SWR2 Wissen

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Höflichkeit
Die Kunst Respekt zu zeigen
Von Joachim Meißner
Sendung: Donnerstag, 27.10.2016
Redaktion: Anja Brockert
Regie: Maria Ohmer
Produktion: SWR 2016
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MANUSKRIPT
Regie: 001 Atmo Straßenverkehr
Sprecher:
Wir stehen an einer belebten Straßenkreuzung in einer Stadt mitten in Deutschland.
Ihr Name, die Lage und Größe spielen für das, was wir vorhaben, keine Rolle. Hier
treffen wir Inge Grüttner.
002 O-Ton:
Guten Tag Frau Grüttner. Danke dass Sie mitmachen. // Na selbstverständlich. // Das
hier ist der Koffer. // Aha.
Sprecher:
Frau Grüttner ist 80 Jahre alt. Die rüstige Dame hilft uns bei einem Experiment. Sie
soll einen großen Koffer schleppen. Der wiegt fast 15 Kilo.
003 O-Ton:
Der ist schwer. Trauen Sie sich das zu? // Das ist kein Problem für mich.
Sprecher:
Frau Grüttner stellt sich mit dem Koffer unten an eine steile Treppe. Es ist Rushhour
– viele Menschen kommen gerade von der Arbeit, wollen nach Hause. Dabei nutzen
sie die Treppe, die vom Bahnhof hinauf ins Stadtzentrum führt. Ziel des Experiments:
Herauszufinden, ob die Menschen achtlos an der alten Dame vorbeigehen. Oder
finden sich selbst im Trubel der Rushhour hilfsbereite und höfliche Menschen, die sie
unterstützen?
Ansage:
Höflichkeit - Die Kunst Respekt zu zeigen. Eine Sendung von Joachim Meißner.
Sprecher:
Höflichkeit ist eine Spielart sozialer Aufmerksamkeit und Anerkennung. Sie kann sich
in vielerlei Gestalt zeigen: als Geste, wenn wir unseren Nachbarn grüßen. Wenn wir
auf andere Rücksicht nehmen, indem wir am Tisch nicht schmatzen, im Zug auf
lautstarke Handytelefonate verzichten oder im Kinosaal keine Knoblauchwolke
verbreiten. Auch Hilfsbereitschaft drückt aus, dass wir den anderen wahrnehmen. Ihn
in seiner momentanen Schwäche oder Hilflosigkeit nicht übersehen, sondern für
einen Augenblick unsere eigenen Bedürfnisse hinten anstellen.
Regie: 005 Atmo Straßenverkehr
Sprecher:
Bei unserem Experiment laufen die ersten Passanten achtlos an der alten Dame mit
dem schweren Koffer vorbei. Nach ein paar Minuten bietet eine junge Frau ihre Hilfe
an.
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006 O-Ton:
Warten Sie, ich helfe Ihnen - mit dem Koffer? // Oh, das ist sehr freundlich. // Ich
nehme ihn. // Der ist aber schwer. // Das schaffe ich, bin ja sportlich. // Ist doch ein
bisschen anstrengend.
Sprecher:
Abseits vom Trubel erklärt eine Dame, warum auch sie Frau Grüttner den schweren
Koffer die Treppen hochgetragen hat.
007 O-Ton:
Also für mich ist das ganz normal, dass wenn ich sehe, dass jemand Hilfe braucht
und vor allem älter ist, dass man direkt hingeht und hilft. Egal ob es ein Koffer ist
oder, keine Ahnung, nur Flaschen. Die meisten Leute schauen ja nur hin und dann,
die verlassen sich auf jemand anderen.
Sprecher:
Ein junger Mann zum Beispiel schaut sich zwar um, überlässt es aber anderen zu
helfen. Ein weiterer marschiert mit Tunnelblick Richtung Treppe, ganz absorbiert von
seinem Handy.
008 O-Ton:
Ich hab das in dem Moment eigentlich gar nicht wahrgenommen, weil ich gerade auf
mein Handy geguckt hab und irgendwelche Nachrichten gelesen habe und es gar
nicht wahrgenommen habe, dass da gerade eine Dame einen schweren Koffer hatte.
// Ist das ein Problem im Hinblick auch auf Höflichkeit? // Würde ich schon sagen.
