1 Freitag, 28.10.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs

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Freitag, 28.10.2016
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Bettina Winkler
Kundige und lebendige Interpretation
Fire Music
Infernal Flames and Celestial Blaze
CAPELLA DE LA TORRE
KATHARINA BÄUML
dhm 88985360302
Tief berührend
FRANCESCO CAVALLI
REQUIEM
ALESSANDRO GRANDI
MOTETS
ENSEMBLE POLYHARMONIQUE
ALEXANDER SCHNEIDER
RAUMKLANG RK 3601
Virtuos und ausgewogen
William Babell
Concertos op. 3
for violins & small flute
Anna Stegmann
Ensemble Odyssee
PANCLASSICS PC10348
Faszinierend und fesselnd
ITALIAN LUTE VIRTUOSI
of the
RENAISSANCE
FRANCESCO DA MILANO • ALBERTO DA MANTOVA • MARCO DALL’AQUILA
JAKOB LINDBERG
BIS-2202
Perfekt intoniert
Gesualdo
TERZO LIBRO DI MADRIGALI
A CINQUE VOCI
LA COMPAGNIA
DEL MADRIGALE
GLOSSA GCD 922806
Ausgezeichnet
STRAIGHT FROM THE HEART
The Chansonnier Cordiforme
Ensemble Leones
Marc Lewon
NAXOS 8.573325
Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … am Mikrophon: Bettina Winkler. Sie hören
heute eine erweiterte Fassung meiner Sendung „SWR2 Alte Musik mit neuen CDs“ vom
20. Oktober. Der CD-Markt bietet auch in diesem Monat eine große Fülle an interessanten
Neuheiten der Alten Musik. Ich habe mich diesmal für feurige Klänge aus der Renaissance,
das Requiem von Francesco Cavalli, Konzerte von William Babell, italienische Renaissance-
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Lautenmusik, Madrigale von Carlo Gesualdo und Musik aus dem Chansonnier Cordiforme
entschieden – und hoffentlich kann ich Sie für die eine oder andere Musik begeistern.
Gerade haben sie einen ECHO Klassik gewonnen: das Ensemble Capella de la Torre und
seine Leiterin Katharina Bäuml. Den gab es für den ersten Teil ihrer Vier Elemente CDReihe, die das Motto „Wasser“ hatte. Gerade ist Teil 2 erschienen, und in ihm geht es um
das Feuer, ein flüchtiges Element, das für Werden und Vergehen stehen kann.
Michael Praetorius: Bransle de la torche
2:55
Ein Fackeltanz von Michael Praetorius, gespielt von der Capella de la Torre. – Vom
Höllenfeuer über die Flammenzungen des Pfingstwunders und rauchende Vulkane bis zum
himmlischen Feuer reichen die verschiedenen Themenbereiche, für die das Ensemble
verschiedenste Stücke aus dem 16. Jahrhundert ausgewählt hat. Solche Themen-CDs findet
man in den letzten Jahren häufiger – man denke nur an die kürzlich erschienene CD
„Serpent & Fire“ von Anna Prohaska mit barocken Arien der beiden Königinnen Dido und
Cleopatra. Die musikalische Beschäftigung mit den vier Elementen ist auf jeden Fall reizvoll,
gerade weil ganz unterschiedliche Zugänge entstehen können. Und so trifft man auf dieser
Produktion auch den Feuersalamander, der der Legende nach Feuer zum Erlöschen bringen
oder nach Belieben sogar unbeschadet darin leben kann. Luca Marenzio beschreibt ihn in
seinem Madrigal „Qual vive salamandra in fiamma ardente“ – „Wie der Salamander lebt in
glühender Flamme und sich deshalb freut, ebenso mein Herz in Dir, das seine Flamme
lichterloh entzündet hat, brennend lebt es und leidet, doch es spürt nichts. O welch‘
glückliches Los, im Feuer zu leben und nicht den Tod davonzutragen.“
Luca Marenzio: Qual vive salamandra
3:45
Das Herz und der Salamander, beide können im Feuer überleben, das jedenfalls behauptet
ein Madrigal von Luca Marenzio, das die Capella de la Torre für ihre Feuer-CD ausgesucht
hat. Diese Produktion ist gleichzeitig ein Querschnitt durch das Alta capella-Repertoire des
16. Jahrhunderts, mit dabei sind unter anderem Werke von William Byrd, Tomás Luis de
Victoria, Orlando di Lasso und Robert de la Rue.
