Lebenszeichen vom 16.10.2016

Titel
Von XY
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Lebenszeichen
Sprecherin:
Applaus in der Kirche. Er gilt der jungen Pfarrerin. Gerade hat der Superintendent des Kirchenkreises
Lübbecke sie feierlich in ihren Berufsstand erhoben; und auch die Gemeinde hat sie ausdrücklich für
ihr Amt gesegnet und angenommen. Ganz Levern, so scheint es, ist hierfür in die Kirche gekommen
an diesem Samstag Nachmittag. Fast alle Plätze sind belegt – und die Stiftskirche fasst immerhin
600 Menschen. Ein wichtiger Moment für Katrin Berger. Nach 14 Jahren Ausbildung hat sie die
feierliche Erlaubnis für die „öffentliche Verkündigung“ erhalten.
Die Gemeinde schmettert noch die letzten Töne und Katrin Berger erklimmt die mit Gold verzierte
Kanzel. Wochenlang hat sie an dieser Predigt gefeilt; an der Predigt über einen kleinen Spruch an
ihrer Schreibtisch-Lampe: „Das Alte ist vergangen.“ steht auf dieser Lampe, „siehe, Neues ist
geworden“. Sie holt Luft.
O-Ton Katrin Berger von der Kanzel:
Manchmal, wenn ich die Lampe anschalte, und diesen Vers lese, dann lächle ich und träume
und habe Hoffnung und meine, es kommt; das Neue ist vielleicht schon da.
Das Alte, das war richtig gut, so, wie es war, war es gut, als Kirche noch was war. So wie es
war, war es gut. Es ist nicht mehr gut, weil es nicht mehr ist, wie es war, und wenn es nicht
wird, wie es war, wird es nicht gut.
Sprecherin:
Gedanken über das Alte von einer jungen Pfarrerin. Eine öffentliche Predigt über ihre Zweifel. Zweifel
daran, ob die Kirche die heutige Zeit überstehen kann und Zweifel daran, ob ihre vierzehn Jahre ...
Studium und Praktikum und Sich-Ausprobieren und immer wieder Umziehen an neue Orte wirklich
der richtige Weg für sie waren und sind, in dieser Zeit. Ihre Kirche steht vor großen Entscheidungen.
Sie muss sich verändern. Da müssen alle mitziehen.
Mitten in Düsseldorf gibt es noch eine junge Frau, die den Wandel der Kirche mitgestalten möchte.
Sie ist Vikarin an der Johanniskirche.
Eine Kirche mitten in der Stadt, an der Königsallee, der „Kö“. Hier predigt der Präses der
evangelischen Kirche im Rheinland und hier macht Judith Uhrmeister ihre ersten Schritte als
Pfarrerin.
Die Sonne ist rausgekommen, Überraschung. In ein paar Tagen steht für die Vikarin eine
Doppelprüfung an: Ein öffentlicher Gottesdienst und gleich danach die allgemeine theologische
Prüfung über Gottesdienste.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
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Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch
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O-Ton Judith Uhrmeister:
Was es stressig macht ist, dass man auf den Punkt sein muss, dass es eine große
Öffentlichkeit hat, dass das eigene Wort plötzlich so viel zählt, das sind Faktoren, die den
Stress erhöhen.
Die GD-Vorbereitung an sich ist etwas, das ich total gerne mache, weil sie eigentlich im
Leben passiert, ne. Das ist auch ein Privileg, dass ich das machen darf. Dass ich mir
Gedanken übers Leben machen kann und Menschen beobachten kann und mit denen
sprechen und dann darin Gottesdienste zu gestalten. Das mache ich eigentlich gerne.
Da kommt Svantje, und sie hat schon das Mikrofon entdeckt! Passiert nichts Schlimmes!
Hallo! Hallo!
Sprecherin:
Judith Uhrmeister ist eine Überfliegerin und will auch jetzt wieder zeigen, was sie kann. Deshalb hat
sie Svantje ausgewählt, dass sie am Sonntag den Bibeltext vorträgt; sie kann das gut, auch vor
vielen Leuten. Die Beiden wollen den Text durchgehen; der Prüfungsgottesdienst soll perfekt
werden.
O-Ton Judith Uhrmeister:
Es ist Teil der Examensnote, die dann hinterher das zweite Examen ausmacht. Damit
bewerbe ich mich bei den Gemeinden. Ich glaube, die Gottesdienst-Prüfung zählt zweifach,
weil es Kerngeschäft ist. Ja.