Wenn man ins Handy guckt, das ist oft ein Problem, das mit Höflichkeit zu tun hat.
Man ist nicht mehr so höflich, weil man viele gar nicht mehr wahrnimmt. Wenn einer
grüßt, merkt man es nicht, wenn man ins Handy guckt. Kann zumindest passieren.
Sprecher:
Wir stehen eine ganze Weile an dieser Stelle in der Stadt. Vereinzelt bieten
Menschen ihre Hilfe an, aber die Masse der Passanten geht an der alten Dame
achtlos vorbei. Wie diese beiden jungen Frauen, die es eilig haben.
009 O-Ton:
Ja, man will so halt schnell wie möglich die Treppen hochkommen, weil man keinen
Bock hat irgendwie auf Schubserei oder so. Das passiert ja auch oft, dass man
einfach herum geschubst wird. Ja. Und deswegen beeilt man sich immer gerne,
schneller, dass man dann die Treppen schneller hochkommt.
Regie: Musik
Sprecher:
Rüpeleien, schlechte Manieren, fehlende Höflichkeit – das alles erleben wir immer
wieder in unserem Alltag. Meistens bei den anderen. Rücksichtlos und unhöflich
verhalten sich Alte und Junge, Rentner und junge Mütter mit Kinderwagen, Arbeiter
ebenso wie Bildungsbürger. Offenbar leben wir in einem Land voller Rüpel.
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Umfragen zeigen jedoch immer wieder, dass vielen Menschen Hilfsbereitschaft und
Höflichkeit wichtig sind. Auch diesem Passanten:
010 O-Ton:
Ich finde es sehr unhöflich, wenn man jemanden direkt die Tür vor der Nase
zuschlägt. Grußformeln sind schon wichtig. Ja, also das bedeutet mir eine ganze
Menge.
Sprecher:
Gerade die kleinen Gesten werden besonders geschätzt. In seinem Buch „Höflichkeit
- Vom Wert einer wertlosen Tugend“ ist der Berliner Publizist Rainer Erlinger der
Bedeutung dieser Gesten nachgegangen:
011 O-Ton: Rainer Erlinger
Wenn man davon ausgeht, dass die Höflichkeit, wie ich es für richtig halte, ein
Verhalten ist, indem man dem anderen die Achtung zeigt, dann bedeutet das, dass
dieses Zeigen der Achtung, in kleinen Nebendingen geschieht. In der Sprache zum
Beispiel, indem man ein Bitte verwendet, oder im täglichen Leben, in einer ganz
typischen Geste, indem man jemandem die Tür aufhält.
Sprecher:
Wenn man ehrlich ist, ist das Aufhalten der Türe dem Vorankommen eher hinderlich.
Und meist auch eine eher umständliche Angelegenheit. Der eine muss warten, damit
die Tür nicht zufällt, der andere muss sich beeilen und Danke sagen.
012 O-Ton: Rainer Erlinger
Es ist aber diese Geste des Türaufhaltens, die das Miteinander und den Umgang
dieser beiden entscheidend verändert. Ich glaube gerade beim Türaufhalten hat man
zwei Momente. Das eine ist die Tatsache, dass man den anderen beachten muss
zunächst, man muss den anderen sehen, man muss ihn wahrnehmen, um überhaupt
auf die Idee zu kommen, die Tür aufzuhalten. Dass man nicht beachtet wird, ist eine
starke Kränkung. Der zweite Moment ist, ich muss beim Türaufhalten meinen
eigenen Schritt verlangsamen, muss ganz kurz stehen bleiben und zeige dem
anderen dadurch, ich bin bereit, meine eigenen Belange soweit zurückzunehmen,
um dir diesen kleinen Gefallen zu tun.
Sprecher:
Re-Spectare ist Latein und bedeutet so viel wie zurück-schauen, sich umblicken.
Also auch den anderen hinter mir beachten, ihn respektieren. Allein die
Nichtbeachtung eines Menschen am Tisch im Restaurant, eines Kunden im
Geschäft, eines entfernten Bekannten auf der Straße kann zur Kränkung führen.