Eine sinnfällige Personifizierung des göttlichen Feuers findet man auf einer Tafel des
Grabower Altars von Bertram von Minden, der um 1380 entstanden ist: Umgeben von den
gerade erschaffenen Tieren, die den Bereichen der Erde, des Wassers und der Luft
zugeordnet sind, steht im Zentrum der Schöpfergott, eingehüllt in ein feuerfarbenes Gewand.
Wie in diesem ersten Moment erneuert sich auch die Natur im Reigen der Elemente in jedem
Frühling, so beschreibt es ein anonymer Satz aus dem 16. Jahrhundert: „Mundo renovatio“.
„Die Erneuerung der Welt bringt neue Freuden hervor. Mit dem Herrn, der aufersteht,
zusammen steht alles wieder auf. Die Elemente dienen und empfinden, wie groß des
Schöpfers Jahresfeier ist.
Das bewegliche Feuer fliegt auf und die wehende Luft, es fließt das unbeständige Wasser,
die Erde bleibt unbewegt. Das Leichte bewegt sich in die Höhe, das Schwere besetzt die
Mitte, alles erneuert sich.“
Anonymus: Mundo renovatio
5:30
„Mundo renovatio“ – „Die Erneuerung der Welt“, ein anonymes Stück aus dem
16. Jahrhundert von der neuen CD „Feuer“ der Capella de la Torre unter der Leitung von
Katharina Bäuml.
Nicht zum ersten Mal überzeugen die versierten Mitglieder dieses Alta capella-Ensembles
mit ihren kundigen und lebendigen Interpretationen. Diese Woche sind sie zur Produktion
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einer weiteren Folge ihres vier Elemente-Projekts zu Gast in Baden-Baden, und diesmal geht
es um die Luft – eine Koproduktion von SWR2 und SONY CLASSICAL. Diese wie auch die
eben vorgestellte Aufnahme erscheint dann beim Label deutsche harmonia mundi.
„Dem spirituellen Niveau von Mozarts Requiem steht die Missa pro defunctis von Francesco
Cavalli in nichts nach“ – das schrieb der Musikhistoriker August Wilhelm Ambros in der Mitte
des 19. Jahrhunderts. Und tatsächlich, bei Cavalli handelt es sich um einen Komponisten
von europäischen Rang, der im 17. Jahrhundert nicht nur in der Welt der Oper, sondern auch
in der Kirchenmusik reüssierte, er war einer der produktivsten Vertreter seiner Zunft in
Venedig – fast 30 Opern sind überliefert. Erst in fortgeschrittenem Alter widmete er sich auch
der Kirchenmusik, und noch zu Lebzeiten gestaltete er sein eigenes Begräbnis künstlerisch.
Sein Requiem komponierte er zwischen 1673 und 1675, gestorben ist er am 14. Januar
1676. Zu Lebzeiten wurde dieses opus ultimum nie veröffentlicht. Nach außen hin lässt sich
bei dem Werk ein klarer Wille zur Repräsentation erkennen – Cavalli wünscht sich eine
üppige Besetzung für alle Stimmen – aber im tiefsten Inneren dieser Musik offenbart sich vor
allem Gottesfürchtigkeit und zugleich die Einsamkeit eines Mannes, dessen Frau früh
verstorben und dessen Ehe kinderlos geblieben war.
Wenn man sich diese Musik anhört – und ich habe sie jetzt zum ersten Mal gehört – ist man
tief berührt von der Innigkeit, die diesem Stück im stile antico innewohnt. Das mag aber auch
an der überzeugenden Interpretation des Ensembles Polyharmonique unter der Leitung von
Alexander Schneider liegen, das dieses Werk für die Edition RAUDMKLANG aufgenommen
hat. Schneider schreibt im Booklet: „Die Innovation und theologisch-philosophische Raffinesse
dieses Requiems besteht in der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Die Musik dieses Stückes zieht uns musikalisch in die Zeit der Spätrenaissance, zeigt uns den
Hochbarock und blickt in die Empfindsamkeit.“ Heere Worte, die aber durchaus zutreffen –
überzeugen Sie sich selbst, hier ein Ausschnitt aus der Dies Irae-Sequenz.
Francesco Cavalli: Requiem, Dies Irae
9:55
Ein Ausschnitt aus der Dies Irae-Sequenz des Requiems von Francesco Cavalli, es
musizierte das Ensemble Polyharmonique unter der Leitung von Alexander Schneider.
Schneider hat diese Totenmesse mit passenden Motetten und geistlichen Konzerten von
Alessandro Grandi ergänzt, in denen es ebenfalls um Vergänglichkeit und den Glauben an
eine andere Welt nach dem Tode geht.
