitung der Verfolgung der Jenaer Juden in der NS-Zeit verdient gemacht. Wie eingeschüchtert oder opportunistisch muss die politische, die sozialdemokratische Mehrheit in Jena sein, dass sie Naziaufmärsche zulässt? Politisch gibt es keinen Grund: Bei der Bundestagswahl 2013 erhielten NPD und AfD zusammen kaum mehr als 5 Prozent der Stimmen, für die AfD freilich kandidiert dort Michael Kaufmann, er lehrt in Jena als Professor für Mess-, Steuerungs- und Regelungstechnik am Fachbereich Maschinenbau der ErnstAbbe-Fachhochschule. Er immerhin distanzierte sich von den Rechtsradikalen. Und die Studierenden? Ihr politisches Interesse scheint rapide zu schwinden – haben doch bei der Wahl zum dortigen Studierendenrat im Sommer 2016 vom etwa 16.000 Wahlberechtigten nur 9,2 Prozent an der Wahl teilgenommen. So schließt sich ein Bild: opportunistische, pseudolegalistische Verwaltungsrichter, eine eingeschüchterte sozialdemokratische Stadtregierung sowie rapide schwindendes politisches Interesse – nein, nicht bei den sogenannten „Abgehängten“, sondern bei den Gebildeten: Studierende, die unter dem Druck der Bolognareformen offenbar nichts anderes im Sinn haben, als möglichst schnell ein Zertifikat zu erhalten und nebenbei noch zu jobben – wer wollte das verurteilen? Auf jeden Fall: Die Zustände in Jena, jener Ikone der Kultur der deutschen Klassik, zeigen einen möglichen Entwicklungspfad der Politik in Deutschland. Was wohl Goethe, Schiller und Hegel dazu gesagt hätten? ■■Micha Brumlik lebt in Berlin und arbeitet am Zentrum für Jüdische Studien © Peter Hönnemann ANZEIGE Berliner Kunst-Zwillinge Eva & Adele gesellschaftspolitisch besser Eva & Adele, Polaroid Diary, 18. 4. 1991, Berlin Abb.: Musée d‘Art Moderne de la Ville de Paris VON ANNABELLE HIRSCH Würde der Papst in den kommenden paar Monaten, irgendwann zwischen heute und Ende Februar, einen Besuch in das Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris wagen, er wäre sicher empört. Da machte er sich vor ein paar Wochen die Mühe, sich öffentlich gegen das französische Schulsystem auszusprechen, das angeblich, anarchisch wie es bekanntlich ist, sehr aktiv eine höchst gefährliche Theo rie verbreitet, nämlich die Gendertheorie, und vergisst dabei, dass die Museen in der Relativierung der ganzen Mann-Frau-Geschlechts-Debatten noch viel radikaler vorgehen. Es ist fast ein bisschen komisch. Denn während vor zwei Wochen eine wiederauferstandene Gruppe von „Manif pour tous“-Anhängern über den Trocadero stampfte, um Frankreich vor den Gefahren der gleichgeschlechtlichen Ehe und Elternschaft zu warnen, konnte man nur ein paar hundert Meter weiter im Untergeschoss des Musée d’Art Moderne sehen, was es bedeuten kann, wenn Männlichkeit und Weiblichkeit keine Rolle mehr spielt: Eva & Adele, die selbst ernannten herma phro ditischen Zwillinge aus Berlin, sind zu Besuch in Paris welches Kleid zur Documenta 13 (Spitzen-Bordüren-Kleid). Während einer Einzelausstellung im Museum Mocak in Krakau, so erfährt man, trugen sie zum Interview einen rosa gestreiften Nerzmantel und zu ihrem von dort aus angetretenen Ausflug nach Auschwitz einen schwarzen Nerzpelzmantel, rosa Baumwoll-Seiden-Pulli und einen schwarzen Springfaltenrock. Hier, also bei Auschwitz, kommt ein irritierender Aspekt dieser Ausstellung zutage, der sicher so nicht intendiert war und weder mit Geschlechtlichkeit noch mit Freiheit oder Freude zu tun hat. Denn diese tatsächlich amüsanten Beschreibungen der Garderobe des Paares rahmen den Eingang zum Christian-Boltanski-Kabinett. Boltanski, dessen Werk sich seit jeher dem Erinnern verschrieben hat, gedenkt in diesen zwei Räumen, in denen sich erst Pullis und Hosen stapeln und dann ein paar dunkle Porträts aneinanderreihen, der während des Nationalsozialismus in Konzentrationslagern umgekommenen Kinder. Hier Kleidung, dort Kleidung, hier Gesichter, dort Gesichter, hier kahle, krank aussehende Mann-Frauen, dort Kindergesichter, die sich in der Dunkelheit entziehen: War das Absicht? Ist das ein Versehen? Die beiden Werke treten in einen leicht verstörenden, dissonanten Dialog, zumal die Berliner Hermaphroditen, wenn man vom vielen Rosa und Edith Piafs „Je ne regrette rien“-Gesang einmal absieht, durchaus nicht nur Lebensfreude versprühen. Im Gegenteil: Die Videos im letzten der drei kleinen Räume sind kalt und düster. Dort läuft Adele (die kleinere der beiden) mit ihrem kahlen weißen Kopf über einen kahlen Acker oder nackt durch ein ruinenartiges Gebäude, sie macht nackt ein Feuer bei dem sie einen Haufen Schuhe verbrennt und tanzt in einer leergefegten Landschaft durch den heraufsteigenden Rauch. Es mag sein, dass die Nähe zu Boltanski und die Konzentrationslagerassoziation dem kahlköpfigen Paar unrecht tut, es mag sein, dass dies alles nur ein dummer Zufall ist und hier tatsächlich ein Lob auf die Freiheit zu sein scheint, zu leben, wie man es möchte, ob mit Penis oder Vagina oder beidem oder gar nichts. Nur kommt diese Botschaft hier im Untergeschoss der Pariser Institution sehr schief und erstickt rüber. Lebendige Kunstfiguren strahlen live einfach besser. tesk geschminkten Gesichtern und den knalligen, meist pinken Kostümen aus Plastik oder mit Flügeln oder sonstigen skurrilen Accessoires erscheinen. Sie gehören dazu, sind Teil der Veranstaltung, und auch wenn es natürlich viele solcher Gestalten gibt, Eva & Adele sind fraglos die bekanntesten von ihnen, sie bleiben im Gedächtnis. Sie sind, so heißt es hier in Paris, eben anders. Sie sind nicht nur zwei exzentrische, geschlechts- lose Kunstfiguren, sie haben eine Message. Freiheit, Spaß und Freude, könnte eine solche Botschaft lauten, suggeriert Fabrice Hergott, der Direktor des Museums, in seinem Vorwort zum Katalog. Eine Reflexion über Geschlechtlichkeit, Identität, den Anderen, der eigentlich Ich ist und so weiter, wäre eine andere Option. Oder, dass „queer“ schon lange vor Caitlyn Jenner in der Kunst durchexerziert wurde, und zwar nicht nur zu Claude Cahuns Zeiten und auch nicht nur filmisch wie bei Mathew Barney sondern ganz echt und live im realen Leben von heute. Man kann sehr viele gute Ansätze finden um zu erklären, was Eva & Adele dort tun, so wirklich einleuchten mag einem das nicht, weshalb man sich schnell auf die Details konzentriert. Etwa im ersten kleinen Raum, in dem neben einem rosafarbenen Van die Wände mit Abbildungen der diversen Kostüme des Paars tapeziert wurden und man in ihre sehr minutiös detaillierten Bekleidungskalender blicken kann: Dort erfährt man zum Beispiel, welche Unterwäsche sie während der Art Basel Miami Beach 2015 zum Flanieren trugen (schwarzer Wonderbra, schwarzes Höschen, Champagner-Straps) und ■■Bis 26. Februar, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, Katalog (Hirmer Verlag) 39,90 Euro eine Frau lächeln und die Form wahren. Von niemandem sonst wird man das verlangen.‘ Margaret Thatcher hat sicher nicht viel gelächelt; Angela Merkel lächelt oder lacht selten.“ Debakel an den Münchner Kammerspielen: Nach einem Regisseurwechsel mitten in den Proben hat das Theater die Aufführung zu Michel Houellebecqs umstrittenen Roman „Unterwerfung“ komplett abgesagt. „Die Produktion konnte sich nicht aus der durch die Absage des Regisseurs Julien Gosselin verursachten Krise be- freien“, teilte das Haus gestern mit. Die für den 19. November vorgesehene Premiere entfalle ersatzlos. Für weitere Vorstellungstage sei Ersatz geplant. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke hat den Schriftsteller Günter de Bruyn zu dessen 90. Geburtstag am Dienstag als „großen deutschen Romancier“ gewürdigt. De Bruyn habe die Jahre der DDR kritisch beobachtet und beschrieben wie auch die Jahre nach der wiedergewonnenen Einheit Deutschlands, sagte Woidke gestern. „Wer Ihre Werke liest, wird in die Geschichte Brandenburgs und Preußens entführt“, erklärte Woidke. „Sie haben unserem jungen Land einen Teil der Identität wiedergegeben, die verschüttet, weil nicht gewünscht war.“ Kubus mit Wellendach und Wasserbecken: Die frühere DDRVolksschwimmhalle im Schweriner Stadtteil Lankow aus der Ära Honecker wird zum extravaganten Wohnhaus. Gerettet hat den Betonklotz seine schlichte Einmaligkeit. Erst kurz vor Abriss kam er auf die Denkmalliste. und könnten gesellschaftspolitisch in keine bessere Zeit fallen. Vernissage-, Museumseröffnung- und Kunstmesse-Gängern sind die Damen und Herren, die Zwitterwesen der Geschlechtlichkeit, zwangsläufig ein Begriff. Es gibt kaum ein bedeutendes Kunstevent, auf dem das ungleiche Paar nicht lächelnd im Partnerlook mit ihren kahlen Köpfen, den gro- Sie sind nicht nur zwei exzentrische, geschlechtslose Kunstfiguren, sondern sie haben eine Message: Freiheit, Spaß und Freude UNTERM STRICH KLAUS DOLDINGER mit seinen Bands Passport classic/Passport today Fr 4.11.2016 THEATERHAUS | Siemensstr. 11 | 70469 Stuttgart Tel.: 0711 4020720 | www.theaterhaus.com Die Schriftstellerin Esther Dischereit bereist zurzeit die USA und schickt uns kleinen Beobachtungen wie diese: „Jemand hat keine Zeit, muss weiter, hat noch kein Tenure, alle auf der Jagd nach einer Festanstellung an der Universität, Empfehlungen und so weiter. ,Hillary sollte sagen, dass dieser Mann seine Hände bei sich behalten sollte.‘ Mein Freund sagt: ,Und wenn sie das tut, ist sie geliefert. Sie muss immer und überall die Form wahren, souverän bleiben, lachen und strahlen. Ihr Lächeln ist wie festgefroren. Hier muss Gesellschaft + Kultur DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 17 Meister des Rostfelds NACHRUF Zum Tod des „Spurensuchers“ und großen Kunstauslegers Raffael Rheinsberg Im Weltkrieg geboren, war Raffael Rheinsberg sein Name ein Pfund, mit dem er wucherte. Gelernt als Former und Gießer, wegen eines Bootsdiebstahls im Jugendknast, begann er erst mit dreißig Jahren ein Studium der Gestaltung in Kiel. Dieser Raffael war ein stämmiger Kerl, ein Mann der Arbeit, mit Seehundsschneuzer und Hundeblick, der sich wie ein Tänzer bewegte. Selbst für Westberliner Verhältnisse war er eine Ausnahmeerscheinung. Rheinsberg wurde ein Stadtwanderer und Sammler zum einen. Im schleswig-holsteini- schen Eckernförde schnupperte er sich mit Frottagen von Ortsnamen und Fußwegdetails „Von Ecke zu Ecke“ (1986). Vom Berliner Nordbahnhof brachte er ein „Rostfeld“ (1982) in die Charlottenburger Galerie Gianozzo, bevor er es am Fundort noch einmal auslegte; in der Galerie ein Teppich von Objekten, im Freien die Miniatur einer bombardierten Stadt. Seine Rostfelder bestanden aus allen denkbaren rostigen Eisenteilen, die er – verliebt in filigrane Details – auf dem Boden auslegte, halb Bild, halb Schrift. Die gesammelten Objekte hat- ten keineswegs die Lakonie von objets trouvés, im Gegenteil, er hauchte ihnen, Ding für Ding, eine flirrende Poesie ein. Rheinsberg war ein Meister der sozialen Plastik zum anderen, ein Bildhauer mit Blick für das Werkstück, seine Geschichte, geschult am verlorenen Zusammenhang des Schrottplatzes. „Spurensucher“ nannte man damals Künstler mit einem starken Orts- und Geschichtsbezug. Das war aber nicht negativ gemeint. Es gab in seinem Werk zwei Tendenzen, zu horten und zu ordnen. Entweder sammelte er Beispiele höchst unterschiedlicher Formen und brachte diese in ein unwiderlegbares Layout; alle Varianten seiner „Rostfelder“ sind dafür Beispiele. Oder er verschaffte sich einen umfangreichen Schatz von Objekten gleicher Funktion, deren Abweichungen er im Aufbau poetisierte. So organisierte er in Brasilien Dutzende von Bohrköpfen, wie Goldgräber sie für den eigenen Gebrauch herstellen, die er wie gestrandete See igel in Kolonnen auslegte, eine riesige Installation, die Rheinsberg „Ananas, Gold, Kokain“ (1982 ff.) betitelte. Von Rio bis ins finnische Suomenlinna war er ein gern geladener Künstler, der nur eine Woche vor der Eröffnung anreiste, um sogleich seine Ortswanderung zu beginnen, „von der Peripherie ins Zentrum“, wie er selbst einmal preisgab. Geschult am historischen Schutt und Unrat Westberlins, entwickelte er gleich nach dem Mauerfall eine Leidenschaft für die bleichen Relikte Ostdeutschlands: „H1 – H45“ (1991) bestand aus sogenannten „Hydrantenabdeckungen“, Würfel, Pyramiden und Kegel in abenteuerlichen Varianten von Rot. Die Kunsthalle Nürnberg zeigte damals mit einer Überblicksausstellung Raffael Rheinsbergs makellose Kontrolle des musealen Raums. Künstlerisch war er verwandt mit Richard Long in England und Arman aus Frankreich. Durchaus erfolgreich, blieb ihm dennoch der Zugang zu den ganz großen Bühnen des Kunstbetriebs rätselhafterweise verwehrt. Fast schon in Vergessenheit geraten, starb Rheinsberg am vergangenen Donnerstag mit 73 Jahren an Krebs, und zwar in einem Krankenhaus in ULF ERDMANN ZIEGLER Trier. Sehnsucht, Gummi und Erdbeerduft AUSSTELLUNG „This Was Tomorrow“, eine große Pop-Art-Schau im Kunstmuseum Wolfsburg, zeigt Werke britischer Künstlerinnen und Künstler, die zwischen 1947 und 1968 entstanden sind VON BRIGITTE WERNEBURG Eine der betörendsten Arbeiten in „This Was Tomorrow“ ist zweifellos Jann Haworth’ Surfer. Die Künstlerin fertigte ihn aus Seidenstrümpfen. Neben einer Wuschelmähne und sonnengebräunter Haut modellierte sie ihrer „Soft Sculpture“ auch einen wunderbaren Sixpack. Wie kommt eine Künstlerin aus Großbritannien darauf, sich in den sechziger Jahren mit dem Motiv des Surfers zu beschäftigen? Ein Motiv, das selbst in den USA, wie es scheint, doch erst durch Raymond Pettibon in den neunziger Jahren in den Kunstdiskurs Eingang fand, obwohl der Surfer dort, zumindest in Kalifornien, eine geläufige Erscheinung ist. Die sich entwickelnde Konsum- und Freizeitkultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das lässt sich nach dem Rundgang durch die große Übersichtsschau zur britischen PopArt im Kunstmuseum Wolfsburg konstatieren, erfuhr in England und Frankreich früher Aufmerksamkeit aus der Kunstbeziehungsweise in Frankreich aus der Filmszene als in den Vereinigten Staaten selbst, dem Ursprungsland der Entwicklung. Deshalb überblickt nun aus geschätzten zwölf Metern Höhe der Star der Nouvelle Vague schlechthin, überblickt also Anna Karina die „City of the Sixties“ wie Ralf Beil, Direktor des Kunstmuseums, und seine Kuratorin Uta Ruhkamp den Ausstellungsparcours in der großen Museumshalle nennen. Gemalt hat sie 1963 Gerald Laing in der Art des Rasterdrucks, wie man ihn aus Zeitungen kennt, im Billboardformat von knapp vier Metern Höhe. Wie früh US-Werbung, Massenmedien und Hollywood in England und Frankreich kulturell durchschlugen, zeigt die neodadaistische Collage „I was a Rich Man’s Plaything“, die der damals 23-jährige Künstler Edu- Pauline Boty: „Colour Her Gone“ (1962) Foto: Kunstmuseum Wolfsburg ardo Paolozzi 1947 in seinem Pariser Atelier klebte. Unter der Schrift „Intimate Confessions“ ist ein gerade abgeschossener Revolver zu sehen, in dessen Rauchwolke „Pop!“ zu lesen ist. Neben der „Daughter of Sin“ ist naturgemäß Coca-Cola in dieser Urszene der Pop-Art anwesend, eine Flying Fortress und rot leuchtende, süße Kirschen. Die rasche Abfolge solcher Collagen, mit denen der schottische Künstler unter dem Titel „Bunk!“ seinen Einführungsvortrag bei der ersten Sitzung der Independent Group am 12. Februar 1952 in London auf dem Episkop begleitete und die modernen Küchen, Konservendosen, Flugzeuge, Pin-up-Girls Britische Pop-Art führte die Synergien von Musik, Kunst und Mode zum ersten Höhepunkt und Disney-Figuren zeigen, erwies sich zwar zunächst als totaler Flop. Trotzdem findet sich in den Diskussionen über die Konsumgesellschaft, über Urbanität, Mobilität und die Stadt von morgen der Independent Group mit dem Architekturkritiker Reyner Banham, dem Kunstkritiker Lawrence Alloway, den Künstlern Richard Hamilton und Eduardo Paolozzi, dem Fotografen Nigel Henderson und den Architekten Peter und Alison Smithson die Keimzelle des British Pop. 1956 stellten die Smithsons einen Prototyp ihres für die Massenproduktion vorgesehenen House of the Future vor, in dem der soziale Wohnungsbau richtig schick aussah, mit Designerküche und Egg Chair. Endlich nach dem Krieg ist das Land hochgestimmt. Deshalb scheint es nur folgerichtig, dass das ikonische Bild der Pop-Art jetzt entsteht: „Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing?“, eine kleine Collage von Richard Hamilton in der Ausstellung „This Is Tomorrow“. Dort stürzt sich Hamilton mit seinem Fun House wirklich kopfüber in die Zukunft: Bei der Rauminstallation, die er mit Hilfe der Architekten John Voelcker und John McHale in der Londoner Whitechapel Art Gallery aufbaut, arbeitet er mit Mikrofon und Verstärker, die er den Besuchern zur Verfügung stellt. Damals wie heute – die von Hamilton 1987 selbst besorgte Rekonstruktion wurde extra aus Valencia nach Wolfsburg geholt − riecht man Erdbeerduft, schreitet über weichen Gummiboden, wird durch bewegliche Rotoreliefs irritiert, sieht einen Kriegsfilm und kann in der Jukebox die aktuellen Hits finden, um nur einige Elemente dieses totalen Environments zu nennen. Hamilton ist es auch, der rund zehn Jahre später den Abgesang ikonografisch definiert, mit „Swingeing London 67“ (1968), dem Bild, das Mick Jagger und den Galeristen Robert Fraser in Handschellen zeigt. Die Synergien von Musik, Kunst und Mode sind auf dem Höhepunkt: „Pop idol Mick Jagger von den Rolling Stones erschien heute vor Gericht in einem lindgrünen Jackett, dunkelgrüner Hose, einer grünschwarzen Krawatte und einem geblümten Hemd, um sich wegen Drogenbesitzes zu verantworten“, ist auf einen Zeitungsausschnitt in Hamiltons Druckgrafik „Swingeing London“ (1968) zu lesen. In Wolfsburg ist man dann auf der Empore angelangt, wo Hamilton einen eigen Raum hat, für „Swingeing London 67“ und den Film, den James Scott, wie viele Pop-Art-Künstler ein Absolvent der Slade School of Fine Arts in London, 1969 über ihn drehte. Dieser eigene Raum, den alle in der Schau vertretenen Künstler haben, darunter nicht nur die kanonisierten wie David Hock- Blick in die Ausstellung „This Was Tomorrow“ Foto: Marek Kruszewski/Kunstmuseum Wolfsburg ney, R. B. Kitaj, Peter Blake, Joe Tilson oder Allen Jones, sondern auch Entdeckungen wie Pauline Boty und Jann Haworth oder weniger bekannte Künstler wie Derek Boshier, Peter Phillips. Gerald Laing, Colin Self, Antony Donaldson, Patrick Caulfield und Richard Smith, ist das Problem der Schau. Denn er vereinzelt, was zusammengehört. Fundament von British Pop war die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen, die sich an den führenden Kunsthochschulen wie der Slade School, der St. Martin’s School of Art oder dem Royal College of Art in drei Wellen herausbildeten und die auch Leute aus der Musikbranche und der Mode einbegriffen und ganz früh eben auch die Independant Group und ihre Projekte am Institute of Contemporary Art (ICA). sen, was das Motiv des Surfers verständlich macht. Eine weitere ihrer Stoffskulpturen, Shirley Temple mit einem „Welcome The Rolling Stones“-Pullover, ist auf dem „Sgt. Pepper’s …“-Album-Cover abgebildet, das sie mit ihrem Ehemann Peter Blake konzipierte. Gemeinsam mit Pauline Boty mischte sie den British Pop mit Feminismus auf. Boty versuchte die Rolle der Frau als Konsumartikel neben Konservendosen und schnellen Wagen, wie sie ihre Künstlerkollegen definierten, durch Affirmation zu unterlaufen, was ihr naturgemäß nur bedingt gelang. Deutlich wird aber in ihren Collagen und Gemälden ein weiblicher Blick auf die Konsum- und Massenkultur. Für