Zeigt sie doch an: Ich übersehe Dich. Du bist mir egal. Warum können wir
Nichtbeachtung so schwer ertragen? Warum schmerzt es uns, wenn jemand
unhöflich zu uns ist? Psychologen verweisen darauf, dass wir soziale Wesen sind
und das Bedürfnis nach Beachtung und Zugehörigkeit tief in unserer psychosozialen
Disposition verankert ist. Der amerikanische Sozialpsychologe Mark Leary hat an der
Duke University in North-Carolina intensiv zu Formen sozialer Ablehnung geforscht.
Er kommt zu dem Schluss:
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Zitator:
Die Natur hat uns so konstruiert, dass wir wachsam gegenüber potenziellen
Zurückweisungen bleiben, denn die meiste Zeit unserer Frühgeschichte war unser
Leben abhängig von einer kleinen Gruppe von Menschen. Ausgegrenzt zu werden
hätte das Überleben gefährdet.
Sprecher:
Gruppen, deren Mitglieder auch einen Blick für den anderen hatten, so Learys
These, hatten deutlich bessere Überlebenschancen als Einzelindividuen. Zwar hängt
heute unser physisches Überleben kaum noch davon ab, ob wir gesellschaftlich
akzeptiert oder anerkannt werden. Aber es geht um unser soziales Wohlbefinden, um
Wertschätzung im Beruf, Integration in einen privaten Freundeskreis. Unhöflichkeit
als eine Form sozialer Ablehnung und Geringschätzung berührt unser
Selbstwertgefühl. Angriffe darauf attackieren unsere Identität, so Mark Leary.
Zitator:
Menschen sind aufs äußerste darauf sensibilisiert, wie andere sie wahrnehmen und
bewerten. Sie haben einen Monitor dafür, der die Reaktion anderer Menschen auf sie
selbst überwacht und Alarm schlägt, wenn sich eine Bedrohung ihres sozialen
Wohlbefindens zeigt.
Sprecher:
Wenn uns eine Verkäuferin übersieht, der Nachbar nicht zurück grüßt oder ein
Freund meine Einladung zur Party ignoriert, dann aktivieren solche Unhöflichkeiten
eine Art inneres Radar. Es scannt, ob es sich um Geringschätzung oder Ablehnung
handelt. Wie wir mit dem Ergebnis umgehen - ob wir uns tief verletzt fühlen, es
schulterzuckend ignorieren oder uns lautstark empören - hängt von unserer
Persönlichkeit und unserem Selbstbewusstsein ab. Kinder, die schon früh
Zurückweisungen erfahren haben, tun sich später schwer, mit wirklichen oder auch
nur empfundenen Anzeichen des Übersehen-Werdens umzugehen. Sie reagieren als
Erwachsene äußerst sensibel auf Unhöflichkeiten. Das ist noch einmal etwas
anderes, als wenn jemand gegen die Regeln der Etikette verstößt, sagt Publizist
Rainer Erlinger.
013 O-Ton: Rainer Erlinger
Die Etikette ist etwas, die sich an den Gepflogenheiten und den Üblichkeiten und der
Konvention orientiert. Während die Höflichkeit dadurch bestimmt ist, dass sie die
Achtung für das Gegenüber ausdrückt. Das klassische Beispiel für den Unterschied
zwischen Höflichkeit und Etikette sind die Tischsitten oder die Tischetikette. Wie man
welches Besteck für welches Essen benutzt, ob man ein großes oder ein kleines
Glas benutzt, oder dergleichen. Das wird alles von der Etikette sehr genau festgelegt.
Aber es hat eigentlich keine Auswirkung darauf, ob man das Gegenüber achtet oder
nicht. Und man sieht an dieser Einhaltung der Tischsitten sehr schön, dass die
Etikette eigentlich demjenigen dient, der sich an sie hält. Nämlich der steht gut da,
der kann sich darin darstellen, darin spiegeln, während es zum Wesen der Höflichkeit
gehört, dass sie dem Gegenüber dient. Dem ja die Achtung gezeigt werden soll.
Regie: Historische Musik darüber:
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Sprecher:
Der Unterschied zwischen Etikette und Höflichkeit zeigt sich auch in der Herkunft der
Wörter. Die Etikette bezeichnete am französischen Hof zunächst nur einen Zettel französisch „etiquette“ - auf dem die Rangfolge der am Hofe zugelassenen Personen
notiert war. Später markierte der Begriff ganz allgemein Verhaltensvorschriften, die
nur der offiziellen Förmlichkeit willen gezeigt werden. Man folgte ihnen, weil das
Protokoll es so verlangt.