Alessandro Grandi: Exaudi Domine, Concerto à 2
2:20
„Exaudi Domine“ – „Herr, höre meine Stimme, wenn ich rufe“, eines der geistlichen Konzerte
von Alessandro Grandi, mit denen das Ensemble Polyharmonique Francesco Cavallis
Requiem auf seiner aktuellen Produktion ergänzt hat. Erschienen ist diese bewegende
Neueinspielung beim Label RAUMKLANG.
Warum schmückt eine altmodische Emaille-Badewanne mit ebensolcher Armatur, platziert
vor einer zart getönten Wand auf rustikalem Holzboden, das Cover einer CD mit Konzerten
von William Babell? Das hat sich mir zwar nicht erschlossen, neugierig gemacht hat mich
dieses Bild aber trotzdem – und siehe da, oder besser höre da, diese Aufnahme des
Ensembles Odyssee mit der Blockflötistin Anna Stegmann belohnt meine Neugier. Was
diese Musikerinnen und Musiker mit den Concertos op. 3 für Geigen und Flöte anstellen, ist
mindestens ebenso vergnüglich wie ein prickelndes Schaumbad. Babell hat im 18. Jahrhundert eine vor allem technisch anspruchsvolle Cembalobearbeitung von Händel-Arien
verfasst. Aber er gehört auch zu denjenigen Komponisten, die das Konzert für Soloinstrument mit Streicherbegleitung in England eingeführt haben. Vorbild waren die
italienische Musik, vor allem Sonaten und Concerti grossi von Corelli, Vivaldi und Albinoni.
Babells Concertos op. 3, die Anfang des 18. Jahrhunderts komponiert wurden, gehören zu
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den frühesten englischen Beispielen für Solokonzerte mit Streicherbegleitung. Anna
Stegmann und das Ensemble Odyssee haben sich diese Stücke vorgenommen und ihnen
ein virtuoses Outfit verpasst. Bei den spielerischen Verzierungen der Flötenstimme orientiert
sich Anna Stegmann an Corellis Violinsonaten und entlockt damit ihrem Instrument eine
virtuose Flut an Tönen, gepaart mit ausgewogenem Klang im Zusammenspiel. Als Beispiel
hier Babells drittes Konzert in e-Moll.
William Babell: Concerto e-Moll op. 3 Nr. 3
12:55
Die Blockflötistin Anna Stegmann und das Ensemble Odyssee mit dem Concerto Nr. 3 in
e-Moll aus dem op. 3 von William Babell, englische Konzertmusik aus dem frühen 18. Jahrhundert, noch stark orientiert an den italienischen Vorbildern, aber lebendig und virtuos
vorgetragen. Dieses kleine Juwel finden Sie beim Label PANCLASSICS.
„SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“, am Mikrophon: Bettina Winkler.
Etwa 200 Jahre vor William Babells Konzerten sind die Lautenwerke von Francesco da
Milano, Alberto da Mantova und Marco Dall’Aquila entstanden, die Jakob Lindberg auf seiner
neuen CD „Italienische Lautenvirtuosen der Renaissance“ vorstellt.
Francesco da Milano: Fantasia 15
1:35
Eine Fantasie von Francesco da Milano mit der Nummer 15. Francesco Marcolini, ein
venezianischer Buch- und Notendrucker, schreibt 1536: „Während alle Blas- und
Saiteninstrumente einen lieblichen Klang hervorbringen, weil sie die Sphärenharmonie
aufbewahren, die aus der Bewegung der Himmel hervorgeht, raubt die Lieblichkeit des
Klangs, den die Laute gebiert, so sie von den göttlichen Fingern eines Francesco Milanese,
Alberto da Mantova oder Marco dall’Aquila berührt wird, den Zuhörern die Sinne, weil sie
sich unmittelbar der Seele mitteilt.“ Was für eine schöne Zuschreibung für die Laute – sie
berührt, sofern von großen Meistern gespielt, die Seele. Jakob Lindberg schafft das mit
seinen Interpretationen dieser Renaissance-Stücke auf jeden Fall.
Das folgende Stück stammt von Alberto da Mantova, der in den beiden letzten Jahrzehnten
seines Lebens in Frankreich lebte und dort unter dem Namen Albert de Rippe bekannt war.
Es handelt sich um ein Arrangement von Sebastiano Festas Madrigal „O passi sparsi“ auf
einen Text von Francesco Petrarca. Vielleicht eines der schwersten Stücke dieser CD –
meint Jakob Lindberg und verweist auf den langsamen Pulsschlag, den subtilen Stimmensatz, den schnellen Wechsel zwischen Zweier- und Dreiertakt und einige spektakulär
hervorschießende Tonleiterpassagen.