die schöne, hippe und modische Akteurin von Swinging London, die schon mit 28 Jahren starb, handelte Pop von der „Sehnsucht nach dem Jetzt“. Statt distanzierend waren ihre popkulturellen Aneignungen identifikatorischer Natur. Und sie kehrte die sexuelle Ökonomie des Pop wie etwa in Laings „Anna Karina“ um. „With Love to Jean-Paul Belmondo“ (1962) zeigt den Helden der Nouvelle Vague in coolem SchwarzWeiß mit einer riesigen roten Rose auf den Strohhut und darüber bunte Herzchen. ■■Bis 19. Februar 2017, Kunstmuseum Wolfsburg, Katalog 38 Euro Studium für Arbeiterkinder Erstmals nach 1945 war aufgrund veränderter Zugangsvoraussetzungen ein Studium an diesen Hochschulen auch für Arbeiterkinder wie Hockney, Jones, Bosier, Phillips, Caulfield, Tilson und Self, möglich. Deren Klassenzusammengehörigkeit mag vielleicht die rauere Ästhetik und das deutlich politische Zeichen- und Zitatrepertoire erklären, das sich im British Pop immer wieder findet, etwa wenn Collin Self das Bond-Girl Ursula Andress mit dem Zeichen für einen nuklearen Fall-out-Schutzbunker kombiniert. Nur für Pauline Boty und Jann Haworth, die als Frauen Außenseiterinnen und an den Hochschulen nur bedingt zugelassen waren − „the girls were there to keep the boys happy“ so Haworth −, könnte das eigene Haus stimmig sein. Haworth sorgsam genähte Soft Sculpture von 1962 „Donuts, Coffee Cups & Comics“ zitiert eine häusliche Szene. Doch es ist ja nur das riesige Volumen der Wolfsburger Halle, das Einbauten verlangt, die wie jetzt leicht zu kleinteilig geraten. Haworth war in Hollywood aufgewach- Die taz.akademie fördert junge kritische JournalistInnen im In- und Ausland. Der taz.panterpreis bietet HeldInnen des Alltags eine öffentliche und partizipative Plattform. AUF IHRE SPENDE SIND WIR ANGEWIESEN! taz Panter Stiftung GLS-Bank Bochum IBAN: DE97 4306 0967 1103 7159 00 BIC: GENODEM1GLS www.taz.de/spenden www.taz.de/stiftung Telefon 030 – 25 90 22 13 [email protected] 18 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Flimmern + Rauschen DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 DAS SOLLTEN SI E SEH EN MEDI ENTICKER Die Chinesen kommen! layer – Wo wir sind, isch P vorne“; Tragikomödie D 2013; R: Hannes Stöhr; D: Walter Schultheiß, Christoph Bach, Inka Friedrich, Ulrike Folkerts Michael Bogenschütz ist ein Patriach ganz alter Schule: 90 Jahre alt, schwäbisches Mittelstandsunternehmen, mischt sich ständig ein. Trotzdem kriegt er erst spät mit, dass Bogen schütz’Sohn, Chef des Familienbetriebs, einen Investor aus China sucht. Schlimm, findet der Senior und versucht die Übernahme zu verhindern. TEN N IS BEI ARD UN D ZDF BUN DESVERDI ENSTKREUZ „TATORT“-AUSSTELLUNG MÜNCHEN/MAINZ | Tennis ist BERLIN | Die erste Intendantin BERLIN | Unter dem Motto „1000 bei ARD und ZDF auch mit Angelique Kerber kein QuotenGarant. Nur eine von vier Übertragungen vom WTA-Finale in Singapur mit der Weltranglisten-Ersten hat mehr als eine Million Zuschauer angelockt. Die Quoten seien „nicht enttäuschend, aber natürlich nicht wirklich zufriedenstellend“, sagte ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky: „Und dies trotz der überragenden Leistungen von Angelique Kerber.“ (dpa) des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB), Dagmar Reim, erhält das Bundesverdienstkreuz. Die Auszeichnung werde der Journalistin am Dienstag von Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD) übergeben, teilte die Berliner Senatskanzlei mit. Reim übernahm 2003 die Leitung des aus Sender Freies Berlin und Ostdeutschem Rundfunk Brandenburg hervorgegangenen RBB. 2016 gab sie das Amt auf. (epd) Tatorte – Alle Filme. Alle Fälle“ sind im Berliner Museum für Film und Fernsehen jetzt sämtliche Folgen der Krimireihe zu sehen. In der Mediathek können die einzelnen Episoden ab Dienstag angeschaut werden. Neben allen „Tatort“-Folgen können Fans in der Berliner Schau auch einige ausgewählte Requisiten aus der Serie sehen. Ausgestellt ist eine blutbefleckte Schimanski-Jacke, die Götz George trug. (dpa) Kaum Zuschauer ■■22.45 Uhr, ARD, „Global Der Patriarch wird 90. Gute Laune allüberall F.: Pola Sieverding/Sabotage/ARD Ehrung für Reim 1.000 Krimis Die Stimme des Wandels GUATEMALA „La Cuerda“, Zentralamerikas einzige feministische Monatszeitung, kämpft für die Rechte von Frauen und Indigenen VON KNUT HENKEL Viele Frauen sind auf der Titelseite der 191. Ausgabe von La Cuerda zu sehen. Beim Diskutieren, beim Singen, beim Demonstrieren, beim Argumentieren, aber auch beim Turnen und Kochen wurden die Guatemaltekinnen abgelichtet. Unbekannte Frauen, aber auch Symbolfiguren wie Claudia Paz y Paz oder Thelma Aldana, die beiden Generalstaatsanwältinnen, die der einst diskreditierten Justiz in Guatemala zu neuem Ansehen verholfen haben und verhelfen. Darunter prangt in dicken Lettern: „Erheben wir unsere Stimmen“. Eine typische Zeile für La Cuerda, deren Redaktion in der dritten Straße im Zentrum von Guatemala-Stadt nicht weit vom Präsidentenpalast entfernt liegt. Ein unscheinbares zweistöckiges Haus. Oben ist die Redaktion, wo in aller Regel einer oder mehrere der drei Herausgeber*innen anzutreffen sind. Ana María Cofiño ist eine von ihnen und hat die Zeitung vor nunmehr 18 Jahren mitgegründet. „La Cuerda ist ein Nachzügler, denn als in Zentral- und Südamerika in den 1970ern die ersten Frauenzeitungen und kommunalen Radios entstanden, tobte in Guatemala der Bürgerkrieg“, sagt die großgewachsene Anthropologin und schiebt hinterher: „An die Gründung einer Zeitung mit Anspruch war nicht zu denken.“ Die fand schließlich 1998, zwei Jahre nach dem Ende des blutigen Bürgerkriegs, statt. Heute hat das Monatsmagazin eine Auflage von 20.000 Exemplaren, es gibt rund 1.300 Abonnent*innen, 14.000 Besucher hat die Webseite täglich, und rund 8.000 Menschen folgen der Redaktion bei Facebook. „Ziel war es damals und ist es heute, die Stimme der Frauen in der Gesellschaft zu stärken. Das heißt ganz konkret, gegen Sexismus im Bildungssystem und in der Gesellschaft vorzugehen, die verbreitete Straflosigkeit und den Rassismus anzuprangern sowie die Rechte der Frau durchzusetzen“, erklärt Cofiño. Dabei sind die Guate mal tek*innen ein ganzes Stück weitergekommen. Schon beim sogenannten Jahrhundertprozess vom Mai 2013 gegen Exdiktator Efraín Ríos Montt wurden indigene Frauen gehört, die ihre Vergewaltigung anzeigten. Im Februar 2016 erging dann das erste Urteil gegen zwei einstige Militärs wegen der Versklavung und wiederholten Vergewaltigung von fünfzehn Frauen der Ethnie der Maya-Q’eqchín. Der Prozess war ein voller Erfolg für Guatemalas Frauenbewegung, denn die beiden Militärs wurden nicht nur zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, auch das Verfahren setzte neue Maßstäbe: Die Frauen mussten nicht ins Kreuzverhör, sondern ihre Aussagen wurden per Video eingespielt. Das könnte zukünftig auch in anderen Vergewaltigungsprozessen zum Standard werden, hofft zumindest Luz Méndez von der Frauenvereinigung Guatemalas UNAMG. Bei der Berichterstattung über den Prozess sei La Cuerda die Speerspitze gewesen, sagt Méndez: „Die Redaktion hat schon vor der formellen Anklage berichtet, immer wieder neue Details geliefert und unsere Reali- täten in den mittelamerikanischen Kontext gesetzt.“ Für die Redaktion genauso selbstverständlich wie Berichte über die Situation der Frauen mit indigenen Wurzeln, die zwar die Bevölkerungsmehrheit bilden, aber trotzdem über Jahrzehnte fast unsichtbar waren. „Zu unserem Anspruch gehört es, zu erklären, Bildung zu vermitteln und zum gesellschaftlichen Wandel beizutragen“, erklärt Ana María Cofiño. Wie ihre Redaktionskollegin Rosalinda Hernández, eine mexikanische Journalistin, schreibt sie eine Kolumne in der linksliberalen Tageszeitung El Periódico und steht wie alle aus dem 20-köpfigen Redaktionsbeirat für Diskussionen und Seminare über Feminismus zur Verfügung. „Das sorgt für frisches Blut in unserer Redaktion. Junge Frauen kommen vorbei, um sich zu informieren. Manche bleiben, weil unsere Arbeitsweise ihnen gefällt“, sagt Hernández. „Ganz konkret gegen Sexismus vorgehen“ ANA MARÍA COFIÑO, HERAUSGEBERIN UND MITGRÜNDERIN VON „LA CUERDA“ Vor 18 Jahren gründete Ana María Cofiño „La Cuerda“ Foto: Knut Henkel Einige der Frauen, die die Titelseite der Nr. 191 zieren, haben dazu beigetragen, dass Frauenrechte in Guatemala heute ein Thema sind. So zum Beispiel die beeindruckend souveräne Richterin Jazmín Barrios, die trotz vieler Anfeindungen historische Urteile gesprochen hat, oder die afroguatemaltekische Journalistin Joanna Wetherborn. Die schreibt auch für La Cuerda – unentgeltlich wie alle anderen, denn Geld hat die Redaktion, die sich vor allem durch Spenden und Projektunterstützung aus dem Ausland finan- ziert, in aller Regel nicht zu vergeben. Das ist bis heute so, und auch der Vertrieb läuft nach wie vor über Frauen- und soziale Organisationen, Kulturzentren, Museen und auch Botschaften. Dazu kommen Radio- und Videoclips auf der Homepage und der Verbreitungsweg Facebook. Ein wiederkehrendes Thema ist die omnipräsente Gewalt gegen Frauen: Jedes Jahr werden mehr als 800 Frauen in Guatemala ermordet – von Partnern, Ehemänner, Angehörigen oder Unbekannten. Sexuelle Gewalt ist weit verbreitet. 2015 wurden 2.100 Mädchen zwischen 12 und 14 Jahren registriert, die nach einer Vergewaltigung schwanger wurden. Rund 56.000 Vergewaltigungen werden pro Jahr angezeigt. „Auf diese Realität weisen wir immer wieder hin. Demonstrationen wie in Peru im August machen sichtbar, worunter fast alle Gesellschaften in Mittelund Südamerika leiden“, erklären Hernández und Cofiño unisono. In Lima gingen am 14. August mehr als 50.000 Menschen gegen Gewalt gegen Frauen auf die Straße. Etwas Vergleichbares hat es in Guatemala bisher nicht gegeben. Das soll sich ändern, und der schon angesprochene SepurZarco-Prozess könnte dabei ein Wendepunkt sein. Rund um den Prozess wurde in Guatemala sehr differenziert über Gewalt gegen Frauen debattiert. Ein Fortschritt, der einiges mit den Frauen von La Cuerda zu tun hat. DI E EVANGELISCH E KI RCH E ZEIGT ON LI N E EI N VI DEO: „REFORMATION FÜR EI NSTEIGER“ – IST WOH L FÜR DEN FALL, DASS MAN DI E NOCH MAL LOSTRETEN WI LL ARD 12.00 12.15 13.00 14.00 14.10 15.00 15.10 16.00 16.10 17.00 17.15 18.00 18.50 20.00 20.15 21.00 21.45 22.15 22.45 Tagesschau ARD-Buffet Mittagsmagazin Tagesschau Rote Rosen Tagesschau Sturm der Liebe Tagesschau Verrückt nach Fluss Tagesschau Brisant Quizduell Familie Dr. Kleist Tagesschau Tierärztin Dr. Mertens In aller Freundschaft Report Mainz Tagesthemen Global Player – Wo wir sind isch vorne. Familienchronik, D 2013. Regie: Hannes Stöhr. Mit Christoph Bach, Walter Schultheiß 0.15 Nachtmagazin 0.35 Der Tiger von Eschnapur. Abenteuerfilm, D/F/I 1959. Regie: Fritz Lang. Mit Debra Paget, Paul Hubschmid 2.15 Global Player – Wo wir sind isch vorne. Familienchronik, D 2013 ZDF 12.00 12.10 13.00 14.00 14.15 15.05 16.00 16.10 heute drehscheibe Mittagsmagazin heute – in Deutschland Die Küchenschlacht Bares für Rares heute – in Europa SOKO Kitzbühel: Blutiger Schnee. A/D 2004 17.00 heute 17.10 hallo deutschland 17.45 Ein guter Grund zu feiern 18.00 SOKO Köln: Tödliche Melodie. D 2016 19.00 heute 19.25 Die Rosenheim-Cops: Haarscharf ins Herz. D 2016 20.15 Wie gut sind Billig-Bäcker? 21.00 Frontal 21 21.45 heute-journal 22.15 Die Anstalt 23.00 Leschs Kosmos 23.30 Markus Lanz 0.45 heute+ 1.00 God‘s Cloud 1.35 Billy Elliot – I Will Dance. Tragikomödie, GB/F 2000. Regie: Stephen Daldry. Mit Jamie Bell, Julie Walters RTL 12.00 14.00 16.00 17.00 17.30 18.00 18.30 18.45 19.05 19.40 20.15 22.15 23.10 0.00 0.30 2.15 3.05 Punkt 12 Der Blaulicht-Report Verdachtsfälle Betrugsfälle Unter uns Explosiv – Das Magazin Exclusiv – Das Star-Magazin RTL aktuell Alles was zählt Gute Zeiten, schlechte Zeiten Bones – Die Knochenjägerin: Im Wilden Westen ist die Hölle los. USA 2015 Shades of Blue CSI: Miami: Endgeschwindigkeit. USA 2012 RTL Nachtjournal Bones – Die Knochenjägerin: Im Wilden Westen ist die Hölle los. USA 2015 CSI: Miami: Endgeschwindigkeit. USA 2012 RTL Nachtjournal SAT.1 KI.KA 12.00 Auf Streife – Die Spezialisten 13.00 Auf Streife 16.00 Auf Streife – Berlin 17.00 Verdächtig 17.30 Schicksale – und plötzlich ist alles anders 18.00 Auf Streife – Die Spezialisten 19.00 Die Ruhrpottwache 19.55 Sat.1 Nachrichten 20.15 Vaterfreuden. Romatik komödie, D 2014. Regie: Matthias Schweighöfer, Torsten Künstler. Mit Matthias Schweighöfer, Isabell Polak 22.25 Schutzengel. Thriller, D 2012. Regie: Til Schweiger. Mit Til Schweiger, Luna Schweiger 1.05 Vaterfreuden. Romatik komödie, D 2014 2.55 Schutzengel. Thriller, D 2012 7.50 Nelly & César 8.00 Sesamstraße 8.25 JoNaLu – Mäuseabenteuer zum Mitmachen 8.55 Mama Mirabelle‘s Tierkino 9.05 Charley 9.20 Raumfahrer Jim – Abenteuer auf Munaluna 9.40 ABC Bär 9.55 Au Schwarte! – Die Abenteuer von Ringel, Entje und Hörnchen 10.30 Coco, der neugierige Affe 10.50 Kein Keks für Kobolde – Der Film 12.05 Tabaluga 12.25 Garfield 12.50 Die fantastische Welt von Gumball 13.15 Die Wilden Kerle 13.40 Die Pfefferkörner 14.10 Schloss Einstein 15.00 Tracy Beaker kehrt zurück 15.55 Lenas Ranch 16.50 Marsupilami – Im Dschungel ist was los 17.35 Bobby & Bill 18.00 Sesamstraße präsentiert: Eine Möhre für Zwei 18.15 Glücksbärchis – Willkommen im Wolkenland 18.40 Elefantastisch! 18.50 Unser Sandmännchen 19.00 Das Dschungelbuch 19.25 pur+ 19.50 logo! Die Welt und ich 20.00 Ki.Ka Live 20.10 Das erste Mal … USA! 20.35 Die Jungs-WG PRO 7 12.15 13.40 15.25 18.00 18.10 19.05 20.15 How I Met Your Mother Two and a Half Men The Big Bang Theory Newstime Die Simpsons Galileo Flight. Drama, USA 2012. Regie: Robert Zemeckis. Mit Denzel Washington, Don Cheadle 23.00 Shutter Island. Psychothriller, USA 2010. Regie: Martin Scorsese. Mit Leonardo DiCaprio, Mark Ruffalo 1.30 Stepfather – Daddy ist da! Horrorfilm, USA 2009 ARTE 7.45 Die Kunst der Anpassung 8.30 X:enius 9.00 Wipfelglück 9.25 Magie der Moore 11.05 Tiermythen 11.50 Tiermythen 12.35 Tiermythen 13.20 ARTE Journal 13.50 Die Ritter der Tafelrunde. Abenteuerfilm, USA 1953. Regie: Richard Thorpe. Mit Robert Taylor, Ava Gardner 15.45 Ivanhoe – Der schwarze Ritter. Historienabenteuer, USA 1952. Regie: Richard Thorpe. Mit Robert Taylor, Elizabeth Taylor 17.30 In der Welt zu Hause 17.55 X:enius 18.25 Eine Sommerreise auf der Wolga 19.10 ARTE Journal 19.30 Amerikas Flüsse 20.15 Amerika hat die Wahl 22.15 Gesprächsrunde 22.30 Duell ums Weiße Haus 0.00 Kill Zone USA 1.25 Der Staub Amerikas 3SAT 18.30 19.20 20.15 21.50 23.30 Universum Der letzte große Kaiser Sisi Sisi Das Attentat – Sarajevo 1914 1.10 Anna und der Prinz 2.50 Der letzte große Kaiser BAYERN 18.30 Rundschau 18.45 Stofferl Wells Bayern 19.15 Im Ochsenfurter Land – Oben im Gau, unten am Main 20.00 Tagesschau 20.15 Wer hat Angst vorm weißen Mann? 21.45 Rundschau Magazin 22.00 Und Äktschn! Komödie, D/A 2014. Regie: Frederick Baker. Mit Gerhard Polt, Maximilian Brückner 23.35 Bezaubernde Marie 1.05 Macher gesucht! SWR 18.07 18.15 18.45 19.15 19.45 20.00 20.15 21.50 22.20 22.50 23.35 0.05 Hierzuland natürlich! Zwischen Leben und Tod Bekannt im Land SWR Landesschau aktuell Tagesschau Kindheit auf dem Land Hannes und der Bürgermeister So lacht der Südwesten Christoph Sonntag – Sonntag im Alltag Hannes und der Bürgermeister Das Beste aus „Verstehen Sie Spaß?“ HESSEN 18.00 18.25 18.50 19.15 19.30 20.00 20.15 21.00 21.45 22.30 22.45 Maintower Brisant Service: Reisen Alle Wetter! hessenschau Tagesschau Zeig mir deine Stadt Erlebnis Hessen Um Himmels Willen hessenschau kompakt Håkan Nesser: Van Veeterens schwerster Fall 0.15 Eyewitness – Die Augenzeugen: Der Bombenanschlag. N 2014 WDR 18.45 19.30 20.00 20.15 21.40 23.10 Aktuelle Stunde Lokalzeit-Geschichten Tagesschau Ein Mord mit Aussicht Ein Schnitzel für alle Die Ausbildung. Drama, D 2011. Regie: Dirk Lütter. Mit Joseph K. Bundschuh, Anke Retzlaff 0.35 Wie solidarisch ist Deutschland? 1.20 Ein Mord mit Aussicht NDR 18.00 18.15 18.45 19.30 20.00 20.15 21.15 21.45 22.00 Ländermagazine NaturNah DAS! Ländermagazine Tagesschau Visite Panorama 3 NDR//aktuell Tatort: Freunde bis in den Tod. D 2013 23.30 Weltbilder 0.00 Hauptsache Arbeit 1.05 7 Tage ... RBB 18.00 rbb UM6 – Das Länder_magazin 18.30 zibb 19.30 Abendschau 20.00 Tagesschau 20.15 Geheimnisvolle Orte 21.00 Bilderbuch 21.45 rbb aktuell 22.15 Thadeusz 22.45 Honeckers Gastarbeiter 23.30 Foto: Ostkreuz 1.00 Thadeusz 1.30 Abendschau MDR 18.10 19.00 19.30 19.50 20.15 20.45 21.15 21.45 22.05 23.35 Brisant MDR Regional MDR aktuell Einfach genial Umschau Der Osten MDR Zeitreise MDR aktuell Der NSU-Komplex Polizeiruf 110: Walzerbahn. DDR 1979 0.35 Die Kinder von Golzow 2.00 Heimat Osten PHOENIX 12.15 Amerika hat die Wahl 12.45 Amerika hat die Wahl 13.15 Nichts mehr wie es war – New York fünfzehn Jahre nach 9/11 13.45 Geteilte Staaten von Amerika 14.30 Schätze der Welt – Erbe der Menschheit 14.45 Im Zauber der Wildnis 15.30 Im Zauber der Wildnis 16.15 „Lady Liberty“ 17.45 Verrücktes Portland 18.30 Trekking-Tour im wilden Westen 19.15 Geteilte Staaten von Amerika 20.00 Tagesschau 20.15 Amerika von oben 21.00 Amerika von oben 21.45 Rassismus in Uniform – Polizeigewalt in den USA 22.30 WELTjournal + 23.15 Donald Trump – Der lange Arm des Milliardärs 0.05 Hillary Clinton 0.35 Amerika hat die Wahl 1.05 30 Jahre Knast für nichts Leibesübungen DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 19 AUS DORDRECHT TOBIAS MÜLLER Ist dies der Tag des Machtwechsels? Sayer Jobe grinst und bringt ein vollmundiges Ja hervor. Seine Begleiter, Rebekka Van Kaekenberghe und ihr Freund Robbie Van Herck, schauen amüsiert, aber vor allem zweifelnd in Richtung des riesigen ovalen „Sportboulevard“. In ein paar Stunden wird dort, im niederländischen Dordrecht, das Finale der Korbball-EM stattfinden. Und wie immer stehen sich dabei die Auswahl der Niederlande und die Belgiens gegenüber. Das Dreiergrüppchen ist gehüllt in Fanartikel des belgischen Fußballteams. Sie sind an diesem Sonntagmorgen über die nahe Grenze ins Land des Korbball-Giganten gekommen, wo der Sport 1902 erfunden wurde. Alle sind selbst aktiv, Sayer Jobe gar in der ersten Liga beim Antwerpse Korfbal Club. Die Dominanz der niederländischen Gastgeber ist schnell erklärt: „In den Niederlanden gibt es fast 100.000 Spieler, bei uns keine 7.000. Dort ist Korbball professionell, bei uns arbeiten alle.