18.10.2016, Die Jagd nach Schläfern - Rückschläge und

Manuskript
Beitrag: Die Jagd nach Schläfern –
Rückschläge und Pannen
Sendung vom 18. Oktober 2016
von Anna Feist, Elmar Schön und Elmar Theveßen
Anmoderation:
Einen Anschlag mit möglicherweise vielen Toten verhindert - das
war vergangene Woche eine wirklich gute Nachricht. Dann aber
kam im Fall Albakr bald die schlechte. Weitere Anschlagspläne,
das Netzwerk des IS, Kontaktpersonen, die ihn radikalisierten - all
die Erkenntnisse, die Ermittler von dem Häftling zu gewinnen
hofften, sind durch seinen Tod verloren. Ein Rückschlag für die
Aufklärung. Und nicht der einzige in letzter Zeit, wie Recherchen
von Frontal 21 und der Washington Post zeigen. Denn einen
angeblich geläuterten IS-Rückkehrer mit Namen Harry S. fanden
die Ermittler bislang glaubwürdig. Jetzt aber wissen sie: Der Mann
kann lügen. Anna Feist, Elmar Schön und Elmar Theveßen über
fehlende Aussagen - und falsche.
Text:
Was wäre, wenn…? - Es ist die Frage, die Deutschlands
Terrorermittler umtreibt. Was wäre, wenn die sächsischen
Behörden nicht versagt hätten beim ersten Festnahmeversuch.
Wenn sie Jaber Albakrs Suizid verhindert hätten. Hätten sie dann
von ihm herausbekommen, wie groß die Bedrohung für
Deutschland wirklich ist?
Wir treffen Ahmad Rashidi, geboren in Afghanistan, als Kind
verlor er im Krieg dort ein Bein. Seine Familie floh mit ihm nach
Dänemark. 2015 reiste Rashidi zum IS. Er sagt, er habe zwei
Mädchen aus dem Griff der Islamisten befreien wollen –
vergeblich. Zurück brachte er nur eine Warnung:
O-Ton Ahmad Walid Rashidi:
Wenn der IS es will, kann er europäische Länder treffen. Ich
hab’s gesehen. Die reden jeden Tag per Skype mit Leuten in
Deutschland. Ich war da und befürchte mehr für Deutschland
als für Dänemark.
Deutschland ist längst im Visier von IS-Zellen. Im schleswig-
holsteinischen Ahrensburg wurden im September drei Männer
festgenommen, die über die Flüchtlingsroute gekommen waren.
Ins Visier deutscher Fahnder kamen sie nur durch den Tipp eines
ausländischen Geheimdienstes.
O-Ton Holger Münch, Präsident Bundeskriminalamt:
Wir haben hier mehrere Personen in Schleswig-Holstein
festgestellt, von denen wir ausgehen, dass auch die hier in
Deutschland mit einem solchen Auftrag eingeschleust
worden sind. Heißt, wir gehen jedem Hinweis sehr akribisch
nach. Da verlassen wir uns auf der einen Seite natürlich auf
Informationen, die von den Nachrichtendiensten kommen –
eine ganz, ganz wichtige Informationsquelle. Und zum
anderen auch auf Hinweise von anderen Flüchtlingen. Wir
haben über 400 solcher Hinweise bekommen. Am Ende sind
daraus 80 Strafverfahren entstanden und einige davon eben
auch mit einer gewissen Brisanz.
Wie brisant, das zeigen die Anschlagsversuche dieses Sommers.
In einem Zug bei Würzburg verletzt ein 17-Jähriger vier
Menschen schwer mit einem Beil. In Ansbach stirbt ein 27jähriger Terrorist bei einer geplanten Sprengstoffattacke auf ein
Musikfestival. Beide Täter waren als Flüchtlinge registriert und
nicht im Blick der Fahnder. Beide wurden per Internet und Skype
vom IS gesteuert. Und das besorgt die Ermittler.
O-Ton Dieter Romann, Präsident Bundespolizeipräsidium:
Ich schaue mir den Würzburg-Attentäter an, der bis zuletzt
inspiriert und instruiert offensichtlich war vom IS. Dasselbe
können wir vom Ansbach-Attentäter sagen. Das insgesamt
lässt mich jedenfalls von einer großen Gefährdungssituation
ausgehen.
Jaber Albakr ist ein weiteres Beispiel. Unbemerkt reiste er in ein
Trainingslager des IS in Syrien. Am 24. August kehrte er über den
Flughafen Istanbul zurück - als Selbstmordattentäter des IS, als
Insider der Terrororganisation.
O-Ton Frontal 21:
Wie wichtig wäre es gewesen, diese Person ausführlich
befragen zu können, Erkenntnisse zu gewinnen über die
Reisewege, über die Radikalisierung und so weiter?
O-Ton Dieter Romann, Präsident Bundespolizeipräsidium:
Eine sehr wichtige Primärquelle.
Hätte man dann seinen Suizid nicht verhindern müssen durch die
Unterbringung in solch einem Haftraum, den es in Leipzig gab.
Wie weit darf man gehen?
O-Ton Dieter Romann, Präsident Bundespolizeipräsidium:
Eine 24/7-Dauerüberwachung einer in Einzelhaft sitzenden
Person, möglicherweise noch mit Video, das kenne ich
eigentlich nur aus Guantanamo.