Sprecherin:
Die Prüfung am Sonntag ist eine von vielen, die der Vikarin in Düsseldorf noch bevorstehen.
Katrin Berger ist spät dran. Sie darf sich schon „Pfarrerin“ nennen. Seit fast zwei Jahren hat sie ihre
erste Probestelle. Ihre Kirche hat sie dafür in die Diaspora geschickt; ganz weit raus auf´s Land.
Ohne das Auto wäre sie hier aufgeschmissen. Sie hat es damals als erstes angeschafft.
Sie wühlt in den Tiefen ihres Kofferraumes. Zwei faltbare Polyestertaschen, wie man sie aus dem
Drogeriemarkt kennt, und eine Fahrradpacktasche zieht sie raus; und die Kleiderhülle mit dem Talar.
In zwanzig Minuten soll sie hier in dem Altenheim, vor dem sie geparkt hat, einen Gottesdienst
halten.
Katrin Berger übt eigentlich auch noch. Hier in der Gemeinde Levern, Stemwede, in Ostwestfalen,
übt sie Gottesdienst und Pfarrer-Sein.
Der große Aufenthaltsraum ist schon seit einer halben Stunde voll. Alte Damen in Rollstühlen oder
mit Rollatoren. Viele sind offenbar nur körperlich anwesend. Und noch immer helfen die Pflegerinnen
weiteren alten Leuten in den Raum hinein.
Die Pfarrerin zieht die Stirn kraus und baut weiter auf, was sie mitgebracht hat. Den Laptop und die
beiden Lautsprecher stellt sie auf den weißen, runden Gartentisch; das farbige Tuch und die Kerze
auf das kleine Tischchen daneben; und als letztes stellt sie zwei kleine Glasschälchen auf den
provisorischen Altar und eine Flasche duftendes Pflege-Öl. Um Punkt zehn Uhr geht es los.
Katrin Berger kommt einmal im Monat zum Predigen in dieses Altenheim.
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Von XY
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Wobei die Musik noch fast das wichtigste ist; denn die haben alle noch gut im Kopf, von früher her.
Die ersten Augen öffnen sich. Gerade noch waren die meisten der alten Menschen in sich
zusammengesunken, haben nur so da gesessen. Jetzt singen fast alle mit. Die Pfarrerin vorne weg.
Für ihre Predigt hat sie sich eine Bibel-Geschichte ausgesucht, bei der Jesus beim Essen von einer
Frau gesalbt wird; mit kostbarem Öl. Alle Jünger reden auf die Frau ein und sagen, „das ist doch viel
zu wertvoll, verkauf das Öl doch lieber und gib das Geld den Armen“. Aber Jesus ist anderer
Meinung; erzählt die Pfarrerin; er nimmt das Geschenk der Frau gerne an.
O-Ton Pfarrerin:
Salbung ist in der Bibel, etwas für unsere Haut; für unser Wohlbefinden; aber es geht auch
viel tiefer, es berührt nämlich auch die Seele und auch unser Herz. Salben heilt, Salben
tröstet.
Sprecherin:
Ein Lied noch vom Chor gesungen, dann nimmt sie die kleinen Schälchen mit dem duftenden Öl vom
Altar und zieht damit los.
Sie malt mit dem Öl Kreuze auf Stirnen. Sie schlängelt sich dafür zwischen Rollatoren und
Rollstühlen hindurch, klettert über ausgestreckte Beine und Spazierstöcke und navigiert sich durch
engste Lücken in der Bestuhlung, damit sie wirklich jeden und jede, die möchte, erreichen kann.
O-Ton Katrin Berger:
Ich glaube, es geht mir eigentlich darum, dass sie merken: Gott meint es gut mit Dir. Der hat
dich auch lieb. Das hört sich ja so infantil an, aber ich glaube, wir sind auch alle Kinder Gottes
und man muss da nicht immer groß und stark sein und schon gar nicht, wenn man alt und
zerbrechlich wird und vielleicht nicht mehr so oft angefasst wird; und man nicht mehr so viel
Zärtlichkeit hat und Kuscheln und so; und da ein Zeichen zu setzen und im wahrsten Sinne
des Wortes zu sagen: Gott kommt Dir ganz nah und tut Dir was Gutes.
Sprecherin:
Es sind wettergegerbte Gesichter, die sich ihr entgegenstrecken; Gesichter, in denen die harte Arbeit
eines langen Lebens eingraviert ist; Gesichter, über die ein Leuchten geht bei ihrer Berührung, ihren
Worten. Manchmal fließen auch Tränen.