“ Am Ort des ungleichen Nachbarschafts-Showdowns ist es kühl. Was daran liegt, dass er in der Halle stattfindet, die normalerweise den Dordrecht Lions als Kulisse ihrer Eishockey-Heimspiele dient. Auf dem Feld mit den beiden freistehenden Körben in dreieinhalb Metern Höhe machen sich die Teams aus Katalonien und Portugal für das Spiel um Platz drei warm. Zwischen diesen beiden Teams und den Belgiern liegen ebenfalls Welten: 1.000 Korbballer gibt es in Katalonien, die 500, die es in Portugal gibt, konzentrieren sich um die Hauptstadt Lissabon. Die Kulisse ist demnach ungewohnt für die meisten Spieler bei dieser EM. Nur in den Niederlanden füllt „korfball“, so der englische Name, der bisweilen auch in Deutschland verwendet wird, solche Hallen. Die eine Tribünenhälfte ist bereits vor dem kleinen Finale durchgehend in Orange getaucht, gegenüber trudeln immer mehr Belgier ein. Die Grüppchen aus Portugal und Katalonien zählen kaum mehr als ein Dutzend Fans, die aber umso lauter sind. Sie sehen ein attraktives Spiel. Es ist schnell, auch weil es verboten ist, zu dribbeln oder mit dem Ball zu laufen. Das ist eines der Kennzeichen von Korb- Gemischte Schlachteplatte KORBBALL Weitgehend unbemerkt von den europäischen Nachbarn hat sich Korbball in den Niederlanden zu einer populären Hallensportart entwickelt. Kein Wunder, dass die Orangen die EM gewonnen haben Niederländische Lawine: Deutschlands Verteidigung tut sich da schwer bei der EM in Dordrecht Foto: Soenar Chamid/pixathlon ball. Die weiteren: 25 Sekunden für einen Angriff, ein Punkt pro Korb. Und: Die Teams sind gemischt. Jedes besteht aus je vier Frauen und Männern, und je zwei von ihnen sind für eine der beiden Spielfeld-Hälften zuständig. Nach jedem Korb wechseln die Akteure also zwischen Angriff und Verteidigung. Im kleinen Finale liegt Katalonien am Ende mit 16:12 vorn. Bronze. Das Finale kommt dann recht laut daher. Zunächst macht es sich mit tiefergelegten Beats bemerkbar. Je näher der Anpfiff rückt, desto martialischer werden sie. Man kennt dieses Stampfen aus der Fußballkultur beider Länder oder von Straßenfesten am niederländischen Koningsdag. In Dordrecht erinnert es an die Ankündigung des Trainers der Gastgeber, Wim Scholtmeijer, man wolle die Belgier „schlachten“. Akustisches Messerwet- Korbball ist schnell, auch weil es verboten ist, zu dribbeln oder mit dem Ball zu laufen. Das ist eines der Kennzeichen der Sportart. Die weiteren: 25 Sekunden für einen Angriff, ein Punkt pro Korb. Und: Jedes besteht aus je vier Frauen und Männern zen muss wohl so klingen. Es wird tatsächlich eine Schlachteplatte, die die orange gewandeten Niederländer wenig später für ihre Gegner anrichten, während das öffentlich-rechtliche Fernsehen live überträgt. Den Belgiern unterlaufen im Spielaufbau zu viele Ballverluste, sodass die Niederländer keine Probleme damit haben, eine druckvolle HighspeedLawine von der Leine zu lassen und einige höchst sehenswerte Spielzüge zu zeigen. Das erste zehnminütige Viertel ist noch nicht vorbei, da steht es 10:1. Gegen Ende des zweiten Viertels läuft ein Radioreporter auf der Pressetribüne auf und ab und berichtet live, dass „unsere belgischen Frauen und Männer“ chancenlos seien und die Niederlande eben immer noch „eine Nummer zu groß“. Am Ende steht es 27:14 für die Gastgeber. Forever Löw J oachim Löw soll also noch ein paar Jahre Bundestrainer bleiben. Sein Vertrag mit dem Deutschen Fußballbund wurde bis 2020 verlängert. Viel zu streiten darüber gibt es nicht. Er ist der Weltmeistertrainer. Seit er Trainer beim DFB ist, hat die Mannschaft bei den großen Turnieren immer zumindest das Halbfinale erreicht. Er stand an der Linie, als Deutschen bei der WM in Brasilien die Gastgeber mit 7:1 geschlagen hat und ist somit Autor einer der größten Fußballgeschichten, die je in Deutschland geschrieben wurden. Genug der Lobhudelei! Mit so einem kann man den Vertrag auch bis über die WM 2030 hinaus verlängern, gerne auch auf Lebenszeit. Nicht einmal dieje- gespielt hat. Zum Korbball kam sie mit zwölf Jahren im Schulsport. Und der Korbball nach Katalonien? Auch dabei waren niederländische Entwicklungshelfer beteiligt. „Sie wollten in Spanien etwas aufbauen, und in Katalonien gab es Interesse. In den letzten zehn Jahren, sagt sie, habe sich taktisches und spielerisches Vermögen stark verbessert. Leben aber könne man in Katalonien vom Korbball noch immer nicht. Während die Europameister im Foyer Autogramme schreiben, steht Joyer Sabe, der Korbballer aus Antwerpen, noch auf der Tribüne. Wieder einmal wurde es also nichts mit dem erhofften Machtwechsel. „Sie erneuern den Korbball, und wir laufen hinterher“, analysiert er, einen Becher Bier in der Hand. „Aber wir versuchen es weiter, und beim nächsten Mal stehe ich auf dem Feld!“ WAS ALLES N ICHT FEH LT PRESS-SCH LAG ■■Der DFB gibt Joachim Löw einen Vertrag bis 2020. Da kommt Freude auf. Die Probleme im DFB werden weggegrinst Die Halle tobt nun tatsächlich, und Marjolijn Kroon, eine der niederländischen Stars, sorgt kurz nach dem Ende für Erheiterung bei ihren Teamkollegen: Samt Pokal nimmt sie Anlauf in Richtung Fans, rutscht aber auf dem Goldlametta, das auf dem Boden liegt, aus und findet sich samt Trophäe auf selbigem liegend wieder. Doch was passiert dort auf dem Feld, während sich die orangen Akteure mit einer Riesensektflasche in Richtung Presseraum bewegen? Als Letztes tanzen hier nicht die Europameister, sondern die überglücklichen Katalanen mit ihren Bronzemedaillen. Es dauert, bis sich Berta Alomà Sesé aus dem Knäuel löst. „Dies ist das erste Mal, dass ich etwas gewinne“, strahlt die 23-Jährige, die selbst zwei Jahre lang für OVVO De Kroon in der ersten niederländischen Liga nigen, die das Halbfinal-Aus bei der EM im Sommer gegen Gastgeber Frankreich als Blamage bezeichnet haben, werden sagen können, wer es denn besser gemacht hätte. Und auch diejenigen, die beinahe schon „Skandal!“ geschrien haben, weil der Bundestrainer, vor der letzten Länderspieleinheit seine Kicker einen Tag später, als es möglich gewesen wäre, zu sich bestellt hat, werden wissen, dass das nicht wirklich schlimm war. Die Vertragsverlängerung ist also voll okay. Und so okay sie ist, so unsinnig und unnötig ist sie auch. Sollte wider Erwarten die WM in Russland 2018 zum totalen Desaster für das deutsche Team werden, dann wird man sich gewiss darüber unterhalten, ob es mit oder ohne Löw weitergehen soll. Die Vertragsverlängerung, die DFBPräsident Reinhard Grindel mit seinem schönsten Strahlen im Gesicht präsentiert hat, ist ein Gute-Laune-Event, das dem Verbandsboss gerade ganz gut in den Kram passt. Am kommenden Wochenende steht der Bundestag des DFB an, das Treffen der Verbandsdelegierten aus Liga und DFB. Die sollen schön was zum Klatschen haben, damit sie dann auch brav die Hand heben, wenn es um die Wiederwahl von Grindel geht und vor allem wenn es darum geht, den gerade frisch erneuerten Grundlagenvertrag des DFB mit der DFL, dem Verband der Profiligen, durchzuzwinken. Der regelt, wie viel Geld der DFB vom prosperierenden Ligafußball erhält und wie viel der DFB aus seinen üppig sprießenden Einnahmen aus der Vermarktung der Nationalmannschaft an die Profiliga zu zahlen hat. So manchem Amateurklub kommt zu wenig von dem, was oben verdient wird, unten an. Engelbert Kupka, Präsident der SpVgg Unterhaching, wettert seit Wochen gegen die Verteilung und hat einen bitterbösen Brief an das DFB-Präsidium geschickt, das dann doch dem Grundlagenvertrag zugestimmt hat. Jetzt geht er davon aus, dass die meisten Delegierten eh nicht so genau wissen, worum es geht, und den Vertrag durchwinken. Nach der Vertragsverlängerung mit Löw ist eh alles gerade so schön im DFB. Wer will sich schon über die Geldverteilung zwischen Profis und Amateuren streiten, oder gar – nicht auszudenken! – über den Umgang der DFB-Spitze mit der sogenannten Sommermärchenaffäre. ANDREAS RÜTTENAUER Ein Todesfall beim Marathon in Frankfurt: Bei dem Laufevent am Sonntag ist einer der Läufer nach etwa 39 Kilometern auf der Strecke zusammengebrochen und trotz einer sofortigen ärztlichen Versorgung sowie mehrerer Wiederbelebungsversuche später in einem Krankenhaus gestorben. Das haben die Veranstalter am Montagvormittag bestätigt. Deutsche Sportler auf dem Weg zur Eigenständigkeit: Die Athletenvertreter der im Deutschen Olympischen Sportbund vertretenen Verbände haben am Wochenende in Bonn beschlossen, Pläne für eine professionelle Sportlerorganisation zu entwickeln. Ob es gelingen wird, diese unabhängig vom DOSB zu finanzieren, ist noch ungewiss. Viele Athletenvertreter befürworten eine von den Verbänden unabhängige Sportlervertretung. Das Warten auf den großen Tennisboom: Tennis ist auch nach den großen Erfolgen von Angelique Kerber kein Quotenbringer im deutschen Fernse- hen. Nur eine von vier TennisÜbertragungen vom WTA-Finale in Singapur ist von mehr als einer Million Zuschauern verfolgt worden. Das Endspiel der Weltranglistenersten gegen Dominika Cibulkova (3:6, 4:6) am Sonntagnachmittag schauten im ZDF 1,63 Millionen Zuschauer. Zum Vergleich: Die Formel-1-Übertragung aus Mexiko sahen am Abend bei RTL 4,49 Millionen Zuschauer. Die Sendungen vom WTA-Finale waren die ersten großen Tennis-Übertragungen bei ARD und ZDF seit mehreren Jahren. Magnus Carlsen in Angst vor Hackern: Der Schachweltmeister hat vor dem Titelduell gegen den Russen Sergei Karjakin (11. bis 30. November in New York) seine Computer speziell absichern lassen. Carlsens Manager Espen Agdestein sagte: „Es geht um den Weltmeister-Titel, da wollen wir so gut geschützt sein, wie es eben möglich ist. Es ist natürlich ganz entscheidend, dass kein Fremder Zugang zu unseren Analysen bekommen kann.“ 20 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Die Wahrheit DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 FERI EN AUF SALTKROKAN: PAPST I N SCHWEDEN EI NGETROFFEN Schwedenpapstfoto: ap Hmm, lecker Köttbullar mit fingerdick Blaubeermus bestrichen und gleich zwei Stücker IkeaEinkaufsgutscheine zum selber ausdrucken! Nicht schlecht staunte gestern Vormittag am Malmöer Flughafen unser aller reisender argentinischer Jesuit über die Gastfreundschaft der Seinen in der Diaspora. Als gesichert gilt, dass nur 1,5 Prozent der Schweden katholisch sind, zu 100 Prozent können sie jedoch Astrid Lindgren lesen. Nach dem leckeren Köttbullar-Imbiss zum Auftakt des weltweiten Gedenkens an den Frechdachs Luther aus Lönneberga und den 500. Jahrestag der Suppentopfreformation reiste der reinweiße Oberhirte flugs weiter über Bullerbü nach Saltkrokan, wo er eine höchst delikatknifflige Angelegenheit regeln DAS WETTER: HARTER TABAK musste. Seine Schäfchenherde dort hatte nämlich immer wieder andere Schäfchen gerissen. Gleich nach Ankunft sprach der tierliebe Pontifex dann die historischen Worte: „Bootsmann trifft keine Schuld.“ Weil die Absolution von so gut wie Gottes Gnaden geschah, bekam der gewaltige Saltkrokaner Bernhardiner anschließend noch ein überaus zünftig gesegnetes Leckerli. Frau Dr. Jolante hatte zeit ihres sehr langen Lebens einem ausgeprägten Hang zur Kategorisierung von allem und jedem gefrönt. In ihrem Anwesen gleich hinter der Bushaltestelle des 357er gab es Schubladen über Schubladen, und Dr. Jolante war noch bis kurz vor ihrem Tode, der sie an einem diesigen Dienstag fällte, mit dem Verstauen von allem und jedem in just jene Schubladen beschäftigt. Ob es um Rhabarberrezepte oder Geschlechterfolien, um Ponytricks oder Besenhersteller ging: Dr. Jolante stopfte und stopfte jedwedes in die gar nie endenwollenden Schubladen. Nur ein Thema brannte ihr bis zum Tode an jenem diesigen Dienstag unter den gefeilten Nägeln: Für das Wetter besaß Frau Dr. Jolante so gar keine Ablage. Unter Transis SUBKULTUR Ein berückender Einblick in die Kleintransporter-Szene Sie treffen sich sonntags auf Rastplätzen, verabreden sich zu illegalen Umzügen und geraten manchmal auf Abwege: Mehr und mehr macht die Kleintransporter-Szene von sich reden. „Wir sind schon eine Subkultur“, meint Thorsten B. (42), während er den Motor seines Mercedes Vito mit viel Gefühl „kommen“ lässt. Dabei ist der intellektuell wirkende Brillenträger und zweifache Vater eher ein untypischer Vertreter der „Transi-Szene“. „Ich bin ziemlich zufällig dazugekommen, vor sechs Jahren“, erzählt er und wechselt auf die ganz linke Spur der A 2. „Ich hatte meinem Bruder beim Umzug geholfen und war am Sonntag allein zurück nach Hamburg, um den Wagen zurückzugeben. Und hier, auf dem Rastplatz Auetal, fielen mir dann diese coolen Leute auf.“ Man kam schnell ins Gespräch damals, nachdem sein Mietfahrzeug zunächst mit abschätzigen Blicken bedacht worden war. Beim Blick in den geöffneten Laderaum eines knallroten VW Caddy wusste Thorsten auch, warum: Der Innenraum war ausgelegt mit einem echten Orientteppich und voll tapeziert. Thorsten blieb zwei Stunden auf dem Rastplatz und er- lebte Rituale wie den Tausch von Zierleisten sowie das dreidimensionale Nachmessen von Laderäumen. Es gab Krakauer und „Crafter“, wie das Spezi hier heißt, und Van Halen und Minitruckstop dröhnten über den Parkplatz. Thorsten B. blinkt einen VW Golf von der Überholspur und schwärmt: „Ich habe mich dann Wegen einiger schwarzer Schafe steckt man die ganze Transi-Szene in eine Rowdyschublade bald dem Transi-Club ‚Blinker links‘ angeschlossen. Da gibt es bis heute Veteranen, die noch die alte Transitstrecke Berlin– Hamburg gefahren sind, noch vor der Autobahn. Die sind natürlich unsere Helden. Die haben da illegale Rennen gemacht. Und die Polizei-Wartburgs locker abgehängt.“ Am nächsten Rastplatz hält Thorsten an. Sein Hund „Sprinter“ muss Gassi. Und seiner Meinung nach sind wir jetzt auch reif, einen Blick in seinen Lade- raum zu werfen. Fasziniert betrachten wir die Minischrankwand Typ „Caravan“, die ein Gelsenkirchener Spezialunternehmen produziert. Vor den von innen aufgemalten, täuschend echten Fensterimitaten hängen indirekt beleuchtete Gardinen. Das Plakat des Kultfilms „Kleintransporter auf großer Fahrt“ hängt gerahmt und hinter Glas an der Wand zur Fahrerkabine. Der Unterboden ist zu einem flachen Whirlpool ausgebaut. Und der Clou: die doppelten Breitreifen sind frei sichtbar hinter schlammbespritzten PlexiglasInnenkotflügeln eingehängt. Thorsten grinst stolz, als er unser Staunen bemerkt. „Ein paar von uns arbeiten bereits an einem selbstfahrenden Wohntransi auf Tesla-Basis, der allein in Urlaub geht. Der soll dann selbstständig auf unserem Lieblings-Standplatz einparken, während wir das Geld verdienen, das man für die Standplatzmiete braucht.“ Dann wird Thorsten plötzlich ernst. Sehr ernst. „Wir fühlen uns von der Polizei zu Unrecht verfolgt. Wegen einiger schwarzer Schafe wird die ganze TransiSzene in eine Rowdyschublade gesteckt. Und die Politik lässt uns im Stich.“ Wir wissen, wo- Selbst der härteste Bulli endet irgendwann auf dem Schrottplatz Foto: dpa rauf er anspielt – unser Gespräch mit dem Leiter der Autobahnpolizeidirektion Hannover hat die heiklen Themen schonungslos ans Tageslicht gebracht: Rechtsüberholen mit Tempo 220; illegale MotocrossRennen in Naturschutzgebieten; Monster-Transis in historischen Altstädten, und eine Parallelwährung namens Ducato, mit der die Umsätze der Szene am Finanzamt vorbeigeschleust werden. „Ich verstehe das wirklich nicht. Wenn sie alles legalisieren würden, hätte die Polizei überhaupt keine Probleme mit uns. In der Unfallstatistik stehen wir deutlich besser da als Geisterfahrer und Betrunkene. Und dass wir einen längeren Bremsweg haben, ist nicht unsere Schuld. Wenn Pkw-Schleicher und Ausländer die Spur freimachen, passiert – nichts. Und übersehen kann man uns ja kaum im Rückspiegel!“ Geht WISSENSCHAFTLER KOMMUN IZI EREN MIT GRÜN PFLANZE Eine E-Mail vom Spinat dpa/taz | Spinat ist nicht gerade das hipste Gemüse. Das zeigte sich jetzt wieder, als amerikanische Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge einem Spinat Nanopartikeln implantierten. Die grüne Pflanze konnte so Sprengstoff im Grundwasser aufspüren. Nahm der Spinat explosive Nitroaromate aus dem Wasser auf, reagierte der Kohlenstoff und die Blätter gaben floureszierende Signale ab, die eine InfraCAMBRIDGE/BERLIN FAMI LI ENGESCH ICHTE MIT DUN KLEM FLECK Der dunkle Fleck an meiner Wohnzimmerwand nahm deutlich an Größe zu. Da mit so etwas nicht zu spaßen ist, bat ich eine handwerklich erfahrene Freundin um Rat. Sie meinte, es sei jedenfalls kein Schimmelpilz. „Was soll es denn dann sein?“, wollte ich wissen, bekam aber keine befriedigende Antwort. Während der Fleck weiterwuchs, zeigte ich ihn noch ein paar anderen Menschen, die aber allesamt keine Erklärung dafür hatten. Schließlich begann die Wand sich an der befallenen Stelle etwas vorzuwölben. Zu jener Zeit verlangte es mich stark, gewisse mir unbekannte Details der eigenen Familiengeschichte zu erfahren. Zum Beispiel wusste ich nicht, auf welche Weise meine Eltern einander kennengelernt hatten und ob ich tatsächlich in der Waschküche eines Privathauses zur Welt gekommen war. Zu Lebzeiten meiner Eltern hatte ich nie zugehört, wenn von solchen Dingen die Rede gewesen war. Inzwischen lebte niemand mehr von meiner Familie, der diese Details kennen konnte. Die einzige Möglichkeit, noch etwas herauszubekommen, wäre gewesen, an den Ort meiner Kindheit zu reisen und dort nach Informationen zu suchen. Doch das war ausgeschlossen, da ich unter keinen Umständen reise. Eines Nachts kamen Wesen aus dem Fleck an der Wand. Sie sprachen gut verständlich: „Geografie ist eine Lüge, wie die ganze Welt eine Lüge ist. Du kannst die Reise genauso gut in deinem Sessel unternehmen.“ Die Methode, die sie mir nahelegten, erschien mir sympathisch, und am Morgen pro- VON EUGEN EGNER bierte ich sie aus. Tatsächlich fand ich mich in meinem Geburtsort wieder. Ich ging zum Meldeamt, hoffend, dass man mir dort die eine oder andere Frage nach meiner Familiengeschichte oder Geburt beantworten konnte. Unterwegs passierte ich ein altes Gebäude. Die Mauer, an der ich vorbeiging, war zum Teil von einem großen Relief bedeckt. Als Kind hatte ich es bestaunt, ohne zu verstehen, was es darstellte. Auch jetzt konnte ich mir keinen Reim darauf machen. Die fleckige Mauer erweckte an einer Stelle den Eindruck, als drücke von innen etwas gegen die Putzschicht. Unwillkürlich fragte ich mich, ob ich etwas Ähnliches nicht schon einmal irgendwo beobachtet hatte. Wie so oft, wenn ich versuche, mich auf etwas zu konzentrieren, verschob sich mein überfordertes Bewusstsein auf traumartige Weise, und ich schlief ein. Im nächsten Moment wieder aufschreckend, glaubte ich mich zu erinnern, dass das Phänomen in der Mauer indirekt vom Elektrizitätswerk, der vormaligen Meierei, gegenüber erzeugt wurde. Daraus folgte logischerweise: Wenn es mir möglich war, diese Reise daheim im Sessel zu unternehmen, dann war es auch möglich, dass ich an dem ganzen Vorgang überhaupt nicht beteiligt war, sondern vielmehr nicht das Allergeringste damit zu tun hatte. Die Wesen aus der Wohnzimmerwand beglückwünschten mich dazu, dass ich „so schön mitarbeitete“. Auch der Bürgermeister kam eilends gelaufen und reichte mir seine Hand, die viermal so groß war wie meine eigene. es um seine Freiheit als Bürger, kann der ansonsten besonnen wirkende Familienmensch richtig leidenschaftlich werden. Hat Thorsten noch Träume? Aber ja! Die Transamericana, die will er einmal „machen“ in seinem Leben. Möglichst mit Familie – wenn seine Frau ihre „Auszeit“ bis dahin beendet hat. Sie hatte kein Verständnis für seine Tempoprobefahrt auf dem heimischen Hof aufbringen können. „Dabei“, ereifert sich Thorsten, „kann die Kleine an Krücken schon wieder ganz gut gehen. Und es war schließlich der Job meiner Frau, auf die Kinder aufzupassen!“ Zusammen mit „Blinker links“ will er politische Verantwortung übernehmen und den Forderungen der Szene Gehör verschaffen. Darunter ist auch die Aufnahme der „Formel T“ in den internationalen Rennkalender. „Silverstone, Imola, Suzuka … das wäre so was von mega“, murmelt Thorsten versonnen und schließt die Hecktür seines Transis. Und so kommen die Buchstaben wieder zusammen, die sein Motto formen: „Nicht hupen! Fahrer träumt vom Nürburgring.