Alberto da Mantova: O passi sparsi
4:30
O passi sparsi – Alberto da Mantovas Bearbeitung eines Madrigals von Sebastiano Festa,
gespielt von Jakob Lindberg. Und er meint: „Menschliche Berührung – Fingerspitzen, die die
Saiten in Schwingung versetzen – kann die Laute so zum Sprechen bringen, dass die
Zuhörer bewegt werden.“ Vielleicht lassen Sie sich ja auch bewegen von Marco dall’Aquilas
Bearbeitung von Josquin Deprez‘ sublimer Vertonung des Gedichts „Plus-nulz regrets“.
Marco dall’Aquila: Plus-nulz regrets
4:00
Bewegende Lautenmusik von Marco dall’Aquila aus dem 16. Jahrhundert, subtil interpretiert
von Jakob Lindberg, der beim schwedischen Label BIS gerade seine neue CD mit Musik von
italienischen Lautenvirtuosen aus der Renaissance vorgestellt hat – zarte Musik, die im
Stillen blüht und auf protzendes Beiwerk ganz verzichtet, auf den ersten Blick eher
unspektakulär, bei genauem Hinhören aber faszinierend und fesselnd.
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Spektakulär war dagegen das Leben von Carlo Gesualdo, Fürst von Venosa. Und auch
seine Musik, seine Madrigale, stellen immer noch eine große Herausforderung für
Interpreten und Zuhörer dar. Die Compagnia del Madrigale hat nun beim Label GLOSSA
Gesualdos drittes Madrigalbuch veröffentlicht. Buch 4 bis 6 und auch seine Responsorien
sind dort schon erschienen, und dafür gab es bereits viel Lob von Publikum und Kritikern.
Das dürfte dem Ensemble mit dem dritten Madrigalbuch auch wieder gelingen.
Carlo Gesualdo: Ahi, disperata vita
1:45
In diesem zweitem Madrigal aus Gesualdos drittem Madrigalbuch, „Ahi, disperata vita“ –
„Ach, hoffnungsloses Leben“ findet man den für den gereiften Gesualdo-Stil typischen
Gegensatz zwischen langen Noten über „Ahi“ und der schnell absteigenden syllabischen
Vertonung von „Disperata“, mit der Andeutung eines Fugatos über „Che guggendo il mio
bene“ – „Das vor meinem Liebsten flieht“ und der Chromatik bei „miseramente“ –
„elendiglich“. Immer wieder steht der Tod im Mittelpunkt der Texte, die Gesualdo in dieser
Sammlung vertont. Immer wieder finden sich offene und geradezu obsessive Anspielungen
auf ihn. Diese Art von Poesie entsprach dem Geschmack des Fürsten von Venosa durch ihre
Gegensätze ganz genau, die er musikalisch durch die rastlose Gegenüberstellung von
deklamatorischen und kontrapunktischen imitierenden Passagen umsetzte. Hier noch eine
weitere Kostprobe mit der Compagnia del Madriagle: das dritte Stück aus dem dritten Buch
von Gesualdo „Languisco e moro, ahi, cruda“ – „Ich sieche dahin und sterbe, oh weh,
Grausame, aber du, erbarmungslose Verursacherin meines Schicksals, ach, aus Gnade,
tröste dieses schmerzliche Sterben mit einer einzigen Träne, damit ich am Ende meines
Schmachtens sagen kann: Nun, da du gnädig bist, ist das Sterben süß.“
Carlo Gesualdo: Languisco e moro, ahi, cruda
3:50
„Languisco e moro, ahi, cruda“, das dritte Madrigal aus Carlo Gesualdos drittem
Madrigalbuch, perfekt intoniert von der Compagnia del Madrigale. Veröffentlicht wurde diese
Sammlung zusammen mit dem vierten Madrigalbuch in den Jahren 1595/96 bei Baldini in
Ferrara, die Initiative zur Drucklegung ging von Ettore Gesualdo, einem Musiker am Hofe
des Fürsten von Venosa aus. Hatte er zuvor noch vor allem Texte von Torquato Tasso
vertont, wählt der Komponist hier in erster Linie solche von Dichtern aus Ferrara, manch eine
Zeile mag auch von ihm selbst stammen. Auf jeden Fall ist diese Neueinspielung von
Gesualdos drittem Madrigalbuch, die bei Glossa erscheint, eine absolute Empfehlung für alle
Freunde der italienischen Vokalmusik. Achtung – Suchtgefahr!