O-Ton Katrin Berger:
Ich mach das sonst auch, dass ich versuche, dieses protestantische „Wir sitzen jetzt hier und
dann kommt das Wort und das reicht“ und dann kommt vielleicht noch die Oblate und ein
bisschen Wein oder Saft; es ein bisschen größer zu machen. Also mehr Wasser beim Taufen,
anderes Brot, vielleicht dass sogar jeder sein Glas mit Saft oder Wein in der Hand hält, dass
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das alles ein bisschen länger dauert, dass es gut schmeckt, schön aussieht, gut riecht. Ich
glaube, dass Glaube was mit Fühlen zu tun hat.
Sprecherin:
Die Pfarrerin in Gummistiefeln. Mittags geht sie am Mittellandkanal eine Runde mit dem Hund. Perla
hat sie im Internet gefunden und sich direkt in sie verliebt.
Levern liegt ganz am Ende des Kirchenkreises Lübbecke, ja am geographischen Rand der
evangelischen Kirche von Westfalen. Katrin Berger braucht diesen Hund. Rundum sind Felder und
Wiesen und Bauernhöfe; keine Stadt. Keine jungen Leute, mit denen sich eine 34jährige
austauschen könnte. Sie, die zuvor mitten in Köln gelebt hat, jeden Tag neue Menschen, neue
Geschichten; sie hat ihre Kirche hierher geschickt. Ganz schön einsam hier.
Sie schaut sich um; auf der anderen Kanalseite liegt schon Niedersachsen. Auch nur Felder und
Wiesen. Im Laufe der Ausbildung ist sie oft umgezogen; die Einsamkeit kam immer mit.
O-Ton Katrin Berger:
Ich habe das Gefühl, dass diese Rolle der Pfarrerin immer mitschwingt. Wie kann man leben
mit dieser Rolle, aber manchmal auch konsequent ohne die. Ich glaube, die Einsamkeit wäre
vorbei, wenn man einen Raum findet, in dem diese Rolle wegfällt.
Sprecherin:
Der Hund ist die Böschung hinaufgeflitzt. Katrin Berger rennt der langen Leine hinterher. Sie will als
Gemeindepfarrerin leben; am liebsten in einer Art PfarrerInnen-WG. Neue Wege in einer neuen Zeit.
O-Ton Katrin Berger:
Eigentlich ist das doch schön, diese freie Zeiteinteilung; mitten im prallen Leben; das einen
raus ruft aus dem, was man gerade geplant hat; das einen rausreißt, finde ich total gut, ich
bin sehr schnell gelangweilt; insofern passt das eigentlich gut; ich wünsche mir, dass ich
irgendwo länger bleiben kann, dass es langfristig Menschen gibt, mit denen ich viel Kontakt
habe. Ich meine, wir sollen abschiedlich leben, wir haben hier keine bleibende Stadt, ladilada;
aber um immer so auf Wanderschaft zu sein; also, ich brauche mehr Konstanten.
Sprecherin:
Eine feste Stelle, das wär´s. Die evangelische Kirche wird schon sehr bald sehr viele freie Stellen
haben, weil sie kaum noch junge Leute für den Beruf des Pfarrers gewinnen kann. Doch Katrin
Berger darf sich noch immer nicht auf freie Stellen bewerben. Nach 14 Jahren Ausbildung braucht
eine Pfarramts-Anwärterin noch eine weitere Erlaubnis des Arbeitgebers. Ihre Eignung wird noch
einmal überprüft werden. So steht es in der Ausbildungsordnung.
Ein Nachmittag in Düsseldorf. Das Café im Foyer der Stadtkirche ist wie immer gut besucht. Die
Johanniskirche ist nicht nur Gotteshaus, sondern auch Kulturzentrum. Ehrenamtliche bedienen hier
die Gäste: ältere Herren aus dem Viertel, ausländische Besucher und müde Schnäppchenjäger.
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Und natürlich Judith Uhrmeister und ihre beiden Pfarrer-Kollegen. Mindestens einer ist immer im
Dienst; Seelsorge durch Da-sein, durch´s Ansprechbar-sein. Die Vikarin hat aber heute andere
Aufgaben.
Im Gespräch mit der Küsterin geht es um die Abendandacht um 18.00h. Judith Uhrmeister hat sich
die ganze Woche freiwillig dafür gemeldet, obwohl sie in drei Tagen auch den Prüfungsgottesdienst
hält.