Regie: Historische Musik
Sprecher:
Die Höflichkeit als eine Vorstellung von angemessenem Verhalten und Auftreten bei
Hofe ist im Italien der Renaissance entwickelt worden. Eine lange Reihe ähnlicher
Schriften folgte dort dem 1528 erschienenen „Cortegiano“ - zu Deutsch: der Höfling des italienischen Diplomaten und Schriftstellers Baldassare Castiglione. Darin wird
der Fürstenhof als Ort der Erziehung zum gesitteten Menschen beschrieben. Rohheit
und Gewalttätigkeit eines feudalen Ritteradels sind einer Anleitung zur Trieb- und
Affektkontrolle gewichen. Statt Hauen und Stechen gilt nunmehr höfliches Verhalten
als höchste Tugend. In den Männern des Hofes sollen sich Kriegskunst und
Bescheidenheit verbinden, schreibt Castiglione im 17. Kapitel seines 1. Buches:
Zitator:
Ich bin der Ansicht, dass der Hofmann der Wesenheit und der Hauptsache nach im
Waffenhandwerk tüchtig bestehen muss. Je mehr sich der Hofmann in der
Kriegstüchtigkeit hervortut, desto größer wird sein Ruhm sein. (Er muss) stets der
tapferste und mutigste sein und der erste, wenn es gegen den Feind geht; sonst aber
soll er gesittet, bescheiden und zurückhaltend sein und jedes Aufsehen vermeiden,
ebenso unverschämtes Selbstlob, wodurch man sich immer Hass und Missgunst
derer zuzieht, die es anhören müssen.
Sprecher:
Castigliones Idealbild eines Hofmannes wird schließlich zum Prototyp des begabten
und gebildeten Menschen der Renaissance und zum gesellschaftlichen Leitbild der
nachfolgenden Jahrhunderte. Das Wort „höflich“ findet sich allerdings schon im
Mittelalter und meint „der Sitte des Hofes gemäß“. Nur welche Sitten am Hofe
herrschen, darüber gingen schon zu Castigliones Zeiten die Meinungen weit
auseinander. Die Mahnung, seine Triebe und Affekte zu kontrollieren, wurde schon
bald als Ratschlag zur Täuschung und Verstellung verstanden. Antonio de Guevara,
ein Zeitgenosse Castigliones, sah im Hof einen Ort der Korruption und in den
Höflingen eine moralisch verkommene Gesellschaft. Höfliches Verhalten beruhte so
gesehen auf Verstellung, um die eigentlichen, egoistischen Ziele zu erreichen.
Höflichkeit als Schmierstoff für den eigenen Profit ist bis heute eine gängige
Strategie. Zum Beispiel im Geschäftsleben. Publizist Rainer Erlinger denkt da vor
allem an bestimmte Floskeln:
014 O-Ton Rainer Erlinger
Ja, ich glaube dass man dieses „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag“, das in
den Geschäften oft gewünscht wird, (…) man kann es sehr ehrlich meinen. (…) Es
kann aber auch Einsatz dieses Mittels sein, um das Geschäft zu verbessern, indem
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man sagt, Kunden, die so behandelt werden, die kommen öfter, fühlen sich gut
behandelt, und ich sage es nicht, weil ich die Kunden achte, sondern im Gegenteil,
ich sage es, weil ich die Kunden nur als Geldbringer sehe und ich behandle sie
genauso, dass sie möglichst viel Geld bringen, egal ob das jetzt richtig oder falsch
ist.
Sprecher:
Viele Kunden sind mittlerweile genervt, wenn sie von Verkäufern oder CallcenterMitarbeitern mit Höflichkeitsfloskeln überschüttet werden. Auch der Versuch, eine
persönliche Nähe herzustellen, indem man immer wieder den Namen des Kunden
nennt – „Vielen Dank, Frau Meier. Viel Spaß damit, Frau Meier. Kommen Sie bald
wieder, Frau Meier“ führt leicht zu Überdruss. Doch viele unserer heutigen
Achtsamkeitsgesten haben eine Geschichte und offenbaren so erst ihren
eigentlichen Sinn. Das Grüßen, der Kuss auf die Wange, die Umarmung waren
schon in der Antike und Mittelalter immer auch ein Zeichen für ein friedliches
Zusammenleben. Gerade zwischen Herrschern war es üblich, durch solche Gesten
das Ende von Konflikten zu besiegeln, seine Unterwerfung oder aber seine
Gleichheit in Rang und Würde anzuzeigen. Das gilt auch für das Händeschütteln,
das bereits um 50 nach Christus im Brief des Paulus an die Galater erwähnt wird.