Zu den Gesualdo-Madrigalen gibt es noch drei Bonustracks mit Stücken von Scipione Stella,
Luzzasco Luzzaschi und Alfonso Fontanelli, alles Zeitgenossen von Carlo Gesualdo – eines
davon will ich noch kurz anspielen: „Sento dentr’al cor mio“ – „Ich fühle in meinem Herzen
eine grausame Wunde, die mich quält, und eine sachte Flamme, die brennt, und mich
verzehrt.“ Komponiert hat es Scipione Stella, der beim Druck der ersten beiden
Madrigalbücher von Gesualdo involviert war. Er selbst komponierte auch diverse Madrigale,
überliefert ist aber nur dieses eine, das Sie nun mit der Compagnia del Madrigale hören.
Scipione Stella: Sento dentr’al cor mio
2:30
Zum Schluss präsentiere ich Ihnen noch einen Codex, der sozusagen direkt von Herzen
kommt: das Chansonnier Cordiforme. Dieses herzförmige Buch wurde um 1475 für einen
Geistlichen namens Jean de Montchenu hergestellt, der damals in Genf lebte. Der Stil der
Ausschmückung deutet auf das Umfeld des Hofs von Savoyen hin. Jean de Montchenu hatte
einen miserablen Ruf, Zeitgenossen bezeichnen ihn als regelrechten Gauner, vor allem
während seiner Amtszeit als Bischof von Viviers zeichnete er sich durch unverschämte
Habgier aus – das weckt doch gleich Assoziationen an einen Bischof, der für seinen neuen
Wohnsitz auch nur das Beste haben wollte … Trotzdem, oder vielleicht auch gerade
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deshalb, hatte Jean de Montchenu einen ganz ausgezeichneten Musikgeschmack, wie das
Chansonnier Cordiforme beweist.
Anonymus: L’autre jour, par ung matin
3:55
„L’autre jour, par ung matin“ – „Kürzlich ging ich am Morgen aus, um mich zu vergnügen“ –
ein Stück aus dem Chansonnier Cordiforme mit dem Ensemble Leones unter der Leitung
von Marc Lewon. Die Musiker haben 19 der 43 Lieder dieser Handschrift aufgenommen und
bei NAXOS veröffentlicht. Dieser Kodex besticht nicht nur durch seine Herzform und die
üppigen Verzierungen der einzelnen Seiten, er ist auch aus einem ganz ausgezeichneten
Pergament hergestellt. Eine weitere Besonderheit bei diesem Codex: Die Unterstimmen sind
mit einer erstaunlichen Textmenge versehen, was sofort die Frage aufkommen lässt, ob die
Lieder für mehrere Stimmen oder nur eine Gesangsstimme und zwei Begleitinstrumente
vorgesehen waren, und ob die Texte deshalb lediglich zur Platzersparnis und zugunsten
eines eleganteren Schriftbildes so verteilt wurden.
Marc Lewon und sein Ensemble Leones haben sich für ganz unterschiedliche
Interpretationslösungen entschieden, mal singen sie dreistimmig, mal werden die Stimmen
durch die Instrumente gedoppelt, wie im gerade gehörten Lied; mal gibt es nur eine Stimme
mit Begleitung, mal spielen sie eine Instrumentalversion. So oder so, die Art und Weise, wie
die Musiker mit diesem Repertoire umgehen, zeugt von großer historischer Kenntnis und
gutem Gespür für die Anforderungen der einzelnen Stücke. Besonders zwei der italienischen
Lieder aus dem Chansonnier Cordiforme scheinen der schriftlosen Tradition zu entstammen
und auf eine Praxis des begleiteten Sologesangs hinzuweisen, wie er im 15. Jahrhundert
nachweisbar ist. Dazu gehört das Lied „Ben los a Dio se sum vergine e pura“ – „Der Herr
weiß, dass ich eine reine Magd bin.“
Anonymus: Ben los a Dio se sum vergine e pura
5:25
Noch einmal Musik aus dem Chansonnier Cordiforme, der herzförmigen Handschrift aus
dem späten 15. Jahrhundert: „Ben los a Dio se sum vergine e pura“ mit dem Ensemble
Leones unter der Leitung von Marc Lewon. Mit dieser ausgezeichneten Aufnahme, die bei
NAXOS erschienen ist, ergänzen die Musikerinnen und Musiker ihre breite Palette mit
Aufnahmen von historischen Liederbüchern um ein weiteres Juwel.
Das war „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“, eine erweiterte Fassung der Sendung
„SWR2 Alte Musik mit neuen CDs“ vom 20. Oktober, die Titelliste finden sie auf unseren
Internetseiten www.swr2.de, dort steht die Sendung auch eine Woche lang zum Nachhören
bereit. Fürs Zuhören bedankt sich Bettina Winkler.