O-Ton Judith Uhrmeister:
Ich brauche den Raum und den Klang und auch Teile der Gemeinde, die dann kommen, und
den Talar anziehen, damit ich drin bin, in dem Feeling drin bin und nicht nach ein paar
Wochen erstmal wieder fremdel mit der Situation.
Sprecherin:
Höchstens einen Gottesdienst im Monat hält sie als Vikarin der Stadtkirche. Mehr Zeit bleibt nicht bei
all den Stationen, die sie in den zwei Jahren durchlaufen muss: Religionsunterricht in einer Schule
z.B.; oder Seelsorge im Krankenhaus und natürlich die vielen Wochen im Predigerseminar, mit den
vielen theoretischen und praktischen Lern- und Übungseinheiten. So ist es noch immer eine
Herausforderung für sie, einen Gottesdienst zu leiten.
Sie steht in der Sakristei vor dem kleinen Altar mit der Bibel, aber ihr Blick geht eher nach innen. Die
Stimme erwecken, um gleich das Wort Gottes stimmig sprechen zu können. Dann weckt sie noch
ihren Talar auf, der bislang hinter der Tür hing und in seiner schwarzen Kleiderhülle schlummerte.
O-Ton Judith Uhrmeister:
So, das ist mein ganz persönlicher Talar, die sind arschteuer. Das lässt man sich ein- oder
höchsten zweimal im Leben schneidern. Die kosten 6-700 Euro. Die kann man ja nur im
Gottesdienst anziehen aber dadurch, dass es ein Gewand ist, das einem ein Amt verleiht, ist
es auch wichtig. Da steht mein Trauspruch, also mein Hochzeitsspruch hinten drin, habe ich
meinen Mann immer dabei.
Sprecherin:
Ein kostbar-glänzender und gut fallender Stoff.
Der Talar ist ein Umhang mit Ärmeln. Der Stoff raschelt edel. Es gibt eine Knopfleiste, aber die
Knöpfe sind kaum sichtbar, weil sie ebenfalls mit dem glänzenden Stoff bezogen sind.
O-Ton Judith Uhrmeister:
Himmlischer Vater, ich bitte Dich für diesen Abend. Ich bitte Dich für meine Stimme, für
meinen Stand, und ich bitte Dich um Deinen Geist. Ich danke Dir, dass Du mich den Tag über
behütet hast, und ich bitte Dich um Schutz und Ruhe für die Nacht.
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Sprecherin:
Mit jedem Knopf, den sie schließt, spricht Judith Uhrmeister ein kleines Gebet. Hat sie sich so
angewöhnt, erzählt sie.
O-Ton Judith Uhrmeister:
Amen. So, jetzt bin ich vorbereitet. Und jetzt setz ich mich einfach hin und lausche den
Glocken. Ist für mich auch immer ein Tagesabschluss dann.
O-Ton Katrin Berger:
In vielen Gemeinden wissen die Leute gar nicht mehr, wo das Pfarrhaus steht. Und sie kämen
auch nicht auf die Idee, dahin zu gehen, weil sie gar nicht wüssten, was sie da kriegen
könnten.
Sprecherin:
Katrin Berger in Levern/Stemwede ist schon wieder auf dem Weg. Innehalten ? Heute schwierig.
Sie ist pünktlich, genau richtig zum Ende des Sektempfangs. Das Ehepaar Rothardt feiert heute
seine diamantene Hochzeit. 60 Jahre Ehe.
Alle haben sich schick gemacht und der Gastwirt hat die Tische festlich gedeckt. Was fehlt, ist ein
Altar, aber Katrin Berger braucht den nicht. Gottesdienst in der Gastwirtschaft.
O-Ton Diamantene Braut:
Dass man nicht extra inne Kirche laufen muss, ist schon gut, weil ich nicht gut laufen kann. Ist
ja gut, dat se das jetzt machen. Das wussten wir ja auch, dass sie das jetzt machen.
Sprecherin:
Alles, damit die Kundschaft sich wohl fühlt. Katrin Berger und ihr Kollege in Levern sind für solche
Feste häufig unterwegs. Sie sind ja froh um jeden, der das Wort Gottes hören möchte; aber ein
bisschen sind diese Andachten außerhalb der Kirche doch eine verpasste Gelegenheit, findet sie.
