FORSCHUNG UND TECHNIK 58 WOCHENENDE Freitag, 28. Oktober 2016 «Patient zero» ist nicht Patient zero Die Saat der Wolken Hat ein Flight-Attendant die HIV-Epidemie in die USA gebracht? Diese These ist schon länger umstritten. Der endgültige Gegenbeweis kommt jetzt. VON ALAN NIEDERER Wer in früheren Jahren nach Amerika auswanderte, bestieg ein Schiff mit Ziel New York. Von dort aus breiteten sich die Immigranten über den ganzen Kontinent aus. Den gleichen Ausgangspunkt nahm offenbar auch der Aids-Erreger, als er seinen «Siegeszug» durch die USA antrat. Zu diesem Schluss kommt eine Forschergruppe um Michael Worobey von der University of Arizona in einer jüngst in der Fachzeitschrift «Nature» veröffentlichten Studie.1 Der Evolutionsbiologe Worobey beschäftigt sich seit Jahren mit der weltweiten Ausbreitung des HI-Virus. Dafür setzt er die Untersuchungstechniken der Phylogenetik ein. Damit lassen sich nicht nur die genetischen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Tier- und Pflanzenarten bestimmen, sondern auch jene zwischen Virusstämmen. Die Idee dahinter: Die heute zirkulierenden HIViren stammen alle von einem Ur-Virus ab, das Anfang des 20. Jahrhunderts in Afrika vom Affen auf den Menschen übergesprungen ist. SVEN TITZ Der Stammbaum von HI-Viren Genetische Merkmale verraten, von welchem Vorläuferstamm ein isoliertes Virus abstammt. Damit lässt sich auch nachweisen, wann und wo der Erreger entstanden ist. ca 9 .1 76 Verschiedene Virenstämme und der Zeitpunkt ihrer Entstehung 1972 (1969–1974)* San Francisco, 1978 New York New York City, 1979 New York City, 1979 Kalifornien Pennsylvania New Jersey Patient 0 Georgia Das Känguru im Frosch Der Nachwuchs mancher Frösche wächst in einem Brutbeutel am Rücken der Mutter auf – die ihren Nachwuchs darin sogar «füttert». 1971 (1969–1973)* New York City, 1979 ca. 1966 Haiti New York City, 1979 1975 Jahr 1980 1969 (1963–1971)* 1985 * In Klammern die statistische Unsicherheit. NZZ-Infografik/cke. QUELLE: NATURE Bereits in den 1970er Jahren war die genetische Vielfalt der HIViren in Amerika gross. einer Hepatitis-B-Studie abgenommen worden. Viele der über 2000 Blutproben waren mit HIV infiziert. Aus diesen Blutproben sequenzierten die Forscher das Genom der HIViren. Das sei äusserst schwierig gewesen, sagte Worobey an einer von «Nature» organisierten Telefonkonferenz. Denn das Erbgut sei bereits stark degeneriert gewesen. Die Wissenschafter mussten daher zuerst ein neues Verfahren entwickeln, mit dem sie aus kleinen, überlappenden Erbgut-Stückchen das vollständige Genom wiederherstellen konnten. Mit dieser Technik liessen sich acht HIV-Genome rekonstruieren. Deren Analyse zeigt zweierlei. Erstens war die genetische Vielfalt bei den amerikanischen HI-Viren bereits Ende der 1970er Jahre sehr gross. Das spricht dafür, dass die Epidemie zu diesem Zeit- STEPHANIE KUSMA Frösche sind nicht für ihre Brutpflege bekannt: Die meisten Arten beschränken ihre diesbezüglichen Anstrengungen auf die Auswahl eines geeigneten Platzes zur Eiablage. Doch es geht auch anders: Wie Wissenschafter nun zeigen konnten, überträgt eine Beutelfroschart gar Nährstoffe an ihre Larven.1 Die zu den Laubfröschen gehörenden Beutelfrösche leben in den amerikanischen Tropen. Sie alle betreiben Brutpflege, und die Weibchen der Gattung Gastrotheca haben zu diesem Zweck sogar einen Brutbeutel am Rücken – der der Gruppe den Namen gab. In ihm entwickeln sich in den (ausserhalb des Körpers) befruchteten Eiern je nach Art Kaulquappen oder kleine Fröschchen. Da dieser Prozess bei Arten mit fast oder ganz geschlossenen Brutbeuteln praktisch von der Aussenwelt abge- punkt schon einige Jahre lief. Zweitens hatten die HIV-Genome sehr grosse Ähnlichkeit mit einem VorläuferStamm aus Haiti. Es gebe daher keinen Zweifel, sagte Worobey, dass der AidsErreger von der Karibik in die USA und nicht in umgekehrter Richtung gewandert sei. Nach den Berechnungen der Forscher fand der Sprung nach Amerika um 1971 statt. Ein Missverständnis Mit ihrer Arbeit beerdigen die Forscher auch eine umstrittene These, wonach ein schwuler Flight-Attendant aus Kanada die Aids-Epidemie in den USA ausgelöst hat. Der Mann ist als «Patient zero» in die Geschichte eingegangen, also als Indexpatient, der am Anfang einer Epidemie steht. Forscher der amerikanischen Gesundheitsbehörden (CDC) hatten den promisken Kanadier 1984 als Teil eines sozialen Netzwerks identifiziert. Dieses umfasste 40 Männer aus zehn Städten, die durch sexuelle Kontakte miteinander verbunden waren. In dem Netzwerk tauchte der FlightAttendant als «Patient zero» auf. Und dies, obwohl die CDC-Forscher den Mann ursprünglich als «Patient O» bezeichnet hatten. Der Buchstabe O stand dabei für «Outside-of-California» – der Flight-Attendant war einer der ersten Aids-Patienten, die ausserhalb von Kalifornien lebten. Dass er damit nicht alleine war, macht die «Nature»-Studie mehr als deutlich. Weil die genetische Vielfalt bei den New Yorker HI-Viren der 1970er schlossen stattfindet, muss das Muttertier seinen Nachwuchs mit Sauerstoff versorgen. Dies geschieht über die stark durchblutete innere «Hautauskleidung» der Beutel; zudem besitzen die Larven aussergewöhnlich grosse Kiemen. Auch bei der Art Gastrotheca excubitor ist der Brutbeutel geschlossen. Nun haben Forscher untersucht, ob die sich entwickelnden Fröschchen dieser Art über die Kiemen auch Nährstoffe aufnehmen. Die Forscher fütterten hierfür brütende Frösche mit Insekten, die mit Isotopen markiert waren. Zudem analysierten sie, ob die Larven im Verlauf ihrer Entwicklung an Trockenmasse zulegten – was nicht passieren sollte, wenn sie ausschliesslich auf Nährstoffe aus dem Ei zurückgreifen müssten. Die Resultate beider Versuche wiesen in die gleiche Richtung. Offenbar «füttert» die Froschmutter ihren Nachwuchs tatsächlich mit im Hohlraum des Beutels Jahre viel grösser war als bei jenen aus San Francisco, liege der Schluss nahe, dass die amerikanische Epidemie an der Ostküste ihren Anfang nahm, schreiben die Forscher. Auch wenn man nicht wisse, wer den Erreger auf welchem Weg eingeschleust habe, könne New York als früher Hub für die Aids-Epidemie in den USA und damit auch als Treiber der globalen Pandemie angesehen werden. Auf die Frage einer Journalistin, ob sich diese Einschätzung ändern könnte, wenn mehr Viren aus weiteren Städten untersucht würden, sagte Worobey, dass das unwahrscheinlich sei. Dies deshalb, weil der Vorläufer-Stamm aus der Karibik nur etwa ein Jahr vor dem vermuteten HIV-Ausbruch in New York gebildet worden sei. Es fehle daher schlicht die Zeit für einen alternativen Beginn der Epidemie, so der Biologe. Als «Patient zero» stand der FlightAttendant unter Verdacht, seine Netzwerk-Freunde mit HIV angesteckt zu haben. Dass dies nicht zutraf, wussten Fachleute schon länger. Denn die Inkubationszeit von der Ansteckung bis zum Ausbruch von Aids dauert bei unbehandelten Personen zehn Jahre – und nicht, wie man 1984 meinte, ein knappes Jahr. Die meisten Aids-Opfer im Netzwerk dürften also schon infiziert gewesen sein, als sie den «Indexpatienten» trafen. Das heisst aber nicht, dass der Flight-Attendant nichts zur Ausbreitung von Aids beigetragen hat. Bei geschätzten 2500 Sexpartnern gab es für das HI-Virus reichlich Gelegenheit, sich auszubreiten. 1 Nature, Online-Publikation vom 26. Okt. 2016. Die Resultate beider Versuche wiesen in die gleiche Richtung. gelösten Nährstoffen: Die Larven nahmen zu und wiesen erhöhte Werte der Markerisotope auf. Möglicherweise prädisponiere ein geschlossener Brutbeutel die Frösche für einen solchen Nährstofftransfer, weil sie ihrem Nachwuchs ohnehin Sauerstoff zur Verfügung stellen müssten, spekulieren die Forscher. Biology Letters, Online-Publikation vom 26. Oktober 2016. 1 Forscher haben neue Erkenntnisse über die Wolkenbildung gewonnen. Nach Experimenten am Cern führten sie dazu auch Computersimulationen durch. Im Magazin «Science» berichten die Forscher, dass sie mehrere wichtige Ausgangssubstanzen von Wolkenkeimen ermitteln konnten.1 Ausserdem gelang es ihnen, die Wirkung der kosmischen Strahlung auf das Klima einzugrenzen: Nach ihren Erkenntnissen wird die Wolkenbildung zu schwach durch die Strahlung beeinflusst, als dass die Temperatur an der Erdoberfläche nennenswert reagieren würde. Wolkenbildung im Labor New York City, 1979 Stammbaum für Viren Dieses HI-Virus hat sich im Laufe der Zeit in immer mehr Virusstämme aufgeteilt. Die einzelnen Stämme lassen sich anhand von genetischen Mutationen erkennen. Weil die Häufigkeit von Mutationen ein Mass für die Zeitdauer seit der Abspaltung vom Vorläufer-Virusstamm ist, wird auch von einer molekularen Uhr gesprochen. Was in Königsfamilien die Ahnengalerie ist, lässt sich somit auch für das HI-Virus erstellen: ein Stammbaum, der aufzeigt, welcher Virusstamm aus welchem Vorläufer-Virus hervorgegangen ist. Mit dieser Information lässt sich die zeitliche und geografische Ausbreitung des Virus nachvollziehen. Mit einer solchen phylogenetischen Analyse wies Worobeys Gruppe schon 2007 nach, dass HIV um das Jahr 1966 herum aus Zentralafrika nach Haiti eingeschleppt worden war. Für ihre Studie untersuchten die Forscher das archivierte Blut von längst verstorbenen haitianischen Aids-Patienten. Indem sie die sequenzierten HIV-Genome mit bekannten HIV-Stämmen verglichen, erkannten sie, dass Haiti die älteste AidsEpidemie ausserhalb von Afrika hat. Damit war die Karibikinsel als wichtige Drehscheibe in der Ausbreitung von Aids identifiziert. Von hier aus gelangte das Virus auch nach Amerika. Wo der Erreger genau an Land ging, blieb allerdings noch offen. Diese Wissenslücke hat Worobey nun zusammen mit Forscherkollegen aus Grossbritannien und Belgien ebenfalls geschlossen. Dafür analysierte er erneut archivierte Blutproben von Aids-Patienten. Diesmal stammten die Proben aus Kalifornien, wo das Krankheitsbild Aids 1981 erstmals beschrieben wurde, und aus New York. Das Blut war homosexuellen Männern 1978 und 1979 im Rahmen Geringer Einfluss der kosmischen Strahlung Die Hälfte der Kondensationskeime, aus denen sich Wolkentröpfchen bilden, entsteht aus Gasmolekülen, die sich in der Atmosphäre zusammenballen – und um die geht es hier. Erst seit wenigen Jahren können Forscher diesen Vorgang im Labor präzise genug reproduzieren. Besonders geeignet sind die sauberen Bedingungen in der Versuchskammer des Projekts «Cloud» am Cern: Vor jeder Messkampagne waschen Mitarbeiter die stählerne Kammer mit extrem reinem Wasser. Anschliessend wird sie stundenlang auf über 100 Grad Celsius erhitzt. Die neuste Studie beruht auf Experimenten am Cern in den Jahren 2010 bis 2012. Dabei wurde unter vielen möglichen Bedingungen getestet, ob und wie sich aus Gasen Partikel bilden. Mithilfe der Messwerte berechneten Forscher an der University of Leeds die globale Entstehung der Partikel am Computer. Es waren die ersten Modellsimulationen der atmosphärischen Partikelbildung, die vollständig auf experimentellen Daten beruhten. Klimaforscher interessiert vor allem, aus welchen gasförmigen Substanzen die Kondensationskeime hervorgehen können. Einst nahm man an, dass an der Bildung der meisten Partikel nur zwei verschiedene Ausgangsstoffe mitwirkten. Die neue Studie belegt aber, dass es häufiger drei oder mehr Ausgangsstoffe sind. Dazu zählten neben Schwefelsäure auch Ammoniak und organische Verbindungen, erläutert der Mitautor Urs Baltensperger. Er leitet das Labor für Atmosphärenchemie am Paul-ScherrerInstitut in Villigen. Ein typisches Beispiel für die organischen Substanzen sind wohlriechende Gase, die von Nadelbäumen ausgedünstet werden. Messung von Spurengasen Ohne hochempfindliche Messgeräte wäre die Studie nicht möglich gewesen. Eines der Geräte, das organische Substanzen erfasst, wurde von einer Gruppe um Armin Hansel am Institut für Ionenphysik und Angewandte Physik der Universität Innsbruck entwickelt. Erst in den letzten fünf Jahren seien ausreichend empfindliche Instrumente konstruiert worden, um die an der Partikelbildung beteiligten Substanzen in den geringen Konzentrationen überhaupt messen zu können, sagt Hansel. Ein weiteres Resultat der Studie betrifft die kosmische Strahlung, von der einzelne Forscher glauben, sie könne über die Wolkenbildung das Klima beeinflussen. Die Entstehung von Kondensationskeimen wird nämlich durch Ionen begünstigt, und die entstehen in der Atmosphäre durch die kosmische Strahlung. Da während eines Sonnenfleckenzyklus bald mehr, bald weniger dieser Strahlung bis zur Erdoberfläche vordringt, kann auch die Häufigkeit der Ionen variieren. Die Studie belegt jetzt aber, dass bei zwei Dritteln der Kondensationskerne, die aus Gasmolekülen entstehen, gar keine Ionen beteiligt sind. Simulationen zeigen, dass sich die Schwankungen der kosmischen Strahlung heutzutage kaum auf das Klima auswirken. Science, Online-Ausgabe vom 27. Oktober 2016. 1
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