Paulus schreibt, dass ihm beim Abschied aus Jerusalem die „rechte Hand der
Freundschaft“ gereicht wurde. Hier wird – wie auch beim Winken – die friedliche
Absicht ausgedrückt: „Seht her, ich halte keine Waffe in meiner Hand, ich komme
nicht in kriegerischer Absicht!“ Eine vertrauensbildende Maßnahme, die sich in
Westeuropa im Laufe der Zeit von einer reinen Friedensgeste zum allgemeinen
Ausdruck gegenseitigen Respekts entwickelte. Auch unter Jugendlichen ist der
Handshake eine beiderseitige Respektsbekundung. Nur dass sie es „cooler“ als die
Alten machen. Höflichkeit bei Jugendlichen sieht dann so aus:
015 O-Ton Jugendlicher beschreibt Grußritual
Man fängt quasi an, als würde man sich die Hand geben. Klatscht dann mit den
Händen ineinander, zieht die dann zurück, macht dann eine Faust, schlägt die dann
zusammen. Also es ist auf keinen Fall irgendwie aggressiv oder so. Es ist einfach nur
so ein Kontakt mit den Fäusten. So etwas Ähnliches wie Händeschütteln eigentlich,
aber, ja so ganz locker. // Und was ist, wenn das jetzt ausbleibt? Also, du willst diese
Geste machen, aber der andere reagiert da gar nicht drauf, obwohl du es eigentlich
erwarten würdest. Wie ist das für dich dann? // Ja, das ist so als würde man gesnobt
werden. Auch wenn jemand dir nicht die Hand geben will oder so etwas, das ist ja
auch so eine unhöfliche Geste, sag ich mal. Und das ist genauso, also, es ist einfach
unangenehm.
Sprecher:
Die Menschen sind nicht unbedingt unhöflicher geworden. Aber die Umgangsformen
haben sich verändert. Der Psychologe Tilman Eckloff von der Business School Berlin
hat mehrere Studien zu Höflichkeit und Respekt geleitet. Und hat kürzlich selbst
erlebt, wie man sich mit tradierten Gesten in die Nesseln setzen kann:
016 O-Ton: Tilman Eckloff
Ich bin letztens mit einer Dame essen gegangen. Hinterher wollte ich dann die
Rechnung bezahlen. Und das hat sie sehr brüskiert. Das fand sie unangenehm. Also
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vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der ich die Rechnung bezahlen wollte, weil
sie da eben das Gefühl hatte, dass das nicht höflich ist, dass das sie nicht als
gleichberechtigt anerkennt. Das war ja früher anders. Früher war es
selbstverständlich, dass der Mann dann eben die Rechnung bezahlt.
Sprecher:
Heute finden viele Frauen solche Umgangsformen antiquiert. Höflichkeit heißt hier
auch: Ich respektiere dich als unabhängig und gleichberechtigt. Höflich zu sein kann
also mitunter heißen, auf Höflichkeitsgesten zu verzichten. Wann und unter welchen
Umständen - das ist eine Frage des Feingefühls. Und wie ist Tilman Eckloff dann mit
der Situation im Restaurant umgegangen?
017 O-Ton: Tilman Eckloff
Na ich habe mich entschuldigt und einfach gesagt, dass mir das leid tut, dass meine
Intention nicht war, sie nicht als nicht gleichberechtigt anzusehen, sondern dass ich
einfach nett sein wollte. Und Sie einladen wollte. Und dann meinte sie, jaja nicht so
schlimm, aber das (…) es eben oft als Geste gemeint ist, dass wenn man das dann
tut, dass dann auch weitere Konsequenzen folgen und man eben dann auch
verpflichtet ist, auch etwas zurückzugeben. Und da hatte sie eben keine Lust drauf.
Was ich natürlich sehr gut verstehen kann.