Kirche muss raus aus den alten Klamotten, rein in eine neue Existenz, sagt sie, sie muss unter die
Leute, muss zu den Leuten, denn die finden den Weg nicht mehr. Weder in die Kirche, noch in die
Pfarrhäuser. Sie schaut sich um; ein eher noch kirchlich gesinnter Querschnitt der Gesellschaft, der
sich jetzt so langsam auf seine Plätze sortiert. Da sind die Alten, die die Lieder noch mitsingen
können und die sonntags in den Gottesdienst gehen, wenn sie noch gehen können; dann ihre
Kinder, die Endvierziger, Mitfünziger, die konfirmiert sind und vielleicht noch gerade kirchlich getraut;
und dann ... dann bricht es ab.
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O-Ton Katrin Berger:
Konfirmanden fühlen sich nicht zuhause in unserer Liturgie. Da kann ich machen, was ich will
und ich mache eine Menge – aber die fühlen sich da eine ganz lange Weile nicht zu Hause.
Und da denke ich dann, oh, wie kriege ich das hin? Dass Ihr merkt, Ihr dürft hier auch sein
und eigentlich geht es auch um Euch und nicht um uns und unsere Traditionen.
Sprecherin:
Sie wirkt größer als ihre gerade mal ein Meter fünfundsechzig, wie sie da neben dem Tresen steht,
im Talar, vor dem Jubelpaar und allen Gästen; keine Kerze, kein Kreuz, keine Bibel als
Unterstützung; nur ihr kleiner Ordner DinA5 mit dem Ablauf des heutigen Abends, jedes Blatt fein
säuberlich in eine Schutzhülle gesteckt, damit es beim Blättern nicht so raschelt.
Gleich werden hier noch Tränen fließen. Tränen der Rührung.
Und in Düsseldorf? Dort geht die Abendandacht langsam zuende und auch die Vikarin schafft es, die
Gottesdienstbesucher zu berühren. Das Beste kommt zum Schluss: Sie singt den Segen.
O-Ton Judith Uhrmeister:
Also den Segen zu singen entblößt einen, auf positive Weise; man öffnet sich für die
Gemeinde; das Angewiesen-Sein aufeinander und auf Gott, das wird deutlich.
Sprecherin:
Nach dem Gottesdienst steht sie da und verabschiedet die Besucher; fast zwei Dutzend Männer und
Frauen, auch mittleren Alters. Sie sehen zufrieden aus.
Judith Uhrmeister ist an sich schon eine beeindruckende Erscheinung; ein Meter achtzig mit einem
offenen, klugen und manchmal verschmitztem Gesicht. Aber im Talar strahlt sie noch eine ganz
andere Größe aus. Sie leuchtet.
Gleich ist Feierabend und sie geht nach Hause zu ihrer Familie: zu Mann und kleiner Tochter. Ein
zweites Kind ist unterwegs.
Katrin Berger hat ihre kleine Familie noch einmal verlassen; ihren Hund. In fünf Minuten beginnt in
ihrer Kirche die Abendandacht. Sie will Tee anbieten.
Sie wirkt etwas abgehetzt und trägt noch ihre quitsch-gelbe Hunde-Regen-Ausführ-Jacke. Es war ein
langer Tag, aber mittwochs die Abendandacht um 21.00 Uhr, die muss sein.
Ein Gemeindeglied legt Glasuntersetzer in den Kirchenraum zwischen Altar und Sitzbänken; zwölf
Stück, für zwölf große Kerzen. Das einzige Licht heute Abend. Dietmar hat die Birnen aus den
Kronleuchtern geschraubt. Er ist seit Jahren aktiv in der Gemeinde und vielleicht noch etwas mehr,
seitdem Katrin Berger hier angefangen hat. Frischer Wind.
O-Ton Dietmar:
Er ist da. Ob er eingezogen ist, weiß ich nicht. Sie hat viele neue Sachen reingebracht. Und
sich neu eingebracht. Andere Sichtweisen, andere Perspektiven. Vor allem eine feminine
Perspektive.
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Sprecherin:
Er stellt fünf Stühle im Kreis um die Kerzen herum und legt lindgrüne Decken drauf; wie in einem
Café. Alles Ideen von Katrin Berger. Sie bringt den Tee. Es ist neun Uhr; sie sind nur zu zweit, gut,
mit der Reporterin zu dritt. Sie teilt die kleinen Liedzettel aus, die sie ins Deutsche übersetzt hat.
Abendgebet, wie sie es in Amerika kennengelernt hat.