“ OLIVER DOMZALSKI ANDREAS CZECH GURKE DES TAGES rotkamera aufnahm und als EMail weiterleitete. Ach, komm, E-Mails?! Wer schickt denn heutzutage noch E-Mails? Doch nur Gammelfleisch-Rentner. Hätte der Spinat Bilder bei Snapchat gepostet, dann wäre es krass gewesen, dass die Kommunikationsschranke zwischen Pflanzen und Menschen überwunden wurde. So aber ist die SpinatMail doch nur altbacken wie Iglos Blubb-Tante Verona Pooth. Deren IQ ist allerdings ideal auf dem Niveau des Gemüses. In den Höhen der deutschen Sprache ist die Luft mitunter sehr dünn. „An Niveaulosigkeit kaum zu übertreffen: Der US-Wahlkampf 2016“, betitelte gestern die Nachrichtenagentur AP einen Bericht aus den USA. Wenn ein Niveau nicht vorhanden ist, dann wird es schwierig, es zu übertreffen. Sinniger wäre es in dem Fall, das Niveau zu unterbieten. Wobei auch dafür gilt: Ohne Niveau ist es unmöglich, tiefer zu sinken. Diese Stilkritik kommt von ganz oben herab. 🐾 taz.die tageszeitung erscheint tägl. Montag bis Samstag, Herausgeb.: taz.die tageszeitung. Verlagsgenossenschaft eG Hausanschrift: Rudi-Dutschke-Straße 23, 10969 Berlin Postanschrift: Postf. 610229, 10923 Berlin Telefon: 030 | 25 902-0 | Internet: www.taz.de Fingerprint: 96:78:2F:71:74:A5:4E:A8:A2:39: B5:98:46:B4:4F:D0:E7:8B:63:9D Chefredaktion: Georg Löwisch Katrin Gottschalk (stellv.), Barbara Junge (stellv.) Chefreporter: Peter Unfried Lokalredaktionen: Nord-Hamburg: Stresemannstraße 23, 22769 Hamburg, 040 | 38 90 17-0 Bremen: Pieperstraße 7, 28195 Bremen, 0421 | 96026 0 Berlin: Rudi-Dutschke-Straße 23, 10969 Berlin, 030 | 2 5 902 0 Verantwortlich i.S. des Pressegesetzes: Georg Löwisch LeserInnenbriefseite: Gabriele v. Thun Anzeigen Gesamtausgabe: Margit Jöhnk Berliner Lokalteil: Bert Schulz | alle Berlin Regionalteil Nord: Jan Kahlcke | Hamburg Anzeigen: Andrea Bodirsky | Bremen Manfred Frenz | Hamburg LeserInnenbriefe E-Mail: [email protected] Fax: 030 | 25 902 516 Die Redaktion übernimmt keine Haftung für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Illustrationen. Die taz und alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Mit Ausnahme der gesetzlich zugelassenen Fälle ist eine Verwertung ohne Einwilligung des Verlages strafbar. Alle Anbieter von Beiträgen, Fotos und Illustrationen stimmen der Nutzung in den taz-Ausgaben im Internet, auf DVD sowie in Datenbanken zu. Kleinanzeigen: Überregional und Berlin taz-Kleinanzeigen, Rudi-Dutschke-Straße 23 telefonisch: Mo.–Fr. 9–15 Uhr 030 | 25 902 222 Fax: 030 | 2 59 02 444 | E-Mail: [email protected] taz Shop | Telefon: 030 | 25 902 138 Anzeigenverkauf: Überregional und Berlin taz-Anzeigenabteilung, Rudi-Dutschke-Straße 23 Tel.: 030 | 25 902 238 |-290 |-289 Fax: 030 | 25 106 94 | E-Mail: [email protected] Lokalteil Hamburg | taz Entwicklungs GmbH & Co Stresemannstraße 23, 22769 Hamburg, Tel. 040 | 38 90 17 470 Lokalteil Bremen taz Entwicklungs GmbH & Co | Pieperstraße 7, 28195 Bremen, 0421 | 9 60 26 10 Verlag: taz Verlags- und Vertriebs GmbH Rudi-Dutschke-Straße 23, 10969 Berlin Geschäftsführer: Karl-Heinz Ruch Gesellschafter | 99,96%: taz Verlagsgenossenschaft eG, Berlin Vorstand: Andreas Bull, Kaufmann | Jörg Kohn, Abteilungsleiter Technik | Isabel Lott, Fotoredakteurin | Tania Martini, Redakteurin | Karl-Heinz Ruch, Kaufmann | alle Berlin Aufsichtsrat: Stefanie Urbach, Kommunikationsberaterin, Berlin | Johannes Rauschenberger, Wirtschaftsprüfer/Steuerberater, Stuttgart | Hermann-Josef Tenhagen, Journalist, Berlin Druck auf PALM Recyclingpapier: A. 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Die Gewerkschaft will die Immobilie verkaufen. 55 Jahre politische Jugendarbeit sind damit bald Geschichte – und ein Dutzend Arbeitsplätze gefährdet Sommer in der Havel baden. Das alles ginge bei einem Umzug nach Mitte verloren. Außerdem stehe die Stätte finanziell gut da. Sie seien mit über 85 Prozent gut ausgelastet und finanzieren sich überwiegend selbst: über Senatsförderung in Höhe von 160.000 Euro, Projektmittel und Vermietung der Räume für Seminare und Tagungen. Verdi übernimmt lediglich die Miete. VON LARA JANSSEN In dem Haus direkt am Havelufer hat Petra Karbe fast 13 Jahre gearbeitet. Jetzt liegt der Köchin und alleinerziehenden Mutter von vier Kindern die Kündigung auf dem Tisch. Denn die „Verdi Jugendbildungsstätte BerlinKonradshöhe“, in einem Ortsteil von Reinickendorf gelegen, wird zum März 2017 geschlossen: Dem Trägerverein wurde von der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) gekündigt, weil teure Sanierungsarbeiten an dem Gebäude anstünden. Der Verein soll in ein Jugendzentrum in Mitte umziehen und die Jugendarbeit in kleinerem Rahmen fortführen: Ein Großteil der zwölf derzeit Angestellten würden ihren Job verlieren. „Es ist eine bodenlose Frechheit“, sagt die 48-Jährige Karbe. „Verdi setzt sich lauthals schreiend für gewerkschaftliche Solidarität ein, aber wir werden hängen gelassen.“ Verdi wolle die Immobilie für einen mehrstelligen Millionenbetrag verkaufen. Von 11 Millionen Erlös ist die Rede. Von den Socken „Die Kündigung hat uns völlig von den Socken gehauen“, sagt Karbe. Das Gebäude wurde erst vor zwei Jahren saniert, insofern hätten die Beteiligten nichts von einem drohenden Umzug geahnt. 400.000 Euro wurden bis 2013 investiert. Laut Verdi-Sprecherin Daniela Milutin seien die damals nötigen Reparaturen erfolgt, um dem Verein einen Aufschub von wenigen Jahren zu geben. Zudem wäre 2014 die Geschäftsführerin Sabine Weißer informiert worden, dass eine Nutzung über 2016 hinaus nicht möglich sein würde. Sabine Weißer widersprach dem öffentlich schon im August: Von einem Umzug habe sie nichts gewusst. Auch der Initiator der Solidaritätsgruppe „Rettet Konradshöhe“, Ulrich Dalibor, argumentiert so: Hätte Weißer früher davon gewusst, hätte sie sich viel eher um die Zukunft der Stätte gekümmert. Natür- Landesverband für Erhalt Noch arbeitet die „Verdi-Jugendbildungsstätte Berlin-Konradshöhe e. V.“, ein Bild vom Freitag – im März 2017 soll Schluss damit sein Foto: Amélie Losier lich könne man den 60er-JahreBau renovieren – vor allem eine energetische Sanierung von Fassade und Fenster sei angebracht –, doch derzeit spreche Verdi von einer nötigen Summe von rund 2,4 Millionen Euro. Laut Dalibor, der sich auf ein von Verdi 2011 in Auftrag gestelltes Gutachten beruft, sei das viel zu hoch: 2011 wurden 720.000 Euro Gesamtbedarf errechnet. Außerdem seien die MaßnahANZEIGE men weder sofort noch alle auf einmal nötig. Stattdessen werden Gerüchte laut, dass die Kündigung ausgesprochen wurde, damit das Grundstück verkauft werden könne. „Es ist ein ImmobilienSahnehäubchen“, sagt Heiko Swieykowski, der sich in der Solidaritätsgruppe engagiert. VerdiSprecherin Milutin möchte sich zu dem Vorwurf nicht äußern: „Wir geben grundsätzlich keine Auskünfte über Vermögenswerte und die Verwendung von Liegenschaften.“ Dabei gibt es die gewerkschaft liche Jugendbildungsstätte Konradshöhe bereits seit 55 Jahren. Am 17. Juni 1959 legte Bürgermeister Willy Brandt den Grundstein. Als sich 2001 fünf Gewerkschaften zu Verdi zusammenschlossen, sollte die Konradshöhe zugunsten größerer Einrichtungen aufgegeben werden. Doch letztlich beschloss der Verdi-Gewerkschaftsrat den Er- halt der Stätte – seit 2003 unter der Führung des eigenständigen und gemeinnützigen Vereins „Verdi Jugendbildungsstätte Berlin-Konradshöhe“. „Sie jetzt zu schließen wäre eine Katastrophe“, sagt Swieykowski. Die Jugendbildungsstätte leiste wertvolle Arbeit mit rund 17.000 Jugendlichen im Jahr: Beispielsweise arbeiten derzeit jugendliche Geflüchtete ihre Fluchtgeschichten mithilfe von Film und Fotocomics auf. „Gerade jetzt, wo der Rechtspopulismus erstarkt und Arbeitsbedingungen in einer globalisierten Welt unübersichtlicher werden, ist es wichtiger denn je, politische Jugendarbeit zu fördern und junge Menschen für Gewerkschaften zu begeistern“, sagt Swieykowski. Die Konradshöhe sei dafür der ideale Ort: Auf dem weiten Gelände würden sich die Jugendlichen wohlfühlen, sie können Lagerfeuer machen oder im „Wir werden weiter kämpfen. Geld scheint Verdi wichtiger zu sein als die Jugend“ PETRA KARBE, KÖCHIN History Jugendbildungsstätte ■■Die Deutsche Angestellten Gewerkschaft (DAG) Berlin suchte in den 1950ern einen Ort für Jugendbildung. 1957 kaufte die DAG das Gelände an der Havel. Die DAG-Jugend legte einen Zeltplatz an und baute eine Holzhütte, um das Gelände sofort nutzen zu können. Am 17. Juni 1959 legte der Bürgermeister von Westberlin, Willy Brandt, den Grundstein für die neue Bildungsstätte, sie wurde im März 1960 als Haus der DAG-Jugend Konradshöhe eingeweiht. (heg) Der Verdi-Landesbezirk BerlinBrandenburg brachte bereits einen Antrag für den Erhalt der Konradshöhe im Verdi-Bundeskongress ein, der ihn unbearbeitet auf den Gewerkschaftsrat übertrug. Dieser entschied, ihn ebenfalls nicht zu behandeln, da der Antrag nur auf Berlin bezogen sei. Auch Uwe Brockhausen, der bis letzten Donnerstag zuständiger Stadtrat für Reinickendorf war, setzte sich für die Konradshöhe ein und richtete im März ein Schreiben an den Verdi-Vorstand: Es blieb unbeantwortet. Als sich im September ein Interessent meldete, der das Grundstück kaufen und die Jugendbildungsstätte erhalten will, setzte er ein zweites Schreiben auf: Erneut erhielt er keine Antwort. Ungeachtet des Widerstands von allen Seiten fordert Verdi einen Umzug der Jugendbildungsstätte. Laut Verdi-Sprecherin Milutin gibt es eine Kooperation mit dem Jugendzentrum „Die Pumpe“ des Arbeiterwohlfahrtverbandes in Mitte. Ab April 2017 solle der Verein Konradshöhe seine Arbeit in den Seminarräumen der Pumpe weiterführen. Doch die Pumpe hat bereits eine eigene Belegschaft. Somit ginge nicht nur ein traditionsreicher Standort und die Arbeit mit den Jugendlichen in Reinickendorf verloren, auch die meisten Angestellten, darunter Köchin, Hausmeister und Büro- und Putzkräfte würden arbeitslos. „Wir werden weiter kämpfen und auf die Barrikaden gehen“, sagt Karbe, „aber Geld scheint Verdi wichtiger zu sein als die Jugend.“ ANZEIGE SUSANNE MESSMER WAR BEI DER ENTHÜLLUNG EINER GEDENKTAFEL DABEI Eine Geschichte der Selbstverwirklichung D ie letzten Blätter fallen von den Bäumen, nebenan klingelt es an einer Grundschule zur Hofpause. Vor einem frisch renovierten Haus hat sich eine Gruppe von etwa 30 Menschen versammelt, die meisten von ihnen sind mit Notizblock oder Kamera bewaffnet. Sie sind hier, weil gleich eine weitere von etwa 450 Berliner Gedenktafeln enthüllt wird – die erste für einen Menschen aus der afrikanischen Community in dieser Stadt, wie die Historikerin Katharina Oguntoye, die in Nigeria und Deutschland aufwuchs, gleich erzählen wird. In diesem Haus in der Kuglerstraße 44 in Prenzlauer Berg lebte Martin Dibobe, der 1876 als Quane a Dibobe in Bonapriso in Kamerun geboren wurde. Dibobe kam 1896 nach Berlin: Als Darsteller in einer Völkerschau im sogenannten Negerdorf der Berliner Gewerbeausstellung. Später arbeitete er Dibobes Bild hängt am Halleschen Tor Foto: BVG sich bis zum Zugfahrer der 1. Klasse bei der U-Bahn hoch (siehe Foto), gründete eine Familie. „Für uns ist Dibobes Geschichte eine der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung“, sagt Historikerin Oguntoye. Doch Dibobes noch immer nicht restlos erforschte Biografie ist auch aus einem anderen Grund interessant. 1919 reichte er mit 17 anderen Afrikanern in Deutschland, die ihn als ihren ständigen Vertreter im Reichstag vorschlugen, eine Petition bei der Nationalversammlung in Weimar ein. Diese forderte in 32 Punkten „Selbstständigkeit und Gleichberechtigung“ der Menschen in und aus den deutschen Kolonien ein. Einige der Forderungen – wie etwa die nach Reisefreiheit – lesen sich auch heute wieder brisant. Insofern ist es fast ein wenig schade, dass sie keinen Platz fanden auf der kleinen Gedenktafel in der Kuglerstraße 44. Fearless Speech #6 Anschlüsse an Foucault Foucault in Bohemia und antirassistischer Praxis 2.11. / HAU1 Mit Mark Terkessidis und Pascal Jurt www.hebbel-am-ufer.de 22 TAZ.DI E TAGESZEITU NG SPORTPLATZ Da ist noch Luft nach oben ■■Handball Es läuft richtig rund für die Füchse Berlin in der noch jungen Saison. Nach zehn Spielen stehen die Handballer mit 17:3 Punkten auf Platz drei sehr gut da A m Sonntag holten sie im Ostderby beim SC Magdeburg ein 29:29. Und das, obwohl die Füchse in der ersten Hälfte schon mit fünf Toren zurücklagen. „Da konnte man sich überhaupt noch nicht vorstellen, dass wir noch einen Punkt holen werden. Das war ICE gegen D-Zug“, fand Manager Bob Hanning. Aber die Füchse zeigten Moral. Die Berliner mischen in der Spitzengruppe der Bundesliga kräftig mit, und auch beim internationalen EHF-Pokal sind sie weiter dabei. „Da kann man wirklich zufrieden sein“, sagt Hanning. Von der Meisterschaft redet zwar niemand, aber an großen Ambitionen fehlt es trotzdem nicht. „Wir haben drei Jahre den EHF-Pokal gespielt, wir wollen jetzt in die Cham pions League“, gibt der schwedische Rechtsaußen Mattias Zachrisson die Richtung vor. Erst zwei Mal schafften es die Füchse in die Königsklasse. 2012 gelang sogar der Sprung ins Final Four, sie wurde am Ende Vierter. Und das sie immer noch die Großen ärgern können, bewiesen sie bei der Klub-WM im September. Dort konnte man im Finale die Millionentruppe von Paris St. Germain überraschend besiegen und den Coup vom Vorjahr wiederholen. Im Angriff haben die Füchse allerdings noch einige Luft nach oben. Da lässt die Chancenverwertung noch zu wünschen übrig. Vor allem bei den Siebenmetern werden zu viele verworfen. „Das sind wichtige Tore. Da müssen die Schützen mehr zeigen“, fordert Richardsson. In der Abwehr läuft es aber schon sehr gut. Die beiden Keeper Silvio Heinevetter und Petr Stochl ergänzen sich gut und präsentierten sich zuletzt in Topform. „Heine und ich sind lange als Tandem zusammen und haben schon viel erlebt. Es spielt eben der, der besser ist“, erklärt Kapitän Petr Stochl. Da Heinevetter zuletzt oft brillierte, schaute der Tscheche meist nur zu. Neid gibt es bei dem 40-Jährigen aber nicht. „Er hat sich das total verdient“, erklärt er. Mit dem größeren Kader kann im Team jetzt mehr rotiert werden. „Nur so können wir in unserem Spiel das Tempo hoch halten“, erklärt Richardsson. Ein paar Verletzungssorgen trüben allerdings dann doch die Freude des Füchse-Trainer. Ausgerechnet beide Linkshänder im Rückraum hat es erwischt. Breiter aufgestellt Die Füchse sind in dieser Saison breiter aufgestellt. Mit dem Kroaten Kresimir Kozina kam ein neuer Kreisläufer, und der deutsche Nationalspieler Steffen Fäth soll für mehr Flexibilität im Rückraum sorgen. Zudem rückten aus der eigenen Jugend Fynn-Ole Fritz und Kevin Struck zu den Profis auf. „Wir haben jetzt ganz andere Möglichkeiten zu spielen. Wir sind schneller und flexibler“, schwärmt Trainer Erlingur Richardsson. „Ich bin sehr überzeugt von unserem Kader“, glaubt auch Nationalspieler Paul Drux. Hing das Offensivspiel in der vergangenen Saison noch zu sehr von der Form von Spielmacher Petar Nenadic ab, ist die Last in dieser Saison auf mehrere Schultern verteilt. „Früher hat er unser Spiel kontrolliert. Aber jetzt können wir auch gleichwertig wechseln. Jede Position ist doppelt gut besetzt“, freut sich Richardsson. Berlin DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 Bashir war ein Freiheitskämpfer TRAUER Freunde und Weggefährten geben Bashir Zakarias am Montag das letzte Geleit. Der Sprecher der Flüchtlinge vom O-Platz war letzte Woche überraschend gestorben VON UTA SCHLEIERMACHER Die Trauerfeier beginnt eigentlich schon auf dem Oranienplatz. Dort, wo auch Bashir Zakarias Wirken in Berlin angefangen hat, stehen am Montagmorgen etwa 70 Freunde und Unterstützer im Kreis und hören Bello Umar zu. Mit ruhiger Stimme und Pausen zwischen den Sätzen erzählt er vom letzten Dienstag, an dem der unbesiegbar wirkende und kraftvolle 44-jährige Zakaria überraschend an Herzversagen gestorben war. „Wir wollten jemanden treffen, doch dann war ihm schwindlig, plötzlich ging es ihm sehr schlecht“, erzählt er. Der Rettungswagen konnte nicht mehr helfen, Zakaria starb wenig später in seiner Wohnung an Herzversagen. „Bashir war ein Freiheitskämpfer, er hat immer versucht zu helfen“, sagt Umar. „Er ist ein Vorbild für uns alle.“ Ähnlich drückt es der Imam zwei Stunden später bei der Beerdigung auf dem Landschaftsfriedhof Gatow in Spandau aus. „An seinen Taten können wir uns orientieren“, Zakaria habe Menschen aus verschiedenen Ländern, Kulturen und Religionen zusammengebracht. Nach dem Totengebet ziehen die inzwischen rund 100 Gäste mit Gebetsrufen hinter dem Sarg her – in den Teil des Friedhofs, in dem die Gräber gen Mekka ausgerichtet sind, für So wird er in Erinnerung bleiben: Bashir Zakaria auf einer Demo in Kreuzberg Foto: Christian Mang Erdbestattungen nach muslimischem Ritus. Freunde legen den in weißes Tuch gehüllten Leichnam in die Grube, darüber den Sargdeckel wie ein Dach. Dann schaufeln sie zu zehnt Erde darüber, bis sich ein kleiner Hügel über dem Grab wölbt. Zakaria hatte sich nach seiner Flucht 2012 den Protesten am Oranienplatz angeschlossen und wurde zum Sprecher der Flüchtlinge dort. Schon damals war er herzkrank, er war einer der wenigen, die aus gesundheitlichen Gründen eine Dul- dung bekamen. Unterstützerin Taina Gärtner sagt, dass er zuletzt neue Hoffnung geschöpft hatte. „Er wollte unbedingt wieder arbeiten und plante, andere Flüchtlinge zu beraten.“ Am Grab nehmen Freunde mit kurzen Reden Abschied. Die Aktivistin Napuli Paul ruft zu Spenden für Zakarias kranke Mutter in Nigeria auf. Auch von unerwarteter Seite kommt eine Trauerbekundung: „Wir werden dich nicht vergessen“ steht in goldener Schrift auf der weißen Schleife eines Kranzes, den der Integrationsbeauftragte des Senats, Andreas Germershausen, auf dem Grab ablegt. Latoya Manly Spain von Lampedusa Hamburg spricht über Zakarias politisches Vermächtnis. „Wir dürfen seine Kraft nicht vergessen“, sagt sie. Nachdem die Zeit der CDU vorbei sei, sollte man nun der SPD auf die Finger schauen. „Wir sind an einem Punkt, wo Verhandlungen vielleicht wieder möglich sind, wir müssen weiter für eine gerechte Gesellschaft kämpfen.“ „Wenn jetzt nichts passiert – wann dann?