Auch Harry S. ist eine wichtige Quelle, erzählte den Behörden
und zahlreichen Medien, auch uns, er habe beim IS nur mal die
Flagge getragen für ein Propagandavideo und bei einer
Erschießung zugeschaut – mehr nicht:
O-Ton Harry S., ZDF am 16. Juni 2016:
Es war schon brutal, aber auch ein Einschnitt, ein großes
Erlebnis für mich, was auch einen großen Beitrag hatte, dass
ich gesagt habe, ich bin raus aus dieser Nummer. Ich möchte
kein Blut an meinen Händen haben.
Weil er in seinem Prozess umfassend aussagte, bekam Harry S.
ein mildes Urteil – drei Jahre Haft. Doch es basiert nicht auf der
ganzen Wahrheit wie Frontal 21 und die Washington Post bei
gemeinsamen Recherchen herausfanden.
Dieses Video stammt von einer Quelle mit Verbindungen zum IS.
Harry S. legt den Treueeid auf den selbsternannten Kalifen ab.
Bei der Fahrt zum Marktplatz der syrischen Stadt Palmyra,
stachelt er die Bevölkerung auf. Danach schiebt er einen der
sieben Gefangenen für die öffentliche Erschießung in die Reihe.
Während die Opfer im Kugelhagel sterben, zieht Harry S. seine
Pistole, der eigentliche Schuss ist verdeckt.
Waffenexperten gehen davon aus, dass auch der Deutsche
gefeuert hat. Wir treffen uns mit dem Anwalt von Harry S. in
Bremen. Weil deutsche Behörden uns nicht zu seinem
Mandanten ins Gefängnis lassen, zeigen wir ihm das Video, in
dem S. mindestens Beihilfe zum Mord leistet, wenn nicht mehr.
O-Ton Udo Würtz, Anwalt von Harry S.:
Das ist natürlich so, dass ich durch diese Szene meine
Zweifel habe, ob das, was Harry von dieser Situation dann
erzählt hat, ob das alles ist, was er erzählen kann.
Harry S., dem sein Anwalt ein Foto mit der Pistole zeigte,
verweigert jetzt jede Stellungnahme.
O-Ton Holger Münch, Präsident Bundeskriminalamt:
Sie können nicht erwarten, dass jemand bereitwillig zugibt,
Taten zugibt, die ihm die Strafverfolgungsbehörden nicht von
vornherein nachweisen können. Das gilt übrigens nicht nur
für Rückkehrer, das gilt auch für sonstige Straftäter. Insofern
sind wir natürlich auch dann immer froh, wenn wir auch im
Nachgang zu Verfahren weitere Beweismittel erhalten, wie
zum Beispiel hier in diesem Fall veröffentlichte Videos.
Harry S. muss nun mit einem zweiten Prozess rechnen. Immerhin
ist er schon in Haft. Während in Deutschland einige Hundert
Islamisten frei herumlaufen, die als gefährlich gelten. Erst kürzlich
konnten zwei Gefährder aus Niedersachsen sogar ausreisen –
die Überwachung durch die zuständigen Landesbehörden hatte
große Lücken. Personalengpässe.
O-Ton Holger Münch, Präsident Bundeskriminalamt:
Wir haben standardisierte Maßnahmenkataloge. Und wir
setzen unsere Ressourcen so ein, dass wir, sagen wir, sie
dort haben, wo sie am wichtigsten sind. Aber alles, ständig,
rund um die Uhr, das schaffen wir nicht.
O-Ton Dieter Romann, Präsident Bundespolizeipräsidium:
Eine hundertprozentige Überwachung dieser Personen ist
nicht nur sehr personalintensiv, möglicherweise sogar
illusorisch. Was mich aber noch mehr beunruhigt, sind die
Fälle in Ansbach, Würzburg und jetzt Chemnitz. Keine dieser
Personen war auf dem Schirm bis kurz vor Tatentschluss in
Chemnitz der Behörden. Keine dieser Personen war
eingestuft als Gefährder oder relevante Person.
Auch Khalil A. nicht, der mutmaßliche Komplize von Jaber Albakr.
Vielleicht verrät er ja, warum ein Flüchtling zum Terrorist wird.
Ahmad Rashidi glaubt es zu wissen:
O-Ton Ahmad Walid Rashidi:
Der Traum von IS und seiner Lebensweise ist wie der Gesang
der Sirenen. Sie singen für Leute, die hier nach Europa
gekommen sind, wie ich einst als Kind nach Dänemark kam,
und die nie das Gefühl hatten, dass wir hier akzeptiert
werden.
Er wolle wieder nach Syrien, sagt uns Rashidi nach dem
Interview. Seitdem ist er spurlos verschwunden - so wie vor ein
paar Monaten auch Jaber Albakr. Hätte er wohl geplaudert über
Drahtzieher und andere Schläfer in Deutschland? - Diese Frage
bleibt ohne Antwort.
Abmoderation:
Der sogenannte Islamische Staat will unsere Gesellschaft
spalten. Er wünscht sich nichts mehr, als dass Muslime
hierzulande unter Generalverdacht gestellt werden. Deshalb sind
die Syrer, die zu unser aller Sicherheit den gesuchten Albakr
festgenommen haben, eine Mahnung an uns alle: Wir dürfen nicht
in die Falle gehen, die uns IS-Terroristen stellen.
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