Im Sommer vor einem Jahr hat Katrin Berger angefangen mit diesen Andachten. Anfangs kamen
viele Leute, schöpften Kraft aus dieser Stille, der Liturgie, so wie die Pfarrerin. Dann bröckelte es und
jetzt sind sie meistens nur zu zweit.
O-Ton Katrin Berger:
Grundsätzlich haben wir ja traditionelle Kernmilieus. Und die wollen traditionelle
Gottesdienste. Und wünschen sich gleichzeitig das Neue, es soll aber nichts kosten und es
soll nichts dafür wegfallen, und das ist nicht möglich. Ich kann mir vorstellen, dass wir uns von
ein paar Gebäuden gut trennen können; dass wir ein paar Gebäude verändern, so, wie es
wirklich zu uns passt. Wenn wir so ganz teure Kirchen unterhalten, dann müssen wir sie
nutzen, nutzen, nutzen. Also dann müssen da die Konfirmanden da drin übernachten dürfen
und gleichzeitig ältere Menschen dort Ruhe finden, dann muss das wirklich für alle passen;
weil die sehr, sehr teuer in der Instandhaltung einfach sind.
Sprecherin:
Sie ist bereit für das Neue. Sie will eine eigene Stelle, eine eigene Gemeinde, die zu ihr passt und
die sich bewusst für sie entscheidet, für Katrin Berger; die Pfarrerin mit den frischen Ideen.
Die Stadtkirche in Düsseldorf füllt sich. Zuerst mit Chorkindern und deren Eltern. Es ist Sonntag. In
Judith Uhrmeisters Prüfungsgottesdienst sitzen nicht nur die drei Prüfer; es treten auch noch hundert
Kinder auf. Der Horror für jeden Pfarrer.
O-Ton Judith Uhrmeister:
Das Schlimmste, oh... das Schlimmste was passieren kann, ist, dass es kein Gottesdienst
wird, sondern eine Show, ein Vortanzen. Wenn einem die Dinge aus dem Ruder laufen und
ein Kindergeburtstag draus wird oder ein Bühnenstück, zu dem alle Eltern ihre Handykameras
und ihre Iphones zücken, ja. Und nur noch Jäger und Sammler für Fotos sind. Das wäre
schon ein Supergau.
Sprecherin:
Der Hauptpfarrer der Kirche möchte heute nicht tauschen mit seiner Vikarin.
Judith Uhrmeister kann sich jetzt nicht unterhalten. Sie ist blass um die Nase und zieht sich zurück.
Vielleicht spricht sie in der Sakristei gleich zwei Gebete für jeden Talarknopf. Die Prüfer treffen ein;
zwei Männer, eine Frau, erfahrene Pastoren mit eigenen Gemeinden. Dem Küster gehen allmählich
die Gesangbücher aus, wegen all der Kinder und Eltern.
Und dann zieht Judith Uhrmeister ein zum Prüfungsgottesdienst. In eine Kirche voller Neubesucher.
Ihr Talar raschelt leise auf dem Mittelgang. Sie wirkt gefasst.
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Hier und da passieren ihr kleine Fehler. Aber kein Elternpaar filmt sein Kind. Und auch die
Prüfungskommission lässt sich von Predigt und Segen mitnehmen in eine andächtige Stille. Judith
Uhrmeister kriegt am Ende eine drei.
Eine Rüge, ein Zurechtstutzen für Überflieger, für die jungen aufstrebenden Pfarrerinnen und
Pfarrer? Auch Katrin Berger hat im Laufe ihrer Ausbildung Dinge erlebt, die sich wie „Knüppel
zwischen die Beine“ anfühlten. Sie war mehrfach kurz davor, ihre Ausbildung abzubrechen. Die
Hierarchien in der Kirche, sagt sie, kosten Kraft. Viel Kraft.
O-Ton Katrin Berger:
Es gibt für mich nur den Weg, die Pfarrerin zu sein, die ich bin und die zu mir passt und ich
glaub, ich fühle mich im Moment immer wohler mit dem, was ich tue, nämlich es zu
ermöglichen, dass Menschen etwas von Gott erfahren oder sogar mit ihm etwas erfahren,
weil Gott ist vielfältig und Gott ist immer so, wie wir ihn brauchen.
O-Ton Judith Uhrmeister:
Ich mach´s der Sache halber, weil ich davon überzeugt bin, dass das Evangelium in die Welt
getragen werden muss und wo ich das mache ... da bin ich eigentlich relativ flexibel.
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