“ CANNABIS Trainer Richardsson Foto: dpa Erst zog sich der Norweger Kent-Robin Tönnesen einen Muskelbündelriss in der Wade zu und fällt monatelang aus, dann erwischte es Nationalspieler Fabian Wiede. „Er ist der Einzige, den wir momentan nicht ersetzen können“, so Hanning. Den 22-Jährigen plagen Schulterprobleme, zuletzt konnte er nur mit Schmerzen spielen. Aber „es tritt nicht die Verbesserung ein, die wir uns erhofft haben“, erklärt der sportliche Leiter Volker Zerbe. Eine neuerliche MRT-Untersuchung soll nun Aufschluss geben, wie es weitergeht. Ein Ausfall würde den Ambitionen der Füchse wohl einen kleinen Dämpfer versetzen. NICOLAS SOWA Rot-Rot-Grün ist eine Traumkonstellation für eine Liberalisierung, meint der Hanfverband taz: Herr Wurth, was erwartet der Hanfverband von der künftigen Berliner Landesregierung? Georg Wurth: Rot-Rot-Grün ist eine Traumkonstellation für jeden Legalisierungsbefürworter. Wenn jetzt keine Schritte hin zu einer liberaleren Cannabispolitik erfolgen – wann dann? Wir erwarten von dieser Koalition einiges. Wie man hört, sind die Unterhändler der SPD bisher nicht bereit, den Anbau von Pflanzen zum Eigenbedarf straffrei zu stellen. Auch einem Modellprojekt zur regulierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene wollen die Sozialdemokraten nicht zustimmen. Die SPD tut so, als könne sie sich nicht über ihre Mitglieder hinwegsetzen, die bei einer Be- fragung im November 2015 gegen eine Legalisierung votiert hatten. Dabei war das Ergebnis denkbar knapp … … 43,2 Prozent waren dafür, 44 Prozent dagegen. Damals war wohlgemerkt die Frage nach einer vollständigen Legalisierung für Erwachsene gestellt worden. Fast die Hälfte hat sich dafür ausgesprochen. Bei den aktuellen Koalitionsverhandlungen geht es nicht um Legalisierung, sondern um Schritte in Richtung Entkriminalisierung. Dafür hätte die SPD bei ihren Mitgliedern mit Sicherheit eine Mehrheit. Das kann kein Argument sein, das jetzt alles abzublocken. Sind Dinge wie ein straffreier Anbau und ein Modellversuch nicht Peanuts? Deutsche Bundesländer können im Gegensatz zu einem US-Staat Cannabis nicht vollständig legalisieren. Die Null-Toleranz-Zone von Henkel im Görli zurückzunehmen – das sind Peanuts. Kreuzberg ist mit seinem Antrag, einen Modellversuch durchzuführen, am Bundesgesundheitsministerium gescheitert. Würde das nicht auch dem Land Berlin drohen? Berlin könnte mit Bremen eine Bundesratsinitiative starten. Dort hat Rot-Grün ja auch einen Modellversuch beschlossen. Nationale Lobbyarbeit ist wichtig, um das Projekt voranzubringen. Warum geht es beim Eigenanbau? In Berlin gilt, dass bis 15 Gramm Cannabis straffrei bleiben können. Wenn allerdings eine Pflanze beschlagnahmt wird, wird sie als Ganzes gewogen. Da ist man sehr schnell bei über 15 Gramm. Auch Bremen will den Eigenanbau deshalb entkriminalisieren. Die Politik sagt ja immer, man wolle die Dealer jagen und nicht die Konsumenten. Wer selbst anbaut, muss nicht auf dem Schwarzmarkt kaufen. N EUE U-BAH N EN & TRAM KOALITIONSVERHAN DLUNGEN BUN DESWEITE BI LDUNGSSTUDI E VERÖFFENTLICHT BVG in Bestelllaune Mehr Geld für Unis Berliner SchülerInnen lesen schlecht Die BVG will mit neuen U-BahnZügen und Straßenbahnen die wachsenden Fahrgastzahlen in Berlin bewältigen. Der Aufsichtsrat beschloss am Montag, mindestens 446 U-Bahn-Wagen und mindestens 80 Trams zu bestellen. Es ist die erste Tranche eines Investitionsprogramms, durch das bis 2035 insgesamt 3,1 Milliarden Euro in neue Züge fließen sollen. Das Unternehmen will alte Fahrzeuge ersetzen, aber auch seinen Wagenpark vergrößern. Zu Jahresbeginn hatte die BVG sich darauf mit dem Senat verständigt. (dpa) SPD, Linke und Grüne wollen den Hochschulen künftig jedes Jahr 3,5 Prozent mehr Geld geben. Das bedeute ein Plus von 36 bis 40 Millionen Euro im Jahr, sagten Wissenschaftsexperten der potenziellen Koalitionspartner am Montag nach der siebten Verhandlungsrunde. Bisher bekommen die Hochschulen rund eine Milliarde Euro, mit einer jährlichen Steigerung von 3,2 Prozent. Als Gegenleistung müssten mehr Studienplätze geschaffen werden und die Absolventenzahlen steigen. (dpa) Berliner SchülerInnen belegen in einem bundesweiten Länderranking zur Lese- und Rechtschreibkompetenz nur den vorletzten Platz vor Bremen: Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) hatte bereits am Freitag den „Bildungstrend 2015“ vorgestellt, der zum zweiten Mal nach 2009 zeigen sollte, wie gut SchülerInnen am Ende der neunten Jahrgangsstufe in den Fächern Deutsch und Englisch auf den Mittleren Schulabschluss vorbereitet sind. Der MSA wird am Ende der zehnten Klasse INTERVIEW: PLUTONIA PLARRE Georg Wurth ■■43, ist seit 2002 Sprecher des Deutschen Hanfverbandes (DHV). Dieser strebt eine Legalisierung von Cannabis an, unter klarer Einhaltung von Jugendschutzauflagen. Foto: privat NACH RICHTEN geprüft. Dem Bericht nach erreichte ein Drittel der Berliner NeuntklässlerInnen nicht den Mindeststandard Lesekompetenz, der nach den Richtlinien der Kultusministerkonferenz für den MSA verlangt wird. Der Bundesschnitt lag zehn Prozentpunkte darunter. Knapp 20 Prozent der BerlinerInnen fielen bei Rechtschreibung durch (Bundesschnitt: 13,7). Allerdings klappt es dann am Ende für die meisten doch: Ohne Abschluss verließen 2015 nur 7 Prozent der Berliner ZehntklässlerInnen die Schule. (akl) Berlin DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 23 VON ANNA KLÖPPER Maria ruft an. Das hat sie lange nicht getan. Zuletzt, kurz vor den Sommerferien im Juli, klang die junge Serbin immer müde – wenn sie denn überhaupt ans Telefon ging. Jetzt plaudert sie aufgeräumt über dies und das: Ja, ihr gehe es gut, die Mutter sende schöne Grüße, der Bruder auch. „Ach, und weißt du“, sagt Maria, und sie sagt es so leichthin: „Wir dürfen bleiben. Hat die Härtefallkommission gesagt. Drei Jahre.“ Die Wetten standen nicht gut für Maria Jovanovic und ihre Familie. 2015 wurden 167 Härtefallanträge von serbischen StaatsbürgerInnen bei der Senatsverwaltung für Inneres gestellt. Lediglich ein Drittel davon waren erfolgreich. „Mangelnde Integrationsleistung“ sei der häufigste Grund für eine Ablehnung, heißt es aus der Senatsverwaltung. In der Härtefallkommission beraten unter anderem VertreterInnen von Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen und dem Flüchtlingsrat bei jedem Antrag, ob sie ein Ersuchen um Aufenthaltserlaubnis an den Innensenator, in den letzten vier Jahren hieß er Frank Henkel (CDU), stellen. Am Ende entscheidet der Innensenator allein, ob er eine Aufenthaltserlaubnis nach Paragraf 23a Aufenthaltsgesetz erteilt. Der gewährt „ausreisepflichtigen Ausländern in besonders gelagerten Härtefällen“ eine Aufenthaltserlaubnis, sofern „dringende humanitäre oder persönliche Gründe“ vorliegen. Die Jovanovics sind Roma. Maria erzählt, wie sie in der Schule in Serbien von den Lehrern und ihren MitschülerInnen deswegen systematisch fertig gemacht wurde. „Ihr habt doch später eh keine Arbeit, wozu sollen wir euch was beibringen“, hätten ihr die Lehrer gesagt. Die Mutter, die nie einen Beruf gelernt hat, erzählt, wie man ihr auf dem Amt keine Sozialhilfe auszahlen wollte. Sie erzählt von häuslicher Gewalt: wie ihr Mann, der die Familie inzwischen verlassen hat, sie schlug, wie ein Verwandter sie vergewaltigte. Anwältin Böhlo verwendet diese Punkte im Asylantrag der Familie beim Bundesamt für Flüchtlinge und Migration: Verfolgung durch Dritte und Ausbleiben des Schutzes durch den serbischen Staat. Sie argumentiert, dass serbische Frauenhäuser sich weigerten, Roma-Frauen Schutz zu gewähren. Sie stützt sich auf Reports von Frauenrechtsorganisationen, die berichten, dass die Polizei sich häufig weigere, Anzeigen wegen Vergewaltigung von RomaFrauen überhaupt nur aufzunehmen. „Offenbar überzeugend“ NGO-Berichte sind das eine. Aber für einen Asylantrag muss der Einzelfall bewiesen werden, und das ist schwer. Auch Marias Mutter Mitra hat nichts Offizielles: die Vergewaltigung hat sie nicht angezeigt, dass das Sozialamt ihr nichts zahlte, kann sie nicht beweisen. Der Asylantrag wird im Frühjahr abgelehnt. Bevor Anwältin Böhlo den Fall der Familie im Juli schließlich an die Härtefallkommission gibt, sagt sie: „Es wäre eine Überraschung wenn der Innensenator positiv auf den Antrag der Familie reagieren würde.“ Er tat es. Warum? Die Innenverwaltung macht die Gründe für ihre Entscheidungen nicht öffentlich. Weil es ja immer bloß Einzelfälle sind, so die offizielle Begründung – und weil man natürlich auch keine argumentativen „Blau- Jagos, der Sohn, 12 Jahre alt: Er geht zur Schule, er spielt Klarinette. Alles Pluspunkte auf dem Konto mit dem Namen „Integrationsleistung“ Foto: Lia Darjes Hart geprüft TAZ-SERIE FLUCHTPUNKT BERLIN (9) Die Jovanovics bleiben: Die Härtefallkommission der Senatsverwaltung für Inneres hat der serbischen Familie überraschend Aufenthalt gewährt taz-Serie Fluchtpunkt Berlin ■■Das Projekt: Die Aussichten auf ein Bleiberecht sind sehr ungleich verteilt: In loser Folge begleitet die taz seit November 2015 eine syrische und eine serbische Flüchtlingsfamilie. ■■Zuletzt verzweifelten die Mottawehs aus Syrien am Berliner Amtsschimmel; und die Jovanovics fanden sich fast im Abschiebeflieger nach Belgrad wieder. ■■Alle Folgen: www.taz.de/ Schwerpunkt-Fluechtlingsserie (taz) pausen“ liefern will für nachfolgende AntragstellerInnen. Und auch die Fürsprecherinnen für die Familie haben aus demselben Grund kein Interesse, ins Detail zu gehen. Wenn man öffentlich macht, wie man den Innensenator im Einzelfall überzeugt, könnte das Nachahmer finden, die aus purer Taktik so argumentieren. Das würde den tatsächlichen Fällen die Glaubwürdigkeit nehmen. Rechtsanwältin Böhlo sagt also nur: „Offensichtlich war unsere Begründung überzeugend.“ Offensichtlich, ja. Paragraf 23a sagt: Insbesondere wenn jemand suizidgefährdet ist oder die Gefahr einer Traumatisierung im Heimatland besteht, kann die Härtefallregelung angewendet werden. Das wichtigste Dokument, das im Fall der Jovanovics an die Härtefallkommission geht, ist ein Gedächtnisprotokoll von Maria und ihrer Mutter, das die Anwältin übersetzen lässt. Es geht darin um einen Sommerabend im August 2015. In Leskovac, einer 65.000-EinwohnerKleinstadt im südlichen Serbien, aus der die Familie stammt, findet eine große Hochzeitsfeier statt, alles trifft sich im Zentrum. Maria, damals 13 Jahre alt, will mit einer Freundin dorthin. Die Mutter erlaubt es ihr, um 19 Uhr machen sich die beiden Mädchen auf den Weg. Eine Stunde später versucht Mitra, ihre Tochter auf dem Handy zu erreichen, doch das Handy ist aus. Maria hat einen jungen Mann wieder getroffen, den sie wenige Monate zuvor kennengelernt hatte. In Berlin hatten Maria und der Mann Sex, ob Maria das wollte, ist nicht so ganz klar. Jetzt aber zerrt er sie in ein Auto, ein Kumpel sitzt am Steuer. Sie fahren auf einen abgelegenen Parkplatz und vergewaltigen Maria. Sie drohen: „Wenn du das irgendjemandem erzählst, bringen wir dich um.“ Und: „Das war erst der Anfang.“ Die Männer lassen Maria auf dem Parkplatz zurück. Zu Fuß läuft sie zurück ins Stadtzentrum, wo ihre Mutter sie um Mitternacht findet: die Kleider zerrissen, die Arme blau gequetscht. Zur Polizei gehen will Maria aus Angst vor den Männern nicht. Sie sagt, sie wüsste, wie nun in der Stadt über sie geredet würde: Sie sei jetzt „die Nutte“. Ihre Mutter gibt zu Protokoll, die Tochter habe gedroht, sich umzubringen, wenn sie in Serbien bleiben müsse. Eine Perspektive haben Es ist ein Gedächtnisprotokoll. Es beweist nichts, man muss glauben. Dass die Härtefallkommission glauben wollte, ist auch der Verdienst eines langjährigen Mitglieds der Kommission, das den Fall von Maria und ihrer Familie dort auf Bitten von Anwältin Böhlo eingebracht und vorangetrieben hat. Der Fürsprecher der Jovanovics – ein Name soll hier nicht genannt werden – sagt: Das Entscheidende sei, „dass man versucht, die Menschen hinter den Akten, die da bei der Kommission landen, sichtbar zu machen.“ Menschen, die hier, Stichwort „Integrationsleistung“, eine Perspektive haben könnten. Bei Marias Bruder Jagos ging das leicht. Ein Dienstagnachmittag, einer der ersten Herbstnachmittage. Jagos sitzt im ersten Stock der Schostakowitsch-Musikschule in Hohenschönhausen, auf dem Schoß seine Klarinette. Ein Nachbar in Leskovac hatte Jagos eine Klarinette geschenkt und ihm ein paar Stücke beigebracht, nach Gehör. Nun lernt der Zwölfjährige Noten lesen: Mühsam hangelt er sich durch die Tücken der F-Dur-Tonleiter. „Spiel mal lauter, du bist doch ein kräftiger Junge“, sagt seine Lehrerin Claudia Wozny. Schnell Freunde gefunden Jagos hat ein robustes Gemüt. Es fällt ihm nicht schwer, immer wieder neu anzufangen: Familie Jovanovic wurde bereits zweimal ausgewiesen. Der erfolgreiche Antrag bei der Härtefallkommission ist der dritte Versuch der Familie seit 2012, in Deutschland bleiben zu dürfen. Jagos hat schnell Freunde gefunden in dem Lichtenberger Flüchtlingsheim, in dem die Familie lebt. Mit denen geht er in den Jugendclub gegenüber oder zum Fußballspielen. Er übt auf der Klarinette und spart auf ein eigenes Instrument. Nach den Sommerferien ist er in die siebte Klasse an einer Integrierten Sekundarschule versetzt worden. Er kommt klar. Maria mache ihm mehr Sorgen, sagt Walid Chahrour. Chahrour ist Sozialarbeiter beim Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und MigrantInnen in Moabit. Einmal in der Woche fahren die Jovanovics „zu Walid“, wie Maria sagt. Die 15-Jährige ist im letzten Halbjahr kaum zur Schule gegangen. Sie sagt, sie werde dort gemobbt. Aber wenn die Aufenthaltserlaubnis der Familie in drei Jahren entfristet werden soll, braucht die Tochter einen Schulabschluss, die Mutter einen Job. Alles Pluspunkte auf dem Konto mit dem Namen „Integrationsleistung“. Erst mal wollen die Jovanovics aber vor allem eins: raus aus dem Heim. Offiziell sind die Sozialämter der Bezirke dafür zuständig, Flüchtlingen mit Aufenthaltstitel eine Wohnung zu organisieren. Doch die Kon- kurrenz um günstigen Wohnraum – 621 Euro Bruttowarmmiete übernimmt das Amt im Fall der Jovanovics – ist groß. Das Sozialamt Lichtenberg teilt auf Anfrage mit, man erhebe keine Daten darüber, wie viele Flüchtlinge mit Aufenthaltsstatus in Wohnungen leben und wie viele noch im Heim. Man wisse auch nicht, wie viele man bereits in Wohnungen vermittelt habe. Ohne Glück geht nichts Sozialarbeiter Chahrour sagt, man warte gar nicht mehr auf die Behörden, sondern suche in den eigenen Netzwerken des Beratungszentrums: „sechs, manchmal auch zwölf Monate“, dauere es erfahrungsgemäß, bis man eine Wohnung finde. Der Sozialarbeiter, der Fürsprecher in der Härtefallkommission und Anwältin Böhlo sind die Gründe, warum die Familie noch da ist. Der glückliche Fall der Familie zeigt deshalb auch das Unglück der vielen anderen: Ohne Fürsprecher, ohne ein bisschen Glück geht nichts. An die Anwältin sind die Jovanovics über einen Tipp von Bekannten aus Serbien gekommen, die die Familie in Berlin hat. Berenice Böhlo hat den Fall der Familie übernommen, ohne dafür eine Bezahlung zu bekommen. In der Musikschule packt Jagos die Klarinette ein. „Hey“, sagt seine Lehrerin. „Hab gehört, ihr dürft bleiben?“ Sie hält die Hand zum Einschlagen hin: „Check!“ 24 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Berlin Kultur DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 NACH JAHREN WIEDER MAL AM PRENZLAUER BERG UNTERWEGS Where is the Berghain? E Jessy Lanzas supertoller R&B Hamilton, die Industriestadt im kanadischen Bundesstaat Ontario, ist ganz bestimmt nicht das, was man einen Sehnsuchtsort nennt. Eher umgekehrt ist es die ideale Abschussrampe, von der aus sich die Produzentin Jessy Lanza mithilfe ihrer autodidaktisch zusammengeschraubten Homerecording-Musik auf den Gipfel des zeitgenössischen R&B- und Electronica-Schaffens gelauncht hat. Von dort ist es dann nur noch ein Katzensprung zu ihrem Londoner Label Hyperdub und ins Berghain beziehungsweise in seinen IndieVorposten, die Berghain Kantine, in der Jessy Lanza heute Abend gastiert, um die Songs ihres neuen Albums „Oh No“ vorzustellen. Am Wriezener Bahnhof 5, ab 21 Uhr, circa 17 Euro. BERLI N ER SZEN E SOFAREPORT Ein Gedeck Fast jeden Nachmittag war ich bei Getränke Hoffmann in der Blücherstraße gewesen und hatte neue Biersorten ausprobiert. Zum fünfzigsten Jubiläum des Unternehmens war man auf die pfiffige Idee gekommen, die Getränke-Hoffmann-Läden umzubenennen, damit sie gemütlicher klingen. Im Gräfekiez gibt es nun „Mein Hoffi“. Andere Filialen sind geschlossen worden, wie etwa die in der Blücherstraße. Das ist sehr ärgerlich, weil die Filiale dort angenehm und gut sortiert gewesen war. „Ich bin auch ständig zu“, könnt ich nun schreiben, weil mein alter Freund M., ein 70erJahre-Revolutionär und ExKommilitone von Steinmeier, sich freut, solche Sätze in der Zeitung zu lesen. M. war immer zu. Wir hatten jahrelang zusammen Tischtennis gespielt, geflippert oder bei ihm gesessen und über die Verhältnisse gesprochen. Später hatte sich herausgestellt, dass er in Wirklichkeit gar nicht haschsüchtig, son- Der Weg zum Badezimmer ist eine weite Reise dern dem Alkohol verfallen war. Dann hatte er Diabetes bekommen, letztes Jahr kam noch Polyneuropathie dazu; bei einer MRT stellte sich heraus, dass sein Gehirn schrumpft. Dann war er die Treppe heruntergefallen. Die Beweglichkeit ist arg eingeschränkt und mit Schmerzen verbunden. Der Weg zum Badezimmer ist eine weite Reise. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher ununterbrochen. Zum Beispiel „Blaulichtreport“. Die meiste Zeit liegt M. in Decken eingemummelt halb auf dem Sofa und leidet und will ein Gedeck; Berliner Kindl plus Piccolo. Alkohol hilft ein bisschen. Ich meckere wegen des Trinkens, stell ihm sein Gedeck aber doch hin. Besuch hilft auch manchmal. Lesen ist schwierig, weil er sich nicht mehr konzentrieren kann wegen der Schmerzen. „Das letzte Buch, das ich gelesen habe, heißt ‚Revolution und Kultur‘ und ist 1973 in Moskau erschienen. Ein strunzdummes Buch! Aber ich lese gerne dumme Sachen.