Sprecher:
Höflichkeit ist eine fluide Größe. Es gibt keine Verfassung des höflichen Verhaltens,
in der ich nachlesen kann oder die sich bei Fehlverhalten einklagen ließe. Sie ist eine
Konvention der Gesellschaft, die sich mit der Gesellschaft selbst wandelt und immer
wieder neu erfindet.
018 O-Ton: Tilman Eckloff:
Also, ich würde sagen, dass es in der gesellschaftlichen Entwicklung immer, wenn es
jetzt um Höflichkeit geht, Phasen gibt, die relativ stabil sind. Wo das, was als höflich
wahrgenommen wird, sich nicht so stark verändert. Und Phasen, wo eben ganz
starke Veränderungen sind, wo sich die Gesellschaft im Umbruch befindet. (…) Und
im Moment, würde ich sagen, befinden wir uns in so einer Phase der Veränderung,
insbesondere - und das ist vielleicht auch ein Unterschied zu früheren Zeiten - weil
wir aufgrund der starken kommunikativen Vernetzung und der Globalisierung eben
tatsächlich auch eine größere Komplexität und Vielfalt in unseren alltäglichen
Lebensbezügen bewältigen müssen.
Regie: Leise Musik, darüber:
019 O-Ton:
Also in Vietnam oder in Asien allgemein ist es so, dass, vor allem bei Nudelsuppen,
es sehr beliebt ist, wenn man schlürft und auch schmatzt, weil damit zeigt man halt
sein Wohlgefallen am Essen.
020 O-Ton:
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Wenn man so einen Muslim, der betet und frisch sich gewaschen hat, und wenn jetzt
eine fremde Frau jetzt kommt und sagt „Guten Tag“, da gibt er nicht die Hand, weil es
halt eine fremde Frau ist, weil da muss er sich wieder waschen.
021 O-Ton:
Auf einmal habe ich realisiert, dass das sogar eine Deutsch-Schweizerin ist, die nicht
bereit ist, mit mir Deutsch zu sprechen, die einfach dann französisch gesprochen hat.
Und das ist sehr unhöflich. Und noch wenn sie merken, die kann wirklich nicht
französisch, dann tun sie einfach so, bedienen einen in Französisch. Ohne
Rücksichtnahme.
Regie: Leise Musik, langsam weg
Sprecher:
Die Welt ist kleiner geworden. Wir fliegen schnell nach New York, Singapur, Kairo
oder Rio, bewegen uns geschäftlich oder privat in anderen Kulturen. Umgekehrt
leben in Deutschland mittlerweile Menschen aus über 100 Nationen, die ihre eigenen
Sitten und Vorstellungen von Höflichkeit mitbringen. Migranten der zweiten und
dritten Generation haben die deutschen Gesten der Höflichkeit verinnerlicht – und
sind oft verunsichert, wenn sie in die Heimatländer ihrer Eltern oder Großeltern
reisen. So wie Yasemin. Die lebenslustige Mannheimerin mit nordafrikanischen
Wurzeln war nach langer Zeit auf Familienbesuch in Tunesien. Eine Hochzeit stand
an. Einigen Verwandten begegnete Yasemin zum ersten Mal persönlich.
023 O-Ton: Yasemin
Ich kenne jetzt zum Beispiel einen in der Familie, der ist religiös und der betet. Und
da habe ich mir auch diesmal überlegt, wie soll ich jetzt ihn begrüßen? Soll ich die
Hand geben, soll ich ihn rechts und links küssen oder soll ich von Weitem sagen
„Guten Tag“, so mit dem Kopf nicken. Das habe ich mir lange überlegt, bis ich dann
fast an ihm dann war und habe ihn angeguckt dann so. Und da kam von seiner Seite
keine Hand. Er gab mir keine Hand und da wusste ich, aha, er hat mir schon die
Grenzen gezeigt. Keine Hand als guten Tag. (…) Hätte ich ihm die Hand gegeben,
dann wäre (…) es total unhöflich oder wie sagt man peinlich, unhöflich – genau..
Sprecher:
Yasemin wollte die religiösen Gefühle ihres Verwandten respektieren und hat sich
dementsprechend verhalten. Aber nicht nur im Urlaub, auf Geschäftsreise oder bei
der Begegnung mit Fremden - auch Zuhause loten wir beständig aus, was der
andere als höflich oder unhöflich empfinden könnte. Für Yasemin war es bei der
tunesischen Familie besonders anstrengend.