“ DETLEF KUHLBRODT Yro, der bärtige VJ an Kamera und Mischpult, beim „Pictorial Concert“ Foto: Balz IslerT/Schaubude Puppentheater 2.0 mit feinem Lowtech Appeal THEATER Das Festival „Theater der Dinge“ will Puppentheater und Internet of Things zusammenführen und noch mehr VON TOM MUSTROPH Dinge können beseelt sein. Nur dank dieser Übertragungsoperation funktioniert Puppenund Objekttheater. Ein Stückchen Holz, ein Stein, ein Fetzen Stoff – das alles können Figuren, können Protagonisten sein. Im heraufziehenden Zeitalter des Internets der Dinge, der smarten Kühlschränke und Toiletten, der digitalen Assistenten und des Cyberpornos, ergeben sich fürs Puppentheater 2.0 ganz neue Möglichkeiten. Einer, der das ganz besonders gern erkunden will, ist Tim Sandweg, seit einem Jahr Chef der Schaubude. Deshalb hat er zu seinem ersten großen Festival als Intendant Künstler eingeladen, die mit Robotern und Drohnen spielen, mit Pop-upBüchern Geschichten erzählen und ganz allgemein Objekte digitalisieren, mit denen sie dann operieren. „Digital ist besser“, lautet der hübsche Untertitel des Festivals „Theater der Dinge“, das noch bis zum Donnerstag in der Schaubude und im Podewil stattfindet. Gut, der Schritt in die digitale Zukunft braucht etwas Vorbereitung. Die Gruppe Manufaktor etwa, die in ihrem Projekt „Pinocchio 2.0“ den frechen menschenähnlichen Protagonisten zur Premiere im nächsten Jahr mit einem Roboter besetzen und ihn dabei von einer Drohne umschwirren lassen will, hat noch einiges an Bastelarbeit vor sich. Beim „Festivalfrühstück“, einem zwanglosen Vorausblick in das Puppentheater der Zukunft, hatte die Truppe noch nicht einmal die Drohne angeschafft. Aber es sind ja auch noch ein paar Monate Zeit. Recht virtuos gingen hingegen Kristin und Davy McGuire in „The Ice- book“ mit einem Pop-up-Buch um – und schufen so dreidimensionale Effekte. Aus den Buchseiten wachsen reliefartig die Strukturen von Schiffen, Häusern und Interieur heraus. Auf sie treffen Rückprojektionen. Und so kann dann etwa im Kamin eine Prinzessin erscheinen und den Helden zum Aufbruch in ihr Reich locken. Gebannt verfolgt man den Reiseweg und sieht, wie aus einem Buch ganz direkt Geschichten aufsteigen. Neuartige Oberflächen Dass Animation auch viel hemdsärmliger vonstatten gehen kann, sah man am Eröffnungstag des Festivals beim französischen Künstler Yro und den Belgiern Vincent Glowinski und Teun Verbruggen. Yro, ein bärtiger VJ an Kamera und Mischpult, lud analoge Familienfotos per Hand in den Zwischenspeicher, indem er sie vor der Kamera bewegte. Ganz neuartige Oberflächentexturen entstanden so. Seltsame Bildausschnitte, Teile von Mund und Ohr etwa oder Nahaufnahmen von großporiger Haut, wurden ausgewählt. Und auch das Prinzip der Kamerafahrten wurde neu interpretiert: Hier führte die Künstlerhand das Bild am fest installierten Kameraauge vorbei und erzeugte so den Effekt der Bewegung. Gar nicht so weit entfernt vom Fotoatelier, in dem einst der Filmapparate-Künstler Max Skladanowsky in die Lehre ging, durfte Also lud man Künstler ein, die mit Robotern und Drohnen spielen und Pop-upBücher digitalisieren man Zeuge von einem ganz neuartigen Jahrmarktspektakel mit bewegten Bildern werden. Der Neu-Skladanowsky Yro loopte die in den Arbeitsspeicher hochgeladenen Bilder schließlich noch, ließ sie zittern, ausfransen und einander in Schichten überlagern. Gleich ganze Objekte „digitalisierte“ Vincent Glowinski. Begleitet von seinem kongenialen Schlagzeugpartner Teun Verbruggen, legte er erst eine Wurst auf seinen Arbeitstisch und filmte sie dann ab. Die Projektionen wurden mit einem Weinglas – umgekippt, ausgeschüttet und weggefegt – fortgesetzt. Dem wilden Auftakt folgte ein Hochhausbau aus weißen Papierbögen. Einmal erbaut, fielen aus den Fenstern plötzlich Figuren – unerbittlich zoomte die Kamera darauf, und der Projektor vergrößerte das Massenfallen auf die mehrere Meter große Wand. Ein echter Zimmerhorror, akustisch untermalt vom Mann am Schlagzeug. Später entstanden auf diese Art noch hingetuschte Erzählungen, bis die Wurst vom Anfang sich schließlich in eine Pistole verwandelte und zum finalen Bühnensuizid von Glowinski eingesetzt wurde. Insgesamt überzeugte bei „Theater der Dinge“ bislang der Lowtech-Zugriff auf die Dinge; neue Archaik entstand im Zwischenreich von analog und digital. Ein Höhepunkt verspricht am Mittwoch die Deutschlandpremiere von „Birdie“ zu werden, einem nicht mit Vogelschwärmen, sondern mit Kleinstpuppen und Kamera erzählten Remake des HitchcockKlassikers „Die Vögel“, in dem über das Verhältnis von Migration und Angst nachgedacht wird. Natürlich, digital ist auch politisch. ine Freundin ist mit ihrer Familie für eine Woche vom Mariannenplatz in den Prenzlauer Berg gezogen – Wohnungstausch mit Leuten aus Paris vereinbart, doch keine Zeit zum Urlauben, Franzosen aber reisen unerbittlich an, ein Kollege fährt an ihrer Statt, sie wohnt derweil in seiner Wohnung. Eine seltene Gelegenheit tut sich auf: Ausgehen in Prenzlauer Berg, ui, lange nicht gemacht, Terra incognita, Exotik, Prickeln auf der Haut. Gelegenheit beim Schopfe gepackt und raus aus dem Kreuzberg-Nordneuköllner Alltagshalligalli. Die Strecke mit dem Fahrrad am Freitagabend: irgendwie weiter als in den Neunzigern. Auf der Köpenicker setzen zehntausend Taxen Yello-Fans vorm Kraftwerk aus, das Hofbräuhaus am Alex schluckt zehntausend Anzugträger. Berg hoch. Rund um den Wasserturm: herrliche Ruhe. Rund um den Helmholtz platz: Beschaulichkeit, leere Trottoirs, wir rascheln durch die Blätter, ein freundlicher Junge am Kiosk verkauft ein paar Craft-Beer-Sorten, weiß aber auch nicht, was es mit „German IPA“ auf sich hat. Im ausliegenden Flyer steht „unfiltriertes India Pale Ale, ausschließlich aus heimischen Hopfensorten gebraut. Wir kaufen zwei Helle aus bayerischen Klöstern. Ein „Event-Café“ auf der Schönhauser hat seinen Schankvorgarten spinnwebartig mit Wattefäden geschmückt, wer reinwill, muss sich winden. Ist ja auch Halloween-Party, Motto: „Monster, Biere, Mutationen“. Auch an der Eberswalder: Jubel, Trubel, Heiterkeit. Kostümierte, Teufel, Kätzchen, Monster, eines streichelt uns mit seinem Krallenhandschuh aus schwarzer Pappe die Wange. My my, so incredibly uncool würde sich in unserem Hometurf-Kiez kein New Berliner aufführen. Dann Hunger. Suche nach einer warmen Pho-Suppe. Aber es ist schon elf – und Punkt elf werden in Prenzlauer Berg die Bürgersteige hochgeklappt. Entschuldigung, wir haben schon zu, die Küche hat schon geschlossen, tut mir leid. Ein arabischer Imbiss auf der Danziger bietet letzte Zuflucht. Und AUSGEHEN UND RUMSTEHEN VON KIRSTEN RIESSELMANN ganz zum Schluss lehrt uns das „Leathers“ auf der Lychener das wahre Gruseln: Hinter bodentiefen Fenstern präsentiert sich maßgeschneiderte S/M-FetischWare für den betuchten Lederschwulen. Der eine Schaufensterpupperich hat eine gänzlich lochlose Falkenhaube auf dem Kopf und eine Spanking-Klatsche in der Hand (wie sieht er, wo er hinschlagen soll?), der andere in schwarzledernem Harnisch trägt einen Kürbis unterm Arm. Hey, Prenzlauer Berg, du kannst es noch! Am Samstag Xenia Rubinos in der Berghain Kantine. Gestern schon Lobeshymne an genau dieser Stelle. Mir allerdings hat’s nicht gefallen. Trotz wahrlich großer Sangeskunst und technischer Versiertheit gerät bei mir nichts in Schwingung. Eine befremdliche Einsamkeitserfahrung, denn alle um mich rum sind hin und weg. Außer: der einzige anwesende Konzertfotograf, der von der Künstlerin gleich zu Beginn vom Bühnenrand verscheucht wird. Auf dem Weg zum am Berghain-Zaun festgeschlossenen Fahrrad werde ich ganze drei Mal angesprochen: Excuse me, do you know where the Berghain is? Do you know when it will open? Do you know where the entrance is? Where is this other place, this Panoramabar? Polyglottes Stimmengewirr: wienerisch, portugiesisch, englisch, weißrussisch. Das Berghain dämmert um Viertel nach elf noch gänzlich dunkel vor sich hin, aber eine kleine Kirmes kümmert sich um die vielen Too Early Birds: Ein Kaffeestand, aus dessen fies schlechten Miniboxen Techno blechert hat gut zu tun, die Currywurstpommesbude daneben wird ebenfalls frequentiert. Als ich am nächsten Morgen das Radio anschalte, nölt mich einer der Kalkbrenners an, ob Paule oder Fritze, ganz egal, das stadtmarketingkonforme ClubpluckerGrauen hört auf beide Namen. LOKALPRÄRI E TRANSPORTE ■■zapf umzüge, ☎ 030 61 0 61, www.zapf.de, Umzugsberatung, Einlagerungen, Umzugsmaterial, Beiladungen, Materiallieferungen, Akten- und Inventarlagerung www.biocompany.de VERWEIS Wir laden Sie herzlich zu unserem exklusiven Genießerabend ein! Beginn: 16.00 UHR Boxhagener Straße 73, 10245 Berlin - Friedrichshain 03.11.16 Donnerstag Unsere Partner stellen sich persönlich vor und erzählen aus dem Nähkästchen ... Für Verkostung, Degustation und ein Glas Sekt oder Saft ist natürlich intritt gesorgt. E Zusammen mit FREI ! FAH RRÄDER HYM N EN Sattelfest Die Stadt Oldenburg, der Landkreis Bentheim, die Stadt Hannover und die umliegende Region sind jetzt ganz offiziell „Fahrradfreundliche Kommunen“. Klingt gut, aber zufrieden sind die Radfahrer nicht. ▶ SEITE 22 Abo 030 - 259 02 - 590 | Hamburg 040 - 3890 17 - 0 | [email protected] | [email protected] | Bremen 0421 - 960 26 - 0 | Hannover 0511 - 89 7005 - 20 | [email protected] Erdverwachsen pa :d to Fo Niedersachsen feiert heute in Hannover seinen 70. Geburtstag. Zeit für einen Hymnen-Vergleich der Nachbarländer. Denn während die Schleswig-HolsteinHymne ein wahrer Agitationssong ist, mag das Niedersachsenlied keiner. Wieso eigentlich? ▶ SEITE 23 25 DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG VON KATHARINA SCHIPKOWSKI taz: Herr Brenneisen, stellen Sie in Ihrer Beratungsstelle fest, dass tatsächlich afghanische Geflüchtete abgeschoben werden? Claudius Brenneisen: Bisher nicht, aber es kommen schon mehr Afghanen mit Ablehnungsbescheiden zu uns, das stimmt. Die Zahl der Anerkennungen afghanischer Geflüchteter beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geht nach unten. Was hat sich denn rechtlich verändert? Gar nichts. Nur die politische Motivation, afghanische Flüchtlinge abzuschieben, hat sich geändert. Es gibt jetzt das Rücknahmeabkommen mit der afghanischen Regierung, das Abschiebungen in großer Zahl zulassen soll. Das müssen Sie erklären. Rechtlich hat sich nichts verändert und trotzdem werden AfghanInnen jetzt seltener als Flüchtlinge anerkannt? Die Anerkennung von Asylgesuchen ist eine Sache. Die liegt bei afghanischen Flüchtlingen immer noch bei knapp 50 Prozent. Das Spannende ist, wie mit einer Ablehnung umgegangen wird. In den letzten Jahren wurden die Abschiebungen eben nicht vollzogen. Und das könnte sich jetzt mit dem Rücknahmeabkommen ändern. Genau. Aber Sie sagten auch: Gleichzeitig sinkt die Quote der Anerkennungen. Die Anerkennungszahl lag letztes Jahr bei knapp 80 Prozent, jetzt liegt sie unter 50 Prozent. Der Grund dafür ist aus der rechtlichen Lage nicht ersichtlich. Die Zustände in Afghanistan haben sich auch nicht verbessert. Das führt eben zu dem Schluss, dass es ein politischer Kurs ist. In Hamburg gibt es allerdings eine rechtliche Besonderheit, die sich verändert hat. Ja, die Senatorenregelung wurde abgeschafft. 2008 hat der damalige Innensenator Christoph Ahlhaus von der CDU unter dem schwarz-grünen Senat verfügt, dass Menschen nach 18 Monaten Duldung einen Aufenthalt bekommen. Das war bundesweit einmalig? Jein. Es geht auf ein Bundesgesetz zurück, Paragraf 25, Absatz Nach Anschlägen auf Polizisten: Soldaten der afghanischen Armee sind im Oktober 2016 auf Patroullie Foto: Watan Yar/dpa „Hamburg lässt Afghanen im Unklaren“ KURSWECHSEL Afghanischen Geflüchteten drohen Sammelabschiebungen, obwohl sich weder ihre asylrechtliche Situation verändert hat noch die Konflikte im Land entschärft wurden, sagt Anwalt Claudius Brenneisen 5 des Aufenthaltsgesetzes, wo genau das drin steht. Nur Hamburg war das einzige Land, das das umgesetzt hat, auf öffentlichen Druck hin. Diese Regelung hat der rotgrüne Senat jetzt einfach wieder abgeschafft. Ja. Fährt Hamburg aktuell einen besonders harten Kurs gegen Geflüchtete? Bisher kann man das im Vergleich zu anderen Bundesländern noch nicht sagen. Aber Hamburg hat die größte afghanische Community. Wenn die jetzt verstärkt abgeschoben werden, wird sich das bemerkbar machen. Wobei – die Abschaffung der Senatorenrege- lung ohne jede Ankündigung oder das Aufzeigen von Alternativen war schon hart. Welche Alternativen meinen Sie? Bisher wusste man, auch wenn ein Asylantrag abgelehnt wurde, dass es andere Möglichkeiten gibt, um hierzubleiben. Asyl ist ja nicht die einzige Grundlage, auf der man hier bleiben kann. Gründe können sein, wenn man zum Beispiel zur Schule geht, eine Ausbildung macht oder eben Ausreisehindernisse vorliegen – wie die unsichere Lage in Afghanistan. Das ist jetzt weggefallen und alle fragen sich: „Wann geht’s los?“ Was passiert mit den Geflüchteten, die aufgrund der Sena- torenregelung bleiben dürfen – wird ihnen der Status wieder aberkannt? Wir hoffen nicht, aber das ist alles offen. Die Stadt lässt die Afghanen völlig im Unklaren darüber, wie es weitergeht. Haben schon AfghanInnen die „freiwillige“ Ausreise angetreten, weil sie fürchten, ohnehin abgeschoben zu werden? Das wäre mir nicht bekannt und ich kann es mir nicht vorstellen, weil Afghanistan im Ranking der Herkunftsländer von Geflüchteten aktuell auf Platz zwei liegt. Die Sicherheitslage hat sich dort nicht entspannt, sondern viele Städte und Regionen werden von den Taliban „zurückerobert“ und der soge- nannte Islamische Staat (IS) ist auch schon tätig. Wir sind da in einem Zustand wie vor der Invasion westlicher Truppen. Auch die Zahl von über einer Million afghanischen Flüchtlingen im Iran spricht dagegen. Und wenn man sich die Bilder anguckt: Frauen tragen Burka und in Kabul gab es im Juli einen Anschlag auf eine friedliche Demonstration mit 80 Toten und über 200 Verletzten. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) meint, es gebe genügend „sichere Regionen“. Aber davon auszugehen, dass wir dort sichere Verhältnisse haben, ist absurd. Seit 2009 gab es 60.000 Opfer durch zi- H ELMUT SCHMI DT Anspruchslos „Grünbuch“ zur Flüchtlingspolitik ist da Der Klatschmohn ist die Blume des Jahres 2017. Das hat die LokiSchmidt-Stiftung am Montag bekanntgegeben. Mit der Ernennung will die Stiftung nach eigenen Angaben darauf aufmerksam machen, dass Ackerwildblumen zunehmend verloren gehen. Der Klatschmohn als relativ anspruchslose Pflanze sei in diesem Sinne ein „Überlebenskünstler“. Das hätte seinen Namensgeber gefreut, vermutet der Helmut Schmidt, weil der Klatschmohn damit gewisse Gemeinsamkeiten mit seiner Loki hat. Aber sicher hätte er hinzugefügt: „Dass ihr mir deswegen jetzt nicht wieder mit irgendsonem Öko-Quatsch ankommt!“ Hilfsorganisationen in Schleswig-Holstein haben die ihrer Meinung deutlich verschärfte Flüchtlingspolitik verurteilt und die zunehmende Gewalt gegen Flüchtlinge angeprangert. Mit gekürzten Sozialleistungen und verschärften Gesetzen werde auf Abschreckung statt auf Integration gesetzt, kritisierten die Verbände, darunter die Diakonie und der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein. Sie stellten am Montag das erste „Grünbuch 1.0“ zur Flüchtlingspolitik vor. Anlass ist die Flüchtlingskonferenz der Landesregierung am 9. November in Lübeck. Dieses Grünbuch nennt für 15 Handlungsfelder konkrete Forderungen: Es geht um mehr DISKRIMINIERUNG Schleswig-Holsteins Hilfsorganisationen sind unzufrieden mit dem Umgang mit Geflüchteten. Kurz vor der geplanten Flüchlingskonferenz in Lübeck erheben sie nun konkrete Forderungen Wohnungen, Deutschkurse, Schulunterricht, die Behandlung traumatisierter Flüchtlinge oder die Anerkennung ausländischer Qualifikationen. Kritisiert wird die unterschiedliche Behandlung von Flüchtlingen mit guter und mit geringer Bleibeperspektive. Im Grünbuch heißt es: „Rassismus ist salonfähig geworden.“ Besonders manifestiere sich Diskriminierung von Geflüchteten aber in Gesetzen. Massive Kritik übt das Grünbuch an der vom Kieler Innenministerium geplanten Landesunterkunft für Ausreisepflichtige – gemeint sind vor allem abgelehnte Asylbewerber. „Kein Gesetz verpflichtet das Land zu einer solchen, mittelfristig auf die nachhaltige Isolierung und Desintegration hinauslaufenden Maßnahme.“ Das Land müsse „auf eiwne zwangsweise und im Zuge von Freiheitsentzug durchgesetzte inhumane Aufenthaltsbeendigung verzichten“. Schleswig-holsteins Innenstaatssekretärin Manuela Söller-Winkler (SPD) dankte den Grünbuch-Autoren für die konstruktive Kritik. „Das Papier zeigt, dass die Landesregierung insgesamt in der Flüchtlingspolitik auf dem richtigen Kurs ist.“ Verbesserungsbedarf gebe es etwa im Umgang mit gefährdeten Gruppen unter den Flüchtlingen. Die Flüchtlingskonferenz solle Lösungen erarbeiten. (dpa) vile Anschläge. Und wenn man sich anguckt, unter welchen Sicherheitsvorkehrungen ausländische Organisationen arbeiten, spricht alles dagegen, dass es eine große freiwillige Bewegung zurück nach Afghanistan gibt. Claudius Brenneisen ■■44, ist Rechtsanwalt und arbeitet bei der kirchlichen Beratungsstelle für Geflüchtete „Fluchtpunkt“ in Hamburg. Foto: Heike Günther Land will mehr Lohn zahlen Der Mindestlohn für Mitarbeiter von Firmen, die öffentliche Aufträge erledigen, soll in Schleswig-Holstein im Februar 2017 auf fast zehn Euro steigen. Geplant ist eine Anhebung des vergaberechtlichen Mindestlohns von 9,18 auf 9,99 Euro, wie Arbeitsminister Reinhard Meyer (SPD) gestern ankündigte. Die Höhe lehnt sich an den Mindestlohn im Tarifvertrag der Länder an, der auf 9,99 Euro erhöht wurde. Arbeitnehmer in Privatfirmen, die öffentliche Aufträge erhalten, müssten bezahlt werden, als führe die öffentliche Hand mit eigenen Mitarbeitern diese Aufträge aus, sagte Meyer. (dpa) 26 TAZ.DI E TAGESZEITU NG UN D H EUTE … fusionieren zwei Landkreise Es ist der erste Zusammenschluss zweier Landkreise in Niedersachsen seit der Gebietsreform der 1970er-Jahre und dazu auf freiwilliger Basis: Heute wird aus den Landkreisen Göttingen (250.000 Einwohner) und Osterode am Harz (80.000) der neue Großkreis Göttingen. Dieser wird seinen Verwaltungssitz in Göttingen haben. Bürgernahe, aber auch zentrale Dienste wie die Finanzverwaltung werden in Osterode bleiben. Die Fusion soll vor allem den wirtschaftlich schwachen Kreis Osterorde vor Handlungsunfähigkeit bewahren. Das Land schießt 80 Millionen Euro zu. Nord DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 NACH RICHTEN Gerügt hat der schleswig-holsteinische Landesrechnungshof die Haushaltspolitik der Koalition in Kiel. In einer Stellungnahme heißt es, mit mehr Ausgabendisziplin wäre ein Etatentwurf für 2017 ohne Neuverschuldung möglich gewesen. Trotz Rekordeinnahmen plane die Landesregierung aber eine Kreditaufnahme in Höhe von 126,5 Millionen Euro. Sie fahre keinen Konsolidierungskurs. Außerdem baue die Regierung mehr Personal auf als ab und investiere zu wenig in die Infrastruktur. Die Investitionsquote sei mit 6,8 Prozent auf dem zweitniedrigsten Stand seit mehr als 50 Jahren. +++ Bei den Wolfsrudeln auf dem Truppenübungsplatz Bergen und im Raum Wietzendorf gibt es Nach- LESERI N N EN BRI EFE taz.nord | Stresemannstraße 23 | 22769 Hamburg | [email protected] | www.taz.de Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzen von Leserbriefen vor. Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Historiker mundtot gemacht ■■betr.: „NS-Studie mit Nachspiel“, taz.nord vom 24. 10. 16 Als ob der VW-Konzern nicht schon genug Probleme und Skandale produziert hat. Nun soll auch noch ein kritischer Historiker mundtot gemacht werden. Der vom obersten VW-Chef Matthias Müller geforderte Kulturwandel, mehr Demokratie von unten, wird offensichtlich noch nicht von allen vollzogen. Manfred Grieger ist es unter anderem mit zu verdanken, dass sich der Konzern in den 1990er-Jahren – endlich nach über 40 Jahren – seiner Mitverantwortung an Verbrechen in der Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gestellt hat. In der wissenschaftlichen Aufarbeitung des VW-Werkes im Nationalsozialismus wurde die Nähe der Konzernleitung zu den NS-Eliten herausgearbeitet. Ein Foto vom 7. Juni 1939 zeigt Adolf Hitler einträchtig neben seinem Lieblingsingenieur Ferdinand Porsche, der sein Werk nur mit Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen aufbauen konnte, bei der Besichtigung des Presswerkes. Während in Ingolstadt eine nach Richard Bruhn, einem der handelnden Personen des vormaligen Auto-Union-Konzerns, umbenannt worden ist, gibt es in Wolfsburg immer noch eine Porsche-Straße und ein Porsche-Denkmal. DIETHELM KRAUSE-HOTOPP, Destedt Ein Comic als Hilfeschrei ■■betr.: „Mit Bleistiften gegen die Ignoranz“, taz.nord vom 19. 10. 16 Da zeichnen und schreiben zwei gegen das an, was sie, wie so viele von uns, mit normalem Menschenverstand nicht länger erfassen können: zur Kenntnis nehmen zu müssen, dass nahezu täglich Menschen im Mittelmeer ertrinken und wir dabei zuschauen. Nun sind Gaby von Borstel und Peter Eickmeyer zeitweilig Teil der Besatzung der „MS Aquarius“ geworden, die Flüchtlinge aus dem Meer rettet. Die beiden sind auch in der Flüchtlingsinitiative Neuenkirchen aktiv. Das war ihnen nicht mehr genug, denn es verhindert nicht das Ertrinken im Meer. Wann beeinflussen uns solche Schlüsselreize derart, dass wir aus dem passiv beobachtenden in ein aktiv handelndes Verhalten wechseln? Machen wir es uns nicht zu einfach, wenn wir das Abstumpfen psychologisch mit dem Argument des Selbstschutzes begründen? Zu groß das Leid, zu wenig von Seiten der Politik getan, zu menschenverachtend die Gesamtlage, zu wenig eindeutig, wie man einen Beitrag leisten kann? Die zivile Hilfsbereitschaft ist ungebrochen. Und das ist gut so in Zeiten, in denen sich rechtsgerichtete Minderheiten lautstark und zunehmend gewaltbereit in den Vordergrund spielen. Je persönlicher wir die Schicksale an uns heranlassen, umso geringfügiger wirkt gleichzeitig der Beitrag, den wir hier in Deutschland leisten können. Von Borstel und Eickmeyer wollen nun durch Graphic Novels das Leid im Mittelmeer auf der „MS Aquarius“ festhalten. Es wirkt wie ein Hilfeschrei, mit einem Comic gegen das Erstarken nationaler Abschottungstendenzen anzeichnen zu wollen. Ob die ausgewählte Zeichnung, die den Beitrag von Harff-Peter Schönherr begleitet, das trifft, was die beiden sich vorgenommen haben, bleibt fragwürdig. Eine düstere Zeichnung, wie im Bilduntertitel benannt, sehe ich in den Gesichtern, die den Betrachter anschauen, nicht. Werden hier doch Personen dargestellt, die man mit den realen Bildern erschöpfter und traumatisierter Menschen nicht so recht überein bekommen mag. Es bleibt zu hoffen, dass die Graphic Novels als Medium ihr Ziel nicht verfehlen. Und es bleibt offen, ob Zeichnungen tatsächlich mehr aufrütteln können als reale Bilder. CHRISTINE STECKER, Hamburg wuchs. Mit Fotofallen der Bundesforstbetriebe wurden Welpen abgelichtet, wie die Landesjägerschaft mitteilte. So konnten in Bergen vier und bei Wietzendorf drei Welpen nachgewiesen werden. +++ Der Oldenburger Energieversorger EWE will sich langfristig von allen konventionellen Kraftwerken zur reinen Stromerzeugung trennen. Sie seien nicht rentabel, sagte EWE-Chef Matthias Brückmann mit Blick auf die Vorstellung einer neuen Konzernstrategie, die sich stärker auf erneuerbare Energien konzentriert. Ihm zufolge sollen das Kohle- und das Gaskraftwerk der Bremer Tochter SWB nun genau geprüft werden. Das Müllheizkraftwerk in Bremen sei hingegen profitabel. +++ ASYL I N N I EDERSACHSEN N I EDERSACHSENS WÄLDER Neue Beratung vor Nur die Eiche in Gefahr der Härtefallprüfung In den Wäldern Niedersachsens Flüchtlinge und ihre Unterstützer können sich vor möglichen Eingaben an die Niedersächsische Härtefallkommission künftig unabhängig beraten lassen. Die unabhängige Fachberatungsstelle sei „ein wichtiger Baustein in der niedersächsischen Flüchtlingsberatung“, sagte die Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe, Doris Schröder-Köpf (SPD). Träger der Beratungsstelle ist die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. Ziel sei es, aussichtslose Eingaben zu vermeiden und so die Härtefallkommission zu entlasten. (epd) ist der Anteil schwer geschädigter oder gar abgestorbener Bäume in diesem Jahr gering geblieben. Die Bäume haben den Risiken von Witterung, Schädlingen und Umweltgiften getrotzt. „Die aktuelle Bestandsaufnahme ist vor allem für den Klimaschutz eine sehr gute Nachricht“, sagte Landwirtschaftsminister Christian Meyer (Grüne) anlässlich der Vorlage des Waldzustandsberichts am Montag in Hannover.Ganz genesen sei der Wald allerdings noch nicht. Ein Sorgenkind sei derzeit die Eiche. Die Baumart weist mit 30 Prozent die höchste Kronenverlichtung auf. Zu dem Blattverlust haben unter anderem starker Insektenfraß und Pilzbefall beigetragen. Rund ein Viertel des Bundeslandes Niedersachsens ist von Wald bedeckt. (dpa) Eichenblätterfoto: dpa Preisgekrönter Durchschnitt MOBILITÄT Niedersachsens Verkehrsminister Olaf Lies adelt Städte und Kreise mit dem Titel „Fahrradfreundliche Kommune“ – dabei sind die meisten RadlerInnen unzufrieden VON ANDREAS WYPUTTA Der Rahmen war groß gewählt, die Einladungen gingen schon vor Wochen in die Post: In der Akademie des Landessportbunds hat Niedersachsens Wirtschafts- und Verkehrsminister Olaf Lies (SPD) die Stadt Oldenburg, den Landkreis Bentheim sowie die Landeshauptstadt Hannover und die umliegende Region mit dem Titel „Fahrradfreundliche Kommune“ ausgezeichnet. In Oldenburg werden bereits 40 Prozent aller Wege mit dem Rad zurückgelegt – den Preis bekam die Stadt für ihre Steuerung des Fahrradverkehrs: An Knotenpunkten erkennen Wärmebildkameras die Zahl der RadlerInnen; Ampeln zeigen bei Bedarf länger grün. Die Grafschaft Bentheim wurde für den guten Zustand ihrer Radwege ebenso gelobt wie für einen Film, der Flüchtlingen die Bedeutung von Verkehrsschildern erläutern soll. In Hannover reichten dagegen die blaue Markierung des City-Rings sowie Griffe und Trittbretter, die an Ampeln das Anhalten erleichtern, für die Auszeichnung. Die Region um die Landeshauptstadt herum wurde für die Schaffung von Fahrradparkplätzen an Bahnstationen, mehr Platz für Räder in den Stadtbahnen und ihr sogenanntes „Bügel-Programm“ gelobt: Pro Jahr sollen 1.000 Metallbügel aufgestellt werden, an denen Fahrräder sicherer angeschlossen werden können. „Radfahren boomt“, sagte Verkehrsminister Lies bei der in eine Fachtagung namens „Fahrradland Niedersachsen“ eingebetteten Preisverleihung. Mit einem Anteil von 15 Prozent am Gesamtverkehr sei der Radverkehr in Niedersachsen „bereits heute überdurchschnittlich groß“, so Lies weiter. Wichtig sei es, „weiterhin zukunftsfähige Konzepte zu entwickeln“, sagte der Minister, der auch im Aufsichtsrat von Deutschlands größtem Autobauer VW sitzt. In Niedersachsens rot-grüner Koalition drängen vor allem die Grünen auf eine besondere Förderung des leisen und emissionsfreien Radverkehrs. Nötig scheint das allemal: Beim letzten Fahrradklimatest des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC), der allein in Niedersachsen von mehr als 17.000 Mitgliedern unterstützt wird, bewerteten die befragten RadlerInnen 2014 ihre Situation in dem Bundesland nur etwas besser als „ausreichend“. 32 Fragen, bei denen etwa der Zustand der Radwege, Konflikte mit Autofahrern, die Lenkung an Baustellen oder die Fahrrad- mitnahme im öffentlichen Verkehr abgefragt wurden, ergaben einen Schulnoten-Durchschnitt von lediglich 3,7 – ähnlich ist die Situation auch in Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen. „In Niedersachsen gibt es bisher nur ein Radwegekonzept. Wir fordern seit längerem ein Radverkehrskonzept“, kritisierte Niedersachsens ADFC-Vorsitzender Dieter Schulz. Selbstverständlichkeiten wie eine einheitliche Beschilderung der Radwege fehlten, ebenso wie sichere Abstellmöglichkeiten etwa in abschließbaren Fahrradparkplätzen gerade an Bahnhöfen. Außerdem sei nicht einmal der Erhalt der bestehenden Struktur gesichert. Zwar sei Niedersachsen mit knapp 8.000 Kilometern das Bundesland mit dem deutschlandweit längsten Radwegenetz, sagte Schulz. „Laut Aussagen des Verkehrsministeriums aus dem Jahr 2014 sind aber 15 Prozent der Radwege „Ich sehe kein Konzept. Die Straßen und Plätze wirken so, als seien sie für das Auto gemacht und nicht für das Rad.“ MIKAEL COLVILLE-ANDERSEN komplett fahrraduntauglich“, klagte der ADFC-Mann. „Und ein weiterer großer Teil ist sanierungsbedürftig.“ Auch fehlten Radschnellwege, die gerade in einer Zeit des Elektrofahrrad-Booms nicht nur in der Region Hannover das Umland und die Stadt verbinden und so eine Alternative zum Auto fördern. Trotzdem gibt es in Niedersachsen einen solchen Schnellweg nur in Göttingen – und der ist gerade einmal vier Kilometer lang. „Trotzdem unterstützt das Land den Bau solcher Radschnellwege bisher überhaupt nicht“, sagte der ADFC-Vorsitzende. Die Folge: Von Erfolgen wie in Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen, wo bereits jeder dritte Weg per Bike erledigt wird, ist auch Hannover als fahrradfreundlichste Großstadt Niedersachsens weit entfernt. Im Jahr 2011 entfiel hier 19 Prozent des Verkehrs auf das Rad. Grund dafür sei vor allem mangelhafte Planung, kritisierte der Däne Mikael Colville-Andersen schon 2015 bei einer alternativen Stadtplanungskonferenz: „Ich sehe kein Konzept“, sagte er. „Die Straßen und Plätze wirken so, als seien sie für das Auto gemacht – und erst nach dem Bau wird überlegt, wie auch noch Platz für das Rad geschaffen werden kann.“ Das ist Greenwashing ■■betr.: „Ökosiegel trotz Umweltschäden“, taz.nord vom 25. 10. 16 Diese ganzen Siegel sind mal mehr, mal weniger Greenwashing. Hier geht es um den MSC, gegründet vom WWF selber (der Kohlkopf) und dem imagepflegenden Großkonzern Unilever (der gärtnernde Bock). Speziell der WWF soll mal mit seinen Greenwashing-Aktivitäten (zertifiziertes Palmöl) zurückhaltend sein. DA HIAS, taz.de Fahrradfreundlichkeit in Niedersachsen: Für den Preis reichten in Hannover schon ein paar Griffe und Trittbretter an Ampeln Foto: Holger Hollemann/dpa Nord DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 „Es ist ein politisches Kampflied HYMNE I Wie ein ursprünglich mal unpolitisches Lied zum Agitationssong im deutschdänischen Sprachenstreit wurde und wieso Friedrich Engels das ganze Lied bescheuert fand INTERVIEW PETRA SCHELLEN taz: Herr Riecken, wann entstand die bis heute inoffizielle Schleswig-Holstein-Hymne? Claas Riecken: In einer politisch aufgeheizten Zeit. Schleswig und Holstein waren ja seit 1773 Teil des dänischen Gesamtstaats und wurden mitverwaltet vom dänischen König. Wobei Schleswig durch eine Lehensverbindung auch staatsrechtlich mit Dänemark verbunden war, Holstein aber nicht. In Holstein waren Bevölkerung und Sprache deutsch, in Schleswig waren Deutsch und Dänisch offizielle Sprachen. Beide existierten nebeneinander, und das war jahrhundertelang kein Problem. Wann änderte sich das? Im 19. Jahrhundert, als in Europa der nationale Gedanke aufkam und dänische Politiker sowie das Kopenhagener Bürgertum zu König Christian VIII. sagten: „Wenn Schleswig zu uns gehört, muss da auch Dänisch gesprochen werden! Das gehört doch bis zur Eider seit dem Mittelalter zu Dänemark.“ Dass dort seit dem Mittelalter auch Tausende Deutsche eingewandert und weitere Tausende zur deutschen Sprache übergewechselt waren, spielte keine Rolle mehr. Was de facto ein Plädoyer für die Trennung Schleswigs von Holstein war. So hat es das Bürgertum in Schleswig und Holstein auch verstanden und seinerseits gesagt: Schleswig und Holstein gehören zusammen. Die Dinge polarisierten sich dann schnell: Dänische Nationalliberale fordern die engere Bindung Schleswigs an Dänemark, ihre deutschen Antagonisten die Eigenständigkeit der Herzogtümer Schleswig und Holstein sowie die Aufnahme Schleswigs in den Deutschen Bund. Was sich im Schleswig-Holstein-Lied spiegelt? Ja. Dessen Melodie stammt vom Schleswiger Kantor Carl Gottlieb Bellmann. Den Urtext verfasste der Berliner Rechtsanwalt Karl Friedrich Straß, der den inneren Zusammenhalt der Menschen beschwört und – politisch korrekt – „Schleswig, Holstein“ titelt. Dabei blieb es dann aber nicht, oder? Nein. Die zweite, bis heute bekannte Fassung, die der Schleswiger Anwalt Matthäus Friedrich Chemnitz für die Erstaufführung beim Schleswiger Sängerfest 1844 schrieb, ist agitatorischer. Er beschwört die Bedrohung durch Dänemark herauf und fügt die Herzogtümer auch sprachlich zusammen, schreibt erstmals „Schleswig-Holstein“. Damit hat Chemnitz die Hymne zum politischen Kampflied für die Einheit Schleswigs und Holsteins sowie die Unabhängigkeit beider von Dänemark gemacht. Ein Kampflied beim Sängerfest? Ja, solche Feste, auf denen Männergesangsvereine auftraten, waren damals hochpolitische Veranstaltungen, denn reguläre politische Versammlungen waren verboten. Das unter großem Jubel des Publikums aufgeführte Lied war also eine echte Provokation für den dänischen König. Es verbreitete sich dann schnell durch Sängerfeste und Zeitungen, die den brisanten Text abdruckten. Welche Passagen sind besonders brisant? Die Zeile „deutscher Sitte hohe Wacht“ etwa betont sehr bewusst das Deutsche und erteilt der Koexistenz eine Absage. Und wie deuten Sie dann die Zeilen „drohend sich der Nord erhebt, schütze Gott die holden Blüten, die ein milder Süd belebt“? Der „Nord“ steht für Dänemark, der „Süden“ für Deutschland. Wobei die Bewohner des Grenzlandes diese Strophe heute nicht mehr gern singen, um den alten Konflikt nicht zu beschwören. Inzwischen wirbt SchleswigHolstein sogar mit dem Slogan „der echte Norden“. Ja, das wirkt eigenartig, besonders, wenn man aus Dänemark nach Schleswig-Holstein fährt. Überhaupt enthält das Lied viele nationalsozialistisch wirkende Worte: Die „DoppelEiche“ klingt nach der germanischen Weltesche Yggdrasil, „stammverwandt“ nach „Blut und Boden“, dazu der „Hol stengau“. Sie zäumen das Pferd verkehrt herum auf. Das ist das Vokabular der Nationalromantik: Die Doppel-Eiche, die getrennt wächst, aber zusammensteht, steht für Schleswig und Holstein, „stammverwandt“ für Verbindungen der beiden Herzogtümer. Und „Gau“ hieß damals schlicht „Gebiet“. Die Nazis kamen 100 Jahre später und deuteten dann Dinge, die schon da waren, in ihrem Sinne um. Dabei hatte das Lied schon Friedrich Engels überhaupt nicht gefallen. Ja, er schrieb 1846 an Karl Marx so etwas wie: „Hast du schon gehört, in Schleswig-Holstein haben sie ein bescheuertes Lied erfunden.“ Das sei so schlecht, dass es nur wert sei, von blöden Dithmarschern gesungen zu werden. Wie wichtig ist das Lied denn heute? Irgendwie ist es immer da. Radio Schleswig-Holstein spielt es jeden Abend um Mitternacht, und viele Leute kennen zumindest die erste Strophe. Das Kämpferische daran wird aber den wenigsten bewusst sein. HYMNE II Kaum jemand kann sich mit dem Niedersachsenlied identifizieren. Wieso eigentlich? Wir sind die Niedersachsen, Sturmfest und erdverwachsen, Heil Herzog Widukinds Stamm! Wo fiel’n die römischen Schergen? Wo versank die welsche Brut? In Niedersachsens Bergen, An Niedersachsens Wut Wer warf den römischen Adler Nieder in den Sand? Wer hielt die Freiheit hoch Im deutschen Vaterland? Das war’n die Niedersachsen, Sturmfest und erdverwachsen, Heil Herzog Widukinds Stamm! Das war’n die Niedersachsen, Sturmfest und erdverwachsen, Heil Herzog Widukinds Stamm! DIE ERSTEN ZWEI STROPHEN DES NIEDERSACHSENLIEDES He ut ef ei Foto: Privat 27 „Über Grenzen“ Von der Weser bis zur Elbe, Von dem Harz bis an das Meer Stehen Niedersachsens Söhne, Eine feste Burg und Wehr Fest wie unsre Eichen halten alle Zeit wir stand, Wenn Stürme brausen Übers deutsche Vaterland. Wir sind die Niedersachsen, Sturmfest und erdverwachsen, Heil Herzog Widukinds Stamm! er tN ie de rsa ch se n7 „Schleswig-Holstein, meerumschlungen, deutscher Sitte hohe Wacht! Wahre treu, was schwer errungen, bis ein schön’rer Morgen tagt! Schleswig-Holstein, stammverwandt, wanke nicht, mein Vaterland! Schleswig-Holstein, stammverwandt, wanke nicht, mein Vaterland! Claas Riecken ■■50, hat Geschichte, Friesisch und Dänisch studiert und ist seit 2014 Lektor am Nordfriesischen Institut in Bredstedt. TAZ.DI E TAGESZEITU NG 0. Ge bu r ts ta gF ot o: dp a taz: Herr Rösner, ist die Niedersachsen-Hymne ein politisches Lied? Hans Rösner: Im weitesten Sinne ja, denn es bezieht sich auf die Zeit der Sachsenkriege, als Herzog Widukind 777 bis 785 im Sachsenhain bei Verden den erfolglosen Kampf gegen die Franken anführte. Darüber hat Hermann Löns 1913 die Erzählung „Die rote Beeke“ – der rote Bach, gefärbt von Sachsenblut – verfasst. Dieses Werk wiederum hat wohl der Braunschweiger Lehrer Hermann Grote gekannt, als er 1926 Text und Melodie des Niedersachsenliedes schuf. Merkwürdig. Die eigene Niederlage als Kern einer Hymne? Es geht wohl eher um den entschlossenen Kampf gegen die Feinde. Außerdem gibt es ja auch eine Strophe, die von der erfolgreichen Varusschlacht gegen die Römer im Teutoburger Wald handelt. Im Lied heißt es, Niedersachsen reiche „Von der Weser bis zur Elbe“. Wo bleiben Ostfriesen, Oldenburger, Emsländer, Osnabrücker? Es geht eher um historische Grenzen. Andererseits war der Begriff „Niedersachse“ schon Mitte des 19. Jahrhunderts ein Konstrukt mit nicht klar definierten Zugehörigkeiten. Die Oldenburger zum Beispiel singen bei feierlichen Anlässen lieber ihre Oldenburg-Hymne. Mit dem Niedersachsenlied identifizieren sich wohl am ehesten die Menschen im Bereich des alten Hannoverschen Landes um Lüneburg herum. Wieso hatte das Lied in der Nazi-Zeit Hochkonjunktur? Die Machthaber des Dritten Reichs empfanden das Lied offensichtlich als geeignet, um ihre Ideologie zu transportieren. Dazu muss man sagen, dass der Lieddichter Hermann Grote – obwohl als Lehrer wahrscheinlich Parteimitglied – über den Missbrauch seines Liedes nicht erfreut war. Meinen Recherchen zufolge kam es deshalb zu einem ideologischen Streit mit der NSDAP-Führung, woraufhin er zur Unperson erklärt wurde. Lea Rosh, von 1991 bis 1997 Direktorin des NDR-Landesfunkhauses Hannover, hat verboten, dass der Text gespielt wurde. Sie fand ihn faschistoid. Ja, seither erklingt auf NDR 1 nur ein Teil der Melodie, an mehreren Stellen im Tagesprogramm. Während der Fußballverein Hannover 96 das Lied gar nicht mehr spielt, seit Fans beim Refrain „Heil Herzog Widukinds Stamm“ den Hitlergruß zeigten. Das wusste ich nicht. Aber es ist natürlich eine geeignete Reaktion.INTERVIEW: PS Hans Rösner Ob auch wild die Brandung tose, Flut auf Flut von Bai zu Bai: O, lass blühn in deinem Schoße deutsche Tugend, deutsche Treu’. Schleswig-Holstein, stammverwandt, bleibe treu, mein Vaterland! DIE ERSTEN ZWEI STROPHEN DER SCHLESWIG-HOLSTEIN-HYMNE ■■75, der ehemalige Verwaltungsbeamter ist ehrenamtlicher Archivar des Landesverbandes der Feuerwehr Niederachsen. Foto: privat taz.hamburg das wetter Viele Wolken und gelegentlich leichter Regen, so wird das heute. Wärmer als 13 Grad wird es nicht und dazu weht es mäßig von Westen her www.taz.de | [email protected] | Stresemannstraße 23 | 22769 Hamburg DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 I N ALLER KÜRZE Polizei ermittelt in alle Richtungen Auch nach Bekanntwerden einer angeblichen Bekennerbotschaft der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) ermittelt die Polizei nach einem tödlichen Messerangriff auf einen 16-Jährigen in alle Richtungen. „Wir schließen nichts aus“, sagte ein Polizeisprecher am Montag. Die angebliche Mitteilung des IS werde weiter geprüft. Es sei unklar, ob die Botschaft echt sei. Berichte über eine andere wichtige oder gar heiße Spur wollte die Polizei nicht bestätigen. Es gebe keinen neuen Stand, erklärte der Sprecher. (dpa) Senat zieht Bauvorhaben an sich Der Senat hat den Bau eines 26,5 Hektar großen Gewerbegebiets zwischen Rahlstedt und Stapelfeld als übergeordnete politische Instanz an sich gezogen und damit gleichzeitig ein Bürgerbegehren zurückgewiesen. Schriftlich wurde der Initiative, die gegen den Bau des Gewerbegebietes vorgehen wollte, mitgeteilt, das Begehren werde wegen „Unzulässigkeit zurückgewiesen“. Das zuständige Be- zirksamt Wandsbek wurde angewiesen, das Bebauungsplanverfahren zügig durchzuführen. Die Bürgerinitiative will Widerspruch einlegen. (taz) ASYL Das Bündnis Hamburger Flüchtlingsinitiativen fordert die Regierung auf, Tausend Menschen aus Griechenland zu holen Blohm + Voss darf übernommen werden Das Bundeskartellamt hat den Weg für die Übernahme der Hamburger Traditionswerft Blohm + Voss durch die Bremer Lürssen-Gruppe frei gemacht. Nachdem am vergangenen Freitag die kartellrechtliche Genehmigung erteilt wurde, wollen die Bremer Schiffbauer die Zusammenarbeit intensivieren und prüfen, wie die Werft effizient zu nutzen sei, teilte Lürssen am Montag mit. (taz) Hochtief ist die Elbphilharmonie los Rund neuneinhalb Jahre nach Grundsteinlegung hat der Baukonzern Hochtief am Montag die Elbphilharmonie ganz offiziell an die Stadt Hamburg übergeben. Am Freitag soll dann die Aussichtsplattform der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Der Musikbetrieb soll am 11. und 12. Januar 2017 beginnen. (dpa) H EUTE I N HAMBURG „Vorurteile abgebaut“ PREIS Das Projekt „gemeinsam Kirchdorf-Süd“ wird für die Arbeit in der Hochhaussiedlung prämiert taz: Frau Frey, das Projekt „gemeinsam Kirchdorf-Süd“ richtet sich an alle 6.000 BewohnerInnen der Hochhaussiedlung. Wer kommt zu Ihnen? Sibylle Frey: Unser Motto ist: von fünf bis 95 – intergenera tionell, interkulturell und inklusiv. Wir wollen also möglichst alle ansprechen. Aber nicht zu allen Treffpunkten kommen alle. Deshalb haben wir an vier Tagen in der Woche offene Angebote, die von unterschiedlichen Gruppen wahrgenommen werden. Ein Beispiel? Es gibt ein Frauenfrühstück, da sind auch Kinder dabei, aber keine Männer. Die können wieder zum Café kommen. Wir haben ein Sprachcafé für alle, die Interesse an Sprachaustausch haben. Das Sprachcafé wird von BewohnerInnen der Hochhaussiedlung und Menschen aus der nahen Flüchtlingsunterkunft besucht. Da geht es um den Austausch in den eigenen Sprachen, aber auch darum, sicherer zu werden in der Konversation im Alltagsdeutsch. Wie haben Sie die Geflüchteten erreicht? Wir sind auch ein aufsuchendes Projekt. Das heißt, dass wir in die Unterkunft gegangen sind und dort unser Angebot vorgestellt haben. Sie bekommen heute den mit 10.000 Euro dotierten HolgerCassens-Preis. Warum bemüht man sich um den sozialen Zusammenhalt vor allem in armen Vierteln? Es ist sozialgeschichtlich belegt, dass es eine Segregation in der Bildung und damit auch im Bildungserfolg gibt. Dieser Spalt verläuft in Deutschland nun Der Senat soll einladen mal sehr stark entlang der ökonomischen Situation. Insofern ergibt es Sinn, dem in den ärmeren Stadtteilen entgegen zu wirken. Hier ist die Mehrsprachigkeit ein Teil des Lebensgefühls, unser Team ist daher auch mehrsprachig. Es geht uns um die Erhöhung der Mitgestaltungsmöglichkeit. Nur weil man irgendwo wohnt, will man ja nicht Zeit mit seinen Nachbarn verbringen. Warum ist Ihnen das so wichtig? Indem gesellschaftliche Gruppen miteinander ihren Stadtteil gestalten, werden Vorurteile und Rassismus abgebaut. Denn so ändern sich die Perspektiven aller. Das wäre aber ein Ziel in jedem Stadtteil. In Kirchdorf-Süd sind viele Familien wegen ihrer Armut isoliert. Ist Armut in Kirchdorf-Süd, der Wohnmaschine an der Autobahn, das Hauptproblem? Am Armutsproblem hängt Bildung, die Berufschance und die Aussicht auf Teilhabe. Jetzt ist Kirchdorf bedroht durch das nächste Autobahnprojekt – die A26. Wenn die kommt haben die Menschen nicht nur die A1 an ihrer Seite, sondern vor sich noch die A26, die durch den Grüngürtel verlaufen soll.INTERVIEW: LKA ■■Preisverleihung: 18 Uhr, Patrio- tische Gesellschaft, Trostbrücke 4 Sibylle Frey ■■52, Sozialpädagogin, arbeitet beim Verein für interkulturelle Bildung „Verikom“ in KirchdorfSüd. Foto: Privat Immer noch hängen Geflüchtete in Griechenland fest: Bündnis findet, in Hamburg sei Platz Foto: Kay Nietfeld/dpa VON KATHARINA SCHIPKOWSKI Während in manchen Vierteln viel Geld fließt, damit AnwältInnen verhindern, dass dort Flüchtlingsunterkünfte gebaut werden, läuft es auch manchmal anders: Der Zusammenschluss Hamburger Flüchtlingsinitiativen hat eine Petition gestartet, in der er den Senat auffordert, Tausend Flüchtlinge aufzunehmen, die in Griechenland festsitzen. „Hamburg hat Platz“, lautet deren Titel. Die InitiatorInnen schreiben, sie wollten sich nicht damit abfinden, dass Tausende vor Krieg und Terror geflohene Menschen unter unzumutbaren Bedingungen ausharren müssen, „weil es keinen legalen Weg gibt, in andere EU-Länder zu gelangen“. Sie fordern den Senat auf, mit der Bundesregierung zu verhandeln, um die Einreisegenehmigungen für 1.000 Menschen zu erwirken. Außerdem solle die Stadt die Transportkosten tragen und die Voraussetzungen für eine schnellstmögliche Unterbringung in regulären Wohnungen schaffen. Wo genau Hamburg Platz hat, hätten sich die InitiatorInnen nicht überlegt, sagte Harald Möller-Santner vom Ottenser Gesprächskreis zu Flucht und Migration, der die Petition mit initiiert hat. „Das ist aber auch nicht unsere Aufgabe“, findet er. „In einer reichen Stadt wie Hamburg gibt es viele Möglichkeiten.“ Durch die drastisch gesunkene Zahl von Ankömmlingen gebe es auch wieder Kapazitäten in Erstaufnahmeeinrichtungen. Für die anschließende Unterbringung in Wohnungen sei ein grundsätzliches Umsteuern in der Wohnungsbaupolitik erforderlich, sagt Möller-Santner. Platz nur in Erstaufnahmen Doch, ob Hamburg wirklich Platz habe, sei nicht so einfach zu beantworten, sagte Christiane Kuhrt vom Zentralen Koordinierungsstab Flüchtlinge. „Theoretisch können wir Tausend Menschen in Erstaufnahmen unterbringen“, sagte die Sprecherin. Die Frage sei aber: „Möchte man das?“ Die Geflüchteten wollten schließlich nicht ewig in Erstaufnahmeeinrichtungen wohnen – und in den Folgeunterkünften mangelt es nach wie vor an Platz: 7.500 „Überresidente“ warten darauf, in eine Folgeunterkunft umzuziehen. Der Zusammenschluss der Flüchtlingsinitiativen beruft sich außerdem auf das von der EU beschlossene Relocation-Programm. 2015 gab es zwei EU-Beschlüsse, nach denen 160.000 Personen aus Griechenland und Italien innerhalb von zwei Jahren auf andere EU-Länder verteilt werden müssen. Deutschland soll über 27.400 Personen aufnehmen. In Hamburg angekommen sind davon bisher elf, wie ein Sprecher des Einwohnerzentralamts auf taz-Anfrage sagte. Die Verantwortung für die Umsetzung des Relocations-Programms in den einzelnen Bundesländern liegt allerdings bei der Bundesregierung. Der Senat hat sich damit offenbar noch nicht befasst – dessen Sprecher verwies zum Thema lediglich an die Innenbehörde. Dort wusste man nichts von dem Programm. 28 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Tarifvertrag gefordert Ver.di will Abkommen zum Schutz von Pflegern PERSONALNOT Ein Klinik-Check der Gewerkschaft Ver.di in 200 Abteilungen von zwölf Krankenhäusern brachte es schon 2013 zutage: Es fehlen 4.200 Stellen in den Krankenhäusern der Stadt. Doch alle Appelle an die Klinikbetreiber verhallten bisher. Nun geht die Gewerkschaft einen neuen Weg. Mit einen „Tarifvertrag Entlastung“ möchte sie mit den Krankenhausbetreibern verbindliche Entlastungen für das Personal aushandeln. „Das ist ein total neues anspruchsvolles Tarifprojekt“, sagt Hilke Stein, Leiterin des Ver.di-Fachbereichs Gesundheit. Der Tarifvertrag basiert auf drei Säulen: einer personelle Mindestbesetzung, also mehr Personal, einem verbindlichen Belastungsausgleich nach Engpässen und verlässlichen Arbeitszeiten. „Die Pflegekraft kann dann selbst überprüfen, ob die Verpflichtungen eingehalten werden“, sagt Stein. Im Ernstfall könne es dazu führen, dass der Betreiber wegen Personalmangels Abteilungen vorübergehend schließen müsse. Novum ist auch, dass der „Tarifvertrag Entlastung“ parallel zu dem bestehenden Gehaltsund Manteltarifverträgen verhandelt werden kann. Denn da er eine neue Thematik regelt, darf die Gewerkschaft trotz Friedenspflicht auf tarifliche Mittel wie einen Arbeitskampf zurückgreifen. Der Krankenhaus Arbeitgeberverband (KAH), dem die Asklepios-Kliniken angehören, wollte sich gestern zu dem Ver.di-Vorstoß nicht äußern. Unterstützung bekommt Ver.di von der Linksfraktion und der SPD in der Bürgerschaft sowie vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), der unter dem Motto „Hamburger Appell für mehr Krankenhauspersonal“ eine Onlinepetition gestartet hat. „Es kann nicht sein, dass diejenigen, die uns pflegen, selber von ihrer Arbeit krank werden“, sagt DGB-Chefin Katja Karger. KVA Innenbehörde gibt sich ganz entspannt OSZE-TREFFEN Für die Konferenz Anfang Dezember in Hamburg gibt es nun ein detailliertes Polizeikonzept Der OSZE-Gipfel vom 7. bis 9. Dezember in Hamburg wird „wohl reibungslos verlaufen“, gibt sich der Sprecher der Innenbehörde, Frank Reschreiter, optimistisch. Etwa 10.000 Polizisten werden für die Sicherheit der gut 3.000 Mitglieder von 57 staatlichen Delegationen auf dem Treffen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sorgen. Im Zentrum stünden der Tagungsort in den Messehallen, das Rathaus sowie etliche Luxushotels in der Innenstadt. Die Einschränkungen für die Anwohner sollen „so gering wie möglich gehalten“ werden, versichert Reschreiter. Der Zugang zu den Wohnungen in den Sicherheitszonen um die Brennpunkte des Geschehens werde uneingeschränkt gewährleistet sein, wegen Personenkontrollen sollten Anwohner jedoch Ausweise dabei haben, sagt Reschreiter. Privater Autoverkehr wird untersagt, Parken ist verboten, am Straßenrand abgestellte Fahrräder müssen nicht entfernt werden. Einzelne Straßen im Karoviertel werden aber selbst für Fußgänger gesperrt, der Rathausmarkt wird am Abend des 8. Dezember gesperrt. Der Weihnachtsmarkt soll jedoch stattfinden dürfen, versichert die Innenbehörde. In der gesamten Innenstadt wird es von Mittwochabend bis Freitagmittag zu erheblichen Verkehrsstörungen kommen. Es gebe aber keine Hinweise auf „gravierende Störungen“ durch Gipfelgegner, so Reschreiter, deshalb gehe man von einem ruhigen Verlauf der Konferenz aus. Das OSZE-Treffen ist aber nur die Generalprobe für den G20Gipfel am 7. und 8. Juli 2017. Dann werden die Staats- und Regierungschefs von 19 Industrie- Privater Autoverkehr wird untersagt, abgestellte Fahrräder indes müssen nicht entfernt werden und Schwellenländern in Hamburg erwartet. Attac kündigte am Wochenende einen Alternativgipfel, eine Großdemonstration und „Aktionen zivilen Ungehorsams“ an. Die Gegenaktivitäten zum Gipfeltreffen sollen der „Schwerpunkt“ von Attac Deutschland im kommenden Jahr werden. Das Treffen der 20 wichtigsten Industriestaaten stehe für Standortkonkurrenz, Lohn- und Sozialdumping, so SVEN-MICHAEL VEIT Attac. ■■Auf zwei detaillierten Karten unter www.hamburg.de/polizei/ osze-g20-np sind die Sicherheitszonen um die Brennpunkte des Geschehens dargestellt und erläutert taz.bremen Das Was-ist-das-für-1-FDP-Wetter Dass ausfallende oder gar nicht vorhandene Kitas ein Problem sind, ist kürzlich auch der FPD aufgefallen. Denn: Besonders die Mittelschicht leidet darun- ter. Ein herber Sozialflash treibt die Liberalen zum Äußersten: „Wir setzen uns dafür ein, dass das letzte Kindergartenjahr kostenlos wird.“ Regen bei 12 Grad www.taz.de | [email protected] | Tel. 960 260 | Trägerdienst Tel. 36 71 66 77 DI ENSTAG, 1. NOVEM BER 2016 WELTSCHMERZ AUF DER HÜHNERLEITER 29 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Geschäft mit altem Wasser WASSER Durch eine Rekommunalisierung der Wasserversorgung könnte der Wasserpreis um zehn Prozent sinken. Dafür klagt der ehemalige Hochschulprofessor Ernst Mönnich VON KLAUS WOLSCHNER I N ALLER KÜRZE Friedenspreisträger der Villa Ichon steht fest Der Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon geht im kommenden Jahr an Libuše Černá und Tilman Rothermel. Das Ehepaar habe die soziale und kulturelle Entwicklung in Bremen über viele Jahre maßgeblich geprägt und die Völkerver- ständigung durch internationalen Austausch in der Kunst befördert, heißt es in der Begründung der Freunde und Förderer der Villa Ichon in Bremen e.V. Der Preis, der damit zum 35. Mal verliehen wird, ist mit 5.000 Euro dotiert. Die feierliche Verleihung soll am 11. März kommenden Jahres stattfinden. (taz) H EUTE I N BREMEN „Nazis lesen das nicht“ Die Friedrich-Naumann-Stiftung lädt zu Vortrag und Diskussion über „Mein Kampf“ HITLER taz: Herr Töppel, Sie haben sich jetzt jahrelang mit Adolf Hitlers „Mein Kampf“ beschäftigt. Wie schreibt er denn so? Roman Töppel: Hitlers Schreibstil ist eher ein Redestil: Oft fängt es ruhig an, steigert sich dann wie ein Crescendo und gipfelt in Schlagworten, so wie man es auch aus seinen Reden kennt. Also eine mitreißende Lektüre? Naja: Oft sind es sehr komplizierte Schachtelsätze, ein insgesamt wirrer Stil, der schwer zu verstehen ist. Richtig abstrus wird es, wenn es um Rassentheorien und Biologie geht, da kannte er sich überhaupt nicht aus. Hitler hatte keine Ahnung von Rassentheorie? Genau. Das Kapitel, in dem es um „Volk und Rasse“ geht, ist das schwächste im ganzen Buch. Davon hatte er wirklich keine Ahnung. Wo kannte er sich besser aus? Sobald es um Propaganda und Massenbeeinflussung geht, wird der Stil sehr viel besser lesbar, solche Passagen sind sehr überzeugend geschrieben. „Mein Kampf“ war während der Nazizeit ein Bestseller. Haben die Leute das wirklich gelesen? Es gab 12,5 Millionen deutsche Exemplare von dem Buch. Es gibt diese Schutzbehauptung aus den 1960er-Jahren, dass eigentlich niemand das Buch tatsächlich gelesen habe, aber das stimmt nicht: In einer Umfrage von 1946 gaben 23 Prozent der Deutschen an, das Buch ganz oder in Teilen gelesen zu haben. Und 1946 war es wirklich nicht mehr opportun, das zuzugeben. Wird „Mein Kampf“ jetzt wieder zum Kassenschlager? Das glaube ich nicht. Auch der Verfassungsschutz sagt, das Buch habe bei Nazis nur symbolische Bedeutung. Die lesen das nicht. Und unsere kritische Edition lesen die schon gar nicht. In einer Amazon-Rezension stand: „Kauft euch lieber die unkritische Version und nicht die mit den lehrerhaften Kommentaren.“ INTERVIEW: KMS ■■Presseclub: 19 Uhr, im Schnoor Roman Töppel ■■40, ist Historiker und Mitherausgeber der kritischen Edition von Hitlers „Mein Kampf“. Das Oberverwaltungsgericht muss sich um ein Problem kümmern, das überschaubar klein aussieht, aber große Auswirkungen hat. Der ehemalige Bremer Hochschulprofessor Ernst Mönnich hat eine Klage eingereicht: 150 Euro zahlt er jedes Jahr für das Abwasser – zu viel, sagt er, um rund 10 Prozent sei die Rechnung überhöht. Wenn er vor Gericht Erfolg hat, wären gut 300.000 Haushalte in der Stadt Bremen betroffen, es geht also um mehrere Millionen Euro im Jahr. Und der Kläger ist nicht irgendwer. Mönnich hat an der Hochschule Bremen Kostenrechnung gelehrt, hat Gutachten und Aufsätze zu dem Thema Abwasser-Finanzierung geschrieben und eine Expertise über die Wasserversorgung in Rostock. Sein Anwalt Benno Reinhardt ist auch Experte in diesem Bereich, er hat schon in Sachsen-Anhalt im Umweltministerium Privatisierungsfälle begleitet und war als Experte zum Berliner „Wassertisch“ geladen, bei dem es um die Privatisierung der Berliner Wasserversorgung ging, die per Volksbegehren gestoppt wurde. Bremens Partnerstadt Rostock ist für Mönnich von besonderer Bedeutung: Sie will die auch von ihm kritisierte Privatisierung der Wasserversorgung rückgängig machen – Mitte 2018 soll es nun dazu kommen. Die Stadt verspricht eine Preissenkung von zehn Prozent. Wenn man die komplizierten juristischen Argumente der Schriftsätze, mit denen die Bremer Klage begründet ist, auf ihren Kern reduziert, dann ist das Argument des Klägers: Bei der Privatisierung des Abwasserbereiches hat die Stadtgemeinde rund 360 Millionen Euro von den Käufern bekommen. Diese Verkaufs-Erlöse hätten aber dem „Gebührenhaus- Kostet nicht nur Rohstoffe, sondern auch eine ganze Menge Geld: Abwasser Foto: Jens Büttner/dpa halt“ gutgeschrieben und zur Senkung der Abwasser-Gebühren genutzt werden müssen, so argumentiert Mönnich. Wenn heute Abwasser-Kanäle saniert werden müssen, dann „bezahlt“ das auch nicht der Steuerzahler aus diesen 360-Milllionen, sondern die Gesamtheit der Gebührenzahler. Die private Firma Hansewasser, die den Abwasserbereich im Jahre 1999 übernommen hat, macht zudem gute Gewinne, sie hat eine Eigenkapitalrendite von oft 25 Prozent, hat Mönnich ausgerechnet. Über die Jahre gab es mal 17 Millionen Euro Überschuss, mal 12 Millionen – je nach Instandhaltungs-Investitionen. Ein unternehmerisches Risiko gibt es bei diesem Geschäft nicht – jeder Haushalt unterliegt dem Anschlusszwang, die Stadt setzt die Gebühren fest, es gibt keine „Konkurrenz“ auf diesem Markt. Es handelt sich also um ein staatlich garantiertes Geschäft. Außerdem bürgt die Kommune für die Kredite der Privatfirma Han- sewasser, die daher den günstigen Kommunalkredit-Zinssatz erhält. Da die Gewinne Geschäftsgeheimnis sind, steht in dem farbigen „Bremer Abwasserbericht“ des Umweltsenators nie, wie viel Profit Hansewasser auf Kosten der Wassergebühren macht. Im Jahre 2008 haben Gutachter im Auftrag des Umweltsenators auf der Basis der Geschäftsdaten 2006 offiziell festgestellt, dass die Hansewasser-Gewinne übermäßig sind. Damals hat das Umweltressort mit der Privatfirma einen Kompromiss ausgehandelt und einen klassischen „Halbe/Halbe“Deal zu Lasten der Gebühren- Das private Geschäft mit dem Wasser fährt staatlich garantiert Gewinne ein zahler gemacht: Fünf Millionen weniger bekommt Hansewasser, darf aber die seit 1998 eingestrichenen Gewinne behalten. Und dazu hat die Stadt auch offiziell darauf verzichtet, die Gewinne noch einmal zu überprüfen – bis zum Ende der Vertragslaufzeit, also bis 2028. Das Unternehmen bedankte sich mit satten Spenden an das Ressortprojekt „Botanika“. Da die Umweltbehörde als legitime Vertreterin der Gebührenzahler diesen „Kompromiss“ ausgehandelt hat, selbstverständlich ohne die Betroffenen „Zahler“ dazu zu befragen, lässt sich das juristisch nicht so einfach anfechten. Aber wenn, so die Konstruktion der Klage, der Privatisierungsvertrag in dieser Form einer rechtlichen Prüfung nicht standhält, dann könnte die Stadt im Interesse ihrer Gebührenzahler neu mit Hansewasser verhandeln. Im Interesse der Gebührenzahler müsste der grüne Umweltsenator also hoffen, dass er den Prozess gegen Mönnich verliert. Keine nachhaltige Entwicklung Es klingt wie ein Angebot, das man nicht ausschlagen kann: Der Bund bietet den Ländern an, sich an der Finanzierung jeweils einer Koordinationsstelle für ein Schulprogramm zu beteiligen. Das Angebot soll sich für die Länder lohnen, auch wenn niemand konkrete Zahlen nennen will. Allein: Bremen will nicht so recht. Das Schulprogramm, um das es geht, heißt „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ und geht zurück auf einen Beschluss der Kultusministerkonferenz im vergangenen Jahr: Dort wurde ein neuer „Orientierungsrahmen für den Lernbereich globale Entwicklung“ verabschiedet, auch Bremen war dafür. Der Themenbereich Entwicklungspolitik und Nachhaltigkeit soll fächerübergreifend in den Unterricht implementiert werden. Bislang wird das in Bremen Der Bund will den Ländern eine Koordinationsstelle zum Schulprogramm „Bildung für nach haltige Entwicklung“ spendieren. Doch die Bremer Bildungs behörde ziert sich noch BILDUNG über das Bremer entwicklungspolitisches Netzwerk (BEN) und das Bremer Informationszentrum für Menschenrechte und Entwicklung (BIZ) bearbeitet. Die NGOs stellen Materialien für den Unterricht bereit, bieten Projekttage und Fortbildungen an. Dafür bekommen sie Geld aus dem Bildungsressort. „Das große Manko ist, dass wir derzeit keinen Ansprechpartner in der Behörde haben“, sagt Gertraud Gauer-Süß vom BIZ. Momentan ist dort niemand für diesen Themenbereich zuständig. Das könnte sich mit der vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) mitfinanzierten Koordinationsstelle ändern. Wie die taz auf Anfrage beim BMZ erfuhr, steht mit einem Bundesland der Vertragsabschluss bevor. „Fast alle andere Länder“, so die Sprecherin des Ministeriums weiter, „haben schriftlich oder mündlich Interesse bekundet.“ Aus der Bildungsbehörde heißt es etwas schmallippig: Man sei mit der Agentur, die für das BMZ die Stellenfinanzierung managt, im Gespräch. Außerdem habe Bremen den Orientierungsrahmen mitgetragen, nachhaltige Entwicklungspolitik sei in den Bildungsplänen der Fächer implementiert. Enthusiasmus klingt anders, und auch Gertraud Gauer-Süß hat den Eindruck: „Die Relevanz des Themas für die Zukunft wird nicht erkannt.“ Immerhin beschäftigt seit Kurzem auch eine von Matthias Güldner (Grüne) initiierte Anfrage zu diesem Thema den Senat. Und die Antwort sollte dann hoffentlich etwas konkreter ausfallen. KAROLINA MEYER-SCHILF
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