024 O-Ton: Yasemin
Die erste Woche war für mich Horror, schön Horror, aber schön. Aber da muss ich
mir ständig überlegen, okay, die und der wie soll ich begrüßen, wie soll ich mich
benehmen, was darfst du sagen, oh laut lachen darfst du wiederum nicht, dann
denken die – unhöflich! (…).
Sprecher:
9
Auch Tra My, eine junge Studentin mit vietnamesischen Wurzeln, musste sich beim
Familienbesuch in Vietnam mit anderen Höflichkeitsritualen vertraut machen:
025 O-Ton: Tra My
In Vietnam gibt es ja viele Arten von Anreden. Und ich war bei meinem ersten
Vietnam Urlaub - ist etwas sehr lustiges passiert. Ich war bei der Familie zu Besuch
und habe dort ein Baby kennengelernt. Das war vielleicht 3-4 Monate alt und ich
habe dann erfahren, dass ich das Baby Siezen muss, weil es sich um eine weiter
entfernte Tante von mir handelt. Und ich musste sie höflich anreden als ich sie in den
Arm genommen habe und sie gewogen habe. Also es ist total verrückt und man
besteht da auch wirklich drauf.
Regie: Leise Musik
Sprecher:
Globalisierung und Migration lassen verschiedenste Kulturen aufeinander treffen.
Jede hat ihre Eigenarten, Gewohnheiten und Vorstellungen von Höflichkeit, die der
anderen zunächst fremd und exotisch erscheinen. Vor welchen Herausforderungen
stehen wir?
026 O-Ton: Tilman Eckloff
Das heißt im Prinzip, dass es keine Gewissheiten mehr gibt. Also dass man sich
eben nicht mehr an äußeren Formen so stark festhalten kann. Und ich würde halt
sagen, dass das Kernproblem ist, dass wir eben heute sehr ungeübt darin sind, uns
mit anderen zu verständigen, wie wir eigentlich miteinander umgehen möchten.
Sprecher:
Das gilt auch für den Umgang mit den neuen Technologien. Mit dem Handy ist das
Telefonieren zu einem allgegenwärtigen Grundrauschen im öffentlichen und privaten
Leben geworden. Seit der Erfindung des Smartphones kommt noch das beständige
chatten, spielen, surfen dazu. Die Augen sind fest auf das Display gerichtet, ob
unterwegs oder zuhause. Die realen Menschen drum herum, das Gegenüber am
Tisch geraten immer öfter aus dem Blick. Diese Form der Nichtbeachtung wird von
vielen als unhöflich empfunden. Noch jedenfalls, und hierzulande.
027 O-Ton: Tra My
In Asien ist es wirklich so - also ich möchte das jetzt nicht verallgemeinern - aber zum
Beispiel in Korea ist es sehr üblich, dass wirklich alle an ihren Handys sind, weil das
einfach normal ist. Das sieht man in Restaurants, es ist einfach zur Gewohnheit
geworden, dass man sich viel mit Technik beschäftigt und viel über Elektronik
kommuniziert. Es gibt zum Beispiel in Korea den Trend, dass Leute sich beim Essen
filmen lassen. Das ist ein Livestream und Leute, die sich einsam fühlen oder
ähnliches gucken den Menschen einfach nur beim Essen zu und können
währenddessen mit ihnen chatten.
Sprecher:
Berichtet die Studentin Tra My. Die neuen Technologien fordern uns - ebenso wie
der Kontakt mit anderen Kulturen - dazu heraus, unsere Höflichkeitsstile zu
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überdenken. Und über sie zu sprechen, um Ärger, Scham und Missverständnisse zu
vermeiden.
Regie: Musik
Sprecher:
Höflichkeit als Ausdruck des Respekts: Untersuchungen des Wirtschaftspsychologen
Tilma Eckloff zeigen, dass sich solches Verhalten auch im Arbeitsleben lohnt.
028 O-Ton: Tilman Eckloff
Wir haben eine Arbeitswertestudie gemacht unter deutschen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern. Und haben denen Arbeitswerte vorgegeben. 19 verschiedene
Arbeitswerte waren das - unter anderem eben Respekt. Also Respekt durch die
Führungskraft. Und da kam eben raus, dass das den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern unglaublich wichtig ist. Und zwar wichtiger als so etwas wie eine
sichere Anstellung oder eine hohe Bezahlung.
Sprecher:
Leider ergab die Studie auch, dass in deutschen Unternehmen Wunsch und
Wirklichkeit weit auseinanderliegen. Die meisten Befragten gaben an, dass ihnen
Respekt zwar wichtig ist, sie ihn aber nur sehr selten im Berufsalltag erleben. Damit
schaden sich Betriebe selbst. Denn mehr Höflichkeit - so ein zentrales Ergebnis der
Studie - beeinflusst elementare betriebswirtschaftliche Faktoren ganz im Sinne der
Unternehmer.
029 O-Ton: Tilman Eckloff:
Also wenn mich die Führungskraft respektvoll behandelt, dann fühle ich mich
gebundener an die Organisation, an die Führungskraft. Die Arbeitszufriedenheit
steigt. Das heißt da konnten wir zeigen, dass Respekt tatsächlich eben auch eine
konkrete Auswirkung auf eben sehr viele, für die Organisation sehr wichtige
Variablen hat. Unter anderem eben auch tatsächlich dann auf die Leistung.
Sprecher:
Doch Druck und Stress am Arbeitsplatz und ein hektischer Alltag führen dazu, dass
viele Menschen immerzu in Eile sind und sich oft keine Zeit für Höflichkeit mehr
nehmen. Jeder kämpft für sich allein.
030 Atmo Kassengeräusch
031 Atmo U-Bahn, Türe, Schritte, Durchsage
Sprecher:
Die Kassiererin im Supermarkt hat kaum noch Zeit, ihren Kunden ins Gesicht zu
schauen, weil sie die Schlange so schnell wie möglich abfertigen muss. Jede
Sekunde zählt, wenn der Zug abfahrbereit steht und die Pendler im Spurt ins Abteil
stürzen. Wer will da noch jemandem höflich den Vortritt lassen?
Regie: 001 oder 005 Straßenatmo
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Sprecher:
Und wer will – wie in unserem Experiment - einer alten Dame helfen, den Koffer eine
steile Treppe hoch zu tragen, wenn er in seinem digitalen Kalender schon eilig den
nächsten Termin checkt?
O-Ton 032 Junger Mann
Also ich war auf dem Weg zur Fahrschule und bin an der Dame vorbei gelaufen und
zwar relativ zügig. Und dann bin ich die Treppe hochgelaufen, hab halt gesehen,
dass da unten schon jemand steht, hab kurz überlegt, ob ich nochmal runtergehe, ihr
helfe, aber hab es dann nicht gemacht, weil ich halt gesehen habe, dass da jemand
steht und ich auch eigentlich los muss.
Regie: Musik
Sprecher:
Höflichkeit und Respekt können unser Zusammenleben einfacher machen, Konflikte
entschärfen, Milieus und Kulturen näher bringen. Sie können Schwächeren zeigen,
dass man sie wahrnimmt und sogar beruflich zufriedener machen. Es gibt sie aber
nicht zum Nulltarif. Der höfliche Umgang miteinander braucht Ressourcen, die
gerade als Mangelware gelten: Aufmerksamkeit und Zeit.
*****
Literaturangaben:
Rainer Erlinger:
Höflichkeit. Vom Wert einer wertlosen Tugend. S. Fischer, Frankfurt 2016
Ruthard Stäblein (Hg.):
Höflichkeit. Tugend oder schöner Schein. Elster Verlag, Bühl-Moos 1993
Jörg Schindler:
Die Rüpel-Republik. Warum sind wir so unsozial? Scherz-Verlag, Frankfurt 2012
Baldassare Castiglione:
Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance. Mit einem Vorowrt von Andreas Beyer.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2004
Literatur von Tilmann Eckloff findet sich unter dem link: http://www.businessschoolberlin.de/hochschule/wissenschaftliches-lehrpersonal/professoren/dr-tilman-eckloffbsp/
Mark R. Leary, et al.: Self-esteem as an interpersonal monitor: The sociometer
hypothesis, in Journal of Personality & Social Psychology (1995) 68 (3) 518-530
Mark R. Leary: Making Sense of Self-Esteem Current Directions, in Psychological
Science (1999) 8 